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Der exzentrische, weltweit gefeierte Klassikpianist Samuel Ellington gab nach Jahren wieder ein Konzert in der Carnegie Hall. Binnen einer halben Stunde waren sämtliche Karten ausverkauft. Auch unsere Profilerin Dr. Iris McLane war unter den Zuhörern. Während des zweiten Stücks nach der Pause geschah das Unfassbare. Mitten in einem furiosen Stakkato brach Ellington über dem Konzertflügel zusammen. Ein Schuss hatte ihn in den Kopf getroffen. Der fast siebzigjährige Starpianist war auf der Stelle tot. Und wir vom FBI mussten der Todesmelodie folgen und den Mörder so schnell wie möglich finden!
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Seitenzahl: 137
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Todesmelodie
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Impressum
Todesmelodie
Kurz vor acht Uhr abends waren unsere Nerven zum Zerreißen angespannt. Mr. High leitete den Einsatz. Das SWAT-Team stand zu unserer Verfügung. Zwei Hubschrauber waren startklar, falls die Situation eskalieren sollte. Zuletzt kam der Killer an die Reihe. Joe Brandenburg übernahm seine Verkabelung. In seiner raubeinigen Art erklärte er ihm die nächsten Schritte.
»Sobald wir dich aus dem Wagen lassen, Freundchen, bist du keine Sekunde mehr unbeobachtet. Wir haben dich ständig im Visier. Überall sind Scharfschützen postiert. Jede deiner Bewegungen bekommen wir mit. Solltest du etwas planen, vergiss es. Sobald du im Apartment bist, hören wir jedes Wort mit. Ihn und die anderen zu warnen, ist sinnlos. Die Konsequenzen kannst du dir ausmalen.«
Mit stoischer Ruhe und eiskaltem Blick ließ der Mann Joes Monolog über sich ergehen. Noch ein letzter technischer Check. Der Killer erhielt wieder Hand- und Fußfesseln. Phil und ich eskortierten ihn zu einem der Fahrzeuge. Das bis an die Zähne bewaffnete SWAT-Team stieg in neutrale Fahrzeuge ein. Jetzt ging es um alles oder nichts.
Gespannt wartete Dr. Iris McLane, Supervisory Special Agent und Psychologin, auf den zweiten Teil des Konzerts. Nach mehrjähriger Abstinenz spielte Starpianist Sam Ellington wieder in der Carnegie Hall. Seit Wochen berichteten die Medien über den exzentrischen Künstler. Die Konzerthalle war binnen Minuten ausverkauft gewesen. Auf dem Schwarzmarkt wurden horrende Preise bezahlt.
Ellington galt als unberechenbar. Seine Allüren und Wutausbrüche waren gefürchtet. Die geringste Störung konnte ihn bereits aus der Fassung bringen, um ein Konzert wütend abzubrechen.
Tosender Applaus setzte ein, als der Pianist wieder die schlicht gestaltete Bühne betrat. Nur einige Blumengestecke sorgten für farbliche Kontraste. Im Mittelpunkt stand der glänzende schwarze Flügel in weißes Scheinwerferlicht getaucht. Ellington bedankte sich für Ovationen mit einem milden Lächeln. Noch einige Sekunden voller Konzentration, bevor der Musiker die Tasten anschlug.
Iris McLane beobachtete Ellington genau. Sie war weniger an der Musik interessiert. Vielmehr war sie aus wissenschaftlichen Gründen anwesend. Ihr Interesse galt seiner Persönlichkeit. Warum legte er seit Jahren dieses anormale Verhalten an den Tag? Weshalb schottete er sich ab? Verprellte Journalisten und Publikum durch seine rüde Art, ließ Konzerttermine grundlos platzen?
Iris war überzeugt, die Gründe mussten in Ellingtons Vergangenheit liegen. Ellingtons Finger rasten in atemberaubender Geschwindigkeit über die Tasten. Mit geschlossenen Augen, der realen Welt völlig entrückt, verwuchs der siebzigjährige Mann völlig mit seinem Instrument.
Plötzlich wurde sein grandioses Spiel brutal unterbrochen. Eine grauenhafte Dissonanz zerstörte die entrückenden Klänge. Mehrheitlich dachte das Publikum, eine Störung hätte einen seiner gefürchteten Ausbrüche ausgelöst. Doch der Grund war tödlich. Ein kleines Loch in Ellingtons Hinterkopf. Ein dünner Blutfaden rann über seinen Nacken, besudelte Hemd und Frack. Mit weit aufgerissenen, gebrochenen Augen und verzerrtem Mund kippte der Körper gegen das Klavier. Der Kopf knallte auf die Tasten, bevor er vom Hocker rutschte. Ellingtons Manager, der Theaterarzt und Bühnenpersonal eilten herbei. Jede Hilfe kam zu spät. Der Vorhang fiel.
Der Direktor der Carnegie Hall trat an den Bühnenrand, rang nach Fassung. Er hatte die undankbare Aufgabe, das erstarrte Publikum über den Abbruch zu informieren. Seine Worte gingen im allgemeinen Aufruhr und Tumult unter. Inzwischen hatte es sich in Windeseile wie ein Lauffeuer bis auf den letzten Platz in den fünften Rang herumgesprochen, dass der Starpianist ermordet worden war. Gerüchte über einen möglichen Terroranschlag kursierten.
Das totale Chaos brach aus. Gebrüll, Geschrei, Weinen, Todesangst, Verzweiflung. Jeder versuchte zu fliehen. Menschen wurden umgestoßen und niedergetrampelt. Iris McLane gelang es, sich in Sicherheit zu bringen. Sie rief Mr. High an. Die Besucher wurden evakuiert, die Verletzten abtransportiert, das Gebäude abgeriegelt. Mannschaften der Emergency Service Unit, unterstützt vom Patrol Services Bureau, umstellten die Carnegie Hall. Niemand wusste, ob es sich um einen Einzeltäter handelte oder ob sich mehrere im Gebäude versteckt hielten. Vielleicht war der Mord an Ellington nur der Auftakt für ein Fanal? Über der Carnegie Hall kreisten Hubschrauber der Aviation Unit.
Nach längerer Zeit wollte ich mir einen ruhigen Abend gönnen und das Baseballspiel der New York Yankees im Fernsehen ansehen. Mitten in einer heiklen Phase für die Yankees meldete sich mein Handy. Mr. High informierte mich über das Geschehen in der Carnegie Hall.
»Ich bin bereits auf dem Weg, Sir«, sagte ich.
Anschließend verständigte ich Phil. Er saß mit einer neuen Flamme in einem Restaurant in Manhattan. Ich holte meinen Partner mit dem Jaguar ab.
»Was genau ist passiert, Jerry?« Phil trauerte sichtlich seinem geplatzten Date nach, aber der Job ging vor.
»Ich weiß nur, dass Samuel Ellington während seines Konzerts auf offener Bühne erschossen wurde.«
»Ist das nicht dieser exzentrische Pianist, weswegen New York seit Wochen Kopf steht?«
»Genau, Phil. Iris war unter den Besuchern und hat den Mord hautnah miterlebt.«
Rund um die Carnegie Hall war der Verkehr zusammengebrochen. Ich schaltete Sirene und Warnlicht ein, parkte neben einigen Polizeiwagen. Schaulustige strömten herbei, verfolgten gebannt mit Konzertbesuchern das Geschehen. Zahllose Gerüchte machten die Runde. Selbstverständlich traten sich bereits Journalisten und Kamerateams gegenseitig auf die Füße auf der Jagd nach den besten Bildern und Informationen. Samuel Ellington galt in der klassischen Musikwelt weltweit als bester Pianist.
Wir zeigten einem der Cops unsere ID Cards. Er hob das Absperrband, und wir stiegen hindurch. Im Foyer trafen wir den Chef.
»Klar ist nur, es musste ein exzellenter Scharfschütze gewesen sein, der mit Schalldämpfer feuerte«, informierte uns Mr. High. »Sicherlich wurde die Waffe im zerlegten Zustand zu einem noch unbekannten Zeitpunkt ins Haus geschmuggelt.«
Neben dem Chef stand der völlig fertige Direktor der Carnegie Hall.
»Kommen Sie, Gentlemen«, forderte uns der kleine, soignierte Mann in seinem dunklen Anzug mit brüchiger Stimme auf. »Ich führe Sie auf die Bühne.«
Im Gebäude wimmelte es von schwer bewaffneten Cops und Männern der Emergency Service Unit. Mithilfe von Suchhunden wurde jeder versteckte Winkel akribisch abgesucht. Auf der Bühne sicherte eine Crime Scene Unit Spuren.
»Wurde etwas an der Position der Leiche verändert?«, erkundigte ich mich bei einem der Spurensicherer.
Die Antwort war ein Kopfschütteln. Samuel Ellington lag seitlich und verkrümmt auf dem Boden. Unübersehbar das Einschussloch im Hinterkopf. Phil ging in die Hocke.
»Das sieht nach einem großen Kaliber aus«, meinte er und richtete sich wieder auf. Er stellte sich hinter den Hocker und versuchte, Ellingtons Sitzposition nachzustellen. »Das Projektil traf ihn auf der rechten Seite des Hinterkopfes. Daher muss er aufrecht gesessen haben. Ansonsten wäre er in den Rücken getroffen worden.«
»Das heißt«, folgerte ich, »der Schuss wurde aus einem der oberen linken Ränge abgefeuert. Eine andere Möglichkeit scheidet aus, sonst wäre Ellington in die Stirn getroffen worden. Genaueres werden uns die Ballistiker sagen können.«
»Ausgezeichnete Analyse«, lobte Mr. High uns. »Allerdings glaube ich nicht, dass sich der Mörder auf einem der Ränge aufhielt. Zu viele Zeugen. Er musste erst ungestört das Gewehr zusammenbauen.« Er wandte sich an den Direktor. »Ich nehme an, es gibt noch weitere Räumlichkeiten über dem fünften Rang.«
»Natürlich«, bestätigte der Mann. »Für die Haustechnik und für die Beleuchter.«
»Dann möchten wir die Räume sehen«, sagte ich.
Wir wollten gerade aufbrechen, als Iris McLane mit einigen Leuten der Emergency Service Unit die Bühne betrat.
»Ich wusste gar nicht, dass du so eine Musikliebhaberin bist«, zeigte sich Phil erstaunt.
»Mich interessiert eher Ellingtons verschrobene Persönlichkeit«, sagte sie. »Ein ausgezeichnetes Forschungsobjekt, es gelang mir jedoch nie, mich mit ihm zu treffen. Er ließ niemanden an sich heran.« Und mit einem Blick auf seine Leiche: »Jetzt ist es zu spät.«
Iris schloss sich uns an. Phil und ich unterbreiteten ihr unsere Schusstheorie. Sie war der gleichen Meinung. Der Mörder konnte nur ein Meisterschütze mit einem Präzisionsgewehr gewesen sein. Daher entsprechende Ausbildung und Erfahrung.
Ich tippte auf einen Angehörigen oder Veteranen einer militärischen Spezialeinheit. Das Motiv lag im Dunklen. Da über Ellingtons Privatleben so gut wie nichts bekannt war, mussten wir sein gesamtes Leben aufrollen.
»Wo ist Ellingtons Management?«, fragte Phil. »Er wird nicht allein zu seinem Konzert gekommen sein.«
»Der Manager von Mister Ellington sitzt in der Garderobe und ist völlig am Boden zerstört«, antwortete der Direktor der Carnegie Hall. »Dabei sind noch der persönliche Assistent Max Tanner und Rita Graven, die Sekretärin.«
»Veranlassen Sie, dass uns die Herrschaften zur Verfügung stehen«, bat Mr. High.
»Das habe ich bereits getan. Sie sind im Haus und warten. Bitte, klären Sie diesen Mord so rasch als möglich auf«, sagte der Direktor. »Mister Ellingtons gewaltsamer Tod ist nicht nur ein schwerer Schlag für die internationale Musikwelt. Auch der Imageschaden für unser Haus ist enorm.«
»Wir tun, was in unserer Macht steht«, versuchte ich, ihn zu beruhigen.
Inzwischen waren Steve Dillaggio und Zeerookah bereits in der Carnegie Hall eingetroffen und auf dem Weg in die Garderobe. Joe Brandenburg und Les Bedell suchten vor der Konzerthalle unter den Besuchern nach eventuellen Zeugen.
Eine erste Bilanz der Massenpanik offenbarte eine Menge an Leicht- und etliche Schwerverletzte. Zum Glück kein weiteres Todesopfer. Die Rettungsteams hatten alle Hände voll zu tun, die Menschen zu versorgen und in die Krankenhäuser einzuliefern.
Die gründliche Durchsuchung des Hauses vom Keller bis zum Dachboden ergab keinerlei verwertbare Spuren. Das Handy des Direktors klingelte, als wir auf dem Weg hinauf zu den Räumen über dem fünften Rang waren.
»Entschuldigung, mein Sekretariat.« Er nahm das Gespräch an, das nur kurz dauerte. »Ich muss vor die Presse treten und eine Erklärung abgeben. Die Telefone in meinem Büro stehen nicht mehr still.«
»Die Journalisten bekommen früh genug ihre Schlagzeilen«, sagte Mr. High ruhig. »Sie kennen Ihr Haus. Wir brauchen Sie.«
Seufzend fügte sich der Direktor in sein Schicksal. Eine Leiche auf der Bühne, das FBI im Haus und draußen die lauernde Pressemeute. Dazu das angeschlagene Ansehen des Hauses und der finanzielle Verlust. Vielleicht noch Millionenklagen von Ellingtons Management und von Besuchern wegen mangelnder Sicherheitsvorkehrungen. Er dachte sicher darüber nach, dass sich bereits einige Staranwälte die Hände rieben.
In den Technikräumen über dem fünften Rang war auf den ersten Blick nichts Verdächtiges zu erkennen. Phil und ich gelangten zu der Überzeugung, dass von den zwölf Örtlichkeiten nur die erste infrage kam. Das stimmte mit der Schussrichtung überein. Doch wir mussten das Ergebnis der Ballistiker abwarten.
»Neben der Scheinwerferkanone kann man unbemerkt mit einem Gewehr auf die Bühne zielen«, meinte ich. »Und mit aufgeschraubten Schalldämpfer merkte niemand, dass abgedrückt wurde. Alle Räume müssen penibel auf Fingerprints und DNA überprüft werden.«
»Die Waffe wurde zerlegt hereingeschmuggelt«, sagte Phil. »Alles andere wäre aufgefallen.«
»Wer hat Zutritt zu diesem Raum?«, wollte ich wissen.
»Warren Johns, einer unserer Beleuchter«, antwortete der Direktor. »Das ist sein Arbeitsplatz. Heute Abend kam er nicht zum Einsatz. Sein Scheinwerfer wurde nicht gebraucht. Mister Ellington bestand auf sehr spartanisches Bühnenlicht. Nur er und der Konzertflügel durften ausgeleuchtet sein.«
»Mister Johns verfügt über den Schlüssel für diesen Raum?«, vergewisserte sich Phil.
»Natürlich, Agent Decker«, lautete die Antwort des Direktors.
»Der Schlüssel bleibt im Haus.«
»Selbstverständlich, Agent Decker.«
»Wer hat noch Zutritt zu diesem und zu den anderen Räumen?«, fragte ich.
»Das gesamte Technikpersonal, Agent Cotton.«
»War Mister Johns heute Abend im Haus?«
»Nein, Agent Cotton. Er hatte frei.«
»Wir brauchen eine Liste sämtlicher Beschäftigter«, sagte ich. »Mit sämtlichen Daten, Tag der Einstellung und so weiter. Wer in letzter Zeit kündigte oder gehen musste. Sämtliche Neueinstellungen. Bitte so rasch wie möglich.«
»Selbstverständlich«, sagte der Direktor geknickt. »Ich gebe sofort der Personalabteilung die Anweisung.«
»Ein Komplize muss dem Mörder geholfen haben«, war ich der festen Überzeugung.
»Sie denken doch nicht, dass Mister Johns etwas damit zu tun hat!« Der Direktor wurde plötzlich aschfahl im Gesicht.
»Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte ich. »Fakt bleibt, dass hier irgendwo eine Waffe deponiert worden war. Der Attentäter konnte nicht mit der Waffe durch das Publikum ungesehen heraufsteigen.«
Ich sah mich um und überlegte, wie der Täter unauffällig nach dem Schuss hatte verschwinden können. Sicher ließ er nicht die Tatwaffe zurück. Ich trat hinaus in den Flur, wo die Technikräume eng aneinander lagen. Dann entdeckte ich den Deckel für einen Ausstieg an der Decke.
»Diese Luke führt in den Dachboden, nehme ich an«, sagte ich.
»Ja«, bestätigte der Direktor. »Aber er wurde bereits von Ihren Leuten durchsucht, Agent Cotton.«
Damit gab ich mich nicht zufrieden. »Wie komme ich hinauf?«
»Mittels einer Stange«, erklärte der Direktor. »Sie wird, wenn Sie genau schauen, Agent Cotton, in die Öse eingehängt, der Lukendeckel heruntergezogen. Eine kleine Treppe klappt sich auf. Oben lässt sich die Treppe hochziehen, und mit einer weiteren Stange, die im Dachboden an einem Pfeiler lehnt, kann man die Luke wieder verschließen.«
»Das möchten wir sehen«, sagte Phil. »Seien Sie so nett.«
»Selbstverständlich, Gentlemen.«
Der Direktor orderte über die Sprechanlage einen Hausarbeiter. Während Phil und ich warteten, versuchten wir, uns in den Mörder hineinzuversetzen.
»Der Mord war erledigt«, meinte Phil. »Wie konnte der Täter unerkannt flüchten? Gehen wir davon aus, Jerry, er schoss mit einem Gewehr. Ziemlich hinderlich auf einer Flucht. Zurücklassen konnte er die Tatwaffe nicht, zu verräterisch.«
»Dann ist er durch ein Dachfenster hinaus aufs Dach gestiegen«, setzte ich den Gedankengang fort. »Und anschließend über die Dächer der angrenzenden Häuser verschwunden.«
»Mit anderen Worten«, fuhr Phil fort, »der Killer musste zumindest über einen Mitwisser verfügt haben.«
»Meine Leute sind integer«, protestierte der Direktor. »Für sie lege ich meine Hand ins Feuer.«
»Es ist nur ein Ermittlungsansatz«, beruhigte ich den Mann. »Wir müssen sämtliche Möglichkeiten ausloten.«
Der Hausarbeiter öffnete mit der Stange die Luke, und die Treppe klappte auseinander. Nacheinander stiegen Phil und ich auf den Dachboden. Mit meiner Taschenlampe leuchtete ich in das Gewirr von Holzbalken, Stützen, Pfosten und Brettern. Einige durch den Lichtkegel aufgescheuchte Tauben flatterten aufgeregt herum. Heute Nacht wurden sie bereits zum zweiten Mal gestört.
»Sieh mal.« Phil deutete auf ein offenes Dachfenster.
»Das wäre eine Fluchtmöglichkeit«, sagte ich.
»Wie schaffte es der Mörder, danach wieder auf festen Boden zu gelangen? Über dem Gebäude kreisten Polizeihubschrauber mit eingeschalteten starken Suchscheinwerfern. Unweigerlich wäre er in deren Visier geraten.«
»Wir verschwinden wieder, Phil, und lassen den Dachboden noch einmal durchkämmen. Ebenso das Dach und die angrenzenden Dächer.«
Phil und ich kehrten zurück in den fünften Rang. Ich zog Mr. High beiseite und unterrichtete ihn über unsere Wahrnehmungen.
»Es ist noch nicht betätigt«, meinte der Chef, »dass der Schuss tatsächlich aus einem Gewehr stammte. Ebenso gut könnte ein Meisterschütze mit einer Pistole abgedrückt haben. Wurde das schon in Erwägung gezogen, Jerry?«
»Nein, Sir«, musste ich zugeben. Phil und ich hatten uns zu sehr auf ein Scharfschützengewehr konzentriert. »Dann musste es ein wahrer Kunstschütze gewesen sein. Einer mit Spezialausbildung. Sollte das tatsächlich so gewesen sein, hätte der Täter seine Waffe eingesteckt und wäre unerkannt mit dem Strom der Leute nach außen abgetaucht.«
»Trotzdem dürfen wir einen eventuellen Komplizen nicht aus den Augen verlieren«, überlegte Phil laut. »Die Technikräume sind alle abgesperrt. Der Mörder musste über einen Schlüssel verfügt haben. Kein einziges Schloss ist aufgebrochen.«
»Gentlemen«, wandte sich Mr. High an uns, »Sie haben die Lage im Griff. Momentan gibt es hier nichts für mich zu tun. Daher fahre ich zurück ins Büro.«
»Darf ich mich Ihnen anschließen, Sir?«, fragte Iris McLane. »Nehmen Sie mich mit?«
»Natürlich.«
»Mir spukt eine Idee im Kopf herum«, meinte die Psychologin, spezialisiert auf schwere Dissoziationsstörungen. Sie galt auf diesem Gebiet als ausgesprochene Koryphäe.
»Dürfen wir deinen Geistesblitz erfahren?«, erkundigte sich Phil.
»Nur wenn er sich als Volltreffer entpuppt«, konterte Iris. Sie war für schlagfertige Bonmots bekannt.
Phil und ich widmeten uns Samuel Ellingtons Management. Im Backstagebereich trafen wir Steve Dillaggio und Zeerookah.
»Wie sieht es aus, Steve?«, fragt ich. »Wer ist in der Garderobe?«
»Der Manager Cesar Hoover, Ellingtons Sekretärin Rita Graven und sein Assistent Max Tanner. Natürlich völlig fertig. Kein Wunder, wenn die Quelle nicht mehr sprudelt.«
Typisch Steves trockener Humor.
»Ellington trat in den letzten Jahren nur sporadisch auf«, sagte Phil. »Sicherlich kassierte er hohe Gagen. Wahrscheinlich führte er einen entsprechenden Lebensstil. Wie finanzierte er sein Leben zwischen den langen Pausen?«
»Das haben wir Hoover schon gefragt«, antwortete Zeerookah. Steves Partner, ein Cherokee, war selbst zu dieser späten Stunde tadellos gekleidet. Schließlich musste er sein Image als bestgekleideter G-man in New York verteidigen. »Durch Verkäufe seiner CD- und DVD-Aufnahmen. Ellington hielt sich international stets auf den ersten Plätzen in den Klassikcharts. Da fließen die Tantiemen. Nach seinem Tod werden die Verkäufe sicherlich abermals durch die Decke gehen.«
»Eine Aufzeichnung in der Carnegie Hall war nicht geplant?«, wollte ich wissen.
»Nein, Jerry«, klärte Steve mich auf. »Ellington wollte nicht. Wahrscheinlich eine seiner Launen.«
»Sicherlich wäre ein Haufen Geld herausgesprungen«, sagte ich.
»Wahrscheinlich war Ellington nicht darauf angewiesen, Jerry«, vermutete Phil.
Mit enttäuschten Gesichtern stießen Joe Brandenburg und Les Bedell zu uns.
»Wir haben alle befragt«, berichtete Joe und schnaufte, »die wie Konzertbesucher ausgesehen haben.«
»Negativ«, bestätigte Les. »Niemand sah oder bemerkte etwas Verdächtiges.«