1,99 €
Abe Radner, ein pensionierter FBI-Kollege, bat mich, ihn dringend aufzusuchen. Ich machte mich sofort auf den Weg und geriet in eine Straßensperre. Denn jemand hatte sich von seinem Hochhaus aus in die Tiefe gestürzt. Meine düsterste Ahnung bestätigte sich - Abe war tot. Alles deutete auf Suizid hin, doch ein versteckter Ordner mit Zeitungsausschnitten verriet, dass sich Abe kurz vor seinem Tod erneut mit dem wohl spektakulärsten Fall seiner Laufbahn beschäftigt hatte. Vor zwanzig Jahren hatte er im Dunstkreis einer religiösen Gruppierung ermittelt, die glaubte, mit dem Millennium käme der Weltuntergang. Und als Phil und ich uns des Falls annahmen, begegneten uns weitere rätselhafte Todesfälle ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 139
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Insel der Verdammten
Vorschau
Impressum
Insel der Verdammten
Zuerst waren da nur Finsternis und das Gefühl, von einer Dampflok überrollt worden zu sein.
Jeder einzelne Knochen schmerzte, und der harte steinerne Untergrund, auf dem er ausgestreckt lag, machte die Sache nicht besser.
Blinzelnd öffnete er die Lider, die von einem zähen Sekret verklebt waren. Um ihn herum war es fast stockdunkel, bis auf ein schwaches Licht, das durch eine winzige Scharte hoch über ihm fiel.
Erst als er sich leise stöhnend aufsetzte, wurde Special Agent Zeerookah klar, dass seine Hände mit Kabelbinder auf dem Rücken fixiert waren. Angestrengt versuchte er, seine Umgebung besser zu erkennen. Und was er erkannte, traf ihn mit niederschmetternder Wucht. Er befand sich in einem Verlies!
Wenige Tage zuvor
Alles begann mit einem Anruf.
Phil und ich hatten den Feierabend im Mezzogiorno, unserem Lieblingsitaliener, ausklingen lassen. Ich mit einem Teller Spaghetti alle vongole und mein Partner mit einer bunten, gut gewürzten Ciambotta.
Den Geruch des leckeren Essens noch in der Nase und Phils Witzeleien mit dem Inhaber des Lokals im Ohr, öffnete ich beschwingt die Tür zu meinem Apartment, als mich das Klingeln bereits im Flur begrüßte. Mit einem Blick auf die Uhr stellte ich fest, dass es schon kurz nach elf war. Zu solch später Stunde warteten selten gute Neuigkeiten am anderen Ende der Leitung und in meinem Beruf schon dreimal nicht. Meist herrschte Katastrophenalarm, vor allem wenn das Klingeln einen solch drängenden Unterton hatte. Als hätte der Anrufer schon eine ganze Weile versucht, mich zu erreichen. Doch das bildete ich mir bestimmt nur ein.
Auf dem Weg ins Wohnzimmer war ich überzeugt, dass es das Office war, und war entsprechend überrascht, als ich eine unbekannte Nummer auf dem Display aufleuchten sah.
Bestimmt verwählt, dachte ich noch, während ich den Anruf mit einem schnöden »Ja bitte?« entgegennahm.
»Jerry, bist du's?«
Die Stimme kam mir entfernt bekannt vor, besonders der nasale Ton, auch wenn ich sie im ersten Moment nicht einordnen konnte.
»Abe hier. Abe Radner.«
Die Erkenntnis traf mich wie ein Peitschenhieb. Abe war ein alter FBI-Kollege, der vor fünf Jahren pensioniert worden war. Seitdem hatte ich nichts mehr von ihm gehört. Und jetzt ein Anruf mitten in der Nacht? Meine Neugier war zumindest geweckt.
»Abe? Wie geht's? Ich dachte, du genießt den Ruhestand auf den Florida Keys.«
»Da hab ich's nur zwei Jahre ausgehalten«, gab er heiser zurück. »Dann haben mich die Moskitos und die andauernde Hitze zurück in den Big Apple verscheucht.«
»Verstehe. Und was machst du so?« Seichtester Small Talk, aber ich wusste nicht, was ich anderes sagen sollte. Abe und ich waren nie so »dick« gewesen, dass ich unsere Beziehung als Freundschaft bezeichnet hätte. Ich hatte jedoch immer das Gefühl gehabt, dass er große Stücke auf meine Ermittlungsarbeit gehalten hatte.
»Hör zu«, meinte Abe nach einer kurzen Pause und einem hörbaren Atemzug. »Die Privatgespräche vertagen wir auf ein andermal. Im Moment brauch ich deine Hilfe.«
Sofort war ich hellwach und ganz bei der Sache. »Schieß los!«
Erneutes Zögern. Dann: »Nicht am Telefon. Wann kannst du bei mir in East Flushing sein?«
Ich überlegte. Der Verkehr ebbte auch in New York wochentags um diese Uhrzeit deutlich ab, sodass ich es in einer knappen halben Stunde nach Queens schaffen könnte. Angezogen war ich noch.
»Gib mir vierzig Minuten«, sagte ich sicherheitshalber und notierte mir die genaue Adresse.
Kurz darauf steuerte ich meinen Jaguar durch das Tor der Tiefgarage in die New Yorker Nacht. Zum Glück hatte ich mich im Mezzogiorno nicht zu einem Glas Wein überreden lassen, sodass ich vollkommen nüchtern war, als ich nach Osten über Randalls Island und dann auf dem Grand Central Highway immer weiter nach Queens düste. Anders als erhofft geriet ich jedoch kurz vor Flushing Meadows aufgrund von nächtlichen Straßenarbeiten in einen Stau. Eine Fahrspur war völlig gesperrt, sodass es eine Weile nur im Schritttempo voranging und ich gute zwanzig Minuten verlor. Jetzt zahlte sich aus, dass ich großzügig kalkuliert hatte und die angekündigte Ankunftszeit nur um zehn Minuten überschritt. Normalerweise hätte ich mich von unterwegs noch einmal bei Abe gemeldet, aber da er ja in seiner Wohnung auf mich wartete und nicht an irgendeiner zugigen Straßenecke, fand ich die Verspätung einigermaßen vertretbar.
Flushing war ein bunter Ortsteil von Queens, mit einem hohen Anteil an Chinesen und Koreanern. Entsprechend viele Leuchtreklamen erhellten die klare Nacht.
Abe wohnte in einer Gegend, die von fünf- bis sechsstöckigen Mietskasernen geprägt war, deren größter Vorteil darin bestand, dass sie einer großen Anzahl an Menschen relativ bezahlbaren Wohnraum boten. Wie ich wusste, gab es hier auch viele Sozialwohnungen, die knapp zehn Prozent aller New Yorker Apartments ausmachen.
Ich setzte den Blinker, bog links in die Straße ein, die Abe mir genannt hatte, und hatte sogleich ein ungutes Gefühl, als mein Blick auf die Polizeiabsperrung fiel, die die Straße nach etwa fünfhundert Yards hinter der ersten kleineren Kreuzung zu einer vorübergehenden Sackgasse machte. Das blau-rote Leuchten mehrerer Patrol Cars zuckte über die Mauern und ließen die Nacht zum Tag werden. Doch am meisten beunruhigte mich der Rettungswagen, der mitten auf der Straße gehalten hatte.
Ich fuhr langsam an die Kreuzung heran, wo der Verkehr nach links umgeleitet wurde, ließ die Scheibe herunter und winkte den diensthabenden Officer heran.
»Sir, Sie müssen ...« Er verstummte, als sein Blick auf meine ID Card fiel. Die drei blauen Buchstaben auf weißem Grund wirkten einmal mehr wie das Passwort eines exklusiven Klubs, und ich konnte ungehindert passieren.
Weit kam ich ohnehin nicht. Dicht hinter der Kreuzung war erst einmal Schluss. Ich stellte den Wagen am Straßenrand ab. Die Fahrbahn wurde von den Patrol Cars blockiert, deren Besatzungen alles taten, um den Bereich um den Rettungswagen großräumig abzuschotten. Immer wieder mussten sie neugierige Anwohner wegscheuchen, und auch mir wurde ein strenger Blick zuteil, als ein noch recht junger Officer im allgemeinen Trubel auf mich zukam. Wieder wies ich mich aus und hatte sofort seine volle Aufmerksamkeit.
»Können Sie mir sagen, was hier passiert ist?«, fragte ich.
»Wir haben einen Jumper«, gab er zurück.
Das Rumoren in meinem Magen wurde stärker. Als Jumper oder Springer bezeichnete man im Polizeijargon eine Person, die vorhatte, sich in suizidaler Absicht in die Tiefe zu stürzen – oder es bereits getan hatte.
Ich traute mich kaum, die nächste Frage zu stellen.
»Ist er ...?«
»Anwohner haben ihn auf der Straße liegen sehen und den Notruf verständigt. Das Ganze muss vor etwa einer halben Stunde passiert sein.«
Ich nickte mit versteinerter Miene. Schon auf der Fahrt hierher hatte ich Sirenen im Hintergrund gehört, mir aber, da diese zur »natürlichen« Geräuschkulisse unserer Stadt gehören, nicht allzu viel dabei gedacht.
Ich bat darum, den Mann sehen zu dürfen. Der Officer verwies mich an einen Vorgesetzten. Der führte mich durch den Pulk seiner Kollegen, die einen Radius von zwanzig Yards um die Ambulanz herum abschirmten. Schon aus einiger Entfernung sah ich einen Notarzt und zwei Sanitäter, die neben einem zugedeckten, länglichen Schemen standen, der auf den ersten Blick wie eine Bodenschwelle aussah. In Wahrheit war es der Leichnam des Jumpers, der mit einem weißen Tuch bedeckt war. Nur am Rand nahm ich wahr, dass das Gebäude, von dem aus der Sprung erfolgt sein musste, Abes Hausnummer trug.
Ich hielt meine ID Card am ausgestreckten Arm, während ich auf die drei weiß gekleideten Männer zusteuerte.
Mit einem Kopfnicken deutete ich auf den reglosen Körper. »Ist er ...?«
Der Notarzt zuckte bedauernd it den Schultern. »Die Fahrt ins Krankenhaus können wir uns sparen. Der Gerichtsmediziner ist bereits auf dem Weg.«
Ich schluckte und räusperte mich, bevor ich meine nächste Bitte aussprechen konnte. »Ich würde gerne einen Blick auf den Toten werfen.«
Der Arzt nickte. Die beiden Sanitäter nahmen je eine Ecke des Lakens und zogen es behutsam und mit allem gebotenen Respekt so weit nach unten, dass der von einer Blutlache umgebene, in Teilen zerschmetterte Schädel des Mannes zu sehen war.
In diesem Moment wurde meine düstere Ahnung zur traurigen Gewissheit.
»Abe ...«, sagte ich leise und schüttelte traurig den Kopf.
Der Notarzt sah mich verwundert an. »Sie kannten den Mann?«
»Er ist ein ...« Bevor ich das Wort Kollege ausgesprochen hatte, zögerte ich. Ich musste daran denken, dass ich es war, den Abe in seiner wohl schwersten Stunde angerufen und um Hilfe gebeten hatte. Und daran, wie er mir ein ums andere Mal mit gutem Rat zur Seite gestanden hatte. »Ein Freund von früher«, sagte ich schließlich.
Dann ging ich in die Hocke, nahm das Laken und zog es langsam wieder über Abe Radners Gesicht.
Ich wartete auf die Kollegen der Spurensicherung, bevor ich Abe Radners Wohnung betrat. Ich hatte sie eigens angefordert. Bei einem normalen Suizid ohne Hinweis auf Fremdverschulden wird normalerweise kein derartiger Aufwand betrieben, doch in diesem Fall genügte mir die Tatsache, dass Abe Radner G-man im Ruhestand gewesen war, um die Umstände seines Todes genauer zu beleuchten. Unsereins macht sich im Laufe unseres Berufslebens bekanntlich nicht nur Freunde. Und dass sich Abe umgebracht haben sollte, während ich bereits auf dem Weg zu ihm war, wollte mir einfach nicht in den Kopf. Am Telefon hatte er zwar besorgt geklungen, aber nicht so, als wäre er am Boden zerstört.
Während ich wartete, telefonierte ich im Jaguar sitzend mit Phil, den ich dazu aus dem Bett hatte klingeln müssen. Ich war mir jedoch sicher, dass mein Partner wissen wollte, was passiert war. Schließlich hatte er Abe auch gekannt. Und wie erwartet, reagierte er auf die Nachricht genauso schockiert wie ich.
»Er ist einfach aus dem Fenster gesprungen?«
»Die Beamten vor Ort haben keine Hinweise auf Fremdeinwirkung gefunden. Mal sehen, was die Spurensicherung findet.«
»Willst du, dass ich vorbeikomme?«
»Wozu? Hier gibt es nichts mehr zu tun. Ich will nur noch selbst einen Blick in Abes Wohnung werfen. Vielleicht findet sich dort ein Indiz darauf, weshalb er mich angerufen hat.«
»Und er hat am Telefon nichts verraten? Nicht mal ein Hinweis?«
»Nein. Ich weiß nicht einmal, ob sein Problem privater Natur war oder ...«
Ich hielt inne. Abe war seit fünf Jahren im Ruhestand, dennoch konnte ich mir schwer vorstellen, dass er im Fall von Geld- oder Beziehungsproblemen ausgerechnet mich kontaktiert hätte. Dass er aktuell keine Freunde gehabt hatte, konnte ich mir nicht vorstellen. Abe war immer ein geselliger Typ gewesen.
Als die Kollegen eintrafen, beendeten wir das Gespräch. Ich wartete fünf Minuten, dann betrat ich ebenfalls das Wohnhaus und fuhr mit dem Aufzug in die oberste Etage.
Abes Apartment lag am Ende des Flurs, die Tür war nur angelehnt. Ich trat ein und wies mich den Kollegen gegenüber aus.
»Das FBI interessiert sich für einen Suizidanten?«, fragte der Teamleiter, ein kleiner, schon ergrauter Mann mit einem buschigen Schnauzbart.
»Der Tote war einer von uns.«
Mehr musste ich nicht erklären, um ein verständnisvolles Nicken zu ernten.
»Schon irgendetwas gefunden?«, fragte ich einen Zweiten, der gerade einen Beweismittelbeutel beschriftete.
»Nur ein paar Zigarettenstummel. Alle dieselbe Marke. Sicherheitshalber überprüfen wir, ob auch die DNA-Spuren identisch sind.«
Ich nickte. Reine Routine, mehr nicht.
Ich beschloss, mich selbst etwas umzusehen, doch wie die Kollegen des NYPD schon gesagt hatten, deutete nichts darauf hin, dass hier Schiebung im Spiel war. Keine offensichtlichen Spuren eines Kampfes, kein Hinweis darauf, dass Abe so spät noch Besuch empfangen hatte. Und schon gar nicht, dass sich jemand gewaltsam Zutritt verschafft hatte.
Mein Blick wanderte über die Einrichtung, die schlicht, aber originell war. Das meiste sah aus, als wäre es auf dem Flohmarkt zusammengekauft worden. Der Abe Radner, den ich gekannt hatte, war Individualist gewesen, insofern passte es zu ihm.
Mein Interesse richtete sich schließlich auf die gerahmten Bilder an der Wand. Fotos, die ihn mit Freunden und Kollegen zeigten. Eines war in Quantico aufgenommen, wo er zuletzt immer wieder Lehrgänge gegeben hatte. Das Gebäude der Marine Corps Base in Virginia war unverkennbar. Ich selbst war auch noch nach meiner Ausbildung viele Male dort gewesen.
Ein weiteres Foto zeigte ihn mit einem älteren Mann auf einem kleinen Fischerboot. Abe hatte ein Prachtexemplar von einem Schwarzbarsch aus dem Wasser gezogen und hielt es stolz in die Kamera. Der andere war möglicherweise Abes Bruder, aber soviel ich wusste, war der bereits vor ein paar Jahren gestorben. Familie hatte er nie gehabt. Wie so viele von uns war er mit seinem Beruf verheiratet gewesen.
»Agent Cotton?« Ich war so in Gedanken versunken gewesen, dass ich gar nicht gemerkt hatte, wie einer der Spurensicherer von hinten an mich herangetreten war. In der Hand hielt er einen schmalen Ordner, den Abe wohl irgendwann einmal aus dem Büro hatte mitgehen lassen. Darauf deutete der Vermerk Property of the Federal Bureau of Investigation auf der Vorderseite hin. »Das interessiert Sie vielleicht«, meinte der Kollege. »Lag im Lüftungsschacht.«
»Im Lüftungsschacht?« Mein Blick wanderte an der gegenüberliegenden Wand in die Höhe, bis zu dem quadratischen Loch, das bis eben von einem Gitter verschlossen gewesen war.
»Offensichtlich war ihm das wichtig genug, um es zu verstecken«, meinte mein Gegenüber schulterzuckend.
Ich ließ mir Einweghandschuhe geben, bevor ich den Ordner entgegennahm, auch wenn ich nicht glaubte, dass wir andere Fingerspuren finden würden als die von Abe. Der Ordner war offenbar ein Geheimnis gewesen, das er vor den Blicken anderer bewahrt hatte. Andernfalls hätte er sich nicht die Mühe gemacht, ihn in viereinhalb Fuß Höhe in einem Schacht zu verstecken.
Als ich anfing, den Ordner durchzublättern, stellte ich fest, dass der Inhalt ausschließlich aus Zeitungsartikeln bestand. Und nicht nur das. Alle waren gut zwanzig Jahre alt und beschäftigten sich mit ein und demselben Thema.
Mit den Kindern des Millenniums.
Ich hatte den Fall noch grob im Gedächtnis, auch wenn er eine ganze Weile her war. Es war Abes Fall gewesen. Sein größter Fall, wie er immer wieder betont hatte.
Wenn ich mich recht erinnerte, hatte es sich bei den Kindern des Millenniums um eine Sekte gehandelt, deren Anführer der Überzeugung gewesen war, dass zum Beginn der Jahrtausendwende der Weltuntergang vor der Tür stünde. Und dass all jene, die zum Tag des Jüngsten Gerichts noch auf Erden weilten, ein schlimmes Schicksal ereilen würde.
Abe Radner hatte die Gruppe undercover infiltriert und in buchstäblich letzter Sekunde einen Massensuizid verhindert. Dafür hatte er das FBI Shield of Bravery erhalten – eine der höchsten Auszeichnungen unserer Behörde. Nicht zuletzt deshalb, weil er bei dem Einsatz um ein Haar sein eigenes Leben gelassen hätte. Doch dank ihm hatten fast alle Jünger gerettet werden können. Lediglich ihr Anführer hatte sich dem Zugriff durch das FBI entzogen, indem er sich freiwillig ins Jenseits befördert hatte.
Ein spektakulärer, aufsehenerregender Fall, der Abe für den Rest seiner Karriere begleitet und über den er immer wieder Vorträge vor angehenden Strafermittlern gehalten hatte. Unter anderem in Quantico.
Ich blätterte die abgehefteten Kopien von vorne bis hinten durch und war kurz davor, den Ordner wieder zu schließen, als meine Augen auf dem letzten Eintrag verharrten. Ein weiterer Zeitungsausschnitt, der aber in zweierlei Hinsicht aus dem Rahmen fiel. Dieser Artikel war neueren Datums. Und der Inhalt hatte auf den ersten Blick nichts mit den Kindern des Millenniums zu tun. Er handelte von einem Suizid, der sich erst vor zwei Tagen in New Jersey ereignet hatte.
Beim Überfliegen des Textes rann es mir eiskalt über den Rücken. Das Opfer, ein gewisser Bernard Goldman, war, für alle in seinem Umfeld äußerst überraschend, aus dem Fenster seiner Wohnung im achten Stock in den Tod gesprungen. Der Artikel umfasste nur wenige Zeilen. Eine Randnotiz über ein Ereignis, wie es sich in dieser Stadt andauernd geschieht. Und dennoch hatte es Abe Radner für wichtig genug befunden, um es in seinem Millennium-Ordner abzuheften. Warum? War es das, worüber er mit mir hatte reden wollen? Und war es Zufall, dass Abe kurz davor auf die gleiche Weise aus dem Leben geschieden war?
Ich notierte mir den Namen des Jumpers, dann klappte ich den Ordner zu und reichte ihn dem Teamleiter. »Könnt ihr mir den ins Büro schicken, sobald ihr damit fertig seid?«
Er sah mich stirnrunzelnd an. »Heißt das, das FBI übernimmt jetzt den Fall?«
Ich zögerte, da ich erst Mr. High davon überzeugen musste, dass es sich lohnte, dieser Sache auf den Grund zu gehen. Doch angesichts der Indizienlage war ich überzeugt, dass dafür nicht allzu viel Überzeugungsarbeit vonnöten war.
Das Erste, was ich am nächsten Morgen im Field Office tat, war dann auch, Mr. High um eine Unterredung zu bitten.
»Der Chef hat schon einen Termin für dich reserviert«, meinte Helen, als ich sie beim ersten Klingeln unter ihrer Durchwahl erreichte. Dass Mr. High bereits über die Ereignisse der letzten Nacht informiert war, überraschte mich nicht. Dem SAC entging kaum etwas in dieser Stadt, das auch nur entfernt etwas mit seiner Behörde zu tun hatte. »Er erwartet dich in einer Viertelstunde.«