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Special Agent Tex Diver wurde auf dem Anwesen des kalifornischen Senators und Rüstungsmoguls Abe Wilson ermordet. Ich heuerte undercover als Bodyguard bei Wilson an, um den Fall aufzuklären. Es bestand der Verdacht, dass der russische Geheimdienst hinter dem Mord steckte. Seit einiger Zeit drangen nämlich Rüstungsgeheimnisse zu den Russen durch. Die Vermutung stand im Raum, dass Diver getötet worden war, weil er den Maulwurf in Wilsons Umfeld enttarnt hatte. Doch etwas sprach gegen diese These - denn Divers Kopf war vom Körper abgetrennt und nachts auf dem Bett von Wilsons weiblichem Bodyguard deponiert worden. War womöglich der geistig verwirrte Sohn des Senators der Täter?
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Seitenzahl: 145
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
California undercover
Vorschau
Impressum
California undercover
Etwas hatte sie geweckt.
Ginger Lewis richtete sich gähnend im Bett auf, reckte ihre Arme seufzend zur Decke und wandte ihr Gesicht mit geschlossenen Augen dem einfallenden Sonnenlicht zu. Immer noch benommen von einem bedrückenden, wirren Albtraum.
Sie witterte einen feinen modrigen Geruch und fragte sich unwillkürlich, woher er rührte. Die zum Garten führende Glastür war verschlossen.
Sie hob blinzelnd die Lider.
Im nächsten Moment wusste sie, dass die Wirklichkeit keinen Trost bot.
Vor ihr auf der weißen Seidendecke lag ein blutiger Kopf. Da wo er vom Rumpf abgetrennt worden war, wirkte er so künstlich wie ein Halloween-Scherzartikel.
Es war der Kopf ihres Liebhabers – von Special Agent Tex Diver.
»Sind Sie Nik Carter?«, fragte mich Senator Abe Wilson, als ich am Montagmorgen mit Gucci-Sonnenbrille und in einem modischen schwarzen Trainingsanzug und weißen Sneakern sein opulent ausstaffiertes Büro betrat.
»Ja«, log ich unbekümmert, »zumindest werde ich seit meiner Geburt so genannt.«
Wilson war ein wuchtiger Mann mit Doppelkinn hinter einem noch wuchtigeren Schreibtisch. Dunkelblauer Anzug, weißes Hemd, blau-weiß gestreifte Krawatte. Der ledergepolsterte Drehstuhl, in den er seine Massen gezwängt hatte, wippte mit, als er mir bedächtig nickend zu verstehen gab, dass er sich bereits eine Meinung über mich zurechtgelegt hatte.
»Sie sind ein Witzbold, habe ich recht?«
»Fantastisch«, erwiderte ich, »Sie haben mich durchschaut. Was dagegen, wenn ich Platz nehme?«
Er schwieg und formte seinen kleinen blassrosa Mund zu einem missvergnügten O.
Ich marschierte auf den Besucherstuhl ihm gegenüber zu, setzte mich mit Schwung und schlug die Beine übereinander.
»Ihre Erziehung«, grollte Wilson mit gerunzelten Brauen, »lässt zu wünschen übrig.«
Ich duldete es grinsend, dass seine farblosen Augen mein Gesicht scannten, als wollten sie einen genetischen Code darin ausmachen.
»Womöglich«, mutmaßte Wilson, »sind Sie nicht der Hellste, Carter.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ganz wie Sie meinen, Sir.«
Alles lief nach Plan.
Von zwei Dingen hatte ich Wilson bereits überzeugt. Erstens von meiner Dreistigkeit und zweitens von meinem schlichten Gemüt. Fehlte nur noch ein Faktor, um glaubwürdig zu erscheinen.
»Jedenfalls«, sagte ich, »bin ich topfit.«
»Das heißt, Sie könnten auch einen kräftigen Mann wie mich aufs Kreuz legen?«
»Ich fürchte ja, Sir.«
Er lachte und zeigte dabei seine Zähne. Im Gegensatz zu seinen manikürten Händen und der polarweißen Föhnfrisur wirkten sie mit ihrem bräunlichen Belag ungepflegt.
»Ihr Vorgänger hat nach einem bedauerlichen Zwischenfall in meinem Haus gekündigt. Was halten Sie davon?«
»Kommt darauf an. Was ist passiert?«
»Ein Mord.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Der Bursche muss verdammt zart besaitet sein. Wie sind Sie bloß an so eine Niete geraten?«
»Ginger hat ihn mir empfohlen.«
»Ihr weiblicher Bodyguard?«
Er nickte. »Sie ist gut, 'ne echte Bestie. Nehmen Sie sich vor ihr in Acht. Sonst haben Sie schnell das Nachsehen.«
»Soll das heißen, ich bin eingestellt?«
Wilsons Augen verengten sich für einen Moment, ehe er beiläufig meinte: »Wenn Sie so ein harter Hund sind, wie man mir sagte, sind Sie der Richtige für den Job. Wenn nicht, sind Sie schneller gefeuert, als Sie es sich vorstellen können.«
»Ich danke Ihnen, Sir.«
Er schüttelte missmutig den Kopf. »Lassen Sie die Schleimerei, Carter. Alles, was ich tue, dient lediglich meinen Interessen. Und noch was, hören Sie auf mit diesem dämlichen Sir.« Er wuchtete sich aus dem Drehstuhl und streckte mir die Hand hin. »Ich bin Abe.«
Ich stand auf und griff nach seiner Hand. Sie war schwer und weich.
»Nik«, sagte ich.
Mit einem kurzen Druck besiegelten wir unseren Bund. Dann ließ sich Wilson in seinen Stuhl zurückfallen, rollte ein Stück damit zurück und fischte ein weißes Seidentuch aus der Hosentasche.
»Gehen Sie jetzt zu Ginger, Nik.« Er begann, sich beide Hände mit dem Tuch abzuwischen. »Sie hat ein paar Informationen für Sie. Wir zwei sehen uns zum Lunch in meiner neuen Bleibe. Meine Sekretärin schickt Ihnen eine E-Mail mit der Adresse. Sie werden die Familie kennenlernen.«
»Sind sicher 'ne Menge interessante Leute dabei«, sagte ich grinsend.
»Darauf können Sie wetten.« Er lachte glucksend, was klang, als würde er mit seiner eigenen Spucke gurgeln. Dann wischte er sich mit dem Seidentuch über den Mund und winkte mich aus dem Zimmer.
Ich fuhr mit dem Aufzug eine Etage höher.
Hier, im fünfundfünfzigsten Stock des Millenium Tower, hatte Wilson nur für sich und seine Mitarbeiter einen luxuriösen Fitnessbereich mit Sauna und Schwimmbad einrichten lassen. Ich suchte die Tür mit der Aufschrift Gym. Sie war unverschlossen, aber der riesige Raum war bis auf die Kraftmaschinen leer. Angeblich wollte Ginger Lewis mich hier erwarten. Sie hatte mir ausrichten lassen, sie halte ein gemeinsames Training für die beste Art sich kennenzulernen.
Ich trat an eines der bodentiefen Panoramafenster und blickte hinunter auf die Stadt, in der ich unter falschem Namen die nächste Zeit verbringen würde.
San Francisco lag in morgendlichen Nebel gehüllt. In der Ferne waren die beiden Brückenzüge der Bay Bridge und die kleine Insel dazwischen nur als Schemen erkennbar. Eine milde Septembersonne ließ die träge dahinziehenden Dunstschwaden sanft aufleuchten.
Es war noch keine zwei Stunden her, dass ich mit meinem Gepäck und brandneuen Papieren auf dem International Airport eingetroffen war. Geburtsurkunde, Sozialversicherungskarte und Führerschein wiesen mich als Nik Carter aus Buffalo aus. Meine neue Identität war eine echte Herausforderung. Ab sofort musste ich glaubhaft einen Kerl darstellen, der mehrfach wegen schwerer Körperverletzung angeklagt worden war und sich gut zahlenden Promis als Leibwächter anbot.
Für alle Fälle hatte ich noch eine Lizenz als Privatdetektiv dabei.
Director Fullers Experten in Washington hatten sich ein hübsches Profil für mein neues Ich ausgedacht.
Demnach war Nik Carter ein ehemaliger Kampfsportchampion, dessen steile Karriere nach einem Sexskandal jäh endete. Seither diente er sich der ersten Garde der Reichen und Schönen als Bodyguard an. Er war ein williges und gewissenloses Werkzeug seiner Arbeitgeber, jedenfalls solange sie sein extrem hohes Honorar zuverlässig zahlten. Hinter der Maske einer dreisten und aufgekratzten Humorigkeit verbarg sich ein eitler, empathiefreier Charakter.
Da Niks Erfinder um Wilsons Eitelkeit wussten, hatten sie ihr Geschöpf mit eher bescheidenen Geistesgaben ausgestattet. Damit beugten sie der Möglichkeit vor, dass mein Arbeitgeber um den Verlust seiner Überlegenheit fürchten müsste.
Ich schien den Senator und Patriarchen der Wilson Group, des größten Rüstungskonzerns der USA, in meiner neuen Rolle überzeugtzu haben. Meine nächste Bewährungsprobe würde die Begegnung mit seinem weiblichen Bodyguard sein.
Sollte sie Niks zweifelhaftem Charme verfallen, musste sie wirklich einen schlechten Geschmack haben. Ich für meinen Teil fand Niks Manieren ziemlich daneben.
»Sorry, ich habe mich verspätet.«
Eine dunkle, fordernde Stimme. Leichter Südstaatenslang.
Ich wandte mich um. »Sie sind ...?«
»Ja«, sagte sie, »ich bin Ginger Lewis.«
Ihr wohlproportionierter Körper war gespannt wie eine Stahlfeder. Sie trug ein schwarzes Top und hautenge schwarze Leggins. Ein Geflecht verschlungener Tätowierungen bedeckte die lang gestreckten Muskelstränge ihrer Arme.
Das Gesicht hatte einen träumerischen Zug. Dunkelbraunes, welliges Haar fiel weich in die Stirn, war an den Seiten jedoch stufig gestutzt. Die dunkelblau geschminkten vollen Lippen kontrastierten wirkungsvoll mit einem olivfarbenen Teint. Unter den getuschten Wimpern wirkten die grünen Augen zugleich wachsam und verschlossen.
Sie trat auf mich zu und zupfte mit Daumen und Zeigefinger an der silbrigen Creole, die mein rechtes Ohrläppchen zierte. Er war Teil meiner Kostümierung als Nik Carter, ebenso wie die hellblaue Yankee-Kappe.
»Sie gehören also zu den Typen, die auf so was stehen.« Es klang skeptisch.
Ich beschloss, noch einmal nachzulegen, um ihr Niks schlichte Gemütsverfassung zu demonstrieren. »Es gibt 'ne Menge Dinge, auf die ich stehe.«
Sie quittierte meine plumpe Anspielung mit einem abschätzigen Lächeln. »Kommen Sie, setzen wir uns einen Moment, bevor wir mit dem Training beginnen.«
Sie ging zu einer Hantelbank hinüber und ließ sich darauf nieder. Ich nahm freudestrahlend neben ihr Platz.
»Ich will ehrlich sein, Mister Carter ...«
»Nik genügt.«
»Also gut, meinetwegen. Hör zu Nik, es wird schwierig werden mit uns beiden, das solltest du wissen.«
»Tut mir leid, das zu hören. Gibt es einen Grund dafür?«
»Mehr als einen. Hat dir Wilson gesagt, warum er einen neuen Bodyguard braucht?«
»Er sprach von einem Mord.«
»Keine Einzelheiten?«
»Nein.«
»Liest du keine Zeitung, Nik?«
»Na ja, nicht regelmäßig.«
Ihr Gesichtsausdruck verriet mir, dass sie mich für eine ausgemachte Niete hielt. »Dein Vorgänger heißt Bruce Hawthorne und hat zunächst einen Superjob gemacht. Wilson hätte ihn gern behalten, aber Bruce ist desertiert. Anders kann man es wohl nicht nennen.«
»Ich verstehe nicht ...«
»Er hat kalte Füße bekommen und mich allein gelassen, Nik.«
»So was würde ich nie tun, Ginger.«
Sie schien meine alberne Bemerkung nicht gehört zu haben. Ihr Blick irrte eine Weile ziellos durch den Raum, bis er irgendwo Halt fand.
Schließlich sagte sie knapp: »Jemand hat einen abgeschnittenen Kopf auf meinem Bett abgelegt. Anstatt mir in dieser Situation zur Seite zu stehen, hat Bruce gekündigt. Das Letzte, was ich brauche, ist ein weiterer Partner, der sich in die Hosen macht.«
Ich schwieg und tat so, als müsste ich das alles erst einmal verdauen.
»Wann ist es passiert?«, fragte ich dann.
»Vor einer Woche.«
»Und wer war der Unglückliche?«
»Tex Diver, ein enger Freund von Abe.«
Ich pfiff leise durch die Zähne und hoffte, dass sie die Reaktion angemessen fand.
»Jetzt«, sagte Ginger, »kannst du zu Wilson marschieren und ihm deinen Vertrag auf den Tisch knallen.«
»Ich habe keinen Vertrag, Ginger. Und ich brauche auch keinen. Wilson hat mein Ja, und dabei bleibt es. Es braucht nicht schwierig zu werden zwischen uns beiden. Du musst mir nur eine Chance geben.«
»Ich sagte ja, dass ich mehrere Gründe hätte.«
»Welche?«
»Erstens bin ich mir nicht sicher, ob ich es nervlich hinkriege, weiter mit Wilsons Familie unter einem Dach zu wohnen. Aber er besteht darauf, und vielleicht wäre es auch falsch davonzulaufen.« Sie schwieg kurz, ehe sie weitersprach. »Es gibt noch einen weiteren Grund, Nik. Tex war Special Agent des FBI. Kannst du dir vorstellen, was das bedeutet? Seine Ermordung schlägt hohe Wellen. Alle, die mit ihm zu tun hatten, werden als potenzielle Täter gehandelt. Der Druck ist kaum auszuhalten.«
»Das ist okay, oder? Ich meine, es betrifft dich ja nicht.«
»Vielleicht doch.«
»Niemand wird denken, du hättest Divers Kopf selbst auf deinem Bett platziert.«
Ginger zuckte mit den Schultern. »Wohl kaum.«
»Ich verstehe natürlich«, versicherte ich treuherzig, »dass die ständige Polizeipräsenz einen nervös machen kann.«
Sie warf mir einen listigen Blick zu. »Ich habe mich nach dir erkundigt, Nik. Du bist mehrfach mit der Justiz aneinandergeraten.«
Ich nickte zögernd und rückte meine Yankee-Kappe zurecht.
Ginger verstand das als Zustimmung. Ein spöttisches Lächeln kräuselte ihre hübsch geschwungenen Lippen.
So war das also.
Ginger Lewis unterstellte mir eine Abneigung gegen Staatsdiener. Und glaubte darin etwas zu erkennen, das uns verband. Nun, ich würde noch dahinterkommen, was sie auf dem Kerbholz hatte. Vorerst beschloss ich, das Thema zu wechseln.
»Was genau hast du gesehen auf deinem Bett, Ginger?«
»Komisch, dass du das fragst. Ich glaube, ich habe nur einen winzigen Moment hingestarrt. Es war so unwirklich, so unfassbar. Ich bin aus dem Zimmer geflüchtet und habe nicht aufgehört zu schreien. Wenn ich versuche, mich daran zu erinnern, sehe ich nur einblutiges Gebilde vor mir, nichts Menschliches.« Sie wandte sich von mir ab und sagte so leise, dass ich es kaum hören konnte: »Du bist der Erste, dem ich das erzähle. Dabei kann ich dich nicht mal besonders leiden.«
»Vielleicht sollten wir jetzt mit dem Training loslegen«, schlug ich vor.
Sie stand auf. »Wie gut bist du, Nik?«
»Finde es raus, Ginger.«
»Okay, wie wär's mit 'ner Runde Kickboxen?«
»Ist meine Spezialität«, verkündete mein zweites Ich großmäulig.
Das FBI Field Office von San Francisco befand sich im dreizehnten Stock eines Wolkenkratzers in der Golden Gate Avenue. Vor dem Lunch bei Abe Wilson traf ich mich dort mit Special Agent in Charge Pete Tomlin zu einer ersten Besprechung in seinem Büro.
Ich hatte meine Trainingskleidung mit einem grauen Slim-Fit-Anzug und schwarzen Lacklederschuhen vertauscht. Unpassend dazu trug ich ein farbenfrohes Hemd mit Blumenmuster und die hellblaue Yankee-Kappe. Um Tomlin nicht ganz aus der Fassung zu bringen, hatte ich die verspiegelte Gucci-Sonnenrille abgenommen und in der Brusttasche des Jacketts verstaut.
»Da haben Sie sich ja eine prächtige Verkleidung zugelegt«, befand Tomlin feixend.
Er war als Einziger über meinen Undercover-Auftrag informiert: zu klären, wer Agent Diver getötet hatte und wer aus der Leitung des Konzerns mit den Russen kooperierte. Weder einer von Tomlins Beamten noch irgendjemand im San Francisco Police Department wusste Bescheid.
»Ihr Boss Abe Wilson wird Ihr Outfit zu schätzen wissen«, prophezeite Tomlin, »sein Geschmack ist echt beschissen.«
»Danke«, erwiderte ich. »Sie haben eine tolle Art, einen zu motivieren.«
Er lachte fröhlich. »Wollen Sie auch einen Kaffee, Agent Cotton?«
»Nichts dagegen, Sir.«
Wir verstanden uns auf Anhieb. Was kein Wunder war, denn Tomlin und Mr. High verband eine langjährige Freundschaft.
Tomlin saß mir an seinem Schreibtisch in einem ungebügelten Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln gegenüber. Ich schätzte ihn auf fünfzig. Mit seinen widerspenstigen roten Haaren, dem kräftig vorspringenden Kinn und jeder Menge Falten hatte er etwas von einem listigen, vergnügten Kobold. Der forschende Ausdruck seiner Augen und scharfe Falten um den Mund deuteten jedoch darauf hin, dass er auch andere Saiten aufziehen konnte.
Nach wenigen Minuten betrat eine ältere Frau in brauner Strickjacke und kariertem Rock den Raum. Sie stellte ein Tablett mit Kaffeekanne und zwei Tassen auf Tomlins Schreibtisch.
»Der Chef«, erklärte sie lächelnd, »trinkt ihn schwarz. Wünschen Sie noch Milch oder Zucker, Mister Carter?«
Ich lehnte dankend ab. Sie nickte mir freundlich zu und verließ das Büro.
»Was haben Sie ihr über Nik Carter erzählt?«, fragte ich Tomlin.
Erneut lachte er. »Dass Sie ein entfernter Verwandter meiner Frau sind, der mich mal in meinem Office bewundern wollte.«
Er füllte beide Tassen und schob mir eine herüber. Ich nahm einen Schluck, der Kaffeewar heiß und schmeckte hervorragend. Als ich die Tasse wieder abstellte, bemerkte ich, dass mich Tomlin aufmerksam beobachtete.
»Wissen Sie eigentlich«, fragte er, »in was Sie da hineingeraten?«
»Ich denke schon. Einer Ihrer besten Männer, ein enger Freund von Abe Wilson, wurde in dessen Haus auf bestialische Weise ermordet. Die Tat geschah gegen Mitternacht. Zu diesem Zeitpunkt war Wilsons Haus sicherer abgeriegelt als Fort Knox. Niemand hätte von außen eindringen können. Im Haus hielten sich ausschließlich Familienmitglieder und die beiden Bodyguards auf, was darauf schließen lässt, dass eine dieser Personen Tex Diver getötet und seinen Kopf in das Zimmer von Ginger Lewis geschleppt hat. Alles scheint darauf hinzudeuten, dass Wilsons psychisch gestörter Sohn Ron der Täter ist.«
»Was auch ich«, unterbrach mich Tomlin, »für eine brauchbare Hypothese halte. Director Fuller sieht das offensichtlich anders.«
»Mit gutem Grund, wie Sie wissen. Es gibt Hinweise, dass jemand aus Wilsons engstem Kreis Rüstungsgeheimnisse an den russischen Militärgeheimdienst GRU weitergibt. Möglich, dass Tex Diver sterben musste, weil er dem Täter zufällig auf die Spur gekommen war.«
»Klingt plausibel, aber wieso sollte Ron Wilson nicht dieser Maulwurf sein?«
»Nach meinen Informationen lässt sein geistig seelischer Zustand nur bedingt rationales Handeln zu. Weshalb er auch als einziges Familienmitglied nicht in die Leitung des Konzerns integriert ist. Sogar sein fünfundzwanzigjähriger Bruder Anthony sitzt bereits im Vorstand der Wilson Group. Wie könnte Ron den Russen Kenntnisse liefern, die ihm selbst vorenthalten werden?«
Tomlin runzelte die Stirn. »Ich kenne Ron gut. Man sollte ihn nicht unterschätzen. Er ist intelligent und auf eine bestimmte Weise selbstbewusst.«
»Es wird meiner Aufgabe sein herauszufinden«, sagte ich, »was es mit ihm und den anderen Familienmitgliedern auf sich hat.«
»Natürlich, undercover haben Sie als Einziger die Chance, tiefer in die Geheimnisse des Clans vorzudringen. Ich warne Sie nur vor Abe Wilson. Wenn er entdeckt, wer Nik Carter ist, wird es eng für Sie, Cotton. Wilson hat Verbindungen bis in die obersten Etagen. Zu seinem Bekanntenkreis zählen auch Mitglieder der zweier amerikanischer Präsidenten. Er wird es nicht auf sich sitzen lassen, dass ihn ein Beamter des FBI bespitzelt.«
Ich nickte, um Tomlin zu signalisieren, dass ich seinen Hinweis ernst nahm.
»Was ist der Grund dafür«, fragte ich, »dass ein Mann wie Agent Diver zu Wilsons engsten Freunden zählte und sich oft in dessen Haus aufhielt?«
»Das verdankte er Abes Vater Mycroft. Tex stammte aus einer mittellosen Familie in Missouri. Mycroft Wilson hat ihn da rausgeholt und dafür gesorgt, dass er eine ordentliche Schule besuchte und auf der FBI-Akademie in Quantico landete. Der alte Mycroft war ein anständiger Bursche. Er hat seinen Reichtum nie zur Schau gestellt und vielen Leuten geholfen.«
»Wie schätzen Sie Abe Wilson menschlich ein?«
»Tja, da berühren Sie einen heiklen Punkt. Offen gestanden, ich weiß es nicht. Einerseits gilt Wilson mit seinen vielen Stiftungen als großer Wohltäter. Andererseits heißt es, dass er in seiner Familie und bei seinen Mitarbeitern ein hartes Regiment führt. Viele sagen, er sei menschlich unnahbar.«
»Er wirkte bei meinem Besuch heute Morgen ganz fidel, nicht gerade so, als würde er in Trauer versinken.«
»Da dürften Sie sich täuschen. Ich bin überzeugt, dass er Diver vermisst. Schließlich hat er nicht viele Freunde. Und noch etwas: Er ist garantiert stinkwütend. Dieser Mord in seinem Haus und die speziellen Details verschaffen ihm für längere Zeit negative Schlagzeilen. Aber Abe Wilson gehört nicht zu den Leuten, die mit ihren Gefühlen hausieren gehen.«
»Wenn Tex Diver ihm so nahestand: Halten Sie es für möglich, dass sich der Täter an Wilson aus irgendeinem Grund rächen wollte, indem er dessen Freund tötete?«
Tomlin schüttelte erstaunt den Kopf. »Nicht schlecht, Cotton. Sie sind kaum hier und schon gibt's eine neue Theorie. Passen Sie bloß auf, dass ich nicht neidisch werde.«
Sein vergnügtes Grinsen verriet mir, dass diese Gefahr nicht bestand.