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Guss Morrisson war ein brandgefährlicher Frauenmörder, auf den eine Einzelzelle im Staatsgefängnis Sing Sing wartete. Durch einen korrupten Justizbeamten gelang Morrisson die Flucht. Von diesem Moment an tickte für Phil und mich die Uhr, denn Morrisson schlug sofort wieder zu. Dass er einen unbekannten Helfer gehabt hatte, machte die Sache nicht leichter. Mithilfe einiger mutiger FBI-Kolleginnen stellten wir ihm eine Falle - nur um festzustellen, dass Morrisson ein perfektes Versteck gefunden hatte ...
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Impressum
In den Fängen der Prepper
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: Marijus Auruskevicius/shutterstock
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-9272-2
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
In den Fängen der Prepper
Der weiße Van rollte auf der State Route durch Connecticut in Richtung Westen. Nur eine blaue Aufschrift auf der Seitenfläche verriet, dass das Fahrzeug in besonderem Einsatz war. Prisoner Transport war dort zu lesen – Gefangenentransport.
»Jetzt haben wir’s bald geschafft«, sagte Pete Miller, einer der beiden Beamten in der Fahrerkabine. »Wenn wir Morrisson in Sing Sing abgeliefert haben, gönnen wir uns erst mal ein Bier. Und morgen …«
Plötzlich ging ein Ruck durch den Wagen. Petes Kollege Hank, der am Steuer saß, hatte abgebremst.
»Was machst du?«, fragte Pete verblüfft.
»Keine Sorge«, meinte Hank. »Wir legen nur einen kleinen Zwischenstopp ein …«
»Zwischenstopp?«, fragte Pete. »Wir hatten erst vor einer halben Stunde Pinkelpause.«
»Darum geht’s nicht«, gab Hank zurück.
Er lenkte den Wagen von der Connecticut State Route 15 in eine Ausfahrt.
Die Gegend hier war ländlich. Links und rechts des Merritt Parkway, wie die Straße auch hieß, erstreckten sich Wälder mit vereinzelten Siedlungen.
»Hast du ein Date, oder was?«, fragte Pete. Es sollte wie ein Witz klingen, aber er spürte, dass hier etwas ablief, was ganz und gar nicht lustig war.
Sie waren auf eine schmale Straße abgebogen, und rechts tauchte auf einer Anhöhe ein Gebäude mit einem Turm auf. Es war eine Kirche.
»Ich wusste gar nicht, dass du gläubig bist«, erklärte Pete verwundert. »Nicht, dass ich was dagegen hätte. Aber wenn du in eine Kirche gehen willst, hättest du doch in deiner Freizeit Gelegenheit dazu.«
Hank lenkte den Wagen auf den fast leeren Parkplatz vor dem Gotteshaus. Außer ihnen schien niemand hier zu sein. Es waren auch keine weiteren Häuser in der Nähe. Nur ein Fahrzeug parkte in der Ecke. Ein alter, dunkelblauer Mercedes.
Hank stellte den Motor ab. »Hör zu, ich habe Morrisson was versprochen. Bevor er für immer nach Sing Sing wandert, wollte er noch einmal die Gegend sehen, in der er aufgewachsen ist. Noch einmal die Luft seiner Kindheit atmen. Ein letztes Mal, verstehst du? Und er will noch einmal die Kirche sehen, in die er als Kind immer gegangen ist.«
»Du willst ihn rauslassen? Hier?«
Hank öffnete die Seitentür und drehte sich um.
»Glaubst du, er wird uns hier entwischen?«, fragte er. »Wir sind zu zweit.«
Er ging nach hinten.
Pete machte, dass er auf der Beifahrerseite aus dem Wagen kam.
»Das kannst du nicht machen, Hank. Das ist gegen die Vorschrift!«
Als er hinten ankam, war der Kollege schon dabei, die hintere Tür zu öffnen. Guss Morrisson, der dahinter saß, war ein mehrfacher Frauenmörder, dem sie verschärfte Haftbedingungen aufgebrummt hatten. Daher die Verlegung in die Sing Sing Correctional Facilityin Ossining im Staat New York.
Pete fiel Hank in den Arm.
»Was hast du dafür gekriegt?«, fragte er. »Wenn das hier rauskommt, sind wir beide erledigt. Ich will einen Anteil.«
»Ich wusste, dass das kommen würde.« Hank grinste. »Keine Sorge, Pete, du kriegst was ab. Und nun hab dich nicht so.«
Er öffnete die Tür. Morrisson saß im Dämmerlicht des Vans, wo immer noch eine matte Notbeleuchtung brannte. Das war das einzige Licht, das dem Gefangenen zur Verfügung stand. Der Wagen hatte keine Fenster.
Morrisson erhob sich von einer schmalen Bank. Seine Hände waren mit Handschellen gefesselt. Er trug die orangefarbene Kleidung der Häftlinge.
Wäre dieser Aufzug nicht gewesen, hätte man ihn für einen Dressman halten können. Er hatte ein markantes Gesicht mit ausdrucksvollen Augen. Trotz seiner mittlerweile zweiundfünfzig Jahre fand sich in seinem vollen, dunklen Haar nicht die geringste Spur eines Grautons.
Aber nicht nur mit seinem Aussehen hatte Morrisson bei den Frauen Eindruck machen können. Wenn er wollte, war er der perfekte Gentleman.
Als er die beiden Aufseher sah, lächelte er.
»Sie sind also bereit, mir meinen bescheidenen Wunsch zu erfüllen?«, fragte er. »Dafür danke ich Ihnen jetzt schon.«
»Fünf Minuten«, sagte Hank streng. »Nicht mehr. Bringen wir’s hinter uns.«
Pete war ein wenig auf Abstand gegangen und beobachtete, wie Morrisson ausstieg.
»Die Handschellen bleiben natürlich dran«, fügte Hank hinzu.
Pete sah, wie Morrisson im Wind fröstelte. Das Wetter war in den letzten Tagen schlechter geworden, und für die nächsten Tage war Regen angesagt.
Der Gefangene drehte sich zur Kirche. Ihre Wände waren weiß getüncht, und der Turm stach wie eine Nadel in den grauen Himmel.
»Na, erkennst du den Geruch der Kindheit wieder?«, spottete Hank und sah auf die Uhr. »Noch vier Minuten.«
Morrison machte ein paar Schritte auf die Kirche zu. Hank folgte ihm im Abstand von fünf bis sechs Yards.
Pete blieb abseits. Er hatte die Hand an seiner Waffe. Sollte Morrisson auf die Idee kommen, loszulaufen, würde er ihn sofort stoppen.
Aber wohin sollte er hier fliehen? Sie hätten ihn in wenigen Minuten wieder eingefangen.
Natürlich müssten sie sich dann eine gute Story zurechtlegen. Pete war sicher, dass es keine Schwierigkeiten geben würde. Noch drei Minuten, und die Sache war vorbei.
Von wem Hank wohl Geld für diesen kleinen Ausflug bekommen hatte? Oft steckten hinter solchen Sachen Verwandte des Gefangenen. Er würde den Kollegen gleich, wenn sie wieder im Wagen saßen, danach fragen.
Und er würde natürlich verhandeln. Schließlich hatte er ihn in der Hand. Er konnte immer sagen, dass es nicht seine Idee gewesen war. Und dass er erst Minuten vor der Aktion überhaupt davon erfahren hatte. Und das war noch nicht mal gelogen. Pete war zufrieden mit sich.
»Noch eine Minute«, rief Hank Morrisson zu. »Machen wir uns wieder auf den Rückweg.«
In Pete machte sich gerade Erleichterung breit, da bemerkte er aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Sie kam von dem alten Mercedes, der am Rand des Parkplatzes stand. Plötzlich war da ein Mann zu sehen, der am Steuer saß.
Er muss die ganze Zeit in dem Wagen gewesen sein und sich versteckt haben, schoss es Pete durch den Kopf.
Plötzlich gab es einen Knall, ein Schuss.
Pete wirbelte herum und wollte seine Pistole ziehen, doch etwas zog ihm die Beine weg. Er war getroffen worden!
Im nächsten Moment lag er auf dem Asphalt. Ein Motor heulte auf. Der Mercedes raste los, knapp an Pete vorbei auf Hank zu. Der Kollege hatte die Hand an der Pistolentasche, war aber zu langsam. Das Letzte, was Pete sah, war, wie der Wagen kurz stoppte. Die Tür ging auf, und Morrisson hechtete hinein.
Dann verengte sich das Bild. Petes Oberschenkel schmerzte höllisch. Als er danach tastete, griffen seine Finger in eine warme, weiche Masse.
Der Regen klatschte gegen die Windschutzscheibe meines Jaguars, als ich die Tiefgarage verließ. Die Fußgänger auf den Straßen kämpften sich mit Regenschirmen durch das schlechte Wetter.
Phil wartete wie immer an der vereinbarten Ecke auf mich. Er trug wie ich heute eine Lederjacke. Einen Schirm hatte er nicht, sondern er stand unter dem schützenden Vordach einer Bankfiliale.
Als er mich sah, kam er herübergerannt.
»Wie gut, dass ich meinen privaten Chauffeur habe«, sagte er, nachdem wir uns begrüßt hatten. »In ganz New York ist kein Taxi zu finden, und die Bahnen und Busse sind völlig überfüllt.«
»Die Straßen aber auch«, meinte ich nur.
Nach einer Fahrt von fast anderthalb Stunden waren wir endlich am Javits Federal Office Building, das im dreiundzwanzigsten Stock das New Yorker FBI beherbergte. Als wir uns bei Helen, der Vorzimmerdame von Mr. High, einen Kaffee holen wollten, erklärte sie uns, dass wir gleich hierbleiben konnten.
»Der Chef erwartet euch schon«, informierte sie uns.
Mr. High bat uns nach einer knappen Begrüßung in die Konferenzecke, wo Akten lagen. Eine davon war aufgeschlagen und zeigte das Bild eines dunkelhaarigen Mannes.
Ich erkannte ihn sofort, obwohl wir mit seinem Fall nicht direkt befasst waren, doch er war vor einigen Jahren monatelang durch die Medien gegangen.
»Guss Morrisson«, sagte ich. »Der Frauenmörder. Bei ihm haben die Kollegen in Connecticut gute Arbeit geleistet.«
»Die leider vergebens war«, sagte der Chef mit finsterem Blick. »Morrisson konnte vor vier Tagen entkommen. Und er hat in der Zwischenzeit wieder zugeschlagen.«
»Er konnte aus dem Gefängnis fliehen, Sir?«, wunderte sich Phil. »Wie ist ihm das denn gelungen?«
»Er sollte in ein anderes Gefängnis verlegt werden, aus Connecticut nach Ossining. Unterwegs ist ihm die Flucht gelungen. Er muss einen Helfer gehabt haben. Und der Fahrer des Transports wurde bestochen.«
Phil entließ hörbar Luft durch die Zähne.
»Sie sagten, er hat wieder zugeschlagen, Sir?«, fragte ich.
»Er hat eine Frau angegriffen, die sich aber zum Glück retten konnte. Es geschah in der Gegend von White Plains.«
»Verdammter Mist«, sagte Phil und schüttelte den Kopf.
»Ich fürchte, wir müssen uns wirklich beeilen«, erklärte Mr. High. »Hier ist das Material, das Sie brauchen. Jede Sekunde zählt. Jede Sekunde, die wir ihn früher schnappen, kann ein Leben retten.«
Morrisson, der zu Beginn seiner Haftzeit vier Frauen auf dem Gewissen gehabt hatte, sollte nach Sing Sing verlegt, werden weil das dortige Gefängnis den sogenannten Supermax-Standard besaß. Wahrscheinlich gefiel ihm das nicht, denn die Vergünstigungen in so einem Knast waren bedeutend geringer als woanders.
Wir lasen genau nach, wie Morrissons Befreiung abgelaufen war. Offenbar war es dabei alles andere als unblutig zugegangen. Der eine Aufseher namens Pete Miller war dabei umgekommen. Der andere, ein gewisser Hank Bronsky, hatte in der Befragung zugegeben, bestochen worden zu sein, um Morrisson an der Connecticut State Route 15 ein paar Minuten aus dem Wagen zu lassen. Angeblich hatte sich der Gefangene von der Gegend verabschieden wollen, in der er seine Kindheit verbracht hatte.
»So ein Blödsinn«, schimpfte Phil, als er das las. »Ich habe das gerade gegengecheckt. Morrisson stammt aus Oklahoma. Bis zu seiner Flucht ist er dort an der State Route noch nie gewesen.«
Leider konnte oder wollte Bronsky keine Aussage darüber machen, wer ihm das Bestechungsgeld gegeben hatte. Er behauptete, man hätte ihn anonym kontaktiert und das Geld einfach in seinen Briefkasten geworfen. Fünftausend Dollar in bar.
Wir hatten keinen Grund, an Bronskys Aussage zu zweifeln. Es hätte ihm geholfen, mehr über die Sache preiszugeben. Er war zwanzig Jahre im Staatsdienst und hatte sich nie etwas zuschulden kommen lassen.
Nicht das Geringste fanden wir über Verwandte von Morrisson. Und erst recht nicht über Freunde.
»Wer hat ihm geholfen?«, überlegte ich laut. »Und vor allem, warum? Es muss doch irgendeinen Kontakt geben.«
Wir übergaben diese Frage gleich unserem Computergenie Dr. Ben Bruckner, der wie immer konzentriert in seinem Büro vor einer ganzen Gruppe von Computermonitoren saß, auf denen kryptische Zeichen nach unten wanderten.
»Schon als die Fahndung nach Morrisson wegen der vier getöteten Frauen lief, haben die Kollegen in Connecticut versucht, seine Kontakte aufzuschlüsseln«, sagte er und fügte gleich hinzu: »Es ist ihnen nicht gelungen. Über Verwandte wissen wir nichts, und Freunde hatte er wohl nicht. Beruflich arbeitete er jahrelang als Grafikdesigner von zu Hause aus. Seine Aufträge bekam er nur über seine Webseite.«
»Ein einsamer Wolf«, stellte Phil fest und erntete einen verwirrten Blick von Ben, der mit solchen Vergleichen nichts anfangen konnte.
Nervös griff der IT-Experte zu einer Packung Lakritzbonbons und steckte sich eins davon in den Mund.
»Vielleicht ist der Helfer ein ehemaliger Kunde?«, überlegte ich. »Kann man heute noch herausfinden, für den Morrisson gearbeitet hat?«
Ben versprach, sich darum zu kümmern.
Unsere nächste Station war die Psychologin der Abteilung, Supervisory Special Agent Dr. Iris McLane. Auch sie hatte schon die Informationen über Morrisson in ihrem Posteingang.
Unsere groß gewachsene Kollegin mit der blonden Kurzhaarfrisur fiel normalerweise durch ihre Attraktivität auf. Doch heute wirkte sie bedrückt. Es zeigten sich sogar ein paar Falten auf ihrem Gesicht, und von dem sonst üblichen ironischen Zug um die Mundwinkel war nichts zu sehen.
»So was kann einen wirklich fertigmachen«, sagte sie und sah uns durch ihre Brille an. »Wegen fünftausend Dollar hat dieser Hank Bronsky nicht nur die Arbeit der Ermittlungsteams zunichte gemacht, sondern gleich auch noch dafür gesorgt, dass es einen Toten gibt und weitere geben könnte. Ich frage mich, was in solchen Leuten vorgeht.«
»Wir dachten, als Expertin auf dem Gebiet der Psychologie wüsstest du das?«, versuchte ich die schlechte Stimmung aufzuhellen.
Sie blieb ernst, schüttelte den Kopf und setze die Brille ab, die sie nur zum Lesen brauchte.
»Manchmal bin auch ich mit meinem Latein am Ende«, gab sie zu. »Vor allem, wenn normale bürgerliche Leute mit einem geregelten Einkommen und unkündbarem Job plötzlich geldgierig werden.«
Wir setzten uns auf die Besucherstühle vor Iris’ Schreibtisch.
»Was kannst du uns über Morrisson sagen?«, fragte ich. »Ist es sicher, dass er nach seiner Flucht schon wieder Frauen angegriffen hat? Kann es nicht auch jemand anders gewesen sein?«
»Wie geht er denn vor?«, fragte Phil. »Und warum genau tötet er seine Opfer? Soweit ich das aus den Akten weiß, hat er keine der Frauen vergewaltigt. Es scheint ihm ausschließlich darum zu gehen, Frauen zu töten.«
Iris nickte. »Er erwürgt seine Opfer. Und er tötet sie wahrscheinlich deswegen, weil der sexuelle Akt selbst mit einem Trauma verbunden ist. Das hat ihn im Zuge einer psychischen Deformation zu einem extremen Frauenhasser gemacht. Er ist natürlich in der Lage, das zu verbergen. Nach außen hin wirkt er extrem charmant, er ist attraktiv und wirkt wie der perfekte Gentleman. Er agiert besonders gerne in ländlichen Gegenden, wo die Frauen auf diese großstädtische Art besonders abfahren.«
»Mit anderen Worten: Er ist eine tickende Zeitbombe«, stellte Phil fest.
»Nicht gerade das beste Wetter, um aufs Land zu fahren«, meinte Phil, als wir die Tiefgarage verließen.
White Plains war eine Stadt, die ungefähr fünfunddreißig Meilen entfernt im Norden lag. Mit etwa siebenundfünfzigtausend Einwohnern ein kleiner Ort, mit verstreuten Siedlungen drumherum. Und viel Wald.
Die Frau, die sich vor Morrisson hatte retten können, wohnte nördlich der Innenstadt, ganz in der Nähe des Silver Lake Preserve, einem Landschaftsschutzgebiet. Eine ganze Weile reihten sich Einfamilienhäuser aneinander, dann kamen mehrere Mietblocks.
An einer der Klingeln stand der Name: Ruth Simon. Ich klingelte, über die Gegensprechanlage meldete sich jemand.
»FBI«, sagte ich. »Wir hatten uns angekündigt.«
Ruth Simon war Ende zwanzig, dunkelhaarig und schlank. Wir wussten aus den Akten, dass Morrissons Opfer einem bestimmten Frauentyp entsprachen, den auch sie verkörperte.
Sie empfing uns an der Eingangstür eines kleinen Apartments.
»Ich habe doch Ihren Kollegen von der Polizei schon alles gesagt«, meinte sie, nachdem wir unsere ID-Cards vorgezeigt hatten.
Ich erklärte ihr, dass nun das FBI den Fall übernommen hatte.
Sie bat uns herein und führte uns in ein kleines Wohnzimmer, das von einem pinkfarbenen Sofa beherrscht wurde.
Nachdem wir Platz genommen hatten, baten wir sie, uns die Begegnung mit Morrisson zu schildern.
»Ich arbeite in einem Supermarkt drüben an der Reservoir Road. Ich hatte gegen zwanzig Uhr Dienstschluss und bin noch zu Archers gegangen.«
»Das ist die Bar, wo Sie ihn getroffen haben?«, hakte Phil nach.
Ruth Simon nickte.
»Hat er Sie dort angesprochen?«, fragte ich.
»Nein, Agent Cotton, es war ganz anders. Ich nehme von der Bushaltestelle immer so eine kleine Abkürzung durch ein Waldstück. Es sind nur etwa zweihundert Yards. Ich hatte es schon fast durchquert, da tauchte er auf einmal neben mir auf. Ich habe mich erst wahnsinnig erschrocken. Er hat mich aber sofort beruhigt und gesagt, dass er zu Archers wolle. Er hat eine sehr sympathische Stimme, wissen Sie? Jedenfalls hatte ich überhaupt keine Angst.«
»Sie sind also zusammen mit ihm in die Bar gegangen?«
»Ja, genau. Wir haben uns dann ein bisschen unterhalten, aber nicht die ganze Zeit. Ich habe ein paar Bekannte gesehen und mich auch mal zu ihnen gesetzt. Nach anderthalb Stunden oder so wollte ich wieder gehen, und da war Morrisson wieder neben mir und bot mir an, mich durch das kleine Waldstück zur Bushaltestelle zu begleiten. Ich war nicht im Geringsten misstrauisch ihm gegenüber.«
Sie machte eine Pause und blickte zu Boden. Uns war klar, dass jetzt der schwerste Teil ihres Berichts kam.
»Wir waren vielleicht vierzig, fünfzig Yards auf dem Pfad gegangen …« Sie seufzte. »Und dann, völlig unvermittelt, packte er mich. Ich habe überhaupt nicht damit gerechnet. Auf einmal hatte ich seine Hand an meinem Hals, und er hatte eine furchtbare Kraft …« Wieder unterbrach sie sich.
»Alles klar, Miss«, sagte Phil. »Aber wie sind Sie ihm entkommen?«
Sie sah erst meinen Partner an, dann mich.
»So genau weiß ich das selbst nicht. Ich denke, ich hatte einfach Glück. Auf einmal war da ein Geräusch, irgendetwas knackte. Ich denke, es war ein anderer Fußgänger, der vorbeikam. Für einen Moment ließ der Druck an meinem Hals nach. Ich rammte ihm meinen Ellbogen in den Bauch und rannte einfach. Zum Glück kam an der Haltestelle gerade der Bus.«
Ich ergriff das Wort. »Sie haben zwei Tage damit gewartet, zur Polizei zu gehen, Miss Simon. Das soll kein Vorwurf sein, wir wüssten nur gerne den Grund dafür.«
»Ach, ich weiß auch nicht … Ich wollte das ganze erst Mal einfach nur vergessen. Dann habe ich es mir anders überlegt.«
»Die richtige Entscheidung«, versicherte Phil.
Wir bedankten uns für den Bericht und gingen. Unsere nächste Station war die Archers Bar. Sie befand sich an der Virginia Road, der langen Nord-Süd-Achse, die im Osten von White Plains verlief.
Links und rechts war die Straße von Wald gesäumt, nur hin und wieder waren Siedlungen zu sehen. Dann kam ein großer Parkplatz, dessen hinteres Ende von einem einstöckigen Gebäude begrenzt wurde. Auf dem schrägen, langen Dach erhob sich das Logo der Bar als Leuchtreklame, die um diese Zeit erloschen war.
Ich parkte direkt davor.
»Sieht geschlossen aus«, stellte Phil fest.