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Die Leiche des Hackers C1PH3R alias Thomas Anderson wurde am Ufer des Hudson River angespült. C1PH3R stand auf der Most-Wanted-Liste des FBI. In seiner Tasche fanden sich Fotos, die Eric Taylor, den Sohn des republikanischen Präsidentschaftskandidaten, einen Unbekannten mit einem auffälligen Tattoo und den Journalisten James Collins zeigten, der vor Jahren spurlos verschwunden war. Außerdem eine Aufnahme, auf der Anderson gemeinsam mit unserem IT-Genie Ben Bruckner als Studenten an der Caltech zu sehen war. Und plötzlich jagten Phil und ich einen toten Hacker!
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Seitenzahl: 138
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Wir jagten den toten Hacker
Vorschau
Impressum
Wir jagten dentoten Hacker
Gary Shaw saß hinter dem Steuer seines Toyota Camry und trommelte ungeduldig auf das Lenkrad. Im Radio sang Steve Miller davon, wie ein Adler zu fliegen. Shaw indes steckte über eine Stunde auf der Brooklyn Bridge im Stau fest. Und es sah nicht so aus, als würde sich daran bald etwas ändern. Ausgerechnet während seine Rita daheim mit dem Essen auf ihn wartete.
Die Heckscheibe des Toyota zerbarst mit einem Knall. Shaw fuhr zusammen. Ein zweiter Knall und der Seitenspiegel seines Nachbarn zersplitterte. Eine Frau schrie.
Ein Kerl im schwarzen Hoodie mit dem Aufdruck einer weißen Guy-Fawkes-Maske auf dem Rücken und den Worten DISOBEY rannte an Shaw vorbei. Links und rechts von ihm schlugen weitere Kugeln ein. Seine Verfolger waren zwei Typen, die aussahen wie aus einem Actionfilm. Der Junge schlug Haken, kletterte über die Absperrung am Rand und ließ sich fallen, ohne sich noch einmal umzudrehen. Hundertzwanzig Fuß unter der Brücke glitzerte der East River in der Sonne.
Wahnsinn!, dachte Shaw. Und meine Dashcam hat alles drauf.
Lady Liberty! Als Neuankömmling im Big Apple hatte ich sie gleich in meiner ersten Woche mit dem Ausflugsboot umrundet. Für Millionen von Einwanderern war sie das Symbol ihrer Hoffnung, es hier zu etwas zu bringen. Vom Tellerwäscher zum Millionär, wie man so schön sagt. In unserer Stadt konnte man der Freiheitsstatue nicht entkommen. In Souvenirshops ebenso wenig wie in Bars und Restaurants, als Fotografie, als Puzzle, sogar als Pantomimenkünstler.
Doch an diesem Tag mit einem Boot des NYPD ganz für sich allein an Ellis Island vorbei den Hudson hinunterzuschippern, um abseits der Massen seinen Fuß auf die kleine Insel mit dem großen Symbolwert zu setzen, am Sockel hochzublicken, auf dem die Göttin der Freiheit ihr ewiges Feuer in den New Yorker Himmel streckte, das war etwas ganz anderes.
Ungewohnt früh hatte ich Phil an der üblichen Ecke abgeholt, und wir waren direkt zum Fährterminal gefahren. Detective Sergeant Joel Chance vom NYPD, dem wir schon häufiger über den Weg gelaufen waren, hatte sich bei mir gemeldet. Am Ufer, unter dem strengen Blick der Statue, war in der Nacht ein Toter angeschwemmt worden. Ein Toter, der dem FBI nur allzu gut bekannt war.
Das Boot legte an. Phil und ich sprangen auf den Ponton und marschierten das kurze Stück vom Steg zum südöstlichen Ende der Insel. Den Weg musste man uns nicht zeigen. Der Fundort direkt am Ufer war beleuchtet wie die Rockefeller Plaza kurz vor Weihnachten. Das CSI-Team hatte ein Zelt aufgebaut, die Gegend war weiträumig mit Flatterband abgesperrt. Man musste den Fund vor Gaffern beschützen und vor der Presse, die es wie immer geschafft hatte, vor uns da zu sein. Keine dreißig Yards vom Strand entfernt dümpelten drei Boote im grünen Wasser. Darauf zielten drei Kameraleute mit ihren gierigen Objektiven auf uns.
Als wir uns dem Zelt näherten, kam Chance heraus, um uns zu begrüßen. Er hatte einen kräftigen Händedruck, aber kalte Finger und dunkle Ringe unter den Augen.
»Sie Ärmster haben sich hier die Nacht um die Ohren geschlagen?«, fragte ich.
»So sieht's aus. Dafür habe ich ein Geschenk für Sie. Kommen Sie, Gentlemen. Drinnen gibt's auch Kaffee.«
Er brachte uns ins Zelt, in dem die übliche Geschäftigkeit herrschte. Ziemlich genau in der Mitte lag ein lebloser Körper. Das Wasser des Hudson River plätscherte unter der Zeltplane herein und gluckerte an seinen ausgetretenen Sneakers.
Phil deutete auf die Leiche. »Ist das etwa Ihr Geschenk?«, fragte er mürrisch.
»Ist es. Und Sie werden es lieben«, antwortete Chance freudestrahlend.
Er goss uns allen Kaffee ein und verteilte die Becher. Die Brühe schmeckte grauenhaft, ich war Chance trotzdem dankbar für das bisschen Wärme nach einer kühlen Bootsfahrt. Ich nippte und sah mir den Toten genauer an. Verwaschene Bluejeans, ein schwarzes Sweatshirt mit Kapuze. Auf den Rücken war ein weißes maskenhaftes Gesicht aufgedruckt und darunter in Großbuchstaben das Wort DISOBEY!, was so viel bedeutet wie »Sei ungehorsam!«.
Allzu lang konnte der Leichnam nicht im Wasser gelegen haben. Er war nicht etwa aufgequollen, wie ältere Wasserleichen das so an sich hatten. Auf den ersten Blick waren auch keine äußeren Verletzungen zu sehen, etwa am Kopf oder Oberkörper. Aber der Tote hatte Bartstoppel, längeres Haar und sah überhaupt reichlich ungepflegt aus. Vielleicht ein Obdachloser? Doch wegen eines Tramps hätte Chance uns kaum mitten in der Nacht herbeordert.
»Thomas Anderson, sagt Ihnen der Name was, Agent Cotton?«, fragte Chance, als hätte er meine Gedanken gelesen.
Ich durchforstete mein Gedächtnis. Der Name kam mir bekannt vor, ich konnte ihn jedoch nicht direkt zuordnen.
»Mister Anderson steht auf irgendeiner unserer Listen«, meinte Phil, dessen Gedächtnis besser zu funktionieren schien.
»Sehr richtig.« Chance gab seinem Kollegen vom CSI-Team einen Wink.
Ich zog meine mitgebrachten Einweghandschuhe über und nahm einen durchnässten Sozialversicherungsausweis von ihm entgegen.
Thomas Anderson, achtundzwanzig Jahre alt, unverheiratet, Kaukasier, wohnhaft in Brooklyn. Jedenfalls war das seine letzte Meldeadresse. Der Ausweis war allerdings alt und die Adresse vermutlich nicht mehr aktuell.
»Beim FBI ist er besser bekannt unter seinem Codenamen ›C1PH3R‹«, ließ Chance die Bombe platzen.
»Wusste ich's doch!«, freute sich Phil. »Top-Ten-Cybercriminals-Liste Platz eins!«
»Von Ben hätte ich nichts anderes erwartet, aber von dir? Ich dachte immer, du und die Technik, ihr steht auf Kriegsfuß miteinander«, neckte ich meinen Freund.
»Anderson alias C1PH3R war seit mehr als zehn Jahren verschwunden. Er lebte ›off the grid‹, wie wir Hacker so sagen«, dozierte Phil mit einem Schuss Selbstironie.
»Tja, mehr ›off the grid‹ als tot geht eigentlich nicht«, scherzte ich.
»Die Kollegen haben vermutet, er hätte sich nach Südamerika abgesetzt oder nach Russland«, sagte Phil. »Offensichtlich lebte der Kerl die ganze Zeit unerkannt direkt vor unserer Nase.«
»Hat uns da jemand Arbeit abgenommen?«, fragte ich in die Runde.
»Das muss die Gerichtsmedizin klären«, antwortete einer der CSI-Leute. »Auf den ersten Blick sieht es jedoch so aus, als wäre er ganz einfach ertrunken.«
Ich hielt Chance den Sozialversicherungsausweis hin. »Sie haben uns sicher nicht mitten in der Nacht aus dem Bett geholt, nur um einen ertrunkenen Hacker anzusehen. Was haben Sie sonst noch herausgefunden?«
Chance reichte mir einen Plastikbeutel mit zwei Fotos. Ich betrachtete ihn genauer.
»Das sind nicht unsere Standardtüten«, wunderte ich mich.
»Die Fotos waren da drin. Wasserdicht verpackt. In Andersons Hosentasche«, erklärte Chance.
»Anderson verpackt seine Familienfotos wasserdicht, bevor er ertrinkt?«, meinte Phil. »Sehr umsichtig ...«
»Sehen Sie sich die Bilder an«, forderte Chance uns auf. »Das ist echt der Hammer.«
Ich zog die Fotografien heraus. Chance, Phil und ich betrachteten gemeinsam die erste.
»Ist das der, von dem ich denke, dass er es ist?«, fragte ich.
»Eric Taylor. Der Sohn des republikanischen Präsidentschaftskandidaten, sehr richtig«, erwiderte Chance.
»Scheiße«, entfuhr es Phil. »Das gibt Ärger.«
»Wer sind die anderen beiden Männer auf dem Bild?«, wollte ich wissen.
Chance schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Keine Prominenten. Da müsst ihr ran.«
Eric Taylor stand auf dem Foto in der Mitte. Der Mann links von ihm hatte einen militärischen Haarschnitt und ein Tattoo auf dem Oberarm. Der andere war älter, trug Brille und einen ergrauten Vollbart. Ein Intellektueller vielleicht, ein Lehrer oder Professor.
»Das kann Ben mit seinen Rechnern für uns herausfinden«, entschied ich.
»Wo wir gerade bei Doktor Bruckner sind«, sagte Chance, der Ben von einem früheren Fall her kannte. Er wirkte unangenehm berührt.
Als ich das zweite Foto hervorzog, wurde mir auch klar, warum. Mein Magen zog sich zusammen, und das lag nicht etwa am lauwarmen Kaffee. Thomas Anderson selbst war auf dem Foto zu sehen.
Und neben ihm, in einem Poloshirt und einer Stoffhose, ein paar Jahre jünger, mit einer Brille, die schon aus der Mode gekommen war, als sie beim Optiker im Schaufenster gelegen hatte, stand unser Kollege Dr. Ben Bruckner.
Detective Sergeant Nakamura von der Homicide Division des NYPD stand mit verschränkten Armen oben auf dem Absatz. Er wartete darauf, die beiden FBI Agents in Empfang zu nehmen, die die Treppe in den dritten Stock herauf stapften.
Der vordere war ein Hüne, blond, breitschultrig mit einem kantigen Kinn.
Wenn man ihn in ein Bärenfell steckt und ihm einen Helm mit zwei Hörnern dran aufsetzt, könnte er locker in einer von diesen neuen Wikingerserien auf HBC mitspielen, dachte Nakamura. Er besaß zwar nicht mal einen eigenen Fernseher, wusste aber alles über Wikingerserien von seinem kleinen Neffen.
Dem Blonden folgte ein schlanker, dunkelhaariger Mann mit dunklem Teint. In seinen Adern floss ganz offensichtlich indianisches Blut. Und er hatte einen erlesenen Geschmack. Wenn Nakamura richtig lag, waren seine Schuhe maßgefertigt und nicht unter achthundert Dollar zu haben. Wie sich das ein Fed leisten konnte, war Nakamura schleierhaft.
Die beiden Agents hatten ihn auf dem Absatz erreicht. Der Blonde war kein bisschen außer Atem, er war wohl ziemlich fit.
»Mein Name ist Agent Dillaggio, und das hier ist mein Partner Agent Zeerookah«, stellte er sie vor.
Sie begrüßten sich mit Handschlag. Nakamura nahm sie mit in die Wohnung, wo das CSI-Team alles nach Fingerabdrücken absuchte. Dr. Dillard, die zuständige Gerichtsmedizinerin, machte im Schlafzimmer ihre Arbeit. Die Ärztin, Dillaggio und Zeerookah nickten sich wortlos zu.
»Der Name des Opfers ist Denise Drury. Zweiunddreißig Jahre alt, ledig«, sagte Nakamura.
Die Frau war eine echte Schönheit, immer noch, obwohl sie tot war. Sie hatte langes dunkelblondes Haar, eine klassische Nase und eine vielversprechende Figur. Sie saß in einem Morgenmantel halb aufrecht in ihrem Bett, das Kinn auf die Brust gesunken. Aus einem Mundwinkel war Erbrochenes ausgetreten und angetrocknet. Neben dem Bett stand ein leeres Glas und eine fast leere Flasche Jack Daniels. Um die Frau herum lag ein halbes Dutzend Tablettenschachteln und auf ihrem Schoß ein handgeschriebenes Blatt Papier.
Agent Dillaggio nahm die Packungen in Augenschein. Es handelte sich bei allen um ein und dasselbe Medikament. Somnum stand in tiefblauer Schrift darauf.
»Ein starkes Barbiturat, ein verschreibungspflichtiges Schlafmittel«, kommentierte Dr. Dillard, die Dillaggios Interesse bemerkt hatte.
»Hat sie sich damit das Leben genommen?«, fragte der Indianer und betrachtete eine Verpackung etwas genauer. Die Informationen waren in Englisch und vermutlich Arabisch aufgedruckt.
»Wir müssen das Ergebnis der Toxikologie abwarten, aber der erste Eindruck sieht mir sehr danach aus«, sagte Dr. Dillard.
»Wenn sie das Zeug mit Bourbon heruntergespült hat, war's vielleicht auch nur ein Versehen«, meinte Nakamura.
»Glaub ich nicht«, erwiderte Agent Dillaggio. »Nicht bei sechs Schachteln. Die Blister sind alle leer. Das war eindeutig Absicht.«
Er sah sich die Notiz auf dem Schoß der Toten an. Die Schrift war sauber lesbar mit großen Schnörkeln. Eine typische Frauenhandschrift. »Ihr Abschiedsbrief?«
»Davon gehen wir aus«, antwortete Nakamura.
»Warum genau noch mal sind wir eigentlich hier? Ist das nicht eher was für euch?«, fragte Zeerookah.
»Denise Drury war bis vor ein paar Tagen die Privatsekretärin von Ron Taylor«, gab Nakamura zurück.
»Muss ich den kennen?«, fragte Agent Dillaggio verunsichert.
»Sie sollten zumindest langsam wissen, ob Sie in vier Wochen lieber ihn wählen oder den demokratischen Präsidentschaftskandidaten.«
Agent Dillaggio schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. »Jetzt klingelt es. Tut mir leid, aber Ron Taylor ist so ein Allerweltsname, darauf bin ich nicht gekommen. Das erklärt natürlich einiges.«
»Wir waren uns erst auch nicht sicher, wen wir anrufen sollen«, erklärte Nakamura. »Ich habe den Secret Service verständigt, die meinten jedoch, sie seien nicht zuständig, weil die Frau vor ein paar Tagen von Taylor fristlos entlassen worden ist.«
»Was ist denn vorgefallen?«, fragte Agent Zeerookah.
»Taylor hat sie rausgeworfen, weil sie angeblich eine teure Uhr von ihm gestohlen hat. Eine Rolex im Wert von fünfundvierzigtausend Dollar. Es gab eine Anzeige bei uns.«
»Wie lange hat sie für Taylor gearbeitet?«, fragte Agent Dillaggio.
»Sieben Jahre.«
»Nach sieben Jahren fängt sie plötzlich an, ihn zu bestehlen, Detective?«
»Sie war wohl in finanziellen Schwierigkeiten, Agent Dillaggio. Wir haben ein paar ziemlich teure Arzt- und Medikamentenrechnungen in ihrem Schreibtisch gefunden.«
»Rechnungen für Schlafmittel?«, fragte Agent Dillaggio.
»Nein, jedenfalls nicht Somnum.«
»Gute Arbeit, Detective Nakamura«, lobte Agent Zeerookah ihn.
»Und dann habe ich noch etwas gefunden. In einer Zuckerdose auf dem Kühlschrank.«
»Doch nicht etwa ...?« Agent Dillaggio hob die Brauen.
Nakamura griff in die Innentasche seines Jacketts und zog einen Asservatenbeutel hervor. Im Inneren leuchtete es goldfarben.
Agent Zeerookah ließ sich den Beutel geben. »Meine Fresse, ist die echt?«
»Nicht meine Gehaltsklasse, keine Ahnung. Aber sie sieht ziemlich echt aus«, antwortete Nakamura.
Der G-man zog Einmalhandschuhe über und holte das Schmuckstück aus dem Beutel. Eine Rolex-Armbanduhr. Die Lünette blau und rot, Armband und Gehäuse aus Gold. Sie wog schwer.
»Wer trägt so ein protziges Ding am Handgelenk spazieren?«, wunderte sich Agent Dillaggio.
»Jemand, der alle um ihn herum wissen lassen will, wie mächtig, reich und sexuell potent er ist«, meinte Agent Zeerookah sarkastisch.
»Jemand, der ein Arschloch ist«, sagte Nakamura und alle im Raum stimmten ihm nickend zu.
Mr. High hatte Berichte von zwei unabhängig voneinander ermittelnden Teams erhalten. In beiden war der Name »Ronald Taylor« aufgetaucht. Kein Wunder also, wenn er am Nachmittag alle Teammitglieder gemeinsam um seinen Besprechungstisch versammelte: Steve, Zeerookah, Ben und natürlich Phil und mich.
»Zuerst interessiert uns alle brennend, wie es zu dem Foto in Andersons Tasche gekommen ist«, fragte der Chef mit Blick auf Ben.
Er klagte ihn nicht an, machte ihm keine Vorwürfe. Mr. High vertraute seinen Leuten zu einhundert Prozent. Auch aus diesem Grund würden wir alle unser letztes Hemd für ihn geben.
Ben war die Sache ziemlich peinlich. Er nestelte an seiner Krawatte. Auf seinem Gesicht erschienen hektische rote Flecke.
»Anderson und ich waren an der Caltech und haben zusammen ein Wochenendseminar besucht. Da ging es um maschinelles Lernen. Das war schon so ziemlich alles.« Er blickte verunsichert in die Runde.
»Und das Foto?«, fragte der Chef.
»Ist am Ende dieses Seminars entstanden. Er hat sich mir ein bisschen aufgedrängt mit dem Bild. Wir haben uns ganz gut verstanden, aber er hatte damals schon Drogenprobleme und psychische Auffälligkeiten. Ich habe ihn danach nur sporadisch an der Uni gesehen. Ehrlich gesagt, hat es mich gewundert, dass er überhaupt so alt geworden ist.«
»Und Sie hatten nach der Universität nie wieder Kontakt?«
»Nein, Sir.«
»Haben Sie bei Ihrer Einstellung angegeben, Anderson zu kennen?«, fragte Mr. High.
Ben schüttelte den Kopf. »Wie gesagt, wir waren nicht befreundet oder so was. Das Foto hat ein Kommilitone in einer Pause geschossen. Ich hatte nicht das Gefühl, es würde irgendeine Rolle in meinem Leben spielen. Außerdem hab ich mich ja nicht für die Abteilung ›Cybercrime‹ beworben.«
»Haben Sie eine Ahnung, warum Anderson von allen möglichen Fotos ausgerechnet Ihres in seiner Jackentasche spazieren führte?«
»Glauben Sie mir, Sir, das ist mir genauso ein Rätsel wie Ihnen. Ich hatte kaum mehr Kontakt zu ihm als zu anderen Mitstudenten an der Uni.«
»Also gut«, meinte der Chef, »es wird sich sicher zeigen, was das zu bedeuten hat. Phil, was haben Sie?«
»Nachdem die Zeitungen über Andersons Tod geschrieben haben, gingen einige Meldungen beim NYPD und bei uns ein. Das Übliche, Schießereien, Prügeleien und sogar eine Verfolgungsjagd auf der Brooklyn Bridge. Wir sind noch dabei, die Meldungen auszuwerten. Das wird ein paar Tage dauern.«
»Danke. Sie sind hier gemeinsam in meinem Büro, weil ich nicht an Zufälle glaube. Glaubt von Ihnen etwa jemand an Zufälle?«
Niemand von uns tat das. Wer beim FBI an Zufälle glaubt, kommt mit seinen Ermittlungen nicht weit.
»Natürlich sind die Fotos in der Tasche kein Zufall. Die haben eine Bedeutung«, sagte ich.
»Tja, nur wissen wir nicht, welche«, bemerkte Zeerookah.
Es entstand eine kurze Pause, doch da noch niemand eine konkrete Idee hatte, was Anderson dazu bewogen hatte, dieses Foto mit sich zu führen, gingen wir zum nächsten Tagesordnungspunkt über.
»Behalten wir das also im Hinterkopf. Was wissen wir über das andere Foto?«, fragte der Chef.
Ben war offensichtlich froh, hier endlich etwas Positives beitragen zu können. »Der Mann mit dem Vollbart, rechts von Eric Taylor, ist James Collins. Collins war Journalist beim Washington Chronicle, einem Blatt, das früher mal einen guten Ruf hatte. Dann hat Eric Taylor den Laden gekauft. Seitdem ist er mehr oder weniger das Sprachrohr seines Vaters.«
Ich deutete auf den anderen Mann. »Und der hier?«
Ben schüttelte den Kopf. »Bis jetzt nichts, ich bin noch dran. Das Foto ist leider sehr unscharf, das mag Betty gar nicht.«
»Betty?«, fragte Steve belustigt.
»Mein neuronales Netz für Bilderkennung. Ich nenne sie ›Betty‹.«
»Für was steht die Abkürzung?«, fragte Phil neugierig.
Ben war perplex. »Das ist keine Abkürzung, sondern ihr Name!«
»Weiter im Text«, meinte Mr. High ungeduldig. »Ich möchte, dass die Gentlemen in separaten Teams ermitteln, sich aber regelmäßig austauschen. Wir müssen unbedingt schnell herausfinden, welchen Zusammenhang es zwischen den beiden Ereignissen gibt. Denn einen Zusammenhang muss es geben. Wie sind Ihre Pläne für die nächsten Tage, Jerry?«