Jerry Cotton 3392 - Jerry Cotton - E-Book

Jerry Cotton 3392 E-Book

Jerry Cotton

0,0
1,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine unbekannte Frau tötete Mitarbeiter eines New Yorker Fleischkonzerns. Die Opfer waren männlich und schwarz. Zunächst sah es so aus, als handelte die Killerin aus rassistischen Motiven. Doch schon bald ermittelten Phil und ich in eine andere Richtung. Der Konzern stand nämlich im Verdacht illegaler Geschäftspraktiken. Womöglich mussten die Opfer sterben, weil sie zu viel gewusst hatten. Zum Schluss stellte sich heraus, dass alles noch viel komplizierter war und die blutige Fährte der Morde weit zurückführte in den Abgrund der Vergangenheit.


Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 143

Veröffentlichungsjahr: 2022

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Schlachthausmelodie

Vorschau

Impressum

Schlachthausmelodie

Penny hielt nicht gerade viel von ihren Mitmenschen. Doch die Frage war, was andere von ihr hielten. Das musste ihr klar sein. War ihr auch klar.

Sie stellte sich vor, wie sie dem Mann, der die Tiere schlachtete, ins Gesicht schoss. Oder besser in den Unterleib. Da würde sich sein Blut mit dem Tierblut auf der Fleischerschürze vermischen, was ohne Zweifel eine interessante Vorstellung war.

Vielleicht würden die Leute sie für verrückt halten, wenn sie Pennys Gedanken lesen könnten.

Aber es ging nicht darum, Vermutungen anzustellen. Es ging darum, was Penny tun würde.

In weniger als einer Stunde.

Es würde nicht das erste Mal sein und nicht das letzte.

Sie löschte das Licht über dem Spiegel, der ihr das Gesicht einer unbekannten Frau gezeigt hatte, und verließ das Badezimmer.

Sie wusste, sie würde das Richtige tun. Sie wusste bloß nicht, warum es das Richtige war.

Es war ein freundlicher Freitagmorgen. Durch das weit geöffnete Fenster strömte kühle Luft ins Büro, und die lebhafte Symphonie der Motoren, die mit erhabener Wucht aus den Straßenschluchten aufstieg, verkündete, dass die Rushhour zuverlässig eingesetzt hatte. Doch weder diese Ouvertüre noch das milde Sonnenlicht, in dem flirrende Staubteilchen herumtanzten, vermochten Mrs. Blooms verwirrtes Gemüt aufzuhellen. Den Kaffee, der vor ihr auf dem Besprechungstisch stand, hatte sie nicht angerührt.

»Was haben Sie gesehen?«, fragte ich sie zum zweiten Mal.

Sie zögerte auch diesmal mit der Antwort. Sie war eine alte Frau, ich schätzte sie auf Mitte achtzig. Ihre dünne Stimme zitterte, und der magere Körper unter dem grünen Kittelkleid nahm gerade einmal die Hälfte des Stuhls ein, auf dem sie vorgebeugt saß. Ihre dürren, fleckigen Hände krampften sich um den Gehstock, der quer über ihren Oberschenkeln lag.

Ich blickte zu Phil hinüber, der hilflos mit den Schultern zuckte.

Offensichtlich stand Mrs. Bloom noch unter dem Eindruck des brutalen Mords, dessen Zeugin sie geworden war, und litt noch unter den Folgen des Schocks.

Eine Frau hatte gestern Nachmittag gegen drei Uhr nachmittags an einem der Stände des Ulysses-Fleischkonzerns auf dem Hunts Point Cooperative Market den Verkäufer Tyres Young mit vier präzisen Schüssen niedergestreckt. Eine Kugel drang zwischen den Augen ins Gehirn, eine weitere in den Mund, zwei weitere hinterließen hässliche Löcher in der weißen Kunstlederschürze auf Höhe des Geschlechts. Anschließend war die Frau unerkannt in der Menschenmenge untergetaucht.

Am Freitag voriger Woche hatte sich Ähnliches ereignet. Vor dem Ulysses-Schlachthaus in der South Bronx hatte eine Person nicht bestimmbaren Geschlechts mittags den Fleischer Jim Poitier mit mehreren Schüssen in Nacken und Rücken getötet und konnte unbehelligt verschwinden.

Die Fälle schienen zusammenzuhängen, zumal beide Opfer Afroamerikaner und Angestellte von Ulysses waren.

Möglich, dass diese Morde den Beginn einer Serie markierten. Also wurde das FBI eingeschaltet. Mr. High hatte Phil und mich mit den Ermittlungen betraut. Als Erstes hatte ich Ben Bruckner gebeten nachzuforschen, ob in letzter Zeit außerhalb des Big Apple ein ähnlicher Fall bekannt geworden war.

Es gab eine Menge Leute, die als Passanten vor dem Ulysses oder als Käufer auf dem Fleischmarkt im Mittelpunkt des Geschehens gewesen waren. Nur wenige meldeten sich als Augenzeugen. Und deren Aussagen waren eine Enttäuschung. Alles hatte sich so beiläufig und scheinbar selbstverständlich abgespielt, dass kaum jemand brauchbare Hinweise zu geben vermochte. Außerdem widersprachen sich die Schilderungen in vielen Punkten.

Einzig Mrs. Bloom schien etwas genauer hingesehen zu haben, weswegen wir sie gebeten hatten, uns im Field Office zu besuchen. Immerhin wurde nach ihrer Beschreibung ein Phantombild angefertigt und umgehend veröffentlicht. Doch wie es schien, misstraute sie inzwischen ihren eigenen Eindrücken und befürchtete, sie könnte sich wegen falscher Angaben Schwierigkeiten einhandeln. Wir standen also vor dem Nichts, da auch keine Aufnahmen von Straßenkameras existierten, die uns hätten weiterhelfen können.

Die alte Lady tat mir leid, ich musste sie jedoch dazu bringen zu antworten.

»Mrs. Bloom«, sagte ich, »Sie sind offenbar eine gute Beobachterin. Sie haben den Beamten der Mordkommission gesagt, dass die Täterin eine graue Mütze trug, einen schwarzen Rollkragenpullover, schwarze Jeans und weiße Sportschuhe. Und, wie Sie meinten, eine ähnliche Sonnenbrille wie Audrey Hepburn in Frühstück bei Tiffany.«

Mrs. Bloom wiegte den Kopf.

»Das Ding war so groß, dass es das halbe Gesicht der Frau verdeckte. Sie hat die Brille nur einmal kurz abgenommen, und da habe ich ihr Gesicht gesehen. Alles, was ich darüber sage, kann falsch sein.« Sie seufzte inständig. »Da haben Sie's, im Grunde genommen bin ich Ihnen keine große Hilfe.«

»Sie waren sich sicher«, ergänzte Phil, »dass sie in einem schwarzen Fiat Abarth davonfuhr.«

»Mit Autos kenne ich mich aus«, versetzte Mrs. Bloom ernst. »Sie werden's nicht glauben, als junge Frau bin ich Rennen gefahren. Den Abarth kann man nicht so leicht verwechseln, der ist klein und knubbelig, hat aber ordentlich was unter der Haube.« Auf ihrem zerknitterten Gesicht deutete sich der Anflug eines Lächelns an.

»Ich wüsste gern«, probierte ich mit neuer Zuversicht mein Glück, »ob Ihnen inzwischen noch mehr eingefallen ist.«

Mrs. Bloom schwieg einen Moment bedrückt, ehe sie leise erwiderte: »Ich hab die ganze Nacht nicht geschlafen, Agent. Hab geglaubt, immer noch die Schüsse zu hören, als würden sie neben meinem Bett abgefeuert. Vielleicht hab ich jetzt 'ne Macke, aber irgendwie war's so, als hätten diese Schüsse auch mir gegolten, verstehen Sie das?«

»Ja«, sagte ich, »das verstehe ich sehr gut. Sie möchten nicht mehr darüber reden, um sich nicht erinnern zu müssen.«

»So ist es«, sagte sie erleichtert. »Außerdem habe ich Angst, dass mir doch noch etwas einfällt. Etwas, das ich mir vielleicht nur einbilde und mit dem ich jemand in die Bredouille bringe.«

»Ist Ihnen so was schon mal passiert?«, fragte Phil.

Sie nickte.

»Hab bei der Polizei mal jemand angeschwärzt, der dummerweise unschuldig war. Der Kerl hat mich später bedroht.« Sie atmete tief durch, stemmte den Gehstock mit beiden Händen gegen den Boden und zog sich mit zusammengepressten Lippen daran hoch. »Also schön, da ist noch was, das ich gehört habe. Es hat wohl keine Bedeutung. Es ist bloß so, dass es mir verrückt vorkam. Jemand pfiff etwas, ganz in meiner Nähe. Kurz bevor mir die Frau auffiel, die an mir vorbei mit einer Kanone in der Hand auf den Schwarzen losging. Ich nehme an, dass sie es war, die gepfiffen hat.« Sie spitzte die Lippen und versuchte unbeholfen, die Melodie zu intonieren.

»Vermutlich Zufall«, sagte Phil.

»Oder pure Einbildung, Sie sehen ja selbst, was mit mir los ist.« Sie schüttelte unwillig den Kopf. »Ich würde jetzt gerne gehen.«

Mit eingeknickter Hüfte auf den Stock gestützt, setzte sie sich in Bewegung. Phil eilte ihr voraus und öffnete die Tür.

»Tut mir leid«, murmelte Mrs. Bloom zusammenhanglos, bevor sie auf den Flur hinaustrat.

Als Phil wenig später zu mir zurückkehrte, klingelte mein Handy. Ich nahm den Anruf an.

»Hallo, Cotton, schon auf den Beinen? Falls nicht, sollten Sie heute mal aufs Duschen verzichten.«

Die raue Stimme gehörte Captain Rufus Snyder vom NYPD, der selbst den eigenen Leuten mit seinem halsbrecherischen Humor und seiner Großspurigkeit auf die Nerven ging. Er hatte von ganz oben Anweisung, das FBI bei den Ermittlungen in den beiden Mordfällen zu unterstützen. Ich wusste, dass es ihm nicht schmeckte, sich Phil und mir unterzuordnen.

Ich stellte das Handy laut, damit Phil mithören konnte.

»Klingt«, sagte ich, »als hätten Sie Neuigkeiten auf Lager.«

»Darauf können Sie wetten. Und ich denke, Sie sind ziemlich scharf drauf. Mir ist jedenfalls nicht bekannt, dass Sie und Decker bisher etwas erreicht hätten.«

»Verstehe, Sie rufen an, um mir den Täter zu präsentieren.«

»Witzig, Cotton, aber womöglich stimmt's ja. Immerhin habe ich einen neuen Zeugen zu bieten.« Er legte eine Kunstpause ein, um die Wirkung seiner Mitteilung zu vergrößern. Da ich nicht darauf reagierte, fragte er: »Sind Sie gar nicht neugierig?«

»Wär nett«, erwiderte ich, »wenn Sie auf den Punkt kämen, Snyder.«

»Schon gut, immer mit der Ruhe. Also, der Bursche heißt Rinaldo Gentile und wohnt in dem Apartmentgebäude gegenüber vom Schlachthaus. Er arbeitet dort als Ausbeiner. Wie Sie wissen, haben meine Beamten die Bewohner vor einer Woche befragt, ob sie etwas beobachtet haben. Fehlanzeige. Dann meldet sich dieser Rinaldo bei mir und sagt, er habe sich eines Besseren besonnen. Er schwört Stein und Bein, dass er den Mord aus seinem Fenster beobachtet hat und dass der Schütze ein Mann gewesen ist.«

»Warum fällt ihm das jetzt erst ein?«

Snyder lachte spöttisch. »Na ja, der gute Rinaldo ist vorbestraft und hat eine verständliche Abneigung gegen alle Vertreter von Recht und Gesetz. Aber das Gute in ihm hat den Sieg davongetragen. Man darf eben nie den Glauben an die Menschen verlieren.«

»Wann können wir mit ihm sprechen?«

»Wenn Sie es einrichten können, sofort. Ich habe ihm gesagt, dass wir uns in seinem Apartment treffen, damit wir uns gleich vor Ort einen Eindruck davon verschaffen können, von wo er den Mord beobachtet haben will.«

Er nannte mir die Adresse. Dann beendeten wir das Gespräch. Zehn Minuten später waren Phil und ich auf dem Weg in die South Bronx. Im dichtem Verkehrsgewühl brauchte ich fast eine halbe Stunde, bis ich meinen Jaguar am Bordstein vor dem zwölfstöckigen Apartmenthaus parkte.

Als Phil und ich ausstiegen, umwehte uns ein lauer, fauliger Wind. Im hellen Sonnenlicht und unter einem unverschämt blauen Himmel bot sich uns ein deprimierender Anblick. Das Wohngebäude, ein stumpfer Betonklotz mit schachtelförmigen, gelb umrandeten Fensternischen und blauen Minibalkonen, war offensichtlich ein Neubau. Zumindest war es die einzige unbeschädigte Immobilie auf dieser Seite der von Elend und Verfall geprägten Holly Street. Allerdings überzogen die Front im unteren Bereich bereits jede Menge Graffitis, die neben unleserlichen schwarzen Schriftzügen knallbunte Sex-and-Crime-Motive im Comicformat darboten.

Direkt gegenüber, zwischen zwei riesigen, müllübersäten Brachen, lag das Gebäudeensemble des Ulysses-Konzerns. In den Giebel des historischen Mittelbaus eingelassen war die Skulptur eines ruhenden Langhornrinds, das den Betrachter mit einer Art unerschütterlicher Zuversicht zu betrachten schien. Die Sprossenfenster der düsteren Ziegelsteinfassade weckten unweigerlich Assoziationen an die vergitterten Fenster von Haftanstalten. Marmorne Halbsäulen flankierten das mächtige, mit Schnitzereien versehene Eichenholzportal.

Links und rechts dieser sechsstöckigen Festung schlossen sich lang gestreckte moderne Flachbauten mit grau verschalten Außenwänden an. Im Hintergrund erhob sich ein fensterloser Ziegelbau, der das Hauptgebäude um gut dreißig Fuß überragte.

Snyder erwartete Phil und mich vor den gelb gestrichenen Lifttüren im winzigen Foyer des Apartmenthauses. Der groß gewachsene, birnenförmige Captain trug ein kurzärmeliges weißes Uniformhemd, das oberhalb des Bauchs und unter den Achselhöhlen sichtbar durchgeschwitzt war. Er hatte schmale Augen und einen schmalen Mund, den er beständig zu einem verächtlichen Dauergrinsen überdehnte, was ihm auf beiden Seiten Pausbäckchen eintrug. Diese Böser-Junge-Attitüde ließ ihn jünger erscheinen, als er es mit seinen sechsundfünfzig Jahren war. Hinzu kam, dass er sich mit der kokett zurückgeschobenen Dienstmütze über der hohen Stirn einen Anstrich von Verwegenheit gab.

»Sie haben sich ja Zeit gelassen«, moserte Snyder missmutig. »Ich habe noch 'ne Menge anderer Dinge zu erledigen.«

»Wir auch«, erwiderte Phil fröhlich. »Agent Cotton und ich drehen heute noch 'ne Runde durch mehrere Bars.«

»Ach Scheiße«, knurrte Snyder verstimmt, »bringen wir's hinter uns!«

Ich schätzte den schwarzhaarigen Mann, der uns auf der zehnten Etage die Tür öffnete, auf etwa vierzig Jahre. Seine Erscheinung entsprach nicht der klischeehaften Vorstellung, die man sich üblicherweise von einem Vertreter seines Berufsstands machte. Er war hager, leicht vorgebeugt und hatte einen grüblerischen, melancholischen Blick. Sein blassblauer Trainingsanzug war mindestens eine Nummer zu groß.

Er streckte mir eine puppenhaft rundliche Hand mit knubbeligen Fingern entgegen. »Rinaldo Gentile.«

Ich ergriff die Hand, sie war weich und feucht. »Special Agent Cotton.«

»Freut mich.« Er lächelte beflissen. »Und Sie sind?«, wandte er sich ungelenk an Phil und den Captain.

Phil stellte sich ordnungsgemäß vor, der Captain schob Gentile einfach in die Wohnung und stapfte wortlos voran. Vermutlich entsprach das seiner Vorstellung davon, was er einem Vorbestraften an Höflichkeit schuldete.

Hinter der von mattem Zwielicht erfüllten Diele lag ein dürftig eingerichteter Wohnraum. Die Sonne schien direkt durch das streifige Glas des rechteckigen Fensters an der Stirnwand und enthüllte gnadenlos den Zustand des Zimmers. Die Spuren mangelhafter Pflege waren überall zu besichtigen. Vergilbte Raufasertapeten verrieten, dass hier ein Kettenraucher wohnte. Dazu passte der penetrante Nikotingeruch, der uns gleich am Eingang entgegengeschlagen war. Der blassrote Teppichboden wies zahlreiche Brandlöcher auf. Die Stoffpolster der um einen länglichen Tisch gruppierten Stühle glänzten speckig, die knittrige karierte Tischdecke starrte vor Schmutz.

Als Gentile uns fragte, ob er uns zur Einstimmung einen Drink anbieten dürfte, klang das wie pure Selbstironie. Phil und ich lehnten dankend ab, der Captain ließ sich krachend auf einem der Stühle nieder und wedelte unwirsch mit der Hand.

»Na los«, forderte er Phil und mich auf, »kommen Sie schon, machen Sie es sich gemütlich.«

»Wusste gar nicht«, frotzelte Phil, »dass Sie auch hier wohnen.«

Er ließ sich am Tisch nieder, vis-à-vis von dem übellaunigen Captain. Ich setzte mich neben Phil, während Gentile stehen blieb, als könnte er sich nicht entscheiden, welcher Platz der für ihn strategisch günstigste wäre.

»Hey«, herrschte Snyder ihn an, »brauchen Sie etwa 'ne Extraeinladung?«

Gentile zog den Kopf zwischen die Schultern und setzte sich als Einziger an eine kurze Seite des Tischs. Ein exponierter Platz, der ihn, den potenziellen Zeugen, zugleich zum Angeklagten zu machen schien.

»Mister Gentile«, legte der Captain mit lauter Stimme los, »Sie sind mehrfach vorbestraft wegen Diebstahl. Also erwarten Sie gefälligst nicht, dass wir Ihnen Ihre Story so ohne Weiteres glauben. Sollten Sie uns bewusst an der Nase herumführen, sorge ich persönlich dafür, dass Sie wieder im Knast landen.«

Snyders ruppiges Auftreten ging mir auf die Nerven.

»Mister Gentile«, sagte ich mit Nachdruck, »hat sich bereit erklärt, als Zeuge auszusagen. Lassen Sie die Vergangenheit ruhen, Captain, und geben Sie ihm Gelegenheit, sich freimütig zu äußern.«

Snyder zog grollend die Brauen zusammen, hielt jedoch den Mund.

»Der Mann, den Sie beobachtet haben, ist einer Ihrer Kollegen?«, fragte ich den Fleischer.

»Tut mir leid«, erwiderte Gentile mit scheelem Seitenblick zu Snyder, »dass ich offenbar den Eindruck erweckt habe, noch bei Ulysses zu arbeiten. Doch das ist nicht der Fall, die haben mich auf die Straße gesetzt. Keine Ahnung, wie ich die nächste Miete zahlen soll.«

Snyder grunzte vernehmlich und verschränkte die Arme vor der Brust. »Da haben Sie es, Cotton, auf Typen wie unseren Patienten hier ist kein Verlass. Aber fassen Sie ihn nur weiter mit Samthandschuhen an.«

»Wann wurden Sie entlassen?«, wollte ich wissen.

»Vor einem Monat.«

»Was war der Grund?«

Gentile wand sich unbehaglich auf seinem Stuhl. »Na ja, ich war wohl unbequem für die Konzernleitung, hab mich für höhere Löhne eingesetzt.« Er verschränkte seine geröteten, rauen Hände und legte sie wie etwas, das ihm nicht gehörte, mit gesenktem Kopf auf dem Tisch ab. »Es ist eine verdammte Schinderei da drin«, murmelte er. »Dieser Laden ist die Hölle, und keiner macht was dagegen.«

»Mir kommen gleich die Tränen«, höhnte der Captain. »Verdammt, Mann, lenken Sie nicht ab, wir sind nicht hier, um uns Ihr Gejammer anzuhören.«

Phil nickte dem Fleischer aufmunternd zu. »Ich bin gespannt auf Ihren Bericht, Mister Gentile.«

»Hat mich geschafft«, sagte Gentile, »was die mir angetan haben. Jetzt habe ich 'ne Menge Zeit, um aus dem Fenster zu glotzen. Und zwar aus dem nebenan, von wo man das Schlachthaus sieht. Komm nicht los davon, hab zu lange dazu gehört, verstehen Sie?«

»Ich denke schon«, sagte Phil.

»Tut gut, das zu hören, Agent. Ja, also, da bin ich wieder auf Beobachtungsposten an diesem Mittag vor einer Woche und sehe mit an, wie Jim über den Haufen geschossen wird. Ein junger Kollege, den ich gerne mochte.« Er schwieg düster und knetete seine Hände.

Phil beugte sich zu Gentile vor. »Sie haben also auch gesehen, wer auf Jim Poitier geschossen hat?«

»Ja, bei Gott, das habe ich.«

»Und?«

»Ist schwierig, Agent, echt schwierig. Genau genommen habe ich den Schützen nur von hinten gesehen. Außerdem hat's geregnet wie blöde. Der Bursche trug einen langen grünen Trenchcoat mit Kapuze.«

»Sind Sie sich sicher, dass es sich um einen Mann handelte?«

»Beschwören kann ich's nicht, also unter diesen Umständen. Aber meiner Meinung nach war's eindeutig ein anderer Angestellter von Ulysses. Er arbeitet als Zerleger, sein Name ist Mason Forbes. Ich habe ihn am Gang erkannt, er zieht ein Bein nach.« Gentile stand auf und spielte es uns vor. »So in der Art, kann man nicht verwechseln.«

»Scheiße«, sagte Snyder, »Sie haben Talent, warum gehen Sie nicht zum Theater?«

Gentile zuckte frustriert mit den Schultern und setzte sich wieder.

»Von wo kam die Person im Trench?«, fragte ich.

Erneutes Schulterzucken. »Keinen Schimmer, Forbes war plötzlich da, mitten unter den vielen Leuten, die rumliefen vor dem Haupteingang des Betriebs.«

»Und wohin ist er nach den Schüssen verschwunden?«

»Er spazierte seelenruhig davon, bog ab in eine Seitengasse, wo ich ihn nicht mehr sehen konnte.«

»Zeigen Sie uns mal das andere Fenster«, forderte ich Gentile auf.

Er führte uns in ein Zimmer, in dem lediglich ein Bett mit zerknüllter Oberdecke und zerknautschtem Kissen sowie ein halb geöffneter Kleiderschrank standen. Auch hier stank es nach Nikotin. Ein Aschenbecher vor dem Bett auf dem Boden war randvoll mit Kippen.

Gentile öffnete das Fenster und trat beiseite.

»Bitte sehr.« Mit einer schaufelartigen Geste, ähnlich der eines Anheizers vor einem drittklassigen Stripteaseschuppen. »Verschaffen Sie sich selbst einen Eindruck.«

Ich ließ Phil und dem Captain den Vortritt, dann trat ich an das Fenster und lehnte mich hinaus.