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Das Jazz-Oktett Martha’s Goodmen befand sich auf einer Tournee. Als nach dem ersten Konzert in Harlem Lou Simmons, ehemaliger FBI Agent und seit einem Jahr Trompeter der Band, aus kurzer Distanz erschossen wurde, übernahmen Phil und ich den Fall. Nach einigen Überlegungen, die Tour abzusagen, entschieden sich die Musiker aufgrund drohender Konventionalstrafen, die Tournee fortzusetzen. Doch schon in der nächsten Nacht wurde Jason Newman, der Pianist der Big Band, in seinem Hotelzimmer erschossen aufgefunden ...
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Seitenzahl: 147
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Blue Notes im Cotton Club
Vorschau
Impressum
Blue Notes im Cotton Club
Der Mann ging gebückt die Treppe hinauf. Von hinten hätte man ihn für Mitte sechzig halten können, dabei war heute sein fünfzigster Geburtstag. Doch alle, die das wussten, waren tot, und die noch lebten, interessierte es nicht. Ihn selbst am allerwenigsten. Auf der rechten Seite zog ihn der Koffer hinab, und ein Beobachter hätte beim Anblick des Mannes auf der Treppe an einen Handlungsreisenden denken können – unterwegs von einem Vertreterhotel in der Provinz zum nächsten, nicht überrascht, wenn der Fahrstuhl kaputt war, schwitzend im billigen, aber unauffälligen olivgrauen Anzug, sein einziger Gefährte der schwere Aluminiumkoffer. Dem man von außen nicht ansah, was darin war. Vielleicht Warenmuster für Kunden. Vielleicht Unterlagen einer Buchprüfung. Vielleicht ein Waffenarsenal, um das Leben anderer Menschen zu beenden.
Mit einem erschöpften Seufzen stellte der Mann den Koffer vor seiner Zimmertür ab. Bevor er nach dem Schlüssel mit dem altmodischen Nummernanhänger in seiner Hosentasche suchte, warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. Timex, dreißig Dollar im Drugstore. Wenn er arbeitete, verwendete er außer seinem Werkzeug nur Wegwerfgegenstände. Erst wenn er wieder zu Hause war, umgab er sich mit seinem Reichtum. Er hatte sein Leben lang sparsam gelebt und sehr viele Aufträge ausgeführt. Es war kurz nach halb sechs am späten Nachmittag, bis zur ersten Besprechung blieben ihm noch vier bis fünf Stunden. Zeit, um seine Werkzeuge zu überprüfen, die Zugangs- und Abgangswege in Gedanken noch einmal durchzugehen. Zeit, um für eine halbe Stunde die Augen zu schließen und an die weißen Strände von Altata vor der Küste von Sinaloa zu denken. Er hielt inne, den Schlüssel schon in der Nähe der Öffnung. Er meinte, den kühlen Wind von der Baja California zu spüren, wie er sich mit der Hitze seiner Heimatstadt Culiacán vermischte. Er dachte an den Geschmack von Chilorios, das in dünne Streifen geschnittene Fleisch, in Chili gebraten, in einem knusprigen Taco, an einer Straßenecke. Wie lange war es her, dass er die Zeit und die Ruhe gehabt hatte, das einfache Leben in seiner Heimat zu genießen?
Ein paar Häuser entfernt kläffte ein Hund. Der Mann mit dem Koffer fuhr zusammen. Er würde nie begreifen, wie die Menschen in diesem Land ihre Häuser mit Hunden teilten, wie sie Hunde wie Freunde und Mitmenschen behandelten. In seiner Heimatstadt gab es nur zwei Arten von Hunden. Räudige Köter, die auf der Straße von Abfällen lebten, und scharfgemachte Kampfmaschinen, die die Anwesen der Bosse bewachten. So oder so lief ihm ein Schauer den Rücken hinunter, wenn er einen Hund bellen hörte.
Er öffnete die Tür, und seine Augen wanderten durch das schäbige Zimmer. Viele seiner Kollegen wohnten in den besten Hotels, sie mieteten die teuersten Autos, sie trugen die besten Anzüge, und er verstand ihre Gründe. Wenn sie aufflogen, hatten sie bis dahin wenigstens das Leben genossen. Aber er hatte andere Gründe. Er würde nicht auffliegen. Und das gelang nur, wenn man sich unauffällig verhielt. Und unauffällig war, als Mexikaner an seinen Einsatzorten im Latinoviertel in den billigsten Hotels abzusteigen und eins zu werden mit der anonymen Masse von ehrlich oder unehrlich vor sich hin schuftenden Glückssuchern und Pechvögeln. Und dazu gehörten Hotelzimmer, bei denen die sechsbeinigen Mitbewohner mit aufreizender Langsamkeit hinter den Fußleisten verschwanden, wenn man den Raum betrat.
Er wuchtete seinen Koffer auf das Bett, dessen Matratze unter dem Gewicht bedenklich nachgab. Als er sich den Stuhl vom klebrigen Schreibtisch heranzog, sah er sein Gesicht einen Moment lang im Spiegel. Schnell schaute er weg. Wie lange hatte er diesen Job gemacht, dass er darüber zum alten Mann geworden war? Es war Zeit aufzuhören. Sich zur Ruhe zu setzen. Sich darauf zu besinnen, was es sonst noch gab im Leben.
Mit einer geübten Bewegung ließ er die Verschlüsse des abgenutzten Koffers aufschnappen. Wie immer geschah dies absolut geräuschlos. Er hatte eine Gabe dafür, einfache und komplizierte Handlungen lautlos zu vollziehen. Diese Gabe machte ihn wertvoll für seine Auftraggeber, und sie hatte ihm vor drei Jahrzehnten seinen Spitznamen beschert – der Panther.
Wie immer erfüllten ihn Stolz und Genugtuung, wenn er ins Innere des Gepäckstücks sah. Vier unterschiedliche Waffen ruhten in ihren exakt geschnittenen Aussparungen der feinporigen anthrazitfarbenen Schaumstofffüllung. Seine Hand schwebte eine Weile über dem Koffer. Kleinkaliber, für Arbeiten im absoluten Nahbereich. Praktisch, weil vergleichsweise geräuscharm. Gut unter dem Anzug oder unter einem unauffälligen Kapuzenpullover zu verstecken. Ein Scharfschützengewehr, in seine Komponenten zerlegt, mit zusammengeklapptem Titanstativ. Ein 45er Colt für rabiate Arbeiten auf mittlerer Distanz, wenn man nicht zu präzise arbeiten und gegebenenfalls auf ein Verbluten hoffen musste. Eine nach seinen Spezifikationen modifizierte Uzi mit verlängertem Magazin, wenn es darauf ankam, in unübersichtlichen Situationen möglichst schnell möglichst viel Schaden anzurichten.
Der Panther nickte befriedigt. Über den geöffneten Kofferdeckel hinweg suchte er seinen eigenen Blick im trüben Hotelzimmerspiegel. Befriedigt stellte er fest, dass sich ein Leuchten in seine Augen stahl. Er war Juan Antonio Perez, und auch wenn er müde war, war er immer noch der beste Auftragskiller des Sinaloa-Kartells. Er lächelte. Er freute sich, weil er wusste, dass er seine Arbeit gut machen würde, egal wann der Auftrag kam und egal wer seine Kontakte waren. Und er freute sich, weil er merkte, dass er einen Entschluss gefasst hatte, in diesem Moment, in diesem Hotelzimmer. Es würde seine letzte Arbeit werden, und er würde sie gut machen. Und dann würde er heimkehren nach Sinaloa. Für immer.
Ich traute meinen Augen kaum, als ich auf mein Handy sah. Ich musste gerade erst eingeschlafen sein, als mich der Bereitschaftsdienst erreichte.
»Lass mich raten«, sagte ich verschlafen. »Mord?«
»Sieht zumindest danach aus«, erwiderte der Kollege. »Dein Partner Phil ist schon informiert. Er wartet auf dich ...«
»... an der altbekannten Straßenecke. Bin schon unterwegs.«
Ich beendete das Gespräch, schwang mich aus dem Bett, warf mir etwas Wasser ins Gesicht und zog die Sachen über, die ich in Erwartung solcher Vorfälle griffbereit hatte, und verließ mein Apartment.
Es gibt ja Leute, die behaupten, New York sei eine Stadt, die niemals schlafen würde. Mag sein, denn hier ist immer irgendwo etwas los. Doch als ich aus der Tiefgarage auf die Straße fuhr, da döste die Stadt zumindest vor sich hin. Um halb drei in der Nacht hatten viele Läden schon geschlossen, andere noch nicht wieder geöffnet.
Phil stand an der Straßenecke, ganz in der Nähe seines Apartments, an der ich ihn morgens regelmäßig abholte. Er hielt zwei Kaffeebecher to go in den Händen.
Ich hielt in zweiter Reihe. Kein Problem zu dieser Uhrzeit. Sechs Stunden später hätte diese Aktion ein ohrenbetäubendes Hupkonzert nach sich gezogen, aber jetzt war die Straße wie ausgestorben.
Phil reichte mir die beiden Kaffeebecher durch das Beifahrerfenster. Er öffnete die Tür und schwang mich in den Boliden. Ich hatte einen Kaffee in eine Halterung gestellt, den anderen gab ich Phil, nachdem er sich angeschnallt hatte.
»Wohin geht es?«, wollte ich wissen.
»Immer geradeaus, die Avenue hoch.«
Ich schaltete das Warnlicht an und drückte das Gaspedal durch bis zum Bodenblech. Mit einer gehörigen Portion Geschick gelang es Phil, dass sein Kaffee im Becher blieb.
»Was ist denn los, Jerry? Wir haben es mit einem Toten zu tun, hat zumindest der Kollege von der Bereitschaft gesagt. Der wird es uns verzeihen, wenn wir 'ne Minute später am Tatort eintreffen.«
»Der Tote vielleicht schon. Aber ich würde gerne auch noch den Täter zu fassen bekommen.«
»Ist der denn noch vor Ort?«, fragte Phil erstaunt. »Hat der Kollege von der Bereitschaft dir das erzählt?«
»Der Kollege hat gesagt, du seist informiert.«
»Recht hat er«, sagte Phil grinsend. »Wenn der Täter noch vor Ort ist, dann kommt er jetzt auch nicht mehr weg. Die Kollegen vom NYPD sind ja schon da.« Er schaltete das Radio ein und suchte nach einem Sender.
»Dann leg mal los«, forderte ich meinen Partner auf.
»Also, wir fahren nach Norden. Grobe Richtung.«
»Wird das jetzt ein Ratespiel?« Ich nahm die Ampel bei Dunkelgelb.
»Warum nicht? Dauert ohnehin noch drei, vier Minuten, bis wir da sind.«
»Harlem«, tippte ich.
»Yep. Hier jetzt links.«
Ich zog den Wagen von der Madison Ave auf die West 119th Street. Die entstehenden Fliehkräfte musste Phil durch eine extreme Schräghaltung seines Kaffeebechers ausgleichen. Was man nicht alles lernt beim FBI.
»Weiter, Jerry. Harlem ist richtig. Und wohin genau fahren wir?«
Ich schüttelte den Kopf. »Zu einfach.«
»Zu einfach?«, fragte Phil überrascht.
Ich wich einen Getränkelaster aus, der langsam auf die Kreuzung rollte. Doch ich hatte den ausbrechenden Wagen schnell wieder unter Kontrolle.
»Humphrey's Cotton Club«, sagte ich lapidar.
Phil schüttelte verstört den Kopf, dann legte er ein Grinsen auf. »Ah, ich weiß. Der Kollege von der Bereitschaft hat dir doch ein bisschen mehr gesagt.«
»Nope.« Ich bog in den Malcolm X Boulevard und jazzte den Motor in die Höhe.
»Dann hast du geraten«, vermutete Phil.
»Nein, ich habe nicht geraten.«
»Komm, Jerry, das konntest du unmöglich wissen.«
Ich verlangsamte die Fahrt und bog in eine kleine Querstraße.
»Du hast einen Jazzkanal im Radio eingestellt. Das machst du sonst nie, Phil. Oder zumindest sehr selten. Weil du dir schon überlegt hast, mir ein Rätsel aufzugeben. Und der Radiosender sollte ein Hinweis sein.«
Er schüttelte den Kopf. »Humphrey's Cotton Club? Wie bist du darauf gekommen?«
»Es gibt nicht so viele Jazzclubs in Harlem«, antwortete ich.
»Da liegst du falsch, hier gibt es noch eine ganze Menge kleiner Clubs, auch wenn es immer weniger werden.«
»Mag sein. Aber du bist kein Jazzliebhaber, und trotzdem hast du das Navi nicht eingeschaltet. Und es gibt nur einen großen Jazzclub hier, den sogar du kennst. Wir waren sogar einmal selbst da, als Joshua Redman gespielt hat.«
Phil nickte anerkennend, als ich den Wagen vor Humphrey's Cotton Club stoppte. Wir hatten unser Ziel erreicht.
Vor dem Eingangsportal standen zwei Streifenwagen in Festbeleuchtung, der Frontbereich des Gebäudes und die Tiefgarage waren mit Trassierband abgesperrt. Ein Officer trat zu uns, und bereits im Aussteigen zogen wir unsere FBI-Ausweise aus den Taschen.
Ich nickte dem Officer zu. »Wer leitet die Untersuchung?«
»Sergeant Beamon«, antwortete er und deutete auf einen groß gewachsenen Mann in einem schlecht sitzenden Anzug.
Der Officer hob das Trassierband an, und wir steuerten direkt Beamon an, um uns über den Stand der Dinge zu informieren.
Er telefonierte und schien wenig erfreut, uns zu sehen. Ich hörte, wie er sagte: »Ein toter Trompeter, wann könnt ihr jemanden schicken?«
Phil nickte ihm kollegial zu, der Höflichkeit halber zeigten wir unsere Ausweise. Ich war mir sicher, der Kollege vom NYPD kannte uns auch so.
»Die Gerichtsmedizin lässt auf sich warten.« Beamon steckte sein Telefon in die Innentasche, sodass sein Jackett noch schiefer hing.
»Dafür waren wir schnell vor Ort«, sagte Phil.
»Ich denke eigentlich, wir kommen auch so klar«, sagte Beamon.
»Bestimmt«, sagte Phil. »Aber eine Jazzband mit Leuten aus fünf Bundesstaaten, darunter ein toter Trompeter aus New Jersey – ihr wisst ja, worauf das hinausläuft.«
»Ich höre immer nur toter Trompeter«, sagte ich. Durch den Eingang des Jazzclubs konnte ich ins halbdunkle Foyer sehen. Eine kleine Gruppe stand dort eng beieinander. Ein paar Männer in dunklen Anzügen mit lässigen Hüten und schrägen Mützen und zwei Frauen, eine davon im bodenlangen Abendkleid, die andere in einer Lederjacke.
»Lou Simmons, sechsundfünfzig Jahre alt, ist nicht zum Auftritt aufgetaucht«, sagte Sergeant Beamon. »Doch das hat die Band erst mal nicht überrascht. Martha's Goodmen, so heißt die Combo. Nach der Sängerin Martha Moules. Simmons hatte eine Neigung zum Alkohol, und die Kollegen in der Band waren es gewohnt, hier und da mal einzuspringen, wenn er nicht aus der Garderobe kam. Sie haben nach ihm geschaut, es sah so aus, als schliefe er seinen Rausch aus. Das Saxofon und die Posaune haben seine Soli übernommen, und nach dem Auftritt haben sie das Einschussloch in seiner Schläfe gesehen.«
»Hoffentlich sind noch Spuren in der Garderobe, die nicht von aufgeregten Jazzern zertrampelt wurden«, brummte Phil.
»Mögliche Spurenträger haben meine Leute längst gesichert«, erwiderte Beamon mit Genugtuung.
»Haben Sie auch schon einen Verdächtigen für uns?«, fragte Phil lakonisch.
»Damit kann ich leider nicht dienen. Die Band wartet drinnen, und die Gäste sind auch noch da. Meine Beamten nehmen die Personalien auf.«
»Kann der Mörder auch über einen anderen Zugang ins Gebäude gelangt sein? Und nach der Tat wieder hinaus?«
»Ich habe auch mit dem Hausmeister gesprochen. Ziemlich gewissenhafter Typ, zumindest macht er auf mich den Eindruck. Er sagt, er prüft vor und nach jeder Veranstaltung, ob die Kellertüren und der Hintereingang abgeschlossen sind. Die hatten hier schon öfter mal unliebsame Gäste, deshalb ist er sich ganz sicher, dass durch diese Türen niemand hineingegangen oder herausgekommen ist.«
»Also können wir den Kreis der Verdächtigen auf die Band und die Gäste einschränken.«
Beamon nickte bedächtig. »Sieht ganz so aus.«
Ich hatte die Unterhaltung verfolgt, war jedoch mit meinen Gedanken woanders.
»Moment mal«, sagte ich. »Lou Simmons. Lou wie in Louis. Der Name kommt mir bekannt vor.«
Ich sah, dass Phil hellhörig wurde. Er nickte. »Ein alter Kollege. Ein ehemaliger. Hat vor drei oder vier Jahren das Bureau verlassen. New Jersey Field Office. Ich erinnere mich, dass ein paar von uns gescherzt haben, dann könnte es ja endlich losgehen mit seiner Jazzkarriere.«
»Das hat ja auch geklappt.« Ich deutete mit dem Kinn auf die zwar erloschene, aber immer noch unübersehbare Leuchtschrift des großen legendären Jazzclubs.
»Na ja«, murmelte Phil, »späte Karriere mit jähem Ende.«
»Ich merke schon, ihr seid einfach zu nah dran«, sagte Beamon. »Vielleicht ist das doch ein Fall, bei dem besser das NYPD ermittelt.«
»Im Gegenteil«, sagte ich. »Nichts gegen euch, aber wir können das nicht abgeben, wenn es einen von uns erwischt.«
»Na dann.« Beamon machte eine resignierte Handbewegung zum Clubeingang. »Die Zeugen warten, Gentlemen.«
In der Tür des Clubs drehte sich Phil noch einmal zu Beamon um. »Ach, noch was. Hat schon jemand die Ehefrau oder andere Hinterbliebene des Toten informiert?«
Beamon sah Phil überrascht an. »Ich merke schon, so dicht seid ihr doch nicht dran. Er hatte offenbar zu niemandem einen engeren Kontakt außer zu seinen Musikerkollegen. Und seine Frau ist vor einem halben Jahr gestorben.«
Phil und ich gingen durch die schweren Schwingtüren ins Foyer des Clubs, wo ein dicker dunkelroter Teppich unsere Schritte schluckte. Es roch nach den Resten einer langen Nacht – ein wenig verschüttetes Bier, von den Außentreppen hereingezogener Zigarettenrauch, Parfüm und Aftershave der Leute, die sich für eine gute Zeit im Club fein gemacht hatten. Wann war ich eigentlich das letzte Mal so richtig ausgegangen? Die Arbeit ließ mir viel zu wenig Zeit dafür.
In der indirekten Beleuchtung der Garderobenecke sahen wir die Gesichter der Jazzkapelle. Sie wirkten traurig, ratlos, geschockt und wütend. Gesichtsausdrücke, die erstarrten, während wir uns näherten. Die Frau in der Lederjacke drehte sich zu uns, mit nach hinten erhobener Hand, als wollte sie ihren Leuten signalisieren: Ruhe jetzt, die Cops sind hier. Ich merkte, wie sich Phil neben mir straffte. Es gab einen bestimmten Typ Frau, der ihn dazu brachte, sich von seiner besten Seite zeigen zu wollen. Trotz der ernsten Situation musste ich innerlich lächeln. Dann wanderte mein Blick zu der Frau im Abendkleid. Ihre schwarzen Locken fielen ihr bis auf die Schultern, ihr Lippenstift war sehr rot und ein wenig verwischt. Ihre Augen leuchteten trotz des schummrigen Lichts. Auch wenn ich noch nie von Martha's Goodmen gehört hatte, das hier war offensichtlich Martha, und sie hatte das Charisma eines Stars. Ich merkte, wie ich mich selbst ein bisschen gerader hinstellte.
»Guten Morgen«, sagte Phil mit neutraler Geschäftsmäßigkeit. »Ich bin Special Agent Decker vom FBI, das ist mein Partner Special Agent Cotton.«
Die Frau in der Lederjacke trat auf uns zu. »Carol Hines. Ich bin die Managerin der Band.« Sie machte keine Anstalten, die anderen vorzustellen. Es war klar, wer hier das Sagen hatte. »Also, wie geht das jetzt weiter?«
Ich merkte an ihrem gereizten Ton, wie angespannt die Stimmung war. In solch einem Fall war es oft besser, diese Spannung noch ein wenig aufrechtzuerhalten. Wer gereizt war, weil er schuldbewusst war, machte umso mehr Fehler bei der Befragung, je länger man ihn schmoren ließ. Und wer gereizt war, weil die Situation ihn überforderte, brauchte manchmal einfach noch ein wenig Zeit, um runterzukommen.
Bevor ich antworten konnte, hob Phil die Hand. »Darüber reden wir gleich. Erst einmal würden wir gern einem ehemaligen Musiker Ihrer Band einen kurzen Besuch abstatten.«
Die Managerin trat einen Schritt zur Seite und zeigte den Gang hinunter, wo bereits das Blitzlicht des Tatortfotografen durch eine halb offene Tür fiel.
Dort, in einem kleinen Garderobenraum, war der Leichnam von Lou Simmons über einem Garderobentisch zusammengesackt. Wenn er nicht von den Markierungen der Spurensicherung umgeben gewesen wäre, hätte man denken können, er würde schlafen. Über die Schulter des Fotografen sah ich das Einschussloch in seiner Stirn, ein wenig angetrocknetes Blut um die zackenförmigen Ränder. Aus nächster Nähe, beinahe ein Aufsetzschuss. Kleinkaliber, schätzte ich. Phil machte sich schon Notizen. Der Fotograf, ein untersetzter Kollege vom NYPD mit Fünftagebart und offenem Hemdkragen, knurrte »Hier ist kein Platz für vier« in unsere Richtung, eher müde als unfreundlich. Auf dem Garderobentisch neben Lou Simmons' Kopf, in Reichweite seiner Hand, stand eine leere Flasche Whisky. Supermarktbourbon, aber von oben aus dem Regal.
»Gibt es eine Waffe oder Täterspuren?«, fragte Phil, weil er wusste, dass die Fotografen gern erzählten, was sie wussten, egal wie knurrig sie anfangs waren.
Der Fotograf drückte noch zweimal den Auslöser und sagte dann: »Nichts. Entweder er hat vorher wirklich geschlafen, oder es war ihm egal, was mit ihm passiert.«
»Lou Simmons ist vorsätzlich getötet worden.« Phil musterte die Gesichter, als wir wieder im Foyer bei der Band standen.
»Der Abend war lang, Gentlemen. Es wäre prima, wenn wir über Dinge sprechen könnten, die wir noch nicht wissen.«