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Luigi Mesa wurde von einem Wolkenkratzer in Manhattan gestoßen. Bei dem Opfer handelte es sich um einen Killer der Lukretia-Familie. Phil und ich übernahmen den Fall, doch es gab keine Hinweise auf den oder die Täter. Bereits wenige Tage später wurde ein Mitglied der Vendressa-Familie auf eine ähnliche Art und Weise ermordet, und das dritte Opfer, Don Frank Marsalla, folgte auf dem Fuße. Phil fiel auf, dass die Tatorte in einer Linie lagen. Wenn wir schon keine Hinweise auf den Mörder fanden, konnten wir auf diese Weise doch wenigstens den nächsten Tatort vorhersehen. Noch ahnten wir nicht, was uns dort erwarten würde ...
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Seitenzahl: 142
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Impressum
Eine alte Rechnung
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: Ollyy/shutterstock
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-9647-8
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Eine alte Rechnung
»Nein! Nicht! Bitte nicht!« Luigi Mesa flehte um sein Leben.
Er baumelte mit dem Kopf nach unten von einem Hochhaus in Manhattan. Unter ihm, weit entfernt, eine wenig befahrene Straße. Um ihn herum dunkle Nacht.
»Netter Versuch«, rief der Mann, der Mesas Beine festhielt. »Nenne mir einen Grund, warum ich dein Leben verschonen sollte.«
»Ich … ich habe nichts verbrochen!«, brachte Mesa krächzend hervor.
Der andere Mann lachte schallend. »Du weißt, dass das gelogen ist. Versuch es nochmal!«
»Geld … ich kann dir Geld geben. So viel, wie du willst! Es wird sich für dich lohnen!«
»Das zieht auch nicht«, sagte der Mann und lockerte seinen Griff für einen kurzen Moment.
Mesa ruderte mit den Armen in der Luft, versuchte vergeblich, sich festzuhalten. Er schaute nach unten, in die Tiefe, während sich vor Angst seine Blase entleerte.
»Es tut mir leid! Wirklich, es tut mir leid!«, brüllte er verzweifelt.
Der Mann schaute ihn nachdenklich an. »Das kaufe ich dir sogar ab. Aber es ändert nichts. Viele Grüße an die Hölle!«
»Nein!«, schrie Mesa aus Leibeskräften, als der Mann ihn losließ.
Wie in Zeitlupe nahm er den Fall wahr, sah die Fenster des Gebäudes an sich vorbeirauschen. Bis er aufschlug und sein Leben ein jähes Ende fand.
Der Mann, der oben am Rand des Daches stand, nickte. Sein Gesicht zeigte Genugtuung.
Mesa war Geschichte. Und das war gut so.
»Theodor«, wiederholte Phil, der neben mir im Jaguar saß, als wir durch die Straßenschluchten von New York in Richtung Federal Plaza fuhren.
»Was will uns der belesene Mister Decker damit sagen?«, hakte ich nach.
»Es geht um die Bedeutung«, erklärte er und rümpfte die Nase. »Der Name Theodor stammt aus dem Griechischen. Er setzt sich aus Theo, also Gott, und doron, was Geschenk bedeutet, zusammen. Geschenk Gottes. Der Autor dieses Artikels behauptet allen Ernstes, dass sich Theodore Roosevelt selbst als Geschenk Gottes betrachtet hat. Unglaublich, nicht wahr?«
»Ich finde es eher unglaublich, dass wir überhaupt darüber reden«, erwiderte ich. »Such uns lieber einen Sender raus, der echt gucci ist.«
»Was? Gucci? Was soll das denn heißen?«
Ich lächelte. »Oh, ich vergaß, dass Mister Decker lieber Altgriechisch spricht, als sich der aktuellen Sprache zu bedienen. ›Gucci‹ sagen die jungen Leute, wenn sie ausdrücken wollen, dass alles gut ist. «
Phil musterte mich argwöhnisch. »Ich will gar nicht wissen, woher du das weißt.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Man schnappt halt so einiges auf, wenn man nicht irgendwelche Artikel von irgendwelchen Typen liest, die unsere ehemaligen Präsidenten verunglimpfen wollen.«
»Lesen bildet!«, konterte Phil.
»Da widerspreche ich gar nicht. Allerdings ist das nur eine Form der Bildung. Man lernt ebenfalls viel, wenn man sich mit Leuten unterhält, ihnen zuhört.«
»Wie auch immer«, erwiderte Phil und suchte uns einen coolen Sender raus.
Im Büro angekommen, machten wir uns sofort auf den Weg zu Mr. Highs Büro.
Helen saß bereits an ihrem Schreibtisch und tippte auf der Tastatur ihres Computers herum.
»Guten Morgen«, begrüßte Phil sie freundlich. »Hast du es schon mal mit einem Spracherkennungssystem versucht? Die Dinger sollen inzwischen recht zuverlässig funktionieren.«
»Und erlauben es jedem in der Umgebung mitzuhören, was man schreibt«, bemerkte Helen. »Abgesehen davon senden einige dieser Programme das, was man gesagt hat, an irgendwelche Server, um es zu deuten. Ist also nicht besonders sicher. Also nein, danke, kein Bedarf. Da geht die Sicherheit vor. Mister High ist übrigens noch nicht da, müsste aber gleich ankommen. Er hatte noch ein Gespräch, wollte noch etwas besorgen und …«
»… da ist er schon«, beendete Phil ihren Satz, als der Chef Helens Büro betrat.
»Guten Morgen«, begrüßte uns Mr. High förmlich, nickte Helen freundlich zu und bat uns in sein Büro.
Er sah ausgeruht aus. Das war für ihn ungewöhnlich, kam aber durchaus vor. In letzter Zeit allerdings recht selten. Vielleicht hatte er die letzten drei Tage, in denen es relativ ruhig gewesen war, genutzt und sich ein wenig Ruhe gegönnt. Seine Miene ließ allerdings erahnen, dass es mit der Ruhe vorbei war.
»Sie sollten sofort losfahren. Es gab einen Todesfall. Luigi Mesa ist von einem Haus gestürzt«, waren seine nächsten Worte, die meine Vermutung bestätigten.
»Mesa? Der Mafiakiller?«, fragte Phil.
»Gestürzt? Oder gestürzt worden?«, hakte ich nach.
»Genau der«, antwortete Mr. High. »Und was die genauen Umstände betrifft, das müssen Sie herausfinden. Da er Mafioso war, übernehmen wir den Fall. Was ich habe, schicke ich Ihnen. Sie sollten sich beeilen. Das NYPD und die Gerichtsmedizin sind bereits vor Ort. Die wollen die Leiche kurzfristig abtransportieren. Haben im Moment wohl alle Hände voll zu tun. Der Sensenmann hat in der Nacht und heute Morgen wohl eine Extraschicht eingelegt.«
»Wir fahren sofort los, Sir«, sagte ich.
Als wir das Büro verließen, bedeutete ich Phil, auf Helens Kaffee zu verzichten.
Der brummte etwas Unverständliches und machte sich zusammen mit mir auf den Weg.
Am Fahrstuhl trafen wir Joe Brandenburg. Er sah aus, als hätte er die ganze Nacht lang eine Observierung durchgeführt.
»Morgen«, sagte er und unterdrückte ein Gähnen. »Habt ihr das mit Mesa gehört?«
»Der Chef hat uns den Fall übertragen«, antwortete Phil.
Joe klopfte ihm auf die Schulter. »Dann viel Spaß. Mesa war ein echt fieser Kerl. Hatte nur einmal mit ihm zu tun, aber … schlimm, wirklich schlimm. Gegen den war Luca Brasi ein Waisenknabe. Das ist vielleicht ein wenig übertrieben, aber Mesa war wirklich hart drauf. Hat allerdings in den letzten Jahren erheblich nachgelassen. War ja auch nicht mehr der Jüngste. Na ja, so ein Fall aus hoher Höhe, das klingt irgendwie nach göttlicher Gerechtigkeit.«
»Ist ja nicht so, dass er vom Himmel herabgeflogen wäre«, meinte Phil.
»Falls er je dort ankommt, wird aber genau das passieren.« Joe konnte ein weiteres Gähnen nicht unterdrücken. »Der Typ gehört definitiv in die Hölle, falls es denn eine geben sollte.«
In der Tiefgarage angekommen, verabschiedeten wir uns von ihm, empfohlen ihm ausgiebigen Schlaf und begrüßten Steve Dillaggio, der uns entgegenkam.
»Hallo, habt ihr schon gehört …?«, legte er los.
Phil hob die Hand, um ihm Einhalt zu gebieten. »Ja, haben wir. Jemand hat Mesa einen Freiflug spendiert.«
»Ihr wisst es schon?«, sagte er überrascht.
»So etwas spricht sich eben schnell herum«, bemerkte ich. »Davon abgesehen ist das unser Fall. Wir wissen zwar auch noch nicht viel, aber das wird sich bald ändern.«
»Na dann, viel Erfolg bei der Jagd!«, wünschte uns Steve.
»Die Sache verursacht ziemlich viel Wirbel«, meinte Phil, als wir im Jaguar saßen.
»Mesa war eben ein bekannter Mafioso.« Ich seufzte. »Darüber hinaus einer, dem viele Morde angelastet wurden, dem aber nie etwas nachgewiesen werden konnte.«
»Dafür hat ihn jetzt die göttliche Gerechtigkeit ereilt«, bemerkte Phil.
»Was aber nicht bedeuten muss, dass der Täter Theo oder Theodore heißt«, wandte ich ein. »Davon abgesehen: Wenn ihn jemand von dem Haus gestoßen hat, dann war es ein Mensch und kein Gott.«
»Auch wieder wahr«, bestätigte Phil.
***
Während ich den Jaguar durch die Straßen von New York lenkte, ging Phil auf seinem Notebook Mesas Akte durch.
»Der Kerl ist nicht ohne. Pardon, war nicht ohne«, bemerkte er. »Insgesamt sollen zwölf Morde auf sein Konto gehen. Es ist oft gegen ihn ermittelt worden, allerdings jedes Mal ohne Erfolg. In den letzten Jahren ist er allerdings etwas ruhiger geworden. Sein letztes Gewaltverbrechen liegt, so wird zumindest vermutet, fast fünfzehn Jahre zurück.«
»Fünfzehn Jahre? Das ist eine lange Zeit. Wahrscheinlich ist er aufgestiegen und hatte es nicht mehr nötig, sich selbst die Hände schmutzig zu machen«, mutmaßte ich und setzte den Blinker, um links abzubiegen.
»Ganz genau. Er war bis zu seinem Ableben Mitglied der Lukretia-Familie. Die haben sich lange Zeit bedeckt gehalten. Na ja, Prostitution und Drogenhandel hängt man sowieso nicht an die große Glocke. Ich meine, es hat in den letzten Jahren keine Auseinandersetzungen mit anderen Familien gegeben. Ein paar der Kollegen haben in einem Bericht notiert, dass die koreanische Tiger-Gang in den letzten Monaten wiederholt versucht hat, in das Territorium der Lukretia-Familie einzudringen. Vielleicht hängt Mesas Ableben damit zusammen.«
»Du meinst, dass die Tiger-Gang ihn aus dem Weg geräumt haben könnte? Gut möglich. Wobei die Todesart für eine Gang nicht typisch ist. Die verlassen sich doch eher auf Schusswaffen oder Messer. Jemanden vom Hochhaus zu werfen, ist nicht gangtypisch.«
»Vielleicht wollten sie so eine Botschaft senden«, überlegte Phil. »So, wie die Nachricht von Mesas Tod beim FBI die Runde gemacht hat, wird sie bei der Lukretia-Familie sicher für Aufruhr gesorgt haben. Oder sie haben sich dafür entschieden, damit der Verdacht nicht auf sie fällt.«
Ich nickte. »Mit denen sollten wir auf jeden Fall reden. Aber zuerst will ich wissen, ob es Hinweise auf Fremdeinwirkung gibt. Vielleicht haben ihn ja die Schuldgefühle übermannt und er hat den Freitod gewählt.«
Phil schaute mich ungläubig an. »Denkst du das wirklich?«
»Nein, eigentlich nicht. Ich wollte die Möglichkeit nur mal erwähnt haben.«
***
Keine Viertelstunde später erreichten wir den Tatort. Oder besser gesagt: den Bürgersteig, auf dem Mesas sterbliche Überreste lagen. Die Kollegen hatten die Leiche abgedeckt, damit die Schaulustigen und Presseleute keine Fotos machen konnten.
Phil und ich warfen einen kurzen Blick unter die Plane. Kein schöner Anblick.
»Da seid ihr ja«, hörte ich hinter mir eine vertraute Stimme.
Als ich mich umdrehte, sah ich Dr. Janice Drakenhart, eine Pathologin, mit der wir schon oft zusammengearbeitet hatten. Sie sah gut aus, wie immer. Nur ihre roten Haaren waren länger als sonst. Viel länger.
»Wir hatten schon länger nicht das Vergnügen«, meinte Phil und begrüßte sie.
Auch er fixierte ihre Haare mit seinem Blick.
Sie lächelte. »Ganz so lang ist es eigentlich nicht her. Und, nur um das klarzustellen: Das sind Extensions.«
»Ach so!« Phil schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.
»Habe ich damit etwa ein lang gehütetes Frauengeheimnis gelüftet?«, fragte sie lächelnd. »War nur ein Scherz. Aber genug zu meinen Haaren. Ihr wollt sicher etwas über den Herrn hier wissen.«
Sie deutete auf Mesas Leiche.
»Über die Todesursache kann ich noch keine abschließende Aussage machen. Es sei denn, er hat noch gelebt, als er gesprungen ist oder heruntergeworfen wurde. Dann ist es natürlich der Fall aus großer Höhe. Der Körper ist durch den Aufprall ziemlich übel zugerichtet, daher muss ich ihn genauer unter die Lupe nehmen, um Verletzungen zu identifizieren, die ihm möglicherweise vorher zugefügt wurden. Was wir haben, ist die Todeszeit. 3:33 Uhr. Zumindest wurde er um die Zeit gefunden. Um die Zeit ist noch nicht allzu viel los, ist also theoretisch möglich, dass es wenige Minuten früher passiert ist. Abgesehen davon passt der Zeitpunkt zu meinen Messungen.«
»Wurde er denn gestoßen oder geworfen? Ich meine, gibt es Hinweise darauf, dass er nicht von sich aus gesprungen ist?«, wollte ich wissen.
»Wie es aussieht, war er nicht allein auf dem Dach«, antwortete sie. »Die Tür zum Dach ist gewaltsam geöffnet worden, doch wir haben das Werkzeug nicht gefunden. Wenn er allein war, wie hätte er es dann verschwinden lassen können? Wenn er es heruntergeworfen hätte, dann hätten wir es sicher gefunden. Zusammen mit den Fußspuren von einer zweiten Person lässt es eher darauf schließen, dass Mesa nicht allein auf dem Dach war.«
Ich nickte. »Und wie sieht es mit konkreten Beweisen aus? DNA? Videoaufzeichnungen?«
»Wir haben eine Menge Proben genommen«, antwortete Dr. Drakenhart. »Ob etwas dabei herauskommt, weiß ich natürlich nicht. Kameraaufzeichnungen gibt es nicht. Das Überwachungssystem ist vor dem Mord ausgeschaltet worden. Was noch ein Hinweis auf Fremdeinwirkung ist und außerdem darauf, dass der Mord geplant war. Wenn die zweiten Fußspuren, die wir gefunden haben, vom Täter stammen, lebt er wohl auf großem Fuß. Und das nicht im übertragenen Sinne. Mesa ist ein ziemlich großer Kerl mit großen Füßen. Die anderen Fußabdrücke sind allerdings noch eine Nummer größer.«
»Dann suchen wir einen Mörder mit großen Füßen«, bemerkte Phil.
»Und einen, der Mesa oder der Lukretia-Familie nicht wohlgesonnen war«, fügte ich hinzu.
Dr. Drakenhart zuckte mit den Schultern. »Sorry, mehr kann ich euch im Moment leider nicht anbieten. Zumindest nicht an Beweisen. Wie wäre es mit einer Besichtigung des eigentlichen Tatorts?«
»Nichts dagegen einzuwenden«, meinte Phil und schaute mich an. »Ist etwas hoch da oben. Aber wenn du mit deiner Höhenangst klarkommst …«
Er zeigte ein verhohlenes Grinsen. Natürlich wusste er, dass ich keine Angst von Höhen hatte. Scheinbar hatte er meine Bemerkung über seine morgendliche Exkursion in die Tiefen der griechischen Sprache noch nicht ganz vergessen.
»Wird schon gehen«, sagte ich und fügte als Scherz hinzu: »Falls nicht, muss ich mir eben einen Fallschirm besorgen.«
Dr. Drakenhart führte uns ins Haus, zum Fahrstuhl. Es dauerte nicht lange, die rund fünfzehn Stockwerke nach oben zu fahren. Die letzten paar Yards zum Flachdach mussten wir über eine Treppe zurücklegen.
Oben angekommen, fiel mir zuerst auf, dass es windig war. Sehr sogar. Dr. Drakenharts Mähne bewegte sich im Wind wie die Haare der Models aus der Fernsehwerbung.
Sie schien meinen Blick zu bemerken und zeigte ein kurzes Lächeln, das aber sofort wieder verschwand, als sie auf den Rand des Daches deutete.
»Von da wird er gefallen sein. Zumindest führen die Fußspuren dort hin.«
Ich bewegte mich auf den Rand des Flachdachs zu. Die letzten paar Schritte wurde ich langsamer. Es gab ein Geländer, gut drei Fuß hoch. Zur Sicherheit hielt ich mich daran fest, als ich nach unten blickte.
Es waren schätzungsweise fünfzig Yards bis zum Boden. Als Zahl nicht besonders viel, aber es wirkte wirklich tief. Ein fallender Körper benötigte nur wenige Sekunden, um unten aufzuschlagen. Und zu sterben. Der plötzliche Aufschlag, gebrochene Knochen, zerquetschte Organe …
Einen Moment lang überlegte ich, ob einem die Zeit dabei vielleicht länger vorkam. Und das eigene Leben in Bildern an einem vorbeizog, wie es in Filmen oder der Literatur gerne beschrieben wurde.
Aber wer wusste das schon wirklich? Ich hatte nicht vor, es auszuprobieren.
Nachdem ich einen Schritt zurück gemacht hatte, wandte ich mich an Phil und Dr. Drakenhart.
»Gibt es hier sonst nichts zu sehen?«, erkundigte ich mich.
»Nicht wirklich.« Sie schüttelte den Kopf. »Wir haben Fotos von den Fußabdrücken gemacht. Wenn ich raten sollte, würde ich sagen, dass sich Mesa gewehrt hat.«
»Er wird kaum freiwillig so nah an den Rand des Hauses gegangen sein«, bemerkte Phil. »Aber er ist gegangen, nicht wahr? Ich meine, er wurde nicht getragen oder geschleift, war also noch bei Bewusstsein?«
»Davon ist auszugehen«, antwortete Dr. Drakenhart. »Kein schönes Ende.«
»Ich glaube nicht, dass ein Mafia-Killer ein schönes Ende verdient hat«, meinte Phil. »Aber warum hat sich der Täter die Mühe gemacht, ihn hier hoch zu bringen und ihn dann herunterzuwerfen? Er hätte ihn doch einfach erschießen können.«
»Vielleicht geht es um die Symbolik«, sagte ich. »Wenn wirklich die Tiger-Gang dahinterstecken sollte, dann wollten sie der Lukretia-Familie damit vielleicht mitteilen, dass sie tief fallen wird. Was weiß ich. Wir werden der Sache schon auf den Grund gehen.«
»Schauen wir, ob es Zeugen gegeben hat«, schlug Phil vor.
Wir verabschiedeten uns von Dr. Drakenhart. Dann rekonstruierten wir den Weg, den Täter und Opfer mutmaßlich zurückgelegt hatten.
»Nicht sehr wahrscheinlich, dass sie die zwanzig Stockwerke über die Treppe hochgegangen sind«, meinte Phil. »Der Fahrstuhl fährt in den Keller hinunter. Da sollten wir uns mal umsehen.«
Wir gingen zum Fahrstuhl und fuhren nach unten, ins Kellergeschoss. Dort war es, abgesehen vom Licht des Fahrstuhls, stockduster.
Phil suchte einen Schalter und aktivierte die Beleuchtung. Jetzt sah man die weiß gestrichenen, unverputzten Kellerwände ganz deutlich.
»Schau mal dort!«, meinte Phil und deutete zu einer Rampe.
Wir gingen in die Richtung und fanden heraus, dass die Rampe bis zum Erdgeschoss führte. Zu einer Tür auf der Rückseite des Gebäudes. Sie war offen. Wir traten nach draußen, auf den Hof.
»So hätten sie unbemerkt ins Gebäude kommen können«, folgerte Phil. »Wenn ihnen im Fahrstuhl niemand begegnet ist, was mitten in der Nacht wahrscheinlich ist, gibt es keine Zeugen.«
»Nein, dann nicht«, pflichtete ich ihm bei. »Aber vielleicht hat doch jemand etwas gesehen. Durch die Fenster zum Hof vielleicht.«
Wir gingen zurück ins Haus. Im Erdgeschoss wohnte der Hausmeister. Von seinem Apartment aus konnte er den Hof sehen.
Er war Ende vierzig, etwas kleiner als ich, aber enorm durchtrainiert. Seine Oberarme waren derart muskulös und sein Shirt so eng, dass der Stoff fast zu platzen schien.
Er ließ uns in sein Apartment, das er dem Anschein nach allein bewohnte. Es war nicht sehr groß, aber sauber und ordentlich.
»Sie haben gehört, was passiert ist?«, fragte ich, nachdem wir uns vorgestellt hatten.
Er nickte mit düsterer Miene. »Ja, ein Typ ist vom Dach gesprungen. Schlimme Sache. Das wird dem Eigentümer des Hauses sicher nicht gefallen. Macht sich nicht gut, wenn in einem Haus jemand Selbstmord begeht. Schlechtes Karma oder wie das heißt. Ich bin zwar nicht abergläubisch, aber gut finde ich das auch nicht.«
»Noch ist nicht sicher, ob es Selbstmord war«, sagte ich, ohne irgendwelche Details kundzutun. »Es könnte sein, dass das Opfer nicht allein war. Sie haben nicht zufällig etwas im Hof bemerkt? So gegen halb vier?«