Jerry Cotton 3283 - Jerry Cotton - E-Book

Jerry Cotton 3283 E-Book

Jerry Cotton

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Beschreibung

In einer völlig verwahrlosten Straße in Harlem verschwanden auffällig viele Menschen. Sie waren alle schwarz. In den Fokus des FBI geriet die Gegend, als dort die Leiche eines weißen, sechsjährigen Jungen gefunden wurde - auf einem Abort. Das Kind war der entführte Sohn eines Immobilien-Moguls aus Manhattan. Phils und meine Aufgabe bestand darin, in einem Sumpf aus Kriminalität, Gangterror und menschlicher Verkommenheit der Reichen und Schönen nach dem Täter zu suchen ...

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Seitenzahl: 144

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhalt

Cover

Impressum

Die Straße der Toten

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: LedyX / shutterstock

eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 9-783-7325-9649-2

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Die Straße der Toten

Die Nacht hatte sich rasch zurückgezogen.

Der morgendliche Himmel über der South Bronx war jetzt grau und leer. So leer wie die zerschundenen Rasenflächen und betonierten Gehwege zwischen den sechzehnstöckigen Sozialbauten, deren Bewohner um diese frühe Stunde noch die Begegnung mit dem Unheil verheißenden Tag scheuten.

Die Sirenen der Einsatzwagen des NYPD waren längst verstummt, aber das kreisende Blaulicht geisterte immer noch über die stumpfen, braunen Fassaden.

Kein Windzug bewegte die kühle, leicht ranzig riechende Luft. Von weit her drang dumpf ein unbestimmtes Brausen ans Ohr. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich auf der Brooklyn Avenue die endlose Kolonne der Werktätigen in ihren Blechkarossen formiert hatte.

Ich wusste im ersten Moment, dass ich das Gesicht des kleinen Jungen nie mehr vergessen würde.

Es war sehr mager und sehr blass. So blass wie der Tod, der Besitz von ihm ergriffen hatte.

Kirk Finley dachte nach.

Wann hatte es angefangen? Und vor allem: Wann würde es aufhören?

Natürlich gab es auf diese Fragen keine Antworten. Jedenfalls keine, die irgendeinen Sinn ergaben.

Alles lag so lange zurück und dehnte sich aus in eine unüberschaubare Zukunft. Dazwischen irgendwo steckte man mit beiden Beinen in einem blutigen Sumpf.

Es gab kein Bedauern darüber. Man hatte diesen Zustand bewusst herbeigeführt. Herbei gesehnt sogar.

Verrückt, wenn man darüber nachdachte. Aber auch ziemlich plausibel. In Anbetracht dessen, dass das Leben einem gleich zu Beginn einen Haufen Dreck vor die Füße gekippt hatte.

»Mach was draus!« – das war die Parole gewesen.

Verdammt, er hatte sich bemüht. Eigentlich immer. Aber der Dreck war nicht weg, im Gegenteil. Der Haufen wurde immer größer. Und die Wut.

Diese wunderbare Wut, die ihn taumeln und tanzen ließ und deren reinigendes Feuer die subtilen Einflüsterungen der Angst verstummen ließ.

»Mach was draus!«

In gewisser Weise hatte er das auch getan. Genau genommen. Niemand konnte das leugnen. Die Ergebnisse sprachen für sich.

Schlagzeilen, die Schrecken verbreiteten. Besorgte Familienväter und nervöse Singlefrauen, die abends kontrollierten, ob alle Türen und Fenster ihrer Behausungen fest verschlossen waren. Und die trotzdem nachts wach wurden und nervös in die Dunkelheit lauschten.

Gelegentlich sah er sich morgens im Spiegel lächeln.

Schwer zu erklären, dieses Lächeln.

Vor allem wenn er seine Aufmerksamkeit auf die Augen richtete.

Aus ihnen sprach so viel Dunkelheit. Die ihn aufzusaugen drohte, wenn er zu lange hineinschaute.

Also sich losreißen. Es gab noch jede Menge zu tun.

Wenn man es genau bedachte, stand ihm das Wichtigste noch bevor.

Ich heiße Kirk, dachte er. Kirk Finley.

Manchmal musste er sich daran erinnern.

Donnerstagmittag, zwölf Uhr. Seit fünf Minuten saßen wir am Besprechungstisch im Büro von Mr. High: Phil, ich und Captain Devon Scott vom NYPD.

Scott war Mitte fünfzig, fast zwei Meter groß, hatte dünnes Haar und ordentlich Übergewicht. In seinem dicklichen Gesicht war der harte Mund ein unpassend dünner Strich. Die starken Gläser seiner Hornbrille ließen die farblosen, vorstehenden Augen unter der niederen, gefurchten Stirn unnatürlich groß erscheinen.

Bereits am Fundort der Leiche war mir aufgefallen, dass Scott wenig umgänglich und übel drauf war. Er wirkte gehetzt, so, als sei er mit den Gedanken woanders und wünschte sich Gott weiß wohin.

Der Captain war verantwortlich für den vierzigsten Bezirk, zu dem auch Mott Haven in der Südbronx gehörte. Es war die Gegend der Projects genannten Sozialbauten.

Dort, vor einem sechzehnstöckigen Ziegelklotz in Block 22 an der 141st Street, hatte heute Morgen die Leiche des zehnjährigen Nathanael Lincoln gelegen. Gebettet auf einem Haufen schwarzer, nach Fisch stinkender Mülltüten.

Nathanael war der Sohn des angesehenen New Yorker Senators und Immobilien-Moguls Percy Lincoln. Am vergangenen Tag hatte Lincolns Frau morgens im Briefkasten ein Stück Papier mit einem darauf gekritzelten Namen gefunden: Jaycee Lee Dugard. Dieser elfjährige Junge war in den Neunzigerjahren von einem berüchtigten Sexualstraftäter entführt und achtzehn Jahre lang gefangen gehalten worden.

Die Eltern verstanden den Zettel als Hinweis, dass ihr Sohn Nathanael, der seit dem vergangenen Abend vermisst wurde, ebenfalls entführt worden war. Die ermittelnden Beamten des NYPD sahen das genauso. Daher war das FBI eingeschaltet worden.

Der Anblick des toten Jungen hatte Schuldgefühle in mir geweckt. Phil ging es nicht besser.

Okay, streng genommen hatten wir, aufgrund der kurzen Frist, so gut wie keine Chance gehabt, den Mord zu verhindern. Aber das war ein logisches Argument und half uns nicht weiter. Vielleicht waren wir deshalb so betroffen, weil wir vom Chef erfahren hatten, dass der Junge geistig behindert gewesen war und man sich kaum ein wehrloseres Opfer vorstellen konnte.

»Diese Sauerei hat mir gerade noch gefehlt«, murrte Captain Scott.

Der Chef runzelte missbilligend die Brauen.

»Was meinen Sie damit?«

»Ich habe nur Probleme in dieser Scheißgegend«, maulte Scott. »In den Blocks wohnen ausschließlich Schwarze. Na schön, ein paar Latinos sind auch darunter. Lauter Versager, Junkies und kriminelles Gesindel. Sagen Sie mir, warum das so ist? Es heißt immer, die Leute hätte nie eine Chance gehabt. Ich weiß nicht, ob diese Theorie stimmt, und es ist mir auch ziemlich gleichgültig. Ich weiß aber, dass sie sich dort gegenseitig das Leben zur Hölle machen. Und dann müssen meine Jungs rein. Und verdammt drauf achten, dass sie keine Kugel erwischt, wenn sie für Ordnung sorgen. Die meisten, die wir verhaften, laufen schon bald darauf wieder fröhlich herum und machen da weiter, wo sie aufgehört haben.«

Er seufzte und setzte ein verächtliches Grinsen auf, das sein Zahnfleisch entblößte.

»Wird Zeit, dass irgendjemand mit diesem Unsinn Schluss macht«, fügte er dann hinzu.

»Sie haben eigenartige Ansichten, Captain«, erwiderte Mr. High mit eisiger Miene. »Und ich hege keinerlei Absicht, sie mir zu eigen zu machen. Was mich interessiert, ist die Frage, warum die Leiche des Jungen ausgerechnet in dieser Gegend gefunden wurde.«

»Genau das ist es ja, was mich so aufbringt«, betonte der Captain. »Ein toter weißer Junge unter lauter Schwarzen. Das gibt üble Schlagzeilen! Wenn ich den Kerl erwische, der uns das eingebrockt hat, drehe ich ihm persönlich den Hals um.«

Bis dahin hatte ich mich zurückgehalten, aber jetzt reichte es mir.

Der Captain saß links neben mir. Ich umfasste die Rücklehne seines Stuhls und ging Scott direkt an.

»Ich bin ein neugieriger Mensch, Captain, und lese viel. Die Zeitungen haben in den letzten Monaten bereits einiges über Sie geschrieben, nicht wahr? Dass im Umfeld der Mott Haven Houses seit anderthalb Jahren Menschen spurlos verschwinden. Und dass Sie es bisher nicht fertiggebracht haben, die Ursache dafür zu klären. Ich möchte Ihnen nicht zu nahetreten, aber ich denke, Ihre Bilanz lässt zu wünschen übrig.«

Scott sprang von seinem Stuhl auf. »Ich bin nicht hier, um mich von Ihnen beleidigen zu lassen, Cotton!«

»Niemand will Sie beleidigen«, sagte Mr. High ruhig. »Wir sind es hier gewohnt, die Dinge beim Namen zu nennen, Captain. Nehmen Sie wieder Platz, und beruhigen Sie sich.«

Scott warf mir einen giftigen Blick zu, zuckte entnervt mit den Schultern und ließ sich ächzend auf seinen Stuhl fallen.

»Also schön, Assistant Director, wie packen wir die Sache an?«

Scott vermied es, mich anzusehen. Ich konnte riechen, wie er schwitzte.

Der Chef wandte sich Phil und mir zu.

»Was wissen wir bisher?«, erkundigte er sich.

»Das Ergebnis der Obduktion erhalten wir morgen«, sagte Phil. »Fest steht: Der Junge wurde mit einer ungewöhnlichen Waffe erschlagen. Es sieht so aus, als seien mehre Nägel gleichzeitig in seinen Hinterkopf eingedrungen. So was kann man mit einer Art Morgenstern anrichten. Mit einer Waffe also, die im Mittelalter und der frühen Neuzeit benutzt wurde. Später tauchte sie im ersten Weltkrieg wieder auf.«

»Wer benutzt denn heute noch so was?«, wunderte sich der Chef.

»Straßengangs sind oft sehr einfallsreich, was ihre Kampfgeräte angeht«, erwiderte ich.

»Gibt es in Mott Haven Gangs, die mit eisenbeschlagenen Knüppeln hantieren?«, fragte Phil den Captain.

»Klar«, sagte Scott, »aber die meisten laufen mit 'ner Armbrust rum.«

Bei diesen Worten hatte er sein Kinn vorgereckt und die Augen vor lauter Empörung geschlossen. Er sah in seinem grauen, zerknautschten Anzug aus wie eine versteinerte Echse.

»Sehr witzig«, lobte Phil.

»Was denken Sie denn?«, blaffte Scott ihn an. »Glauben Sie wirklich, dass die Missgeburten im Ghetto sich mit Spielzeugen begnügen? Die ballern gleich los, wenn was anliegt.«

Offensichtlich beleidigte Scott die Unterstellung, die Gangster im vierzigsten Bezirk könnten harmlose Irre sein, mit einer Vorliebe für historische Waffen.

Mr. High tat das Geplänkel zwischen Scott und Phil mit einer leichten Handbewegung ab.

»Jedenfalls muss überprüft werden, Jerry, ob sich in unseren Datenbanken jemand findet, der mit einem Morgenstern auf seine Mitmenschen losging.«

Ich nickte. »Noch etwas ist auffällig. In den Wunden des Jungen fand sich eine ölige Substanz. Sie muss von der Waffe stammen. Proben davon wurden ans Labor weitergeleitet. Vor allem aber gibt es einen Zeugen. Er heißt Hank Bright und ist einer der Hausmeister in Block 22. Er sagt, er habe gesehen, wie jemand morgens gegen fünf Uhr mit einem Sack über der Schulter auf Haus Nummer 71 zusteuerte, vor dem später Nathanael Lincolns Leiche gefunden wurde. Er habe sich jedoch nichts dabei gedacht. Erst, als er von dem Mord erfuhr.«

»Haben Sie mit dem Mann schon gesprochen?«

»Nein«, schaltete Scott sich ein. »Einer meiner Beamten hat ihn kurz befragt. Ich glaube kaum, dass dieser Bright uns noch von Nutzen sein wird. Er ist ein versoffenes Nervenbündel.«

»Jerry und ich werden noch mit Bright reden«, kündigte Phil an. »Jedenfalls deutet seine Beobachtung darauf hin, dass Fundort und Tatort nicht identisch sind. Das meint auch der Doc. Der Tod des Jungen muss zwischen drei und fünf morgens eingetreten sein. Die Körpertemperatur der Leiche verrät, dass sie eine Zeitlang in einer wärmeren Umgebung gelegen haben muss, ehe sie draußen auf den Müllsäcken abgelegt wurde.«

Mr. High schwieg zunächst. Ich kannte ihn zu gut, um nicht zu wissen, dass ihm die Vorstellung eines Kindes, dessen toten Körper sein Mörder wie Müll entsorgt hatte, an die Nieren ging.

Schließlich beugte er sich auf seinem Stuhl vor und fixierte Scott mit einem bohrenden Blick.

»Ich möchte zwei Dinge klarstellen, Captain. Erstens, dass ab sofort die Agents Cotton und Decker die Ermittlungen in diesem Fall leiten. Und zweitens, dass ich davon ausgehe, dass Sie alle Anstrengungen unternehmen werden, ihnen dabei behilflich zu sein.«

»Ich verstehe nicht …«, fiel ihm Scott ins Wort.

»Ich bin noch nicht fertig«, wies ihn Mr. High in seine Schranken. »Sie haben meine Frage von vorhin noch nicht beantwortet. Warum wurde Nathanael ausgerechnet im Ghetto von Mott Haven gefunden? Haben Sie dazu eine Meinung?«

»Verdammt, woher soll ich das wissen?«, fuhr Scott wütend auf. »Jedenfalls wissen wir, dass er vor seiner Schule entführt wurde. Und die liegt in einer stinkvornehmen Gegend.«

Mr. High runzelte missbilligend die Stirn. »Lassen Sie mich die Frage anders formulieren: Gibt es womöglich einen Zusammenhang zwischen der Ermordung des Jungen und den Vermisstenfällen in Ihrem Department? Immerhin wäre es doch möglich, dass diese Personen ebenso entführt wurden wie Nathanael Lincoln.«

Scott nahm seine Brille ab und begann, die Gläser mit einem Papiertaschentuch akribisch zu putzen. Ich beobachtete, wie seine Augäpfel dabei auf Wanderung gingen. Als sie zur Ruhe kamen, schielte Scott.

»Wenn das so ist, werde ich es herausfinden«, seine Stimme klang jetzt so dumpf, als verkünde er ein göttliches Orakel. »Ich kenne jeden einzelnen Bastard im Ghetto.«

Mr. High überging Scotts vollmundiges Versprechen.

»Wo wollen Sie und Phil mit den Ermittlungen ansetzen?«, fragte er mich.

»An zwei Stellen«, antwortete ich. »Erstens bei den Eltern des Jungen. Senator Lincoln hat selbst darum gebeten, dass wir noch heute mit ihm und seiner Frau Kontakt aufnehmen. Die Beamten, die der Familie die Nachricht von Nathanaels Tod überbracht haben, berichten, der Senator sei außer sich vor Wut. Er hat offenbar den Eindruck, dass Polizei und FBI versagt haben.«

Ich hielt einen Augenblick inne, weil ich mich bei dem Gedanken erwischte, dass der Senator da womöglich gar nicht so falschlag.

»Und er sprach von personellen Konsequenzen«, ergänzte ich dann.

»Und zweitens?«, hakte der Chef nach.

»Im Grunde hat Phil den Punkt schon angesprochen«, sagte ich. »Wir sollten uns mal die kriminellen Größen in der Gegend um die Mott Haven Houses vorknöpfen. Womöglich stoßen wir dabei auf die Hintermänner der Entführung.«

»Verraten Sie uns doch mal, wer die Bosse sind!«, forderte Phil Scott auf.

Der Captain verschränkte die Arme über dem massigen Bauch und schlug einen versöhnlichen Ton an.

»Das sind ohne Zweifel Mambo L‘Azare, der Boss der New Bloods, und Mike Oyanga, genannt Big Mike, der alte Mafiapate.«

»Sind diese Bloods Ableger der in den Siebzigerjahren in Los Angeles gegründeten Straßengang?«, erkundigte sich Phil.

»Ja«, bestätigte Scott. »Und so brutal wie ihre Vorbilder. Nur dass sie besonders raffiniert vorgehen. Dieser Nigger L‘Azare ist ein Psychopath, aber intelligent. Bisher ist ihm keine schwerwiegende Straftat nachzuweisen. Dabei ist so gut wie sicher, dass nur Mitglied der New Bloods werden kann, wer mindestens einen Mord begangen hat.«

»Und Big Mike, was ist mit dem? Hab noch nie von ihm gehört.«

Der Captain grinste zähnefletschend. »Mike Oyanga ist heute vierundsiebzig Jahre alt und blind. 1978 ist er aus Uganda in die Staaten eingereist. Ugandas blutrünstiger Diktator Idi Amin musste damals ins Ausland fliehen. Es heißt, Oyanga habe für ihn als Leibwächter gearbeitet und sich deshalb in die USA abgesetzt. Hier kam er offiziell nie mit dem Gesetz in Konflikt. Dennoch ist es so gut wie sicher, dass er der Pate einer schwarzen Mafia-Organisation ist. Manche Leute verehren ihn wie einen Heiligen. Jedenfalls ist er der am besten informierte Schweinehund im gesamten Bezirk.«

»Faszinierend«, spottete Phil. »Da haben wir es ja mit herausragenden Persönlichkeiten zu tun.«

»In gewisser Weise stimmt das sogar«, mahnte Scott. »Unterschätzen Sie diese Leute nicht.«

»Ich denke, das wär‘s fürs Erste«, entschied Mr. High. »Ben Bruckner soll mal sehen, was er über Big Mike und L‘Azare herausfindet. Ich möchte Sie alle drei bitten, sämtliche Anfragen der Medien an mich weiterzuleiten. Der Fall ist politisch heikel. Senator Lincoln steht dem Vizepräsidenten nahe und hat entsprechenden Einfluss. Ich muss darauf achten, dass die Wogen der öffentlichen Empörung nicht zu hoch schlagen. Sonst heißt es ganz schnell, amerikanische Politiker würden von Polizei und FBI nicht hinreichend geschützt.«

Er unterbrach sich kurz.

»Und vor allem will ich nicht, dass unsere Arbeit behindert wird«, fügte er dann leiser hinzu. »Wer auch immer den Jungen ermordet hat, darf damit nicht davonkommen.«

Phil, Scott und ich verließen das Büro des Chefs.

»Ich denke, wir haben uns da drin nicht besonders gut verstanden«, sagte der Captain draußen. »Darf ich Sie beide noch zu einem Kaffee einladen? Es gibt etwas, worüber wir nochmal sprechen sollten.«

Big Mikes Enkel Charly Oyanga hasste sich, weil er schwarz war. Was musste er bloß angestellt haben, dass Gott der Vater ihn als Nigger in die Welt entlassen hatte?

Charly hockte auf einem Klappstuhl und stopfte Chips aus einer Plastiktüte in sich hinein. Stumm beobachtete er seinen Großvater, der nur mit Unterhose und Strümpfen bekleidet auf einer grünen Gummimatte stand und mittels einer achtzig Kilo Hantelstange seinen Bizeps trainierte. Charly bewunderte Big Mike und hoffte, dass er dereinst, wenn er selbst alt und weise geworden war, auch so einen tollen Körper haben würde.

Vorerst war das nicht der Fall, denn Charly hatte sich noch nie in seinem Leben sportlich betätigt. Er war gerade mal dreiundzwanzig, ging aber bereits vornübergebeugt und konnte keine längere Treppe hochsteigen, ohne beängstigend zu schnaufen. Er war dermaßen kraftlos und ausgemergelt, dass seine weißen Kommilitonen ihn »Phantom« getauft hatten. So, als wäre er komplett durchsichtig und könnte sich jeden Moment als Luftgebilde entpuppen.

Dabei war der Spitzname noch das geringere Übel. Schlimmer war, dass man ihn nie zu irgendetwas einlud, sondern seine Gegenwart, so gut es ging, mied.

»Was ist nur mit dir los?«, hatte ihn mal eine hübsche Studentin gefragt. Dabei hatten ihre Augen vor Boshaftigkeit geglüht. »Keiner fühlt sich wohl in deiner Gegenwart. Du bist echt eine Attraktion. Solltest es mal auf dem Jahrmarkt probieren.«

Okay, sie war auf Droge gewesen und hatte einfach was dahingeplappert. Aber Charly hatte ihre beleidigenden Worte nie vergessen.

Na ja, Frauen. Irgendwas stimmte ohnehin nicht mit ihnen.

Zum Glück hatte Charly vor nicht ganz zwei Jahren das Studium der Rechtswissenschaften an der University of Georgia einfach abgebrochen und war reumütig ins Ghetto der South Bronx zurückgekehrt, um sich in der winzigen Wohnung seines Großvaters zu verkriechen. Der war blind und konnte sich nicht über Charlys Körperbeschaffenheit mokieren.

Jedermann in den Houses glaubte zu wissen, dass Mike märchenhaft reich war. Doch er wohnte immer noch in dieser Bruchbude, die nur über ein Minimum an Mobiliar verfügte. Altes, hinfälliges Zeug, mit dem Big Mike angeblich wehmütig stimmende Erinnerungen verband.

Der geblümte Vorhang vor dem Fenster verhinderte, dass man auf die triste Fassade des gegenüberliegenden Backstein-Monsters blicken musste. Eine altmodische, schief aufgehängte Deckenlampe spendete fades Licht, das Big Mikes mächtigem, kahlen Schädel eine magische Note verlieh.

Er war ohnehin eine imponierende Erscheinung. Das Gesicht grobknochig, doch wohlproportioniert. Nase und Kinn kräftig ausgebildet. Die Lippen immer noch voll, mit einem brutalen Zug. Unter den leicht geschwungenen, silbernen Brauen verbargen sich die erloschenen Augen in schmalen, streng geometrisch angelegten Schlitzen.