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Ethan Campbell, ein bekannter UFO-Spezialist, Verschwörungstheoretiker und Mitbesitzer eines esoterischen TV-Senders, wurde tot in seinem Haus aufgefunden. Die Art seines Todes deutete auf einen Sektenmord hin. War Campbell nur ein Spinner oder tatsächlich einer Verschwörung auf der Spur gewesen, deren Ziel - wie er in einer seiner Sendungen behauptet hatte - ein Brandanschlag auf das neu erbaute World Trade Center war? Bevor wir klarer sahen, geschah der nächste Mord!
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Seitenzahl: 146
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Impressum
Zeit des Verderbens
Vorschau
BASTEI LÜBBE AG
Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: EvGavrilov / shutterstock
eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 9-783-7517-0478-6
www.bastei.de
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Zeit des Verderbens
Eine Krähe flog durch das geöffnete Fenster und landete auf dem Schreibtisch, mitten in der Lache aus Menschenblut. Die Knopfaugen des Vogels zuckten hin und her, dann tapste er zum Ende des Tischs, zeichnete dabei mit den Krallen eine tiefrote Spur und blickte mit schiefen Kopf auf den Körper auf dem Fußboden davor.
Der Mann lag mit nacktem Oberkörper auf dem Rücken, die Arme ausgestreckt, die Beine eng aneinander. Die toten Augen waren starr zur Decke gerichtet. Blut bedeckte den Stuhl vor dem Schreibtisch und den Boden. Die Krähe sprang mit flatternden Flügeln auf die Brust des Mannes, um ihren scharfen Schnabel in die klaffenden Wunden des Toten zu versenken.
Es störte sie nicht, dass die Wunden ein Muster bildeten. Die Zahl 148. Was sie störte, war die zweite Krähe, dann die dritte, die wie sie den Blutgeruch wahrgenommen hatten.
Erst einige Minuten später wurde das Festmahl der Krähen durch den Schrei einer Frau unterbrochen, die die Tür zum Büro geöffnet hatte.
„Das Opfer heißt Ethan Campbell“, referierte Phil aus der Akte, die vor ihm lag, während ich mir noch einmal die Fotos ansah, die die Kollegen von der Spurensicherung uns zugeschickt hatten. „Mitbesitzer eines regionalen Fernsehsenders namens New Era TV. Seine Sekretärin hat ihn gestern Abend gefunden, kurz bevor er mit einer Livesendung beginnen sollte. Die Wunden stammen von einem Messer. Die Gerichtsmediziner sagen, dass der erste Stich ins Herz ging und sofort tödlich war. Wahrscheinlich wurde er über den Schreibtisch hinweg geführt, von jemandem, der ihm gegenübersaß. Der Tote wurde entkleidet und so, wie er aufgefunden wurde, auf dem Boden arrangiert. Die Zeichen auf der Brust wurden nachträglich eingeritzt.“
Ich nahm das Foto, das die Brust des Opfers zeigte. Etwas undeutlich, aber noch gut lesbar war inmitten einer Reihe von Wunden, die von den Schnäbeln der Krähen herrührten, die Zahl 148 zu erkennen.
„Irgendeine Idee, was das bedeuten könnte?“, fragte ich.
Phil schüttelte den Kopf. „Wir haben Glück, dass die Biester gestört wurden“, brummte er. „Die haben natürlich dort mit ihrer Arbeit angefangen, wo die Stichwunden den Körper schon geöffnet hatten. Wenn die Sekretärin sie nicht verscheucht hätte, hätten sich beide Wundarten so weit überlagert, dass man nichts mehr erkannt hätte.“
„Hundertachtundvierzig.“ Ich nickte versonnen.
Phil räusperte sich. „Campbells Sender ist eine bunte Mischung aus der Welt der Esoterik. Vom Wünschelrutengänger bis zum Alienjäger, für jeden etwas dabei. Das Personal besteht zum größten Teil aus Handlesern, Kartenlegern und Kristallkugelkundigen. Abgerundet wird das Ganze durch Shoppingangebote für Gläubige jeder Richtung.“
„Ein Sender wie Dutzende andere“, sagte ich. „Und welche Rolle spielte Campbell?“
Phil blätterte in den Unterlagen. „Sachbuchautor“, seufzte er schließlich. „So steht es in jedem Fall in seiner Vita. Mit Schwerpunkt auf versunkene Zivilisationen, die – natürlich – allesamt Kontakt zu Aliens hatten, ohne die sie nicht einmal eine Pyramide, geschweige denn so was wie medizinischen Fortschritt auf die Reihe bekommen hätten. Seine Bücher haben sich allerdings in den letzten Jahren nicht mehr so gut verkauft. Andere jüngere Alienjäger haben ihm wohl das Wasser abgegraben.“
„Irgendwelche Feinde?“, wollte ich wissen.
„Auf jeden Fall nichts, was unser Material bis jetzt hergäbe.“ Phil schüttelte den Kopf. „Und die Szene, in der er sich bewegte, zeichnet sich ja seltsamerweise durch allergrößte Harmonie in den streitbarsten Fragen aus.“
„Na ja“, erwiderte ich und schob die Fotos beiseite. „Zumindest einen Feind wird er sich wohl doch gemacht haben. Und man muss kein Genie sein, um zu ahnen, dass es mit dieser Zahl zusammenhängt. Auch die Position der Leiche, die an ein Kreuz erinnert, deutet auf einen Ritualmord hin. Also schlage ich vor, dass wir uns jeden Einzelnen im Sender vornehmen, um herauszufinden, was in den letzten Tagen oder Wochen den Unmut seiner esoterisch gesinnten Zeitgenossen geweckt haben könnte.“
Phil griff zum Telefon und wählte die Nummer des Senders.
Zehn Minuten später hatten wir für den Vormittag einen Termin bei New Era TV vereinbart.
Dr. Iris McLane, unsere Profilerin, begleitete uns, weil wir uns ziemlich sicher waren, dass wir psychologische Unterstützung bei den Befragungen gut gebrauchen könnten. Der Sender hatte seinen Sitz in Yonkers, in der Elliot Avenue, auf zwei Etagen in einem Gebäude gemeinsam mit einem Elektronikfachgeschäft und einem Fitnesscenter. Als wir eintrafen, hatten Tatortreiniger gerade ihre Arbeit beendet und Campbells Büro freigegeben. Angestellte eines Entsorgungsunternehmens waren gerade dabei, die Möbel herauszuräumen und in einen Container im Hof zu entsorgen.
„Die sind aber fix“, meinte Phil und warf einen Blick in den Raum, in dem gerade zwei Handwerker im Begriff waren, den Teppichboden vollständig rauszureißen.
„Ethan ist jetzt hoffentlich in einer besseren Welt“, sagte eine Stimme hinter uns. „Wir haben keine Ahnung, wie es ohne ihn weitergehen soll, doch wir brauchen jetzt einfach jedes bisschen Platz.“
Wir drehten uns um. Vor uns stand ein Mann in den Fünfzigern, mit wallenden grauen Haaren und einem Spitzbart, der ihn wie einen Zauberer aus einem Fantasyfilm aussehen ließ. Auf der Nase trug er eine schmale Lesebrille, über die hinweg er uns milde lächelnd ansah.
„Steven Muller“, sagte er und reichte uns die Hand. „Mitbesitzer von New Era TV und Moderator so berühmter Sendungen wie Wege zum Selbst und Der Kosmos tanzt.“
Es schwang leichte Ironie in seinen Worten, die zusammen mit seinem extravaganten Spitzbart bei mir sofort den Verdacht aufkommen ließen, dass er sich selbst und das, was er tat, nicht vollkommen ernst nahm.
„Lassen Sie uns in mein bescheidenes Büro gehen“, fuhr Muller fort und deutete auf das andere Ende des Flurs.
Wir folgten ihm, und er bat uns, an seinem Schreibtisch Platz zu nehmen, der fast die Hälfte des winzigen Zimmers einnahm.
Ich stellte uns kurz vor, wobei ich erwähnte, dass Iris Psychologin war, was Muller mit einem aufdringlichem „Wie schön, da sind wir ja fast Kollegen“ kommentierte. Dafür erntete er von Iris nicht mehr als eine skeptisch hochgezogene Braue.
„Mein Reich“, sagte er dann mit einer ausladenden Geste und setzte sich uns gegenüber. „In ein paar Tagen werde ich in Ethans Büro einziehen, hier werden wir dann endlich unseren Kopierraum bekommen, den wir so dringend benötigen.“ Er sah uns an und hob, wieder mit diesem ironischem Lächeln, beide Hände. „Verurteilen Sie mich nicht. Ethan war ein großartiger Mann, aber vom Mediengeschäft hatte er überhaupt keine Ahnung. Und ja, ich werde mich verbessern, zumindest, was die Größe meines Büro angeht. Macht mich das verdächtig? Ich denke nicht!“
Ich bekam langsam das Gefühl, dass das hier keine Befragung werden würde, sondern die One-Man-Show eines Selbstdarstellers allererster Güte.
„Sicher“, redete Muller munter weiter, „wir hatten unsere Auseinandersetzungen. Ethan war jedoch nicht nur Haupteigentümer, sondern auch das Flaggschiff des Senders. Seine Show Die reine Wahrheit war der Höhepunkt jedes Freitagabends bei uns. Und was die Geschichte unseres Landes nach den Ereignissen auf der Area fifty-one angeht, war er absoluter Spezialist. Forscher aus aller Welt fragten ihn um Rat, wenn es um UFO-Sichtungen ging. Er hat ein Standardwerk über die Illuminaten verfasst, und jeder, der es in der Wissenschaft des Paranormalen zu etwas bringen wollte, musste früher oder später in seine Sendung, um sich seinen kritischen Fragen zu stellen. Er hatte schon so prominente Leute auf seinem berühmten roten Sofa wie diesen …“
Nun reichte es mir doch. Der Mann begann, seine Sendezeit deutlich zu überschreiten.
„Was bedeutet die Zahl hundertachtundvierzig in Ihrer Welt des Paranormalen, Mister Muller?“, fragte ich geradeheraus, mit der Absicht, ihn ein wenig aus dem Konzept zu bringen.
In seinem Gesicht las ich, dass mir das gelungen war. Er sah mich an, als wäre ich ihm in eine Liveaufnahme geplatzt. Nichts mehr von der fröhlichen Ironie, die er so gekonnt zur Schau getragen hatte, einen Moment lang blitzte pure Wut aus seinen Augen. Ich bemerkte, wie Phil neben mir schmunzelte, während Iris gespannt jede noch so kleine Regung Mullers beobachtete.
„H-hundertachtundvierzig?“, stotterte er, dann fasste er sich mit beiden Händen an den Hemdkragen, zupfte ihn gerade und hatte sich auch schon wieder im Griff. Sein Blick hellte sich auf, und ein Anflug seines Lächelns war wieder da. „Das ist die Zahl, die der Täter ihm in die Brust geritzt hat, nicht wahr? Ich konnte sie in der Eile nicht genau erkennen. Natürlich war ich in seinem Büro, nachdem Margaret um Hilfe geschrien hatte. Der halbe Sender war in seinem Büro. Kurz nur, ich habe alle weggeschickt und die Polizei gerufen. Ich konnte sehen, dass es eine Zahl war, aber …“
„Also wissen Sie nicht, was das bedeuten könnte?“, unterbrach ihn Iris. „Es gibt ja eine Menge an bedeutsamen Zahlen in der mystischen Zahlensymbolik, angefangen mit der Sechs-sechs-sechs. Wir dachten, Sie sind da ein Spezialist.“
Muller schaute unsere Profilerin beleidigt an. „Ich bin in vielem Spezialist, Agents, allerdings nicht in der Numerologie. Das war Ethans Fach. Oder fragen Sie Ruth Shuster, die macht mit einer Kollegin bei uns die Wahrsagerei. Ich bin im beratenden Segment tätig. Individuelle Lebensberatung und intuitive Konfliktlösung. Meine Hauptaufgabe ist der Shoppingkanal. Und natürlich die Finanzen. Was das angeht – da mache ich keinen Hehl draus – hatte Ethan kein glückliches Händchen. Er hat dafür gesorgt, dass das Geld ausgegeben wird, ich habe dafür gesorgt, dass Geld reinkommt. Da können Sie jeden im Sender fragen, das war schon ein gewisses Konfliktpotenzial zwischen uns.“ Er sah uns wieder der Reihe nach an. „Doch wenn Sie glauben, dass mich das verdächtig macht, dann …“
„Wie sieht es denn mit einem Alibi aus, wenn Sie das so deutlich ansprechen?“, tat ich ihm den Gefallen, weil mir sein Gehabe langsam auf die Nerven ging.
„Ich war in meinem Büro. Wo alle anderen waren, weiß ich nicht, da müssten Sie schon fragen, aber ich denke, ein Alibi dürften nur diejenigen haben, die die ganze Zeit über in einem der Studios zusammen gedreht haben.“
Ich nickte. „Darum werden wir uns kümmern. Haben Sie irgendeine Idee, wer das getan haben könnte oder warum?“
Muller wiegte nachdenklich den Kopf, nahm seine Brille von der Nase und steckte sich das Ende eines Bügels in den Mund.
Ich gab ihm einige Sekunden, um sein Schmierentheater zu Ende zu bringen.
„Nein“, antwortete er endlich mit gedehnter Stimme. „Ich kann mir beim besten Willen niemanden vorstellen, der das getan haben könnte. Und ich kann mir auch nicht denken, warum. Sehen Sie, wir sind in einem Bereich tätig, in dem man sich sicher manchmal Feinde macht. Es gib viele Scharlatane in unseren Wissenschaften, das muss ich Ihnen sicher nicht erklären. Nur so etwas? Nein!“
„Gut“, sagte ich. „Wären Sie dann bitte so nett und würden uns die Lady hereinbringen, die Sie eben erwähnt haben? Mrs. Shuster? Wir würden sie gern als Nächstes befragen.“
In der Zeit, in der Muller seine Angestellte suchte, berieten wir uns über das Gehörte.
„Dieser Mann ist so falsch wie ein Bündel Geld aus der Werkstatt eines Fälschers“, meinte Phil.
„Er ist in einem Geschäft tätig, in dem Täuschung zum Jobprofil gehört“, stimmte Iris ihm zu. „Offensichtlich gehört er nicht zu denjenigen, die der Illusion, die sie verkaufen, selbst unterliegt. Er hat ja angedeutet, dass seine Aufgabe darin bestand, das Geschäftliche im Auge zu behalten, während die anderen – explizit das Opfer – ganz in ihrer Rolle als Auserwählte von was auch immer aufgehen. Wahrscheinlich muss er trotzdem seinen Teil dazu beitragen und eine aktive Rolle vor der Kamera ausfüllen. Da hat er genommen, was ihm selbst am wenigsten obskur erschien: die Psychologie, wie er sich mit einigem Erfolg vormachen kann. Dass diese Art Beratung, wie sie auf solchen Kanälen angeboten wird, wenig bis nichts mit seriöser Psychologie zu tun hat, muss ich nicht betonen.“
Ich klopfte Iris beruhigend auf den Unterarm. „Keine Angst“, sagte ich und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. „Wir werden dich nicht hier lassen, damit du eine neue Kariere beginnen kannst. Aber im Ernst, ich stimme euch zu. Muller glaubt kein Wort von dem, was hier den ganzen Tag passiert, was, für sich genommen, keine Sünde ist. Checken wir mal die Finanzen des Senders, wenn wir fertig sind. Vielleicht …“
Ich wurde unterbrochen, da die Tür hinter uns aufging. Eine kleine, rundliche Frau mit einem verlebten Gesicht und geröteten Augen trat ein.
Ich stand auf, um sie zu begrüßen. „Mrs. Shuster?“
Die Frau nickte und setzte sich auf den Stuhl, auf dem eben noch Muller gesessen hatte.
„Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie mit einer Stimme, die nicht zu ihrem schüchtern wirkenden Aussehen passte. Sie war fest, mit einem harten, keinen Widerspruch duldendem Klang.
Wir erklärten ihr, worum es uns ging, und als der Name Campbell das erste Mal fiel, wurde klar, woher die rotgeränderten Augen der Frau stammten. Sie brach in Tränen aus und bekreuzigte sich, nach einer Weile fing sie sich wieder und ging auf meine Fragen ein.
„Nein“, erklärte sie, „was die Hundertachtundvierzig bedeuten soll, kann ich Ihnen nicht sagen. Ich habe mir selbst schon den Kopf darüber zerbrochen, doch ich denke, dass diese Zahl gar keine übernatürliche Bedeutung hat, sondern nur ein Manöver ist, um von der teuflischen Verschwörung abzulenken, die Ethan aufgedeckt hatte.“
Wir sahen uns verwundert an.
„Was für eine Verschwörung?“, fasste sich Iris als Erste.
„Nun“, sagte die Frau, beugte sich weit über den Tisch und sah uns aus zusammengepressten Augen an. „Ethan ist dahintergekommen, dass es eine Verschwörung gibt, das One World Trade Center zu bombardieren!“
„Ah“, entfuhr es Phil, wobei die Enttäuschung in seiner Stimme nicht zu überhören war. „Also das World Trade Center wieder einmal. Ging es nicht etwas kleiner?“
Die Frau sah meinen Partner böse an. „Ja“, zischte sie und hob warnend einen Finger. „Sie glauben mir nicht! Das sind wir ja gewohnt. Nine-eleven ist trotzdem passiert, oder nicht? Und es gab Warnungen. Es gab Zeichen.“ Sie ließ sich in ihrem Stuhl zurücksinken und machte ein spöttisches Gesicht. „Aber bitte“, fuhr sie fort. „Sie müssen mir nicht glauben, sehen Sie sich einfach die Sendung an, die Ethan letzte Woche gemacht hat. Dann haben Sie die Beweise!“
„Okay“, sagte ich vage.
„Er hat Hinweise erhalten, dass es eine Verschwörung gibt, jawohl. Auf höchster Ebene! Es soll bombardiert werden oder gesprengt! So genau wusste er das wohl noch nicht. Er war jedoch dran. Ganz nah dran. Ethan wollte uns gegenüber nichts sagen. Er hatte große Angst. Da können Sie jeden bei uns fragen. In der nächsten Sendung, hat er gesagt, da würde er die Karten auf den Tisch legen. Live und vor Publikum. Hat sich anschließend verbarrikadiert in seinem Büro und wollte erst rauskommen, wenn es losging. Kreideblech war er, die ganze Woche lang. Und dann …“ Sie brach wieder in Tränen aus. „Das waren die“, schluchzte sie. „Ganz egal, was Sie glauben oder nicht. Diese Leute haben ihn auf dem Gewissen. Eine Verschwörung!“
Nachdem wir jeden der insgesamt neun Angestellten von New Era TV befragt hatten, vom Tontechniker bis zu dem Mann, der einsamen Witwen jede Nacht die Karten legte, fuhren wir zurück in unser Büro, um uns näher mit Campbells Sendungen zu befassen.
Obwohl wir ungefähr wussten, wonach wir suchten, sahen wir uns zunächst einige der Shows, die auf der App des Senders frei verfügbar waren, im Schnelldurchlauf an. Wir wollten einen Eindruck gewinnen, wer dieser Mann gewesen war und wie er getickt hatte.
Die reine Wahrheit war ein Format, wie es sie wohl zu Dutzenden im ganzen Land gab. Eingeleitet von mysteriös wirkenden Synthesizerklängen betrat Ethan Campbell, ein großer Mann mit einem leicht melancholischem Gesichtsausdruck und hellblauen, alles durchdringenden Augen, eine runde Bühne, auf der nichts weiter stand als ein riesiges rotes Sofa mit ausladenden Lehnen und roten Kissen. Dahinter sah man eingeblendete Schwarz-Weiß-Bilder von so illustren Gestalten wie dem Yeti, dem Monster von Loch Ness oder das angeblich auf der Area 51 gefundene Alien mit den riesigen Augen.
Zu Beginn der Sendung verlas er Leserbriefe, die entweder vor Dankbarkeit über die besondere Aufklärung, die er seinem Publikum angedeihen ließ, trieften, oder aber die vergangenen Sendungen mit eigenen Erfahrungen bereicherten, ob es UFO-Sichtungen, Kontakt mit verstorbenen Anverwandten oder andere paranormale Ereignisse waren.
Wenn er mit der Verlesung der Briefe fertig war, folgten Campbells selbst recherchierte Themen, die sich meist um Beweise für den Aufenthalt von Außerirdischen auf der Erde drehten – Campbells Schwerpunkt auch in den am Ende jeder Show angebotenen Büchern, die er verfasst hatte.
Dann kam der Höhepunkt, Campbell empfing einen Gast, der entweder von persönlichen Erlebnissen berichtete oder mühsam recherchierte „wissenschaftliche Beweise“ für das ein oder andere paranormale Ereignis erbrachte. Unterbrochen wurden die Darbietungen von kurzen Werbespots, die entweder allgemein Haushaltsprodukte, modische Accessoires oder Datingseiten anboten oder Produkte aus dem sendereigenen Teleshoppingangebot anpriesen.
„Er scheint das ja alles, im Gegensatz zu seinem Stellvertreter, wirklich ziemlich ernst genommen zu haben“, bemerkte Phil, als wir uns durch die dritte Folge gezappt hatten.
„Ja“, stimmte Iris zu. „Er glaubt jedes Wort davon. Zumindest das, was er selbst vertritt. Nur bei den Leserbriefen stolpert er ein wenig.“
„Schwierig genug, bei dem abstrusen Zeug“, brummte Phil. „Eine tote Tante, die durch ihren Papagei zu ihrer Nichte spricht. Ich bitte euch!“
Iris grinste. „Er darf natürlich seine Zielgruppe nicht verärgern. Und wenn man sich die Werbeblöcke anschaut, handelt es sich zum größten Teil wohl um alleinstehende Frauen und Männer, die sich in großartige Fantasien flüchten.“
„Seid ihr bereit für die Sendung, um die es geht?“, unterbrach ich die Betrachtung meiner Kollegen und suchte in der App die Sendung vom Freitag letzter Woche.