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Bisher hieß es, dass die Angin-Brüder und Frank Morris die Einzigen gewesen waren, die je von Alcatraz hatten fliehen können. Doch Holly Zachariah erzählte uns eine andere Geschichte. Sie hatte im Nachlass ihrer kürzlich verstorbenen Schwester Glenda Briefe gefunden. Es handelte sich um die langjährige Korrespondenz mit dem gemeinsamen Bruder Vernon, der damals offenbar - entgegen allen Berichten - seine Flucht von der berühmten Gefängnisinsel überlebt hatte. Er hielt sich in New York auf, war jedoch seit einigen Tagen unauffindbar. Vernon war des Mordes an seiner Frau beschuldigt worden und hatte stets seine Unschuld beteuert. Phil und ich machten uns daran, dem Geheimnis auf den Grund zu gehen - und erlebten eine tödliche Überraschung!
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Seitenzahl: 143
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Die letzte Flucht von Alcatraz
Vorschau
Impressum
Die letzte Fluchtvon Alcatraz
Elbert Spellock war sein ganzes Leben lang ein extrem vorsichtiger Mann gewesen. Berufsbedingt. Aber auch sonst. Trotzdem sah er den Tod nicht kommen. Als er sich umdrehte, riss er die Augen auf.
»Was ...?«, stieß er hervor.
Der Rest des Satzes ging im Krachen der Jarygin PJa unter. Der winzige Moment bis zum Erscheinen der Feuerblume hatte Spellock ausgereicht, um den Pistolentyp zu erkennen. Er war schließlich ein absoluter Experte für Waffen. Gewesen, dachte er, als er den Schlag an der Brust spürte. Eine absolute Profiwaffe ... Schon seltsam, was einem während des Sterbens alles durch den Kopf ging.
Spellock taumelte nach hinten. Ungläubig starrte er auf seine rechte Hand, die voller Blut war. Für Panik und Todesangst reichte die Zeit nicht mehr. Stattdessen kam die Schwäche. Und die Finsternis. Den Aufschlag auf dem Boden spürte Elbert Spellock bereits nicht mehr.
FBI Field Office, Federal Plaza, Manhattan
Phil betrat unser gemeinsames Büro mit zwei Bechern Kaffee in den Händen.
»Sag mal, hast du einen Umweg über Texas gemacht?«, fragte ich ungnädig. »Es kann ja nicht stundenlang dauern, zwei Becher Kaffee aus dem Automaten zu ziehen.«
»Sorry«, erwiderte Phil und streckte mir einen Becher hin. »Ruby und Daisy sind mir über den Weg gelaufen und haben mich aufgehalten. Ich musste Daisy ein wenig trösten. Sie hat mal wieder Liebeskummer.«
Ich grinste. Genüsslich nippte ich am Kaffee. Mein Grinsen gefror. »Der ist ja schon fast kalt.«
»Du weißt doch, wenn du hier was Warmes willst, musst du ein Bier bestellen.«
Mein Telefon auf dem Schreibtisch klingelte.
»Der Chef«, sagte ich, nahm ab und stellte auf laut. »Ja, Sir? Was kann ich für Sie tun?«
»Hallo, Jerry. Lassen Sie alles stehen und liegen und schnappen Sie sich Phil. Ich möchte, dass Sie beide umgehend in mein Büro kommen. Steve ist bereits da. Wir möchten Ihnen einen Gast mit einer ganz und gar unglaublichen Geschichte vorstellen. Ich garantiere Ihnen, Sie werden staunen.«
»Natürlich, Sir. Sind schon auf dem Weg.«
»Was mag das wohl sein?«, fragte Phil, als wir uns erhoben. »Ich tippe auf jemanden, der Elvis in der Subway begegnet ist. Als Kontrolleur verkleidet.« Er ballte eine Hand zur Faust. »Der King lebt! Weiß ja jeder.«
Wir betraten Mr. Highs »Hoheitsgewässer«, wie seine Sekretärin Helen das zu nennen pflegte. In der kleinen Sitzecke am Fenster saß breitbeinig Steve Dillaggio. Mit seiner mächtigen athletischen Wikingergestalt und dem ihm eigenen Charisma verdeckte der SAC beinahe die alte Lady auf dem Sessel neben ihm. Selbst Mr. High, der der Frau gegenübersaß, hatte Probleme, in Steves Gegenwart zur Geltung zu kommen. Auf dem Tisch verstreut lagen zwei Dutzend handgeschriebener Briefe.
»Ma'am, Sir, Steve«, sagte ich, während sich Mr. High erhob.
»Jerry, Phil, setzen Sie sich bitte. Darf ich Ihnen Mrs. Zachariah vorstellen? Ma'am, das sind die Special Agents Cotton und Decker, von denen ich Ihnen erzählt habe.«
»Sehr erfreut, Agents«, sagte sie mit angenehmer, fester Stimme und nickte uns lächelnd zu. »Erlauben Sie mir, dass ich sitzen bleibe, ich bin mit meinen sechsundsiebzig Jahren nicht mehr ganz so gelenkig wie mit fünfundsiebzigeinhalb.«
»Natürlich, Ma'am.« Ich erwiderte ihr Lächeln.
Sie hatte Humor, das gefiel mir. Ich musterte sie. Sie besaß ein freundliches Gesicht, in dem sich ihr langes Leben in Hunderten von Falten und Fältchen verewigt hatte. Ihre Nase war ein wenig zu groß, ihre blauen Augen standen ein wenig zu weit auseinander. Unter einer blauen Baskenmütze quollen schneeweiße Haare hervor, die sich wie ein mächtiger Wattebausch um ihren Kopf legten. Sie war schlank, schmächtig sogar und trug eine rosa Knöpfbluse über einem türkisfarbenen Hemd, dazu eine braune Cordhose und gelbe Turnschuhe, die schon bessere Zeiten gesehen hatten. Am Garderobenständer hing eine hüftlange graue Windjacke. Mrs. Zachariah wirkte ein wenig aus der Zeit gefallen. Oder wie eine Hillbilly. Mit schlaffen, faltigen, blaugeäderten Händen stützte sie sich auf einen Gehstock. Ihr scharfer Blick verriet jedoch einen immer noch wachen Geist.
Wir setzten uns.
»Sagen Ihnen die Namen John und Clarence Anglin sowie Frank Morris etwas?«, fragte Mr. High.
Phil nickte. »Natürlich, Sir, auch wenn's am anderen Ende der Welt passiert ist. Die drei sind die Einzigen, denen jemals nachweislich die Flucht von Alcatraz gelungen ist.«
Steve lächelte. »Nun, das scheint nicht ganz zu stimmen. Mrs. Zachariah kann uns da etwas anderes erzählen. Bitte, Ma'am.«
Mrs. Zachariah räusperte sich. »Nun, Agents, Sie müssen wissen, dass ich vor drei Wochen das Haus meiner verstorbenen Schwester Glenda Tharp geerbt habe. Nachdem ich sie unter die Erde gebracht hatte, na ja, da habe ich begonnen, ein bisschen im Haus herumzustöbern. Immer mal wieder. Vor fünf Tagen bin ich plötzlich auf eine verschnürte Schachtel hinter dem Fernseher gestoßen, die diese Briefe hier enthielt.« Sie lächelte schüchtern. »Beim Lesen, nun, ich muss es so sagen, wie es war, Agents, da ist es mir plötzlich eiskalt über den Rücken gelaufen.«
Sie nahm einen Schluck Kaffee und ließ ihre Worte wirken.
»Denn diese Briefe stammen von meinem Bruder Vernon«, fuhr sie fort. »Vernon Flickinger. Sie beweisen, dass er eben nicht während seines Fluchtversuchs von Alcatraz umkam, wie es die Medien und die Polizei damals behaupteten. Er hat es wie die Anglin-Brüder und Morris geschafft. Ein halbes Jahr, bevor Alcatraz dichtgemacht wurde. Mein Bruder war der letzte Gefangene, der es versuchte. Es war also die letzte Flucht von Alcatraz überhaupt. Und eine der wenigen erfolgreichen.« Sie starrte uns aus großen Augen an. »Das ist noch nicht alles, Agents. So wie es aussieht, lebt mein Bruder noch. Drüben in Hackensack. Und ich mache mir große Sorgen um ihn.«
»Das wäre ja fast ... unglaublich. Aber ich bekomme da gerade einiges nicht zusammen«, erwiderte Phil. »Deswegen bin ich auf Ihre weiteren Erklärungen gespannt, Ma'am. Sehr gespannt sogar.«
Vernon Flickingers Erinnerungen
Nackt betrat Vernon Flickinger die Gemeinschaftsdusche. Als er den Wasserhahn öffnete, sprang er mit einem erschrockenen Schrei zurück. Heißes Wasser prasselte auf ihn hernieder.
Heiß, natürlich. Ich hätte dran denken sollen. Die haben mir doch erzählt, dass Alcatraz der einzige Knast in den ganzen verfluchten Staaten ist, wo es heiße Duschen gibt. Damit sich unsere Körper nicht an kaltes Wasser gewöhnen und wir so nicht abhauen können ...
Er grinste breit, während seine Mitgefangenen, deren Namen er nicht einmal kannte, rau auflachten und ihn durch den aufsteigenden Wasserdampf ungeniert musterten. Das war ihm schon an seiner vorherigen Adresse unangenehm gewesen, jetzt war es nicht besser.
»Wirst dich schon dran gewöhnen, Jüngelchen«, sagte ein älterer, massiger Gefangener mit Stiernacken und dem brutalsten Gesicht, das ihm jemals untergekommen war.
Wut stieg in Flickinger auf. Er musste sich beherrschen, um dem Kerl nicht an die Gurgel zu gehen. Niemand durfte »Jüngelchen« zu ihm sagen, niemand. Auch dieser Dreckskerl da nicht. Doch Flickinger hatte sich geschworen, den gleichen Fehler nicht noch einmal zu machen. Wenn er wirklich eine Chance zur Flucht bekommen wollte, musste er sich vorbildlich verhalten. In jeder Beziehung.
»Klar«, murmelte er deshalb nur.
»Wie heißt du, Jüngelchen?«, fragte der Stiernackige weiter, während er sich einzuseifen begann. »Und wo hatten sie dich vorher eingebuchtet? Bist wohl gestern neu mit dem Gefangenenschiff gekommen, was?«
»Vernon. Vernon Flickinger«, antwortete er gehorsam, obwohl er kurz vor der Explosion stand. »War zuvor in Sing Sing.«
»Ah, da soll's auch kein Zuckerschlecken sein. Was hast'n ausgefressen, Jüngelchen?«
»Nichts. Man hat mir den Mord an meiner Frau angehängt. Aber ich war das nicht, ich schwör's.«
»Jungs, ich glaube, wir haben 'n Unschuldsengel bekommen.« Der Wortführer sah sich grinsend um. Die anderen lachten laut. »Dann ist es höchste Zeit, dass unser Unschuldsengel seine Unschuld verliert, damit er besser hierher passt. Wo er seine Alte gar nicht umgebracht hat.«
Die Männer kamen näher. Flickinger wich unwillkürlich ein paar Schritte zurück. Die Backsteinwand stoppte ihn. Lüstern grinsend schlossen sie ihn in einem Halbkreis ein. Das Wasser tropfte an ihnen ab. Drei begannen zwischen ihren Beinen herumzuspielen.
»Bist'n Hübscher, Jüngelchen«, flüsterte der Stiernackige heiser. »Und du hast so zarte Lippen. Mal sehen, was die so können. Los, auf die Knie. Mach schon. Und dann darfst du uns alle verwöhnen. Mich zuerst.«
»Leckt mich«, zischte Flickinger.
All seine guten Vorsätze platzten in diesem Moment. Er trat dem Stiernackigen zwischen die Beine. Der gurgelte und krümmte sich. Flickinger versuchte, die Verwirrung auszunutzen, und stieß den Kleinsten aus der Gruppe beiseite. Als er zum Ausgang flüchten wollte, wo die Wachen waren, stolperte er über ein ausgestrecktes Bein. Der Länge nach schlug er in die Wasserpfützen. Er schrie. Wahnsinnige Schmerzen tosten durch seinen Oberkörper. Er wollte hoch, wegkriechen, war jedoch wie gelähmt.
Schon waren sie über ihm. Zwei zerrten an seinen Armen und knieten darauf, ein dritter nagelte seine Beine auf den Boden.
»Das soll der Scheißkerl büßen«, rief der Stiernackige. »Packt ihn!«
Flickinger spürte, wie sich jemand auf seine Oberschenkel setzte. Er drehte und wand sich keuchend, wollte sich befreien, hatte allerdings keine Chance, der Vergewaltigung zu entgehen. Schließlich ließ er sie über sich ergehen, um die Schmerzen und die Verletzungen nicht noch größer werden zu lassen. Er lenkte sich ab, indem er sich auf das Prasseln der beiden angelassenen Duschen konzentrierte.
Als sie von ihm abließen, kassierte er noch einen Tritt des Stiernackigen in die Seite. »Alles klar, Scheißerchen?«, zischte der. »Und kommende Woche wirst du uns dann schön verwöhnen. Sonst könnte es sein, dass du die nächste Abreibung nicht überlebst, verstanden?«
Er nickte. Als die Typen lachend die Dusche verließen, erhob er sich stöhnend. Dabei musste er sich übergeben. Danach trocknete er sich ab und zog sich an. Jede Bewegung schmerzte, aber die Erniedrigung, der er hilflos ausgesetzt gewesen war, noch viel mehr. Als er aus dem Duschraum hinaus wankte, grinsten ihn die beiden schwer bewaffneten Aufseher nur hämisch an.
»Ist was, Flickinger?«, fragte der Kleinere. »Willst du uns was sagen? Weißt du, wir suchen schon lange einen, der Pankonin anschwärzt. Was er und seine Jungs immer so treiben, könnte locker für vierzig Tage Dunkelhaft reichen. Doch, wie gesagt, du müsstest eben Meldung machen.«
Ihr Scheißkerle hättet nur in die Dusche zu kommen brauchen, dachte Flickinger verbittert. Die Vergewaltigung hatte ihm jeden Elan geraubt.
»Das halte ich für keine so gute Idee, Terry«, sagte der Größere. »Sonst sind wir noch schuld daran, wenn Pankonin irgendwann Hackfleisch aus Flickinger macht.« Er musterte ihn mit plötzlich hasserfülltem Gesicht. »Deswegen würde ich dir raten, Flickinger, halt einfach die Fresse wegen dem, was da gerade passiert ist, okay? In deinem eigenen Interesse.«
Flickinger nickte mühsam. »Da ... war doch nichts«, stieß er hervor.
Der Kleinere nickte. Sein Grinsen sprengte beinahe sein Gesicht. »So ist's brav, Flickinger. Wenn du keinen Ärger machst, werden wir sicher die besten Freunde. Und jetzt geleiten wir dich zum Frühstück. Ich bin mir sicher, es wird dir schmecken.«
Wenn Flickinger überhaupt einen Trost empfand, dann den, dass die Gefangenen hier nur einmal pro Woche duschen durften. Nach dem Frühstück, bei dem er sich mit einem vierschrötigen Typen namens Travis Dye beschnuppert hatte, der wegen vielfacher Vergewaltigung und Sodomie saß und auch noch stolz darauf war, wurde Flickinger wieder zum C-Block zurückgebracht. Über den langen breiten Korridor musste er selbstständig zu seiner Zelle marschieren, misstrauisch beäugt von den Aufsehern auf der Waffengalerie am Kopfende, die mit Maschinengewehr, Pistolen und Gasgranaten den gesamten Zellenblock überwachten.
Seine Zelle war ein anderthalb auf zweieinhalb Yards bemessenes Loch, noch kleiner als in Sing Sing, wie dort mit Waschbecken, Toilette und Pritsche ausgestattet. Im Moment war das für zwanzig bis dreiundzwanzig Stunden pro Tag sein Aufenthaltsraum. Denn die Teilnahme an den Arbeitsprogrammen fiel unter Sondervergünstigung, die er sich durch mustergültiges Benehmen erst verdienen musste.
Flickinger legte sich vorsichtig auf die Pritsche und schloss die Augen. Sitzen konnte er nicht. Jetzt da keine anderen Gefangenen in den Zellen waren, war die Stille im Block geradezu gespenstisch. Seine Wut wich blanker Verzweiflung. Die Bilder seiner Vergewaltigung kamen mit Macht über ihn. Er schwor dem Stiernackigen fürchterliche Rache und wusste gleichzeitig, dass er sie nicht vollziehen durfte. Zumindest in seinen Gedanken starb Pankonin tausend grässliche Tode. Das verschaffte ihm wenigstens ein bisschen Befriedigung. Viel lieber aber hätte er geweint und geschrien und an den Gitterstäben gerüttelt, bis er nicht mehr konnte.
Hilfe konnte er von niemandem erwarten. Den Aufsehern war es weitgehend egal, was die Gefangenen untereinander taten. Im Gegenteil. Zahlreiche von ihnen schienen sadistische Freude zu empfinden, wenn sich die Insassen gegenseitig quälten. Manche Aufseher unterstützten das sogar noch, in Sing Sing genauso wie in Alcatraz.
Die Gefängnisleitung hatte es ihm gestern ja schon überdeutlich gesagt, als er hier mit neun anderen zusammen eingetroffen war.
»Ihr seid nicht auf Urlaub. Euch erwartet die härteste Zeit eures beschissenen Lebens, ganz egal, wo ihr herkommt und zuvor eingesessen habt. Ihr habt das Recht auf Essen, Kleider, einem Dach über dem Kopf und medizinische Versorgung. Alles andere, was ihr von uns erhaltet, sind Privilegien. Und die müsst ihr euch hart verdienen.«
Er schlief ein. Irgendetwas weckte ihn. Als er die Augen öffnete, drängten sich sämtliche Aufseher mit gierigen Blicken nackt in seiner Zelle, um ihn erneut zu vergewaltigen ...
Flickinger schrie wie am Spieß. Und erwachte abrupt. Schwer atmend und schweißgebadet saß er in seinem Sessel am Fenster. Er brachte ein paar Sekunden, um sich wieder zu beruhigen und zu begreifen, dass er eingeschlafen war. In Freiheit.
»Nur ein Albtraum, Gott sei Dank«, murmelte er und tupfte sich mit einem nicht mehr ganz sauberen Taschentuch den Schweiß von der Stirn und aus dem grauen Vollbart. Selbst nach sechzig Jahren suchten ihn die Dämonen seiner Gefangenschaft nach wie vor heim. Sie würden ihn bis ans Ende seiner Tage nicht mehr loslassen.
Trotzdem gab es weitaus realere Schrecken. Flickinger rückte seine Brille zurecht, die ihm ein Stück von der Nase gerutscht war. Mühsam stemmte er sich aus dem Sessel und suchte die Toilette auf. Als er zurückkam, zog er sich eine Weste über. Der kalte Schweiß an seinem Körper ließ ihn frieren. Seufzend setzte er sich wieder, hob die umgefallene Schrotflinte auf und klemmte sie zwischen die Beine. Anschließend griff er zu der Pistole, die vor ihm auf dem Tisch lag. Der kalte Stahl beruhigte ihn ein wenig. Dabei verspürte er Hunger und Durst. Deswegen griff er nach dem kalten Sandwich neben der Pistole. Während er kaute, schaute er prüfend aus dem Fenster. Doch da war niemand. Mit einem Bier spülte er nach.
»Ich werde morgen fahren und es erledigen. Heute habe ich keine Lust mehr«, brabbelte er vor sich hin und beobachtete weiter.
Bevor es dunkel wurde, erhob er sich und duschte. Dann legte er sich ins Bett, um zu vermeiden, dass er das Licht anmachen musste. Das konnte verräterisch sein. Die Pistole lag auf dem Nachttisch, die Schrotflinte schlummerte mit ihm unter der Decke.
»Lieber gehe ich in die Hölle, als dass die Hurensöhne mich kriegen. Und wenn, nehme ich noch einige von ihnen mit«, murmelte er sich in den Schlaf.
FBI Field Office, Federal Plaza, Manhattan
Mrs. Holly Zachariah sah uns der Reihe nach an. Es schien, als bräuchte sie etwas Zeit zum Überlegen.
»Wenn ich das richtig verstanden habe, wusste Ihre Schwester von der Flucht Ihres gemeinsamen Bruders, Sie dagegen nicht?«, hakte Phil nach.
Die alte Lady nickte. »Das haben Sie richtig verstanden, Agent Decker.« Wieder lächelte sie, legte ihren Gehstock quer über die Oberschenkel und hielt sich daran fest. »Nun, Sie müssen wissen, Agents, es ist jetzt beinahe sechzig Jahre her. Unglaublich, nicht wahr? Sechzig Jahre. Fast ein Menschenleben. Am Anfang, nach Vernons angeblicher Flucht von Alcatraz, da habe ich noch oft an ihn gedacht. Aber im Laufe der Zeit, da ... da sind die Erinnerungen an ihn langsam verblasst, verstehen Sie? Irgendwann, da wusste ich nicht mal mehr richtig, wie er eigentlich ausgesehen hat, wenn mir sein Gesicht in den Sinn kam. Wie waren seine Augen, seine Nase, sein Mund? Doch oft habe ich nun wirklich nicht mehr an ihn gedacht ...«
»Lassen Sie mich raten, Ma'am«, grätschte ich dazwischen, als sie ihren Redefluss unterbrach. »Sie und Ihr Bruder verstanden sich nicht besonders, während er hingegen mit Ihrer Schwester, Mrs. Tharp, ein deutlich engeres Verhältnis hatte.«
Sie schaute mich beinahe bewundernd an. »Sehr scharfsinnig, Agent Cotton, also wirklich, ich muss schon sagen. Ja, so war das tatsächlich. Vernon und ich verstanden uns schon als Kinder nie besonders gut. Und das wurde nicht besser, eher schlechter, wenn mich da meine Erinnerungen nicht völlig im Stich lassen.«
»Hatte das vielleicht einen bestimmten Grund, Ma'am?«, fragte Steve. »Ich frage nur so aus Neugierde.«
Sie überlegte. »Nun, ob das einen bestimmten Grund hatte, fragen Sie. Ja ... Möglicherweise war es, weil er so mit siebzehn oder achtzehn Jahren kriminell wurde. Ich erinnere mich noch genau, dass er ein- oder zweimal vor Gericht musste. Ich kann Ihnen nicht mehr sagen, ob er eingesperrt wurde oder nicht. Seine krummen Touren habe ich immer abgelehnt und ihm das auch deutlich gesagt. Wissen Sie, Vernon ist immer äußerst aggressiv gewesen, er hat oft andere Jungen verprügelt. O ja, das hat er. Und Wes hat er auch mal böse verprügelt, das war der Junge, mit dem ich gerne gegangen wäre.« Sie lächelte vor sich hin. »Das habe ich Vernon ganz besonders übel genommen. Und dafür hätte ich beinahe auch eine Tracht Prügel von ihm kassiert. Aber ... aber, wie war das noch mal? Ja, ich glaube, Glenda ging dazwischen und bewahrte mich davor.«
»Hatten Sie zu Ihrer Schwester ein besseres Verhältnis als zu Ihrem Bruder?«, wollte Phil wissen.