Jerry Cotton 3282 - Jerry Cotton - E-Book

Jerry Cotton 3282 E-Book

Jerry Cotton

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Beschreibung

Innerhalb weniger Tage ereigneten sich in New York zwei Morde, deren Modus Operandi den Täter im Milieu der Russenmafia vermuten ließ. Doch auch die Opfer wiesen eine interessante Gemeinsamkeit auf: Beide waren Mitglieder einer Garagenpunkband, die bisher vor allem im Großraum New York einige Clubauftritte absolviert hatte. Auf der Suche nach einer Verbindung der Band ins kriminelle Milieu fanden Phil und ich heraus, dass der noch lebende, aber spurlos verschwundene Gitarrist der Band - Vasily Zwetkow - selbst russische Wurzeln hatte und schon seit Längerem als Laufbursche für den Waffenhändler Dimitro Orlow arbeitete. Noch konnten wir uns nicht vorstellen, was Zwetkow und seine Bandkollegen getan hatten, um Orlows Unmut auf sich zu ziehen. Dennoch mussten wir damit rechnen, dass auch die beiden noch lebenden Bandmitglieder in Gefahr schwebten. Ein Wettlauf gegen die Zeit begann ...

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 146

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhalt

Cover

Impressum

Mörderische Beats

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelfoto: AS photo studio/shutterstock

Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-9648-5

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Mörderische Beats

Der Applaus, die Pfiffe und Jubelrufe drangen wie durch eine Wand aus Watte an Eddie Walshs Ohren. Der dürre Bassist griff nach einem Handtuch und wischte sich den Schweiß von seinem tätowierten Oberkörper.

Sein Bandkollege Keith Ryan stand bereits am Ausgang des Backstagebereichs und hielt drei Finger in die Höhe, bevor er zu den anderen hinter die Bühne verschwand.

Eddie war klar, was das hieß. Drei Minuten bis zur Zugabe. Er wandte sich ab, warf das Handtuch zur Seite, drehte sich wieder um – und erstarrte.

Vor ihm im Eingang stand eine extrem heiße Braut. Und unter dem weit geöffneten Mantel war sie splitternackt …

Eddie hustete schwindsüchtig und wich abrupt einen Schritt zurück.

Die Rothaarige mit der Pagenfrisur lächelte und wickelte kokett eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger.

»Angst?«, fragte sie und klimperte dabei verführerisch mit den Wimpern.

Jetzt verzogen sich Eddies Lippen zu einem breiten Grinsen. »Nee, keine Zeit.«

Die Anfeuerungsrufe im Hintergrund wurden lauter. Wie üblich fingen ein paar wenige damit an, während nach und nach immer mehr Zuschauer in den Chor miteinstimmten.

»Die Zugabe packen die auch ohne Bassisten«, meinte die Rothaarige mit rauchiger Stimme.

Eddie bemerkte einen leicht osteuropäischen Akzent. Die Gedanken wälzten sich zäh wie Lava durch sein Gehirn. Er hätte auf der Bühne nicht so viel trinken sollen. Aber hey, der Gig wurde lausig bezahlt, und die Getränke gingen aufs Haus.

Was würden die anderen sagen, wenn er plötzlich verschwand? Andererseits half er bei den Wildcats nur aus, solange seine eigene Band auf Eis lag. Und deren Art von Pseudo-Punk für Collegestudenten war ohnehin nicht sein Ding.

Die Rothaarige nahm ihm eine Entscheidung ab, indem sie ihn einfach bei der Hand nahm.

»Komm, ich zeige dir meinen Van. Parkt gleich hinter dem Club …« Sie zog ihn zwei Schritte mit sich, dann drehte sie sich noch einmal zu ihm um und fügte augenzwinkernd hinzu: »Auf dem Rücksitz liegt eine Matratze …«

Der zweiunddreißigjährige Bassist stellte jede Gegenwehr ein. Es war lange her, dass er sich zuletzt von einem Groupie hatte abschleppen lassen. Irgendwie war das ja mehr ein Siebzigerjahre-Ding, und Eddie war sich auch gar nicht so sicher, ob sie ihn nicht verwechselte. Schließlich war er kein offizielles Mitglied der Band.

Drauf geschissen, dachte er, als sie ihn durch eine Seitentür und dann über einen Innenhof und durch eine weitere Tür auf die Straße hinaus führte.

Zumindest hatte sie nicht gelogen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkte tatsächlich ein relativ neuer, schwarz lackierter VW-Van mit getönten Scheiben.

Eddie sah sich in alle Richtungen um. Zu dieser nächtlichen Stunde war weit und breit kein anderer Mensch auf der Straße. Für einen kurzen Moment fiel Eddies Blick auf die kleine Mauer, die den Club im Osten von Brooklyn umgab und auf der ein Dutzend Plakate klebten, die den heutigen Auftritt der Wildcats bewarben.

Im Laufschritt überquerten sie gemeinsam die Straße und blieben auf dem Gehweg hinter dem Van stehen.

Eddie lächelte breit. Er tat einen Schritt auf die heiße Braut zu, wollte gerade seine Hände unter ihren jetzt züchtig geschlossenen Mantel wandern lassen, als hinter ihm die Seitentür des Vans mit einem Ruck aufgerissen wurde.

»Was, zum …?« Eddie wollte sich umdrehen, als ihn eine volle Ladung aus der Pfefferspraydose erwischte, die die Rothaarige unvermittelt aus ihrer Manteltasche gezogen hatte.

Eddie schrie schmerzerfüllt auf und riss sich die Hände vors Gesicht. Seine Augen brannten wie Feuer und begannen zu tränen. Gleichzeitig merkte er, wie er von einem starken Arm gepackt wurde, der sich von hinten um seinen Hals schlang.

Er spürte den stechenden Pieks einer Nadel, die ihm in die Halsschlagader gerammt wurde. Und dann nur noch die Wirkung der Substanz, die aus der Nadel in seine Adern rauschte und seinen dürren Körper in Sekundenschnelle lähmte.

Die Arme, die ihn gerade noch außer Gefecht gesetzt hatten, fingen ihn auf, bevor er bewusstlos auf dem harten Asphalt aufschlagen konnte, und zogen ihn auf den Rücksitz des Vans.

Die Rothaarige kletterte hinterher, dann schloss sich die Seitentür hinter ihnen, und der Fahrer, der sich bisher unter dem Lenkrad versteckt gehalten hatte, gab Stoff.

Sekunden später ließ nichts mehr auch nur erahnen, was hier gerade passiert war.

Antony Gibson fühlte sich, als würde er schwerelos über die Oberfläche eines fremden Planeten gleiten. Um ihn herum war nichts zu sehen, außer einem grünlichen Schimmer, gelegentlichen Pflanzen, die immer wieder in sein Blickfeld gerieten oder seinen Taucheranzug streiften, und dem dunklen Schemen seines Tauchkollegen Neil Summers, der etwa sieben Fuß vor ihm schwamm.

Obwohl sie hier mitten in Manhattan waren, rund sechzig Fuß unterhalb der Wasseroberfläche, kam er sich vor wie in einer anderen Welt. Und die unwirklichen Geräusche, das leise Blubbern und das stetige Zischen seines Sauerstoffgeräts verstärkten diese Atmosphäre.

Vor knapp zwei Jahren war der Rechtsanwaltsgehilfe auf diese fünfköpfige Gruppe »Verrückter« gestoßen, die es nach der Arbeit und an den Wochenenden regelmäßig in die Tiefen des anderthalb Meilen breiten Hudson Rivers zog, der die natürliche Grenze zwischen den Staaten New York und New Jersey bildete. Sie verstanden sich als moderne Entdecker, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, diesem für die Allgemeinheit unsichtbaren Teil der Stadt seine Geheimnisse zu entreißen.

Obwohl man hier unten keine schillernden Südseefische oder bunte Korallenriffs vorfand, gab es doch einiges zu entdecken. Es war erstaunlich, was alles von den Ufermauern und Booten auf dem Grund dieses Gewässers landete.

Einmal hatten sie einen ganzen Kühlschrank geborgen. Antony fragte sich bis heute, wer sich die Mühe gemacht hatte, das neunzig Pfund schwere Gerät auf ein Boot zu hieven, um es, eine halbe Meile vom Ufer entfernt, ins Wasser zu stoßen. Und vor allem, warum.

Derartige »Schatzfunde« stellten aber eher die Ausnahme dar. Meist waren es nur Fische, Algen und Müll, die ihre Blicke streiften.

Plötzlich hielt Antony inne. Eben noch hatte er Neils schwarzen Neoprenanzug vor sich gesehen, dann für einen kurzen Moment auf den steinbedeckten Grund geblickt, und jetzt fehlte von seinem Tauchkollegen jede Spur. Nur trüb grünes Wasser, durchsetzt von Schwebeteilchen und Blubberblasen. Das widersprach den Regeln, die sie sich selbst auferlegt hatten. Sie tauchten grundsätzlich nur zu zweit und blieben immer in Blickkontakt zueinander.

Vielleicht lag es aber auch daran, dass das Wasser an dieser Stelle besonders trübe war und bereits Antonys Fingerspitzen verschluckte, wenn er die Hand ausgestreckt vor sich hielt.

Antony stieß sich vom Grund des Flusses ab und tat mehrere Schwimmzüge in die Richtung, in der er glaubte, Neil vor zwanzig Sekunden noch gesehen zu haben. Bereits nach wenigen Fuß wurde das Wasser wieder durchlässiger, und die Sichtweite erhöhte sich etwas, sodass Neil schräg vor sich einen Schemen ausmachen konnte. Einen menschlichen Körper.

Irgendetwas an ihm war jedoch seltsam. Die Gestalt bewegte sich nicht, sie paddelte nicht, sondern hing schräg, den Kopf vornüber gebeugt, im Wasser. Und, wie Antony zu seiner wachsenden Überraschung beim Näherkommen feststellte, trug sie auch keinen Taucheranzug, sondern normale Straßenklamotten.

Ein letzter Schwimmzug, dann war Antony bei ihr.

Oh Mann, ging es ihm noch durch den Kopf. Da ist einer abgesoffen.

Er berührte die mutmaßliche Leiche an der Schulter, zog sie zu sich herum … Und erkannte seinen Irrtum.

Der Mann war nicht ertrunken. Sein Kopf war auch nicht vornübergebeugt. Er war schlicht und ergreifend nicht vorhanden!

Vor Antony schwamm eine, mit einem Gewicht an den Füßen beschwerte, kopflose Leiche!

Unser Beruf führte uns häufiger in die heiligen Hallen eines der drei Pathologiezentren, in denen das New Yorker Office of Chief Medical Examiner, kurz OCME, Obduktionen durchführt. Zur Routine war dieser Gang in all den Jahren jedoch nie geworden. Bei jedem Besuch fragte man sich wieder von Neuem, was einen am Ende des sterilen, neonbeleuchteten Ganges wohl erwartete.

Heute war es nicht anders. Phil und ich waren bereits seit drei Stunden im Büro gewesen und hatten Papierkram erledigt, als uns der Anruf eines Kollegen vom NYPD erreichte. Aus dem Hudson River war eine männliche Leiche gefischt worden.

So weit nicht ungewöhnlich. Jedes Jahr ertranken Menschen in den Fluten des Flusses, sei es, weil sie betrunken über die Reling eines Partybootes kippten oder weil sie an einer Kaimauer den Halt verloren. Der eine oder andere Selbstmörder war natürlich auch dabei.

Hier verhielt es sich allerdings offenbar anders, denn mindestens ein wesentliches Detail hatte bei den Kollegen den Eindruck erweckt, dass dieser Fall in den Zuständigkeitsbereich unserer Task Force fiel. Aber davon wollten wir uns lieber selbst ein Bild machen.

Ich klopfte fest an die Tür zum Obduktionsbereich, dann traten wir auch schon ein. Der zuständige Gerichtsmediziner, Dr. Alfred Gephard, wie man uns gesagt hatte, war über unser Kommen bereits informiert. Er zog sich geräuschvoll die Gummihandschuhe ab und desinfizierte seine Hände, während wir zu ihm an den Metalltisch traten.

Schon aus einigen Schritten Entfernung sahen wir den Toten, der allerdings teilweise zugedeckt war. Wir konnten nur erkennen, dass er weiß, männlich, spindeldürr und sein Oberköper von Tattoos übersäht war.

»Treten Sie näher«, sagte Gephard mit heiserer Stimme. Er war klein, hatte eine Glatze und trug eine dicke Brille, die er nun absetzte und mit einem Feuchttuch polierte. »Und verzeihen Sie, wenn ich Ihnen nicht die Hand gebe.«

Ich nickte nur knapp und wandte mich dem Toten zu, bei dem nur die Brust- und Beinpartie frei lag. Die Haut war bläulich aufgedunsen. Ich war zwar kein Mediziner, aber erfahren genug, um zu erkennen, dass der Tote eine Zeitlang im Wasser gelegen hatte.

»Zwei Taucher haben ihn heute früh aus dem Hudson gefischt«, bestätigte Gephard, was unser NYPD-Kollege bereits gesagt hatte.

»Wie lange hat er, Ihrer Meinung nach, dort gelegen?«, wollte Phil wissen.

Gebhard begutachtete die Gläser seiner Brille, bevor er sie wieder aufsetzte.

»Seit ein paar Tagen«, antwortete er dann. »Und genauso lange ist er tot. Er hat außerdem eine Einstichstelle im Nackenbereich, deshalb gehe ich davon aus, dass man ihm etwas injiziert hat.«

»War die Injektion auch die Todesursache?«

»Das wird die Blutanalyse ergeben. Aber wahrscheinlich war es nur ein Narkotikum.« Jetzt zog er das Tuch vom Kopfbereich.

Der Anblick des durchtrennten Halsstumpfes überraschte uns nicht. Wir wussten bereits, dass dem Toten der Kopf sowie die Extremitäten fehlten. Denn genau das war es, was die Task Force auf den Plan gerufen hatte.

»Ist zwar nicht ganz meine Aufgabe, aber wenn ich eine Vermutung anstellen darf, würde ich auf eine Exekution im Milieu des organisierten Verbrechens tippen.«

Tatsächlich sprach sehr viel für diese Theorie. Von der Entsorgung der Leiche bis zu den typischen Verstümmelungen, die in der Regel dazu dienten, die Identität des Opfers zu verschleiern und die Ermittlungen damit erheblich zu erschweren.

»Möglich, dass dem Mann in den Kopf geschossen wurde«, ergänzte der Pathologe. »Das lässt sich schwer sagen. Wie gesagt, die Leiche hat einige Tage im Wasser gelegen.«

Ich nickte. Damit waren auch mögliche Spuren, wie etwa Pulverrückstände, beseitigt worden.

Ich beugte mich zu dem Toten hinab und begutachtete die Tattoos, die seinen Oberkörper und die Arme fast vollständig bedeckten. Normalerweise wurde Wert darauf gelegt, auch solche Erkennungsmerkmale verschwinden zu lassen, aber in dem Fall hätten die Täter den Leichnam schon verbrennen müssen. Wahrscheinlich waren sie davon ausgegangen, dass es genügte, ihn auf dem Grund des Hudson zu versenken.

Aus der Nähe ergab das, was ich zuerst für abstrakte Muster gehalten hatte, durchaus einen Sinn. Ich entdeckte Totenköpfe mit Irokesenschnitt, Spinnen, Messer, blutige Dornen, Ratten und mit Dolchen durchstochene Spielkarten auf seiner Haut.

»Wenn Sie mich fragen, sind das Tattoos, wie man sie im Punk-Milieu gerne hat«, versuchte Gebhard sich an einer weiteren Theorie.

Etwas Ähnliches hatte ich mir auch gerade gedacht. Gut möglich, dass das Opfer aus der Punkszene stammte. Das konnte zumindest ein Anhaltspunkt sein.

Mit dieser ersten Erkenntnis bedankten wir uns bei Dr. Gephard und baten ihn, uns die Ergebnisse seiner Obduktion umgehend mitzuteilen.

Wenn ich ehrlich war, glaubte ich in diesem Moment eher an einen Routinefall. Eine Tat im Drogen- oder Bandenmilieu, das Opfer ein Junkie, ein Obdachloser oder beides. Ein Fall, der ungeklärt bleiben und den wir bald zu den Akten legen oder wieder an das NYPD abgeben würden.

Selten in meinem Leben hatte ich mich so sehr geirrt.

Lucy Cohen kam sich vor wie ein ausgesetztes Haustier, als sie vor der Wohnung ihres Boyfriends Vasily Zwetkow stand und beharrlich gegen die Tür klopfte.

Als auch nach zwei Minuten keine Reaktion erfolgte, nahm sie die flache Hand zu Hilfe. Die Geräusche wummerten dumpf durch den schäbigen Flur, in dem die an vielen Stellen abblätternde Wandfarbe mit den Wasserflecken und dem schwarzen Schimmel in den Ecken ein bizarres Kunstwerk bildete.

»Vasily, mach auf! Ich habe deine komische Mail bekommen und …«

Tatsächlich öffnete sich nach etwa zehn Schlägen eine Tür – allerdings nicht die von Vasily, sondern die des Nachbarn gegenüber. Der Mann, der in Unterhemd und Boxershorts auf die Schwelle trat, sah aus, als habe er gerade etwas Schlechtes gegessen.

Bevor er lospolterte, hielt er kurz inne und musterte die Sechsundzwanzigjährige von oben bis unten. Mit ihrem eingerissenen Minirock, den Netzstrümpfen und den pink-grün gefärbten Haaren bot sie einen Anblick, der die meisten »Normalbürger« im ersten Moment auf Abstand gehen ließ. Was allerdings auch genau das war, was Lucy mit ihrem Aufzug bezweckte.

Bevor der Nachbar den Mund öffnen konnte, begann Lucy zu reden.

»Sorry, aber ich such schon seit Tagen meinen Freund Vasily«, erklärte sie. »Er geht nicht ans Telefon, macht nicht auf …«

»Ich hab den auch schon länger nicht mehr gesehen. Obwohl …«

Lucy sah den Mann abwartend an, während dieser den Kopf schief legte und seine Kopfhaut massierte.

»Vor drei, vier Nächten oder so war in der Wohnung ein Höllenlärm«, erinnerte er sich. »Hat geklungen, als würde jemand mit Möbeln um sich werfen oder sonstwie randalieren. Und aufgemacht hat auch keiner, als ich geklopft habe. Erst als ich mit den Cops gedroht habe, war Ruhe.«

»Vor drei oder vier Nächten?« Die Punkerin stutzte. Das entsprach ungefähr dem Zeitpunkt, zu dem sie zuletzt von Vasily gehört hatte. »Okay, danke. Ich gebe jetzt Ruhe.«

Der Mann schenkte ihr einen weiteren, misstrauischen Blick, dann drehte er sich um und knallte die Tür hinter sich zu.

Verdammt, verdammt, verdammt!

Hektisch fummelte Lucy ihr Smartphone aus der schwarzen Umhängetasche, suchte im Adressspeicher nach Vasilys Nummer und tippte darauf. Nach drei Sekunden ertönte ein Rufton, und fast zeitgleich hörte Lucy gedämpft und aus einiger Entfernung verzerrte Gitarrenriffs.

Sie brauchte ein, zwei Sekunden, um zu kapieren, was sie da hörte. Die Klangfolge stammte aus einem von Vasilys Songs. Und erst vor Kurzem hatte er sie sich als Klingelton eingerichtet.

Ihr überraschter Blick wanderte erneut zu Vasilys Wohnungstür, während sie das Handy langsam sinken ließ. Kein Zweifel möglich. Das Geräusch kam direkt aus der Wohnung! Vasily musste demnach zu Hause oder erst kürzlich hier gewesen sein.

Die Punkerin wollte erneut an die Tür hämmern, als sie auf einmal schnelle Schritte im Hausflur vernahm. Sie kamen direkt in ihre Richtung, und nur zwei Herzschläge später sah sie die beiden Männer, zu denen die Schritte gehörten, um die Ecke biegen.

Lucy stutzte. Irgendetwas gefiel ihr nicht an den beiden. Sie sahen nicht aus, als würden sie hier wohnen. Beide trugen teure Anzüge und dunkle Sonnenbrillen. Und die Entschlossenheit, mit der sie in ihre Richtung stapften, weckte in der jungen Frau das Verlangen, ihnen besser aus dem Weg zu gehen.

Sie lief los, in die entgegensetzte Richtung des langen Ganges, der an seinem Ende erneut nach rechts abknickte. Kaum war sie hinter der Biegung und aus dem Blickfeld der beiden verschwunden, hörte sie, wie die Schritte schneller wurden.

Verdammt! Auf eine schwer zu erklärende Weise überkam Lucy das Gefühl, dass die beiden etwas mit Vasilys plötzlichem Verschwinden zu tun hatten. Sie hatten sie vor Vasilys Wohnungstür stehen sehen. Also wussten sie, dass sie etwas mit dem jungen Musiker zu tun hatte.

Lucy ging schneller, eilte die Treppe hinauf in den zweiten Stock.

Die Schritte blieben dicht hinter ihr. Gleichzeitig wurde ihr klar, dass sie sich in eine Sackgasse manövriert hatte. Das Gebäude hatte acht Stockwerke. Danach blieb nur noch das Dach.

Lucy lief noch einige Schritte weiter, dann fiel ihr Blick auf ein Fenster, das halb geöffnet war. Sie blieb stehen, warf einen Blick hinaus. Zwei Stockwerke weiter unten befand sich ein Hof. Und an der Mauer direkt unterhalb des Fensters war eine Feuerleiter!

Die Punkerin warf einen schnellen Blick über ihre Schulter, dann stemmte sie das Fenster in die Höhe.

Im selben Moment tauchten die beiden Anzugträger hinter der letzten Gangbiegung auf. Als sie sahen, was die Punkerin vorhatte, beschleunigten sie noch einmal ihre Schritte.

Lucy hatte das Fenster zur Hälfte aufgestemmt, als es sich auf einmal verhakte. Sie ruckelte hektisch daran – ohne Erfolg. Egal. Ihr blieb keine Zeit mehr, und der Spalt war gerade so breit, dass ihr schlanker, fast dürrer Körper hindurchpasste.

Mit den Beinen voraus drückte sie sich auf die andere Seite. Erst im Mittelteil wurde es etwas eng, und für eine unerträglich lange Schrecksekunde sah es so aus, als würde sie steckenbleiben.

Die Anzugträger waren nur noch wenige Yards entfernt.

Mit beiden Armen stieß Lucy sich am Fensterbrett ab, rutschte durch den Spalt und spürte schon kurz darauf das Metall der Feuerleiter unter ihren Sneakers. Unterhalb des Fensterbrettes ging sie in die Hocke, dann begann sie mit dem Abstieg.

Über ihr streckte einer ihrer beiden Verfolger bereits den Kopf hinaus, dann folgte der schallgedämpfte Lauf einer Pistole, der sein Ziel anvisierte …