1,99 €
Aus Notwehr hatte ich den Paten einer New Yorker Mafiafamilie erschossen. Die spektakuläre Jagd auf den Gangster und deren Ende hatten für einen großen Medienrummel gesorgt. Wenige Wochen später geriet ich immer wieder in lebensbedrohliche Situationen. Was zunächst zufällig erschien, erwies sich als eine Serie von Anschlägen auf mich. Schnell fiel der Verdacht auf den Sohn des toten Mafiabosses. Doch schon bald stießen Phil und ich auf weitere Verdächtige - und der unbekannte Täter rückte unaufhaltsam näher!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 142
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Impressum
Der zweite Tod
Vorschau
BASTEI LÜBBE AG
Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Thongden Studio / shutterstock
eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 9-783-7517-0564-6
www.bastei.de
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Der zweite Tod
Ich hatte einen Mann getötet. Das war jetzt eine Woche her.
Er hieß Alfredo Tarnero, war der Pate der 'Ndrangheta und hatte mit seinem Revolver auf mich gezielt.
Mir war keine andere Wahl geblieben, als zuerst zu schießen.
Doch jetzt stand sein Sohn vor mir und fletschte die Zähne. Er hatte mich auf der Straße vor dem Federal Building abgepasst. Er war einen Kopf größer als ich, und sein teures Sakko war völlig deformiert von den gewaltigen Muskeln, die sich unter dem dünnen Stoff abzeichneten. Die fahle Herbstsonne verlieh seinem von Pusteln und roten Flecken verwüsteten Gesicht einen mehligen Glanz. In den farblosen Augen tanzte ein unsichtbares Feuer.
»Ich werde deinen Stolz brechen«, sagte Reno Tarnero. Seine Stimme war rau und hatte einen beschwörenden Unterton. »Du wirst wie ein Hund um Gnade winseln.«
Er spuckte mir angewidert vor die Füße und tauchte blitzschnell im Strom der Passanten unter.
Ich hatte einen Mann getötet, und sein Sohn wollte die Rechnung begleichen.
Rückzug.
Kein Tageslicht drang durch die Jalousien. Ein betäubender Geruch von Weihrauch lag in der Luft und legte sich schwer auf den Atem. Vermischte sich mit dem Geschmack des Rotweins auf der Zunge.
Die Hände, die den Schreibblock hielten, waren schweißnass.
Myriaden von Gedanken stiegen wie Fliegenschwärme auf von den unzähligen Notizen, Kritzeleien, Reflexionen und Querverweisen auf den karierten Seiten.
Der weiche Schein der Schirmlampe auf dem Sekretär verströmte Behaglichkeit und verlieh dem kleinen Raum die Anmutung einer Höhle.
Hastiges Umschlagen der Seiten. Auf der Suche nach den entscheidenden Stellen.
Immer wieder neu dahin geschrieben, wie unter Zwang.
Immer wieder gelesen, nie genug. Bis zur Erschöpfung.
Doch welche Erleichterung bedeutete es zugleich, sich der Wahrheit zu vergewissern!
Verflucht, wo waren die heiligen Zeilen?
Ruhiger blättern, vermutlich drüber weggelesen.
Noch mal von vorn. Und da, da standen sie, die eisernen Sätze, die wie glühende Ringe um die Seele lagen.
Jakobus: Wo Neid und Zank ist, da ist Unordnung und eitel böses Ding.
Mose: Aber Kain und sein Opfer sah der HERR nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und seine Gebärde verstellte sich.
Jakobus: Habt ihr aber Neid und Zank in euren Herzen, so rühmt euch nicht und lügt nicht wider die Wahrheit.
Betroffenes Innehalten, zerknirscht. Dann jedoch Erleichterung bei folgenden Zitaten.
Buch der Sprüche: Der Hochmut des Menschen erniedrigt ihn.
Salomon: Der Hochmut des Menschen wird ihn stürzen.
Was wog schwerer, welche Sünde war der anderen voraus?
Vergib mir, o Herr, wenn mein Laster das größere ist.
Doch selbst dann werde ich nicht allein zur Hölle fahren!
Die Hände, die das grüne Notizbüchlein hielten, verkrampften sich.
Plötzlich war nichts mehr da außer diesem einen Gedanken: Auf jeden von uns wartet der Tod. Und er wird ewig währen.
Zehn Minuten nach meiner Begegnung mit Reno saßen Phil und ich im Office zusammen. Es war noch früh am Tag. Wir tranken Kaffee, und ich berichtete Phil von der seltsamen Begegnung mit dem Sohn des Mafiabosses.
»Merkwürdig.« Phil schüttelte irritiert den Kopf. »Ihm hätte ich so viel Enthusiasmus gar nicht zugetraut. Er ist ein stumpfer Bursche, dem in der ehrenwerten Gesellschaft bislang keine größere Bedeutung zukam. Und das, obwohl sein Vater ihn hätte protegieren können. Was denkst du, war seine Drohung ernst gemeint oder bloße Wichtigtuerei?«
»Ich tippe auf ernst gemeint. Reno war ziemlich erregt. Die Frage ist, was er mit seinem Auftritt erreichen wollte.«
Phil dachte darüber nach. »Es gibt drei Möglichkeiten. Nummer eins, von Trauer überwältigt fällt er über dich her. Nummer zwei, er muss sich an den Ehrenkodex der 'Ndranghetisti halten und den Tod seines Vaters rächen. Oder drittens, er strebt die Nachfolge seines Vaters an und empfiehlt sich dafür, indem er dich ins Jenseits befördert.«
»Das mit der Trauer überzeugt mich nicht.«
»Hätte mich auch gewundert«, erwiderte Phil grinsend.
Wir hatten der Hydra den Kopf abgeschlagen und New Yorks mächtigste Mafiaorganisation dadurch erheblich geschwächt. Die Frage war, ob ihr nun ein neuer Kopf wuchs. Einer mit dem Gesicht von Reno Tarnero.
Dann würden die Geschäfte mit Kokain aus Südamerika, Waffen für Kindersoldaten und junge Frauen aus Afrika ungebremst weitergehen.
»Die 'Ndrangheta«, sagte Phil, »ist weltweit die Mafia mit der stärksten Familienbindung. Es liegt nahe, dass Alfredo Tarneros Nachfolge über die Verwandtschaft gelöst wird. Aber auf Reno wäre ich nicht gekommen, sein Vater hielt offensichtlich nicht viel von ihm. Er hat ihn nur mit wenigen Aufgaben betraut.«
Ich nickte. »Alfredos Witwe Camilla wäre vermutlich die geeignetere Kandidatin. Sie war, so viel wir wissen, Alfredos engste Vertraute.«
»Tolle Figur und mieser Charakter. Nicht die schlechtesten Voraussetzungen, um das Zepter zu schwingen und die Männer in die Knie zu zwingen.«
Phils Sarkasmus war das eine. Das andere, dass Camilla Tarnero, achtundzwanzig Jahre jung, als Profikiller Karriere gemacht hatte, bevor sie sich an Alfredos breiter Brust ausgeruht hatte.
»Ihr«, sagte ich, »hätte ich eher zugetraut, dass sie mir nachstellt.«
»Keine Sorge«, lästerte Phil, »vielleicht tut sie dir den Gefallen noch.«
»Womöglich sind Reno und Camilla ja Rivalen, und es kommt darauf an, wer mich zuerst erwischt.«
»Du solltest die Sache nicht auf die leichte Schulter nehmen, Jerry. Ich fürchte, Alfredo Tarneros Ausschaltung war nur das Vorspiel für ein größeres Drama, in dem dir die Rolle des tragischen Helden zugedacht ist.«
Ich wusste, dass sich hinter Phils scherzhaften Worten eine ernste Sorge verbarg.
»Wir müssen das ganze Nest ausräuchern«, fuhr er fort. »Und das so schnell wie möglich. Die Frage ist, wie wir das schaffen. Bisher haben wir keine Handhabe, um gegen die Familie und alle Capos vorzugehen.«
Er hatte recht. Alfredo Tarnero hatte sich dazu hinreißen lassen, einen mexikanischen Drogendealer auf offener Straße zu erschießen. Es gab jede Menge Zeugen. Als wir bei ihm aufkreuzten, um ihn zu verhaften, wusste er, dass er den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringen würde. Also hatte er versucht, sich den Weg freizuschießen.
Doch es gab niemanden, der gegen die anderen führenden Mitglieder der ehrenwerten Gesellschaft aussagen würde. Und sie hatten sich bisher geschickt im Hintergrund gehalten.
Bisher. Aber jetzt hatte sich Reno Tarnero wie ein Narr vor mich hingestellt und mich bedroht.
»Wenn wir Glück haben«, sagte ich, »ist Reno unser Mann. Hoffen wir, dass er weitere Fehler macht. Er scheint der Typ zu sein, der sich in Schwierigkeiten bringt.«
Phil runzelte die Stirn. »Er scheint der Typ zu sein, der sich nichts daraus machen würde, dir von hinten eine Kugel in den Rücken zu jagen.«
»Warum«, überlegte ich, »hat er es dann nicht einfach getan, sondern mich auf diese merkwürdige Weise gewarnt? Das verringert doch die Chancen, sein Vorhaben auszuführen.«
Phil zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, könnte sein, dass er sich etwas beweisen muss.« Er schob mir die New York Post über den Tisch zu. »So wie dieser Schreiberling hier. Der hat es auch auf dich abgesehen.«
Verblüfft erblickte ich mein Foto auf der Titelseite. Daneben füllten drei in fetten Lettern gedruckte Worte die ganze restliche Seite.
DER EISKALTE AGENT.
Ich nahm die Zeitung an mich und blätterte sie auf. Der Artikel über mich stand auf Seite drei. Ein Foto zeigte den kahlköpfigen Alfredo Tarnero, wie er lachend in die Kamera blickte. Ein einundfünfzigjähriger Mann auf dem Höhepunkt seiner Macht, erkauft mit dem Tod und der Qual unzähliger Menschen. Seine sonnengebräunte Visage drückte Verachtung und Selbstverliebtheit aus. »Il cimitero« hatte man ihn genannt, den Knochenbrecher. Es hieß, dass er einigen Leuten, ehe er ihnen den Gnadenschuss verpasst hatte, bei lebendigem Leib Arme und Beine gebrochen hatte.
Ich las die ersten Sätze des Artikels.
Vor einer Woche erschoss FBI Agent Jerry Cotton den italienischen Mafiaboss Alfredo Tarnero. Inzwischen gibt es Hinweise darauf, dass es sich um keine Heldentat handelte, sondern um eine Art Hinrichtung. Zeugen berichteten dieser Zeitung, dass Tarnero seine Waffe nur gezogen habe, um sie auf dem Boden abzulegen. Cotton habe ihm grundlos und gezielt in die Brust geschossen. Es stellt sich die Frage, welchen Grund er dafür gehabt haben könnte. Fürchtete Cotton, dass Tarnero nach seiner Verhaftung Aussagen machen würde, die ihn belasteten? Die ihn der Korruption überführten?
Es ist wohl an der Zeit, Cottons Image als unerschütterlicher Kämpfer für Recht und Gesetz infrage zu stellen.
Ich ersparte mir vorerst den Rest der Lektüre und legte die Zeitung wieder auf dem Tisch ab.
»Dieser Mist«, sagte Phil, »ist unterzeichnet von einem gewissen Horace Silver. Ich habe mal kurz nachgesehen, was im Internet über ihn zu finden ist. Er schreibt ausschließlich für Skandalblättchen wie die New York Post und den National Enquirer. Sein Ruf ist mehr als zweifelhaft. Ihm werden selbst Verbindungen zu zwielichtigen Kreisen nachgesagt. Dass er sich kritisch über das FBI äußert, ist allerdings neu. Bisher hat er sich ausschließlich für schlüpfrige Themen erwärmt.«
Ich gönnte mir einen Schluck Kaffee, um den schalen Geschmack runterzuspülen, den Silvers boshaftes Geschreibsel hinterlassen hatte.
»Diese angeblichen Zeugen«, sagte ich, »würde ich gern kennenlernen.«
»Wir knöpfen sie uns vor«, erwiderte Phil.
»Und Silver?«, fragte ich etwas ratlos.
»Ich werde Ben bitten zu recherchieren, ob es dunkle Flecke in der Biografie des Journalisten gibt. Und ich denke, Mister High sollte sich mit dem Herausgeber der Post in Verbindung setzen.«
Er hatte recht. Das wäre eindeutig die bessere Lösung, als würde ich auf Silver zumarschieren.
»Was die 'Ndrangheta betrifft«, sagte ich, »sollten wir uns vorerst um Alfredo Tarneros Familie kümmern. Sicher finden wir einen Vorwand, uns mit der trauernden Witwe zu unterhalten. Außerdem werde ich Ben beauftragen, uns mit Informationen über alle Mitglieder der Tarnero-Familie zu versorgen. Vermutlich ...«
Ich hielt inne, weil ich bemerkte, dass Phil noch etwas anderes beschäftigte.
»Hör zu, Jerry«, meinte er, »ich habe das Gefühl, dass sich da was über dir zusammenbraut. Die Tarneros haben dich im Visier, und dieser drittklassige Reporter Silver hetzt die Leute gegen dich auf. Du solltest verdammt auf der Hut sein.«
»Eigentlich mache ich mir keine allzu großen Sorgen«, erklärte ich fröhlich.
»Und warum nicht?«
»Es gibt jemanden, der auf mich aufpasst. Und dieser Bursche kann ziemlich sauer werden, wenn mich einer in die Mangel nehmen will.«
»Da hast du verdammt recht«, bestätigte Phil.
Aus den eleganten Tidal-La-Assoluta-Lautsprechern, erstanden für schlappe vierhunderttausend Dollar, flossen süßliche Musicalmelodien.
Camilla Tarnero ließ es geschehen, weil es ihr gleichgültig war. Hauptsache, irgendwas rührte sich. Camilla vertrug keine Stille.
Sie hatte sich ein Glas mit zehn Jahre altem goldgelben Whisky eingefüllt und wartete. Die Eingangstür des Hauses stand offen, sodass ihr Besuch einfach hereinkommen konnte.
Bis es so weit war, verbrachte Camilla die Zeit mit nutzlosen Gedankenspielen.
Alfredo war seit einer Woche mausetot. Camilla hockte allein auf dem quietschgelben, schmalen Sofa vor einem mit Modemagazinen und Waffenzeitschriften bedeckten Glastisch. In dem Zimmer, in dem sie die meiste Zeit mit Alfredo vor dem Fernseher zugebracht hatte. Was absolut normal war, wenn man als junge Frau mit einem Mann zusammenlebte, der nach außen wie der eigene Vater wirkte.
So was wie Liebe kannte Camilla nur vom Hörensagen. Weshalb sie Alfredo auch null vermisste. Und Sex?
Sie lächelte und nahm einen ordentlichen Schluck Whisky. Hatte es in den ersten Wochen gegeben, okay. Danach war sie es schnell leid geworden, und Alfredo hatte begonnen, sich anderweitig zu amüsieren.
So wie sie.
Was blieb, war Dankbarkeit. Ein Gefühl, das sie nicht zu unterdrücken vermochte.
Alfredo hatte Camilla wegen ihrer Kaltschnäuzigkeit und Durchtriebenheit bis zum Schluss als seine engste Vertraute und wichtigste Beraterin betrachtet.
Sie und seine Mutter Toni.
Camilla Tarnero wusste, dass ihre Schwiegermutter mit ihren siebzig Jahren noch immer eine gefährliche Frau war. Wer Toni lästig wurde, verschwand einfach unter mysteriösen Umständen. So ging das bereits seit Jahrzehnten. Dabei war es meist unklar, wem Toni den Auftrag erteilt hatte, eine bestimmte Person zu zerkleinern und an die Fische im Hudson zu verfüttern. Oder sie im Betonfundament eines Neubaus einzulagern. Mal vermutete man, dass ihr Sohn Alfredo ihr den Gefallen erwiesen hätte, mal, dass es irgendein anderer 'Ndranghetista gewesen war, der ihrem Befehl gehorcht hätte.
Die 'Ndrangheta hatte weltweit sechstausend Mitglieder in hundertzwanzig Clans. Die meisten waren familiär miteinander verknüpft. Der Unterschied zwischen ihr und Toni war, dass sie, Camilla, lediglich in diese Riesenfamilie eingeheiratet hatte. Toni hingegen stammte aus einem alten kalabrischen Clan, hatte unglaublich viele Beziehungen und großen Einfluss.
Camilla fragte sich, warum sie über all das nachgrübelte. Sollte sie Toni etwa fürchten, falls sie mit ihr aneinandergeriet?
Na ja, eigentlich eine lächerliche Frage. Sie, Camilla, hatte sich als Profikiller aus dem Dreck der Bronx emporgearbeitet. Für sie wäre es ein Kinderspiel, eine siebzig Jahre alte Frau zu erledigen und keine Spuren zu hinterlassen.
Das Dumme war nur, dass sie bisher mit Toni keine offiziellen Feindseligkeiten ausgetauscht hatte. Ihre Beziehung war distanziert, aber zumindest nach außen hin neutral.
Also kein Grund, ihr etwas anzutun.
Und dennoch warnte eine innere Stimme Camilla, dass es unweigerlich mit ihr und Toni kein gutes Ende nehmen werde. Wahrscheinlich kam es darauf an, wer sich von ihnen beiden zuerst entschied, die andere aus dem Weg zu räumen.
Und dann gab es da ja noch Reno, Alfredos Sohn aus einer früheren Beziehung ...
Na ja, scheiß drauf. Manche Dinge mussten laufen, wie sie nun einmal liefen. Man würde sehen.
Ein kurzes, energisches Klopfen riss Camilla aus ihren Gedanken.
Die Tür öffnete sich, Auftritt Toni. In kerzengerader Haltung, die himmelblauen Augen sofort hypnotisierend auf Camilla gerichtet. Ihr schlanker, hochgewachsener und gebogener Körper war der einer wesentlich jüngeren Frau. Das streng gescheitelte weiße Haar, der schwarze Anzug, die auf Hochglanz polierten bordeauxroten Schnürschuhe und die schmale Krawatte, ein dunkelgrauer Strich über dem bis oben zugeknöpften Hemd, verliehen ihr eine männliche Note.
Dazu passte der holzige und markante Duft ihres Parfüms, der ihr vorausschwebte wie eine codierte Botschaft. Fügt euch meinem Willen!
Eine Duftmarke, wie sie Tiere setzten.
Toni schloss die Tür schweigend, kam herüber und nahm Camilla gegenüber auf einem ledergepolsterten Stuhl Platz. Ihr ausgezehrtes, von senkrechten Furchen gezeichnetes Gesicht drückte unverhohlenen Widerwillen aus. Der lippenlose Mund war gezackt wie eine Narbe.
»Du wolltest mich sprechen, Camilla. Also, hier bin ich. Aber bitte, fasse dich kurz. Ich bin nicht in der Stimmung für überflüssiges Geschwätz. Morgen wird mein Sohn beerdigt.« Ihre Stimme war kräftig, jedes einzelne Wort penibel artikuliert.
»In Ordnung, Toni. Darf ich dir auch etwas zu trinken anbieten?«
»Nein.«
Die schroffe Antwort ärgerte Camilla.
»Ich muss dich ein paar Dinge fragen«, erklärte sie, ihrerseits jetzt kurz angebunden.
»Nur zu.«
»Werden wir morgen gemeinsam am Grab stehen, Toni?«
Tonis Mund zuckte. »Ja, natürlich. Allerdings nur, wenn du nicht in diesem Aufzug rumrennst.« Sie deutete mit ihrem blassen Finger auf Camillas eng sitzendes geschlitztes Tigerkleid. »Und vielleicht könntest du morgen ja auch auf Schminke verzichten. Ich meine, ausnahmsweise. Du wirst es überleben, oder?«
Mit einem Mal kapierte Camilla, dass ihre Schwiegermutter ihr aus unerfindlichen Gründen eine Mitschuld an Alfredos Tod gab.
Mist, wie sollte sie darauf reagieren?
Sie entschloss sich, Toni die Grenzen aufzuzeigen, wenigstens ein bisschen.
»Weißt du, was ich glaube, Toni? Ich sag's dir, auch wenn es dich nicht interessiert. Ich denke, dass du Alfredo keinen Gefallen tust, wenn du dich plötzlich so aufführst. Wenn er uns von da oben irgendwo sehen kann, wird er sich wundern, wie du mit seiner liebenden Witwe umspringst. Keine Ahnung, welche Laus dir über die Leber gelaufen ist. Aber dein Verhalten stinkt mir.«
Während sie ihrem Ärger Luft gemacht hatte, war Tonis hageres Gesicht zu einer reglosen Maske erstarrt.
»Machen wir uns nichts vor, Camilla. Du bist eine harte Frau, du wärst jederzeit bereit mich zu töten, wenn es dir nutzt. Und deshalb frage ich dich: Willst du an Alfredos Stelle treten im Clan?«
»Steht das nicht Reno zu?«
»Rede keinen Unsinn. Du denkst doch das Gleiche wie ich, dass er dafür nicht der Richtige ist. Also, willst du es?«
»Ich habe daran gedacht, ja.«
»Die Männer werden dich nicht akzeptieren.«
»Dann würden sie dich auch nicht akzeptieren.«
Toni lachte verächtlich auf. »Du hast nicht die gleiche Autorität wie ich, du bist keine echte 'Ndranghetista. Dein Vater war ein beschissener Zuhälter.«
Camilla schnappte sich das Whiskyglas, leerte es in einem Zug und stellte es klirrend auf dem Glastisch ab. »Ich war noch nicht fertig mit Fragen, Toni. Was hast du vor, was sind deine Absichten?«
»Es gibt einen Mann, drüben in Chicago. Beppo Franchese. Seine Familie stammt aus San Luca in Kalabrien, wie meine. Er wird mir zur Seite stehen, wenn ich die Leitung der Geschäfte übernehme. Du wärst klug, wenn du das akzeptierst.«
Okay, dachte Camilla, da war sie also, die Kriegserklärung.
Wie immer wenn eine Situation brenzlig wurde, vereiste Camillas Herz. Es war ihr großer Vorteil. Sie konnte sämtliche Gefühle, die sie zu schwächen vermochten, auf Knopfdruck ausschalten.
Zugleich sah sie wie unter einem Brennglas jede Regung ihres Gegenübers.
Auch wenn Tonis wächserne Miene es nicht verriet, ihre entzündeten Lider vibrierten wie unter sanften Stromstößen. Es war die Stelle ihres Körpers, die sich dem eisernen Willen zur Kontrolle entzog.
Camilla lächelte schmal. »Ich akzeptiere deinen Anspruch, Toni.«