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Phil und ich übernahmen einen wichtigen Auftrag der Staatsanwaltschaft: Zeugenschutz für Lou Asner, der in drei Tagen gegen einen mächtigen Unterweltboss aussagen sollte. Asner war ein in die Jahre gekommener Auftragskiller, dem man nie etwas hatte nachweisen können. Es galt jedoch als gesichert, dass er zahlreiche Morde verübt hatte. Für seine Aussage sollte er straffrei ausgehen. Mit dem Deal hatte ich nicht nur ein moralisches Problem. Und viel zu spät erkannten wir, dass wir mitten in eine perfide Falle getappt waren!
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Seitenzahl: 138
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Alte Killer sterben nicht
Vorschau
Impressum
Alte Killer sterben nicht
Lou Asner saß auf der Bettkante in seinem Schlafzimmer wie eine Spinne im Netz. Als Scharfschütze war er es gewohnt, in einer Position zu verharren. Geduldig zu warten, bis der andere einen Fehler beging. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Jerry Cotton hatte ihm die Vorstellung abgekauft. Ein alternder Berufskiller im Ruhestand! Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein.
Eine gefühlte Ewigkeit nach meinem Klopfen waren hinter der Apartmenttür endlich schlurfende Schritte zu vernehmen. Selbst das Geräusch des Schlüssels, der im Schloss gedreht wurde, klang wie eine Anstrengung. Die Tür, deren ehemals grüne Farbe vor langer Zeit blasig geworden war, öffnete sich einen Spaltbreit. Ein graues, feuchtes Augenpaar unter buschigen Brauen musterte mich.
»Cotton?«, sagte der alte Mann schließlich.
Ich nickte und fragte mich, ob er meinen Ausweis sehen wollte. Wollte er nicht.
»Darf ich hereinkommen, Mister Asner?«
Sicherlich hatte die Staatsanwältin ihm mein Aussehen beschrieben. Aber ich konnte im Halbdunkel des Treppenhauses kaum zu erkennen sein. Die Glühbirne über mir hatte vor Langem den Geist aufgegeben. Dennoch öffnete der Alte mir ganz.
»Kommen Sie rein.«
Fast war ich etwas enttäuscht. Lou Asner, eine Legende der Unterwelt. Ein Killer mit dreiundzwanzig Abschüssen. Das heißt, dreiundzwanzig Opfer, von denen wir wussten. Es dürften eher mehr sein. Und dieser Asner öffnete einem Unbekannten die Tür? Er hatte nicht einmal die Sicherheitskette vorgelegt. Jeder Eindringling hätte sich problemlos Zutritt verschaffen können. War der Mietkiller wirklich so alt geworden?
»Nächstes Mal sollten Sie sich einen Ausweis zeigen lassen, Mister Asner.«
»Wofür?«, schnarrte er über die Schulter. »Dass Sie von den Feds sind, sieht doch ein Blinder.«
Die Art, wie er diese Bezeichnung mit Sarkasmus übergoss, sagte mir, dass er schon früher mit dem FBI zu tun gehabt hatte. Ich blieb dem Siebzigjährigen eine Antwort schuldig. Gestützt auf einen Gehstock schlurfte er mir in Filzpantoffeln auf einem durchgetretenen Läufer voraus. Der Flur führte zum Wohnzimmer, links davon lag das Schlafzimmer, rechts musste das Bad sein. Ich kannte jeden Yard des Grundrisses. Phil und ich hatten ihn eingehend studiert und mit den Apartments daneben, darüber und darunter verglichen. Genau in diesem Moment musste mein Partner auf der anderen Seite der holzgetäfelten Wand auf Horchposten sein. Bestimmt hatte Phil seine elektronischen Ohren gespitzt. Obwohl wir nicht glaubten, dass Asner gleich bei der ersten Begegnung etwas zu entlocken wäre.
Von vorne drang mir aufdringlicher Küchengeruch entgegen, wahrscheinlich Kohl. Während ich Asner im schmalen Flur nur Schritt für Schritt folgen konnte, hatte ich Gelegenheit, seine hagere Gestalt in Augenschein zu nehmen. Der gequälte Gang deutete auf ein Hüftproblem hin, was er mit dem Gehstock ausglich. Er stützte sich rechts auf den silbernen Knauf. Alles in allem machte er einen harmlosen Eindruck. Nicht gefährlicher als ein Mann jenseits der siebzig noch wirken konnte. Und sicherlich nicht wie jemand, der dreiundzwanzig Menschenleben auf dem Gewissen hatte.
Dieser gebrechliche Mann, der seit Jahren zurückgezogen in einem Dreizimmerapartment in Brooklyn lebte, war einer der tödlichsten Handlanger des organisierten Verbrechens gewesen. Er hatte seine Aufträge mit der Präzision eines Chirurgen ausgeführt. Kalt und effektiv. Ohne erkennbaren Sadismus den Opfern gegenüber. Die Treffer waren immer auf Anhieb tödlich gewesen. Gezielte Kopfschüsse, selbst aus großer Entfernung. Das war sein Markenzeichen gewesen. Manche zielen erst auf den Rumpf. Um dem Gegner erst den Fangschuss zu verpassen, wenn er hilflos am Boden liegt. Nicht Lou Asner. Seine erste Kugel saß. Daran konnten unsere Forensiker seine Handschrift erkennen. Doch Beweise hinterließ er uns nie.
»Wollen Sie den Mantel ablegen?« Wir hatten das Wohnzimmer erreicht. Er streckte einen knorrigen Arm aus. Die Hände öffneten sich wie die Klauen einer Krähe.
Ich erklärte, den Mantel lieber anzubehalten.
»Hä?« Er legte die flache Hand an die Ohrmuschel, um anzudeuten, sein Besucher möge lauter sprechen.
Allerdings war Asner sicher auch ohne Wiederholung klar, warum sein Besucher den Mantel nicht auszog. Ich trug darunter meine Glock 17M im Gürtelholster, die Standardwaffe des FBI, wie die leichte Ausbuchtung auf Hüfthöhe verriet. Was mich zu einem Rechtshänder machte, musste Asner folgern.
Er wies auf einen Sessel. »Ich mache gerade Tee. Trinken Sie einen mit?«
Ich hatte das Pfeifen des Teekessels, das langsam zu einem Schrillen anstieg, schon vorher vernommen. Seine Stimme klang nicht unfreundlich. Es wäre falsch gewesen abzulehnen. Der Alte schlurfte wieder los, diesmal Richtung offener Küche. Ich hoffte, er würde sie heute noch erreichen. Ich hatte recht gehabt, auf dem altgedienten Gasherd dampfte Kohl in einem Kochtopf gemütlich vor sich hin.
Ich ließ mich auf dem Sessel mit braunem Schoner nieder, den er mir zugewiesen hatte. So saß ich mit dem Rücken zur Wand, hinter der Phil steckte. An derselben Mauer mit unverputztem Ziegelsteinbau stand eine abgenutzte Ledercouch. Ich stöhnte innerlich bei dem Gedanken auf, dass sie die nächsten zwei Nächte mein Bett sein würde. Der Blick aus dem Küchenfenster ging zu einem Hinterhof.
Als Asner endlich den Herd erreicht hatte, drehte er den Gasherd zu, um den Teekessel ruhig zu stellen. Die Handbewegung erinnerte mich unwillkürlich daran, wie dieselben Hände Menschen für immer zum Schweigen gebracht hatten.
Auf Regalen standen Gewürzstreuer. Auf dem Küchentisch lag ein Kartenspiel, von einem Gummiband zusammengehalten. Ein Kalenderblatt zeigte noch das Datum von letzter Woche an. An der Wand diente eine Korkaufhängung dazu, Notizzettel anzubringen. Nichts Besonderes. Dinge, die sich ein alter Mann aufschreiben musste, damit er sie nicht vergaß. Einen Arzttermin. Eine Einkaufsliste. Ein Reißnagel hatte ein amtliches Dokument aufgespießt. Den Briefkopf erkannte ich gleich: die Vorladung der Staatsanwältin. Lou Asner sollte als Zeuge aussagen. Das Datum war in drei Tagen. Dann sollte das FBI Asner dem Gericht vorführen. Lebendig, wenn möglich.
»Milch und Zucker?«
Ich verneinte, um ihm keine Umstände zu machen, die den Prozess noch verlängert hätten. Er zuckte ein Paar knochige Schultern, goss das heiße Wasser in eine Porzellantasse und tunkte einen Teebeutel hinein. Dabei fiel mir auf, wie seine Hand zitterte. Und noch etwas fiel mir auf. Als sich der alte Killer beim Eingießen vorbeugte, stand er direkt vor dem Küchenfenster. Seine Silhouette müsste von einem Dach gegenüber ein wunderbares Ziel abgeben. Als Mann, der sich auf Schüsse aus längerer Distanz verstand, war Asner das bemerkenswert gleichgültig.
»Wir sollten die Rollos herunterlassen«, sagte ich dienstlich.
Asner hatte ein paar Tropfen verschüttet. »Nur keine Sorge, Cotton. Um diese Tageszeit scheint die Sonne so, dass sie sämtliche Fenster dieser Hausseite reflektiert.«
Der Löffel klapperte auf der Untertasse, als der alte Mann mir den Tee reichte. Er brauchte seine Bemerkung nicht weiter auszuführen. Jemand, der durch das Zielfernrohr seines Scharfschützengewehrs blickte, würde vom Licht geblendet, wenn die Sonne auf die Fensterfront traf. Unmöglich, einen gezielten Schuss abzugeben, das hatte ich als Rekrut auf der Schiessanlage der FBI-Akademie in Quantico selbst festgestellt.
»Ich glaube nicht, dass Sie hier sicher sind, Mister Asner«, erklärte ich trotzdem. »Jetzt nicht oder zu jeder anderen Tageszeit. Wir können Sie nicht schützen.«
Der Auftragsmörder lächelte vage und strich sich die wenigen Haare glatt, die auf seiner Glatze stehen geblieben waren. »Wir? Was meinen Sie denn damit, Cotton? Sind Sie denn nicht alleine für diesen Auftrag da?«
Nur Sarkasmus? Für mich klang das fast, als wüsste er, dass Phil nebenan durch die Wand mithörte.
Ich nahm einen Schluck des heißen Gebräus. »Ich meinte das Field Office. Wir haben den Auftrag, Sie bis zu Ihrem Termin vor Gericht am Leben zu erhalten.«
Der alte Mann führte die Tasse zu den Lippen und hielt inne. »Und was nach meiner Aussage kommt, das interessiert Sie nicht?«
Ich beschloss, ganz ehrlich zu sein. »Was danach kommt, interessiert mich nicht. Sie haben einige Menschen auf dem Gewissen, Mister Asner. Morde, die wir Ihnen zwar nicht nachweisen können. Aber Sie müssen schon entschuldigen, dass meine Empathie begrenzt ist. Sie wird genau bis Mittwoch dauern.«
Er stellte seinen Tee mit einem Klackern zurück auf die Untertasse, ohne getrunken zu haben. »Das lob ich mir, Agent. Geradeheraus. Sie verbiegen sich nicht. Sie besitzen Stil, junger Mann.«
Da zuckte durchs Küchenfenster ein Lichtblitz. Ich reagierte instinktiv. In einem Sekundenbruchteil ließ ich mich vom Sessel auf ein Knie nieder. Zog den Kronzeugen mit der Linken aus der möglichen Schusslinie. Fischte gleichzeitig mit der Rechten die Glock aus dem Holster.
Doch kein Schuss fiel, kein Glas zersplitterte, und keine Kugel traf den Zeugen der Staatsanwältin. Ich ließ Asners Handgelenk los. Es hatte sich angefühlt, als hätte ich einen trockenen Ast umklammert, der gleich brechen könnte. Ich reichte ihm den Gehstock, den er hatte fallen lassen. Der silberne Knauf stellte den Kopf eines Tiers dar, ein Hund oder ein Wolf. Ein edles Stück, das man bei einem Antiquitätenhändler in Manhattan suchen würde.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Ein Lichtreflex auf glattem Metall. Hätte auch der Lauf eines Gewehrs sein können.«
Der Alte ächzte, als er sich aufrichtete. »War wohl einer der neuen Schornsteine von gegenüber. Sind aus Metall. Die haben sie erst letzte Woche montiert, die sind noch nicht rostig.«
Die Glock glitt unbenutzt ins Futteral zurück.
Dann stellte ich die Tasse auf, die durch meine ruckartige Bewegung umgekippt war.
Asner war aufgefallen, dass ich nur darum so schnell hatte ziehen können, weil die Sicherheitsschlaufe des Holsters nicht geschlossen war. »Tragen Sie die Kanone immer so? Mit offener Schlaufe?«
Jetzt klang er so interessiert, als wären wir vom selben Metier. Ich blieb weiterhin bei der Wahrheit. »Ich habe sie geöffnet, als ich vor Ihrer Tür stand.«
Viel deutlicher hätten zwei Männer, deren Geschäft mit schnellem Tod zu tun hatte, sich ihr gegenseitiges Misstrauen nicht ausdrücken können. Ich beschloss, mich nicht noch einmal auf den Sessel mit dem altmodischen Überzieher zu setzen. Die Teeparty war damit zu Ende.
»Überlegen Sie es sich, Mister Asner«, schlug ich vor, als ich mich zum Gehen anschickte, »das FBI kann Ihnen nur Sicherheit gewährleisten, wenn wir Sie bis zum Gerichtstermin in einem Safe House unterbringen können.«
Der Alte folgte mir schlurfend durch den Gang. »Ich glaub nicht, dass das nötig ist, Cotton. So schnell, wie Sie sind. Da fühl ich mich sicher.«
Diesmal war es klar: krächzender Sarkasmus auf uralten Stimmbändern.
»Ich bin in einer halben Stunde mit meinem Zeug zurück. Legen Sie ab jetzt die Sicherheitskette vor, Asner.« Auch ich verzichtete nun auf die höfliche Anrede. »Dann bleiben Sie vielleicht am Leben, bis wir Sie am Mittwochmorgen abholen.«
Damit trat ich ins Halbdunkel des Treppenhauses.
Asner sagte so sorglos, wie das nur ein Mann kann, dem der Tod keine Angst mehr einzujagen vermochte: »Da hilft dann auch kein neues Türschloss mehr, Cotton. Kein Mensch ist vor Brago sicher, wenn er einen Tötungsauftrag herausgegeben hat.«
Ich drehte mich noch einmal auf dem Absatz zu ihm um. »Das sollten Sie ja am besten wissen, Asner.«
Ich blieb im nach Schimmel riechenden Treppenhaus der Mietskaserne stehen, bis ich zufrieden hörte, wie die Sicherheitskette vorgelegt wurde. Das Schlurfen entfernte sich.
Dann stieg ich nicht die Stufen aus dem fünften Stock hinunter, sondern drückte lautlos die Klinke der Wohnungstür gleich daneben. Drinnen wartete Phil Decker im abgedunkelten Raum. Ohne ein Geräusch zu verursachen, schloss ich die Tür hinter mir und bedeutete meinem Partner, sich ins Nebenzimmer zu begeben. Der Grundriss war ähnlich angelegt wie Asners Wohnung. Das Zimmer, das hier zur Rechten des Flurs lag, grenzte an sein Schlafzimmer.
»Alles angebracht?« fragte ich mit gedämpfter Stimme, obwohl ich selbst sehen konnte, dass Phil und Agent Laurie McCorry fleißig gewesen waren. Auf einem Beistelltisch lag ein Handbohrer mit Diamantspitze, den sie benutzt hatten, um unterhalb der Decke lautlos die Wand zu durchdringen. Die kabellose Überwachungskamera war nicht größer als eine Bleistiftspitze. Unsere Operational Technology Division hatte uns mit der neuesten Technologie ausgerüstet. State of the Art, wie die Kollegen nicht ohne Stolz betont hatten. Direkt über dem kleinen Loch war ein Hörverstärker installiert. Mit diesem starken Stethoskop würden wir jedes Geräusch von drüben hören können. Nicht nur hören, sondern auf einem tonempfindlichen Hightechgerät aufzeichnen und verstärken.
»Was war denn los?«, wollte Phil im Flüsterton wissen. »Wolltest du ihm einen Antrag machen, oder bist du vor lauter Respekt vor ihm auf die Knie gegangen?«
»Ich dachte, ich hätte etwas gesehen. Lichtreflex vom Dach gegenüber. War ein Irrtum.«
»Und wie hat Asner reagiert?«
»Der hätte die Kugel nicht einmal mehr gespürt. Dem Alten scheint sein Leben nicht am Herzen zu liegen. Schon komisch.«
»Sonst etwas Auffälliges, Jerry?«
Ich überlegte scharf. Ich hatte das Apartment in mir aufgenommen und versuchte, Details abzurufen, die nicht der Norm entsprachen. »Keine Familienfotos. Überhaupt nichts Persönliches. Nichts Besonderes für einen Mann seines Schlags.«
»Seinen Kohl kann man jedenfalls bis hier drüben riechen«, versetzte Phil.
»Den köchelt er schon den ganzen Morgen«, ergänzte Laurie McCorry naserümpfend.
Die junge Kollegin war unserer Taskforce für diesen Fall überstellt worden. Sie war ein Rookie ohne Felderfahrung. FBI-Schülerinnen sollten sich so bald wie möglich Praxis aneignen. Das schien mir der geeignete Auftrag zu sein. Drei Tage Babysitting für einen Kronzeugen, der an sich ungefährlich war.
»Ich war so leise wie möglich. Oder haben Sie etwas gehört, Agent Cotton?« Sie klang aufgeregt vor Abenteuerlust.
Ich sagte der jungen Kollegin, dass sie mich ruhig Jerry nennen solle, und bestätigte ihr, dass ich drüben kein verdächtiges Geräusch vernommen hatte. Ich fügte hinzu, dass der Alte wohl ohnehin schwerhörig sei und nichts spitzgekriegt hatte.
Phil griente. Er wusste, dass Lauries Zeugnisse vielversprechend waren. Ihre Vorgesetzten lobten sie über den Klee. Aber meinem Partner war schon klar, dass sie den Einsatzbefehl mir zu verdanken hatte. Und zwar, weil ich einem alten Freund von der Academy einen Gefallen schuldig war. Bartholomew Chisholm. Wir nannten ihn Bart, weil er keinen Wert auf seinen vollen Vornamen legte. Ich kannte ihn, noch bevor ich Phil kennenlernte. Bart hatte als Streifenpolizist angefangen und sich dann an der Academy als Ausbildner bewährt. Wir hatten über die Jahre losen Kontakt gehalten. Das letzte Mal sah ich ihn, als Phil und ich in Quantico einen Vortrag halten durften.
Es war das erste Mal, dass Bart Chisholm mir eine Schülerin ans Herz legte. Auch Laurie McCorry hatte unsere Schule in Virginia absolviert. Bestimmt hatte die frisch gebackene Agentin auf einen Einsatz mit Action gehofft. Doch das dürfte eine Feuertaufe ohne Feuer werden.
Die junge Kollegin hatte an der Wand neben dem Stethoskop den Grundriss angebracht, den wir uns bei der Stadtverwaltung besorgt hatten.
Ich zeigte auf das Viereck, das die Küche darstellte. »Soweit ich sehen konnte, ist hier das einzige Fenster mit Aussicht.«
»Kinderspiel für einen Sniper.« Phil nickte zustimmend.
»Es gibt nur ein einziges anderes Fenster, das im Schlafzimmer«, sagte unsere junge Kollegin, »und das zeigt ja zum Innenhof. Von dort sollte ihm keine Gefahr drohen, Agent, äh, Jerry.«
Ihr Vorname war Laurie. Ein eher altmodischer Name. Er wollte mir irgendwie nicht recht zu ihrem hart klingenden Nachnamen passen. Die junge, drahtige Frau trug ihre blonden Haare kurz. In ihre Cordhose mit Oberschenkeltaschen hatte sie ein kariertes Baumwollhemd gesteckt, als gäbe sie sich Mühe, maskulin zu wirken. Was wiederum nicht zu ihrem zierlichen Gesicht passte. Plötzlich fiel mir noch etwas ein, was nicht zusammenpasste. Etwas, das ich in der Küche gesehen hatte. Die Korkwand mit den Notizzetteln.
»Ist was, Jerry?« Laurie gewöhnte sich langsam daran, mich beim Vornamen zu nennen.
Ich strich mir nachdenklich mit dem Daumennagel über die Unterlippe. »Asner hat da ein paar handschriftliche Notizen. Kleine Merkzettel und so weiter. Mir fiel nicht gleich auf, wie klein die Schrift war.«
Laurie McCorry verstand nicht.
»Menschen dieses Alters sind in der Regel alterssichtig. Sie schreiben größere Buchstaben.« Ich wusste selbst nicht recht, wie diese Beobachtung ins Bild passen sollte, das ich mir von Asners Alter gemacht hatte. Sein Ächzen, als er sich aufrichten musste, nachdem ich ihn vom Fenster weggezogen hatte. Die zitternde Hand. Und dann die Schwerhörigkeit.
Phil hatte die Kopfhörer aufgesetzt. Ich zog fragend die Brauen hoch.
Er schüttelte den Kopf. »Nichts zu hören. Hat sich bestimmt zu einem Nachmittagsschläfchen hingelegt. Alte Männer machen das doch so.«
Lou Asner hatte sich im Schlafzimmer auf der Matratze niedergelassen. So langsam, dass nicht einmal die Bettfedern quietschten. Aufrecht sitzend ließ er die Augen nicht von der Wand. Direkt unterhalb der fleckigen Decke war vor dem Lüftungsschacht ein kleinmaschiges Gitter angebracht. Die Öffnungen waren von Staub und anderem Dreck verklebt. In einer Masche war ein schwarzer Punkt aufgetaucht. So klein, dass eine Fliege, wenn sie darauf landen würde, ihn verdecken könnte. Seine Augen hatten die Veränderung gleich erspäht. Eine winzige Miniaturkamera war im Lüftungsschacht angebracht worden – also von der Wohnung gegenüber. Sie können mich sehen, dachte er.