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Die CIA hatte uns vom FBI über ein abgehörtes Handytelefonat innerhalb eines asiatischen Landes in Kenntnis gesetzt, wonach es dem geheimnisumwitterten, international gesuchten Auftragsmörder Igor Lee in den letzten drei Tagen gelungen sei, unter falschem Namen als normaler Flugzeugpassagier nach Los Angeles einzureisen. Der Mann habe vor, einen nicht genauer definierten Job in New York zu erledigen. Fraglich blieb, warum Lee nicht direkt in den Big Apple gereist war. Und plötzlich hatten wir es nicht nur mit einem eiskalten Killer zu tun, der kurz davor stand zu töten, sondern auch mit einem Ufo über New York!
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Seitenzahl: 135
Veröffentlichungsjahr: 2022
Cover
Ein Ufo über New York
Vorschau
Impressum
Ein Ufo über New York
Bob Miller gähnte und schaute auf die Wanduhr des Pförtnerhäuschens. Zwei Uhr morgens. Vier Stunden, bis Mike ihn ablöste. Wie konnte man so müde sein? Klar, gestern war er früh von der Nachtschicht gekommen, hatte am Tag nicht geschlafen, viel am Haus gearbeitet. Er gähnte, räkelte sich behaglich im Stuhl und schloss die Augen.
Ihr schnuckeliges Haus ... Martha ... Sie gehörten zusammen ... Alles war gut ... Alles gehörte ... irgendwie zusammen ... geborgen ... auch hier ... Kühlschrank ... Brummen ... Ticken ...
Lautes Hämmern weckte ihn. Verwirrt öffnete Miller die Lider, hob den Kopf, der auf die Tischplatte gesunken war, und sah direkt vor seinem Gesicht einen Totenschädel. Entsetzt sprang er auf. Draußen vor der Glasscheibe stand eine Gestalt mit Totenkopfmaske und klopfte gegen die Scheibe – mit einer Panzerfaust. Zielte auf Bob Miller – und schoss.
In einem Lieferwagen, fünfzig Yards vor dem Firmengelände, verfolgten Sam Freeman und Jeff Harding hinter ihren Totenkopfmasken, wie zuerst das Pförtnerhäuschen in einer ohrenbetäubenden, Nacht erhellenden Explosion verging, kurz darauf die Schranke.
»Der stellt sich mit 'ner Panzerfaust direkt vor die Scheibe«, raunte Harding, »total durchgeknallt.«
»Genau deshalb halt bloß deine Klappe!«
»Und weckt den Pförtner, bevor er ihn abmurkst.«
»Schnauze jetzt! Fahr los!«
Mehrere Wagen rasten auf das Firmengelände, weitere Maskierte sprangen heraus, schossen auf drei herbeieilende Wachposten und stürmten unter Führung der Panzerfaust in eine Halle. Der Strom war ausgefallen. Auf einem Sockel ruhte in schummriger Notbeleuchtung etwas fahlsilbrig Glitzerndes, fremdartig und doch irgendwie vertraut.
»Ein Ufo!«
Ich hatte gute Laune an diesem Morgen des 20. Juni und pfiff leise eine Melodie von Peter Thomas vor mich hin, als ich am offenen Schrank eine Krawatte für heute auswählte. Vielleicht schwarz-blau gestreift? Hm, sehr dezent, geradezu unauffällig. Ich musste lachen. Für einen Agent wie mich genau das Richtige. Was unser modebewusster Kollege Zeerookah dazu sagen würde? Die Krawatte bindend, trat ich zum Fenster meines Apartments und schaute auf die Hochhäuser und den strahlend blauen Himmel darüber. Ich liebte New York und die Menschen der Stadt, die niemals schlief. Alles war wie immer.
Gleich würde mein Freund Phil Decker an der üblichen Ecke in meinen roten Jaguar steigen, und wir würden zusammen durch die Straßenschluchten fahren. Beim FBI taten wir unser Bestes für ein friedliches Zusammenleben im Big Apple. Momentan arbeiteten wir zusammen mit dem NYPD an Maßnahmen für die Sicherheit des Präsidenten, der in zwei Wochen, am 4. Juli, dem Unabhängigkeitstag, eine Rede in New York halten würde.
Ich legte mein Gürtelholster an, schnappte mir Handschellen und MagLite, zog mein Jackett an und verließ die Wohnung.
Als sich Phil wenig später auf den Beifahrersitz warf, war er mürrisch. Er habe die ganze Nacht nicht geschlafen, sondern sich im Internet »echt spannende« Berichte über Ufosichtungen angeschaut.
»Ach je«, sagte ich und lachte, »selbst schuld, wenn du jetzt kaum die Augen offen halten kannst.«
Eine Dreiviertelstunde später sah im Vorzimmer von Mr. High seine Sekretärin Helen nur kurz in Phils Gesicht und schmunzelte.
»Kaffee oder nicht Kaffee, das ist hier wohl nicht die Frage.«
»O ja bitte, Helen. Wir sollten mal wieder zusammen ins Theater gehen.«
»Bekomme ich auch einen?«
»Natürlich, Jerry.«
»Ist der Chef drinnen?«, fragte ich.
»Ja, Ben und Iris sind schon da.«
Sie lächelte. Helen war klasse und ihr Kaffee auch. Jeder von uns erhielt eine weiße Tasse.
Phil trank im Gehen, in einer Hand die Tasse, in der anderen die Untertasse.
»Im Field Office gibt es also auch fliegende Untertassen«, stichelte ich.
Phil verdrehte die Augen. »Witzbold!«
Mr. High erhob sich bei unserem Eintreten. »Guten Morgen, Gentlemen, bitte nehmen Sie Platz.«
Als wir uns zu den anderen an den Konferenztisch gesetzt hatten, sah er uns der Reihe nach an und ließ eine Tonaufnahme ablaufen. Inmitten von Hintergrundrauschen war eine Frauenstimme zu hören, die amerikanisches Englisch ohne Akzent sprach.
»Lee hat es tatsächlich irgendwann in den letzten drei Tagen geschafft.«
»Ist er in den USA?«, fragte eine ebenso unauffällige, hohe Männerstimme.
»Ja, er muss jetzt in Los Angeles sein.«
»Wie ist er über die Grenze gekommen?«
»Wohl als normaler Flugpassagier. Seinem Job in New York steht damit nichts mehr im Weg.«
Der Chef stoppte die Aufnahme.
Phil und ich sahen uns vielsagend an. Der Name Lee war uns bekannt.
»Sir, ist mit Lee der international gesuchte Killer Igor Lee gemeint?«, fragte mein Partner sicherheitshalber.
»Ja, Phil, wir müssen leider davon ausgehen. Die CIA hat dieses Telefongespräch vor wenigen Stunden zufällig in einem zentralasiatischen Land mitgeschnitten und uns sofort verständigt, weil es bei dem erwähnten ›Job in New York‹ mutmaßlich um einen geplanten Anschlag Lees in unserer Stadt geht. Die Kollegen in Los Angeles wurden gleichzeitig informiert. Wir arbeiten mit ihnen zusammen.«
»Sir, könnte dieser Anschlag dem Präsidenten gelten?«, fragte ich.
Mr. High sah ernst in die Runde. »Das ist genau die Befürchtung, die mich im Moment umtreibt, Jerry. Das FBI muss sich daher im Rahmen des Sicherheitskonzeptes für den Aufenthalt des Präsidenten bei uns auch mit Lee befassen. Wir benötigen zunächst möglichst schnell einen umfassenden Backgroundcheck zu dem Mann. Den zu beschaffen, ist hauptsächlich Ihre Aufgabe, Ben. Die anderen werden Sie heute wenn nötig den ganzen Tag dabei unterstützen. Iris, bitte erstellen Sie bis morgen anhand der eingehenden Informationen ein Persönlichkeitsprofil von Igor Lee. Das scheint mir der beste Weg zu sein, um eine Ermittlungsstrategie zu finden.« Er erhob sich von seinem Platz. »Jerry und Phil, der operative Teil wird in erster Linie bei Ihnen liegen. Wir treffen uns alle spätestens morgen um zehn Uhr wieder hier. Wenn Sie Hilfe brauchen, kommen Sie jederzeit zu mir. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg.«
Am nächsten Morgen blickte unser Chef in lange Gesichter. »Ben, bitte berichten Sie.«
Dr. Ben Bruckner, unser einundzwanzigjähriger ebenso genialer wie schüchterner IT-Experte, schluckte und räusperte sich verlegen. »Sir, wir haben leider so gut wie keine verwertbaren Informationen finden können.«
Er hob beide Hände, um sie anschließend resigniert auf seine Unterlagen fallen zu lassen, eine für ihn äußerst ungewöhnliche Geste.
Seine Stimme bekam einen leicht gequälten Unterton, als er weitersprach. »Ich habe so etwas noch nie erlebt. Der Name Igor Lee kursiert zwar in Kreisen der Unterwelt, der Polizei und der Geheimdienste verschiedener Länder, und es wird vermutet, dass er für mehrere Dutzend Morde verantwortlich ist, aber niemand kennt ihn. Es gibt offenbar keine handfesten Beweise gegen ihn. In einigen Fällen entsteht fast der Eindruck, als würden Ermittlungsbehörden, die keinen Täter finden, der Einfachheit halber annehmen, die Tat wäre von Igor Lee begangen worden.«
Mr. High unterbrach ihn. »Was haben Sie?«
»Nur ein etwa zehn Jahre altes, ziemlich unscharfes Foto von einer Überwachungskamera.«
Mr. High blickte einen Moment lang stumm vor sich hin. Er war kein Chef, der unbeherrscht lospolterte oder grundlos kritisierte. Da er Ben kannte und schätzte, akzeptierte er die dargestellte Lage als gegeben.
»Iris, war es Ihnen unter diesen Umständen überhaupt möglich, so etwas wie ein Persönlichkeitsprofil von Lee herauszuarbeiten?«, fragte er sachlich.
»Sir, in Anlehnung an einen Grundsatz der Kommunikationspsychologie, wonach Menschen nicht nicht kommunizieren können, also sogar ihr Schweigen eine Mitteilung darstellen kann, habe ich versucht, das von Ben angesprochene Fehlen oder ›Schweigen‹ von Informationen zu deuten«, antwortete unsere Kriminalpsychologien Dr. Iris McLane. »Solche Deutungen sind zwangsläufig vage, weil ein Mensch aus vielen Gründen schweigen kann und Informationen aus vielen Gründen fehlen können.«
»Ich verstehe.«
»Trotzdem lässt das ungewöhnliche Ausmaß des Fehlens von Informationen meiner Meinung nach wenigstens die Schlussfolgerung zu, dass Lee aktiv Maßnahmen zur Verschleierung seiner Persönlichkeit ergreift. Da sich selbst in Unterweltkreisen kein einziger Freund oder Bekannter von ihm findet, vermute ich, dass er sich solcher Leute entledigt hat.«
Mr. Highs Brauen hoben sich kaum merklich. »Sie meinen, er bringt alle um, die ihn kennenlernen, selbst seine Freunde und Bekannten?«
»So sieht es aus«, bestätigte Iris. »Vielleicht muss jeder sterben, der ihn näher kennengelernt oder nur gesehen hat. Obwohl, das kann nicht immer möglich sein. Zum Beispiel müssen ihn ja Leute im Flugzeug, mit dem er eingereist ist, gesehen haben. Denkbar wäre, dass er Menschen dann tötet, wenn er vermutet, er ist ihnen so sehr aufgefallen, dass sie ihn später beschreiben und als Zeugen gegen ihn aussagen könnten.«
Ben räusperte sich. »Sir, ich habe das gerade mal durchgerechnet, Iris hatte mir eben schon davon erzählt. Mit sechsundneunzig Komma drei Prozent Wahrscheinlichkeit ist ihre Schlussfolgerung zutreffend.«
Mr. High sah Iris fragend an. »Was ist das für ein Mensch, der so etwas tut?«
»Vermutlich ein Mensch, dessen Sicherheitsbedürfnis weit höher ist als normal.«
»Warum geht er dann nicht einer normalen, sicheren Arbeit nach, sondern tötet?«, fragte Phil.
»Gute Frage. Wir wissen es leider nicht. Aber du hast recht, Phil. Lee begibt sich bei seinen Anschlägen selbst in Gefahr, zumindest in die Gefahr, gefasst und bestraft zu werden. Er scheint diese Gefahr offenbar zu suchen oder wenigstens in Kauf zu nehmen. Möglicherweise sucht er die Herausforderung und spielt mit seinem Leben, weil er von inneren Konflikten zerrissen wird und seinen eigenen Tod herbeisehnt. Und er tötet alle, die ihn kennen, weil er nicht gefasst werden will. Vielleicht auch wegen einer zurückliegenden traumatischen Erfahrung.«
»Wie meinst du das, Iris?«, hakte ich nach.
»Nun, wenn er zum Beispiel als Kind in einem Kriegsgebiet in Angst hat leben müssen, getötet zu werden, sobald seine Identität erkannt worden wäre, kann das erstens zu einem übersteigerten Bedürfnis beigetragen haben, seine Identität mit allen Mitteln verschleiern zu müssen, und zweitens zu einem grundsätzlichen Verlangen, Menschen umzubringen, denn die Lebensgefahr ging damals von Menschen aus.«
Mr. High wartete einen Moment ab, ob Iris noch etwas hinzufügen wollte und fragte: »Inwiefern nützen uns diese Erkenntnisse für unsere Ermittlungen?«
»Die Frage habe ich mir auch gestellt, Sir. Zwei Punkte könnten wichtig sein. Erstens, Lee ist hochgefährlich für seine gesamte Umgebung. Es ist also allergrößte Vorsicht geboten, darüber sollten alle Ermittler informiert werden. Zweitens, wir könnten vielleicht auf Lees Spur kommen, wenn wir nach ungewöhnlichen Häufungen von Tötungsdelikten auf engerem Raum Ausschau halten, möglicherweise in der Region Los Angeles, wo er sich mutmaßlich aufhält.«
Mr. High nickte anerkennend. »Das ist ein Anfang.«
Ben räusperte sich erneut. »Sir, ich möchte noch etwas sagen.«
»Bitte, Ben.«
»Nachdem wir gestern mit den Informationen über Lee nicht weitergekommen sind, habe ich abends noch ein Suchprogramm geschrieben. Damit können alle Passagiere, die in den letzten Tagen in Los Angeles gelandet sind, auf gefälschte Identitäten hin überprüft werden. Das Programm stellt dazu Querverbindungen zwischen mehreren Servern auf verschiedenen Kontinenten ...«
»Bitte, Ben, teilen Sie uns nur das Ergebnis mit«, unterbrach Mr. High ihn freundlich.
»Gut. Also, Lee ist mit achtundneunzig Komma sieben Prozent Wahrscheinlichkeit am siebzehnten Juni um dreiundzwanzig Uhr achtzehn Ortszeit auf dem Los Angeles International Airport gelandet. Er kam mit einer Air-France-Maschine aus Bombay.«
»Hast du auch die Sitzplatznummer?«, versuchte Phil einen Scherz.
Ben blätterte in seinen Unterlagen. »Ja. Er hatte einen Fensterplatz auf der rechten Seite, neunzehn-K.«
Wir starrten ihn an wie ein Ufo. Niemand sagte etwas.
»Ben, Sie sind unbezahlbar«, meinte Mr. High schließlich. »Immerhin versucht das FBI es trotzdem. Ich danke Ihnen. Wie haben Sie das bloß ...? Ach, lassen wir das lieber. Wichtiger ist, dass dieser Sitzplatz schnellstmöglich auf Fingerabdrücke und DNA-Spuren hin untersucht wird.«
»Die Maschine befindet sich zurzeit in Nizza«, warf Ben wie selbstverständlich ein.
»Dann werden wir die französischen Behörden schnell um Amtshilfe ersuchen müssen«, erwiderte Mr. High.
»Da ist noch etwas, Sir.«
»Ja, Ben?«
»Lee könnte auf den Flughäfen in Bombay und Los Angeles von Überwachungskameras erfasst worden sein.«
»Gute Idee. Dem müssen wir nachgehen. Noch etwas?«
»Er hatte zwei Gepäckstücke bei sich, die offenbar bei der Flugabfertigung durchleuchtet wurden. Es befanden sich keinerlei Waffen darin.«
Mr. High wirkte verblüfft. »Inwiefern hilft uns das weiter?«
»Nun, er wird sich eine Waffe in den USA besorgen müssen«, erklärte Ben.
»Wenn sein Auftraggeber das nicht schon für ihn erledigt hat«, gab Phil zu bedenken.
»Es sind übrigens mehrere Auftraggeber«, ergänzte ich. »Kann uns eine Stimmanalyse des Telefongesprächs auf deren Spur bringen, Sir?«
»Daran wird bereits gearbeitet. Aber noch einmal zur Waffe. Wissen wir, welche Art von Waffe sich Lee beschaffen würde, falls er noch keine hat, Jerry?«
»Gestern haben wir erfahren, dass er angeblich bei seinen bisherigen Anschlägen so ziemlich alles verwendet hat, die ganze todbringende Palette: Nahkampf, Halsschlingen, Messer, Pistolen, Gewehre. Häufiger werden Großwaffen erwähnt, die er auf Fahrzeugen montiert haben soll, Maschinenkanonen auf Motorbooten zum Beispiel und Raketenwerfer auf Autos.«
Der Chef schüttelte kaum merklich den Kopf. Ich pflichtete ihm in Gedanken bei. An diesen Wahnsinn würde ich mich auch nie gewöhnen.
Mr. High wartete einen Augenblick und fasste anschließend die nächsten Schritte auf seine präzise Art zusammen.
»Habe ich etwas vergessen?«, fragte er.
»Was ist mit dem Foto?«, erkundigte sich Iris. »Kann es so bearbeitet werden, dass Lee besser zu erkennen ist?«
»Stimmt. Damit sollen sich die Kollegen aus der IT befassen.«
»Sir, wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich das gern selbst weiter versuchen. Ich hatte gestern Abend schon damit angefangen. Es gibt da ein neues Programm.«
»Einverstanden, Ben. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, kommen Sie zu mir. Ich danke Ihnen.«
Mr. High erhob sich, damit waren wir entlassen.
Östlich von Los Angeles, mitten in der Mojave-Wüste, stand einsam ein altes hölzernes Wohnhaus mit Schuppen, das von Lees Auftraggebern schon vor einigen Jahren für die geplante Aktion gekauft worden war. Darin lebte er zusammen mit der von ihm angeheuerten fünfköpfigen Gang. Er hatte Sam Freeman, dem Gangchef, Anweisung gegeben, seinen Männern jeden Kontakt zur Außenwelt strikt zu verbieten. Sicherheitshalber hatte Freeman alle Mobiltelefone eingesammelt und ausgeschaltet.
Von hier aus hatten sie die Überfälle auf die beiden Fabriken in Los Angeles geplant und durchgeführt und sich mit ihrer Beute jedes Mal wieder hierhin zurückgezogen. Eine Fahrt dauerte zwar mehrere Stunden, dafür waren sie relativ sicher.
Jetzt gab es noch einiges für die Männer zu tun. Die beiden Teile sollten zusammengeschweißt und verladen werden, und zwar bis zum Abend. Lee konnte den Transfertermin nicht mehr verschieben. Alles musste in ein paar Stunden bereit sein. Doch statt konzentriert zu arbeiten, plauderten die Männer während der Arbeit und gingen ihm damit auf die Nerven. Amerikaner! Er spuckte auf den Boden.
Vor dem Transfer sollte noch abgerechnet werden. Sein Mund verzog sich zur Andeutung eines Grinsens. Er hatte vor einigen Tagen mit diesem Freeman nicht lange gefeilscht, sondern Ja gesagt zu fünfzig Riesen für die Gang. Die Höhe der Summe war eh egal.
»Nach Abschluss der Arbeiten gibt es das Geld«, hatten sie per Handschlag ausgemacht.
Na klar.
Wir hatten die ganze Ermittlungsmaschinerie des FBI angekurbelt. Am Tag nach der Besprechung mit Mr. High, kurz vor drei Uhr, klingelte mein Bürotelefon. Als ich Mr. Highs Mobilnummer sah, gab ich Phil ein Zeichen und stellte auf laut, damit er mithören konnte.
»Hallo, Sir.«
»Jerry, wir haben vielleicht eine Spur zu Lee. In Los Angeles wurde gestern Nacht die Waffenfabrik Milton überfallen. Es müssen mehrere Täter gewesen sein. Mit abstoßender Brutalität wurde das komplette Wachpersonal getötet. Ich erspare Ihnen die Einzelheiten. Erbeutet wurde ein Raketenwerfer mit Munition, alle anderen Waffenbestände der Firma blieben unangetastet. Also eine gezielte Aktion, um in den Besitz des Raketenwerfers zu gelangen.«
»Verstehe.«
»Sie und Phil müssen hinfliegen und sich vor Ort umsehen. Helen hat die zuständigen Stellen schon über Ihr Eintreffen informiert. Zwei Flugtickets für heute Abend halb sieben und zwei Hotelzimmer sind gebucht. Der Flug dauert ungefähr sechs Stunden. Wegen der Zeitverschiebung sind Sie bereits gegen halb zehn Ortszeit in Los Angeles. Haben Sie noch etwas?«
»Nein, Sir.«
»Wir bleiben in Verbindung.«
Dann ging alles sehr schnell. Phil zu Hause absetzen, in mein Apartment, das Nötigste packen, Phil wieder einladen, zum John F. Kennedy Airport. Als unsere Boeing pünktlich abhob, wurden wir sanft in die Sitze gedrückt. Irgendwann schlief ich ein.
Kaum hatten wir nach unserer Landung auf dem Los Angeles International Airport, wo auch Lee den Boden der USA betreten hatte, das Flughafengebäude erreicht, klingelte schon mein Handy. Eine unbekannte Nummer.
»Cotton«, meldete ich mich.
»Assistent Special Agent in Charge Thomas Mellon. Willkommen in Los Angeles. Ich bin Ihr Empfangskomitee und fahre Sie, wohin Sie wollen.«
»Hm, das nenne ich Service. Vielen Dank. Wo finden wir Sie?«
»Ich warte am Ausgang.«
»Gut. Bis gleich.«
Kurz darauf schlenderte mit breitem Grinsen ein knapp sechseinhalb Fuß großer dunkelhaariger junger Mann in cremefarbenem Anzug auf uns zu, braun gebrannt, mit einem Hawaiihemd in schreiend bunten Farben, das ihm über die Hose hing.
»Schön, dass Sie da sind«, begrüßte er uns mit angenehm tiefer Stimme und hielt uns seinen Dienstausweis entgegen.