1,99 €
Er betrachtete seine Fingernägel, als gäbe es nichts Interessanteres auf der Welt. Ein heimlicher Beobachter hätte glauben können, dass er sein Gegenüber ignorierte. Doch seine vermeintliche Unhöflichkeit war tatsächlich ein Tick. Es fiel ihm schwer, Menschen in die Augen zu sehen. Deshalb bevorzugte er es, irgendwo anders hinzuschauen, wenn er mit jemandem ein Gespräch führte. So wie jetzt.
"Ich freue mich, wieder für Sie arbeiten zu dürfen", sagte er. "Das letzte Mal ist so lange her, dass ich mich kaum daran erinnere."
"Ich dagegen erinnere mich sehr gut. Sie haben Ihre Aufgabe glänzend gemeistert. So wie Sie es auch dieses Mal tun werden."
Ein Lächeln kerbte sich in seine Mundwinkel. "Das ist selbstverständlich. Ich könnte es mir nicht verzeihen, wenn Sie Anlass hätten, sich über meine Arbeit zu beklagen."
Sein Lächeln wurde erwidert. "Dann erkläre ich Ihnen jetzt, worum es geht. Ich wurde verraten. Darauf steht der Tod."
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 147
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Madame Marble und das Callgirl
Vorschau
Impressum
Madame Marble und das Callgirl
Er betrachtete seine Fingernägel, als gäbe es nichts Interessanteres auf der Welt. Ein heimlicher Beobachter hätte glauben können, dass er sein Gegenüber ignorierte. Doch seine vermeintliche Unhöflichkeit war tatsächlich ein Tick. Es fiel ihm schwer, Menschen in die Augen zu sehen. Deshalb bevorzugte er es, irgendwo anders hinzuschauen, wenn er mit jemandem ein Gespräch führte. So wie jetzt.
»Ich freue mich, wieder für Sie arbeiten zu dürfen«, sagte er. »Das letzte Mal ist so lange her, dass ich mich kaum daran erinnere.«
»Ich dagegen erinnere mich sehr gut. Sie haben Ihre Aufgabe glänzend gemeistert. So wie Sie es auch dieses Mal tun werden.«
Ein Lächeln kerbte sich in seine Mundwinkel. »Das ist selbstverständlich. Ich könnte es mir nicht verzeihen, wenn Sie Anlass hätten, sich über meine Arbeit zu beklagen.«
Sein Lächeln wurde erwidert. »Dann erkläre ich Ihnen jetzt, worum es geht. Ich wurde verraten. Darauf steht der Tod.«
»Der Typ und sein Gequassel sind echt anstrengend. Ich glaube, der hält sich für einen Liebesgott oder so was.«
Mit geschickten Fingern schloss Savanna Doyle den Verschluss ihres Büstenhalters. Prüfend begutachtete sie sich in dem beinahe sechs Fuß hohen und fast ein Yard breiten Spiegel. Sie hatte noch nie einen so riesigen Spiegel in einem Badezimmer gesehen, das kannte sie nur aus den Ankleiden in den Modeläden. Und das war nicht das einzige Ungewöhnliche. Das Bad, beinahe so groß wie ihr gesamtes Apartment, hatte zwei Türen. Eine führte ins Wohnzimmer, die andere ins Schlafzimmer. Ihr Kunde, der dort auf dem Bett lag und auf ihre Rückkehr wartete, schien einen Sinn fürs Extravagante zu haben.
»Ganz deiner Meinung. Da ist mal wieder jeder Dollar hart verdient. Im Wortsinn«, erwiderte Phoebe Miller und kicherte. Ihre Kollegin stand in einem roten, durchsichtigen Negligé vor einem weitaus kleineren Wandspiegel über dem Handwaschbecken und frischte mit routinierten Handgriffen ihr Make-up auf.
Savanna ließ den Blick über ihren Körper wandern. Sie war zufrieden mit dem, was sie sah. Sie trieb viel Sport, joggte regelmäßig und machte Gymnastik. Max lieh ihr außerdem seine Hanteln, wann immer sie damit trainieren wollte. Der Lohn aller Mühen war ihre schlanke, athletische Figur, auf die so manch andere Siebenundzwanzigjährige neidisch gewesen wäre. Mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand strich sie über den transparenten schwarzen Büstenhalter und den gleichfarbigen Slip. Der Stoff fühlte sich gut an, weich und seidig. Teuer genug waren die Teile gewesen, aber die Jungs standen drauf.
»Bist du fertig?«, fragte sie.
»Gleich«, antwortete Phoebe und griff nach ihrem Lippenstift. »Mister Staatsanwalt ist eh noch nicht bereit für die zweite Runde, wenn du mich fragst. Schätze, er muss sich erst von seinem eigenen Gelaber erholen. Das ständige Gequatsche darüber, was für ein toller Typ er ist, muss doch anstrengend sein.«
Savanna schmunzelte. »Da wäre ich mir nicht so sicher. Ich hatte den Eindruck, er hätte am liebsten sofort weitergemacht.«
»Keine Chance. Wenn ich mich danach nicht frischmachen kann, geht bei mir gar nichts mehr. Ist privat genauso.«
»Echt? Auch privat? Du lässt den Typen im Bett liegen und springst erst mal unter die Dusche?«
»Na und ob. Wobei ich daheim nicht so eine abgefahrene Dusche habe wie unser Mister Staatsanwalt. Ich liebe es, wenn man die Dinger einstellen kann. Eine Regenwasserdusche ist das Beste, was es gibt, das sage ich dir. Meinst du, er merkt es, wenn ich den Duschkopf abmontiere und mitgehen lasse?«
Savanna schlug die Hand vor den Mund, weil sie sonst hätte losprusten müssen. Meistens arbeitete sie allein, aber wenn sie zu zweit gebucht wurden, freute sie sich immer, wenn Phoebe mit von der Partie war. Das kam zum Glück häufig vor, was wohl daran lag, dass sie sich optisch gut ergänzten. Savanna hatte schwarze Haare und einen dunklen Teint, der ihre italienische Abstammung verriet. Phoebe dagegen war blond und hatte eine helle, beinahe weiße Haut. Eine Blondine und eine Schwarzhaarige gleichzeitig im Bett zu haben, schien der Traum vieler Männer zu sein.
Im Laufe der vergangenen anderthalb Jahre hatten sie bestimmt ein Dutzend Mal zusammengearbeitet und sich dabei angefreundet. Inzwischen unternahmen sie auch privat öfter etwas zusammen, gingen ins Kino, essen oder einfach in eine Bar. Phoebe war selbstbewusst, witzig und schlagfertig und damit so ganz anders als sie selbst, die eher schüchtern und zurückhaltend war. Wenn sie bei einem Kunden vor der Tür stand, musste sie wie eine Schauspielerin in die Rolle der Verführerin schlüpfen, um überhaupt ein Wort rauszukriegen. Die meisten Männer waren zum Glück nett zu ihr. Einige wenige jedoch waren echte Arschlöcher.
Bei Mister Staatsanwalt war sie sich noch nicht sicher, in welche Kategorie sie ihn einordnen sollte, tendierte aber zur zweiten. Mittendrin hatte er sie einmal so merkwürdig angeschaut. Irgendwie herablassend.
»Okay, jetzt passt alles«, verkündete Phoebe und verstaute ihre Utensilien in ihrem orangefarbenen Make-up-Täschchen, das sie stets mit sich führte. »Bist du bereit für Runde zwei, meine Liebe?«
Savanna verdrehte die Augen. »Ich glaube, ich mag den Kerl nicht.«
»Ich weiß, was du meinst. Das ist einer von denen, die glauben, sie wären etwas Besseres als wir. Jede Wette, dass es ihn antörnt, es mit zwei Frauen zu treiben, die in seinen Augen direkt aus der Gosse in sein schickes Apartment reingeschneit sind. Aber seine Dollars sind deshalb nicht weniger wert. Habe ich recht, oder habe ich recht?«
»Du hast recht«, antwortete sie und musste grinsen. Phoebe verstand es, die Dinge auf den Punkt zu bringen.
Sie zwinkerte ihr zu. »Gehen wir danach einen trinken?«
»Nur wenn er nicht noch eine dritte Runde will. Das schlaucht immer so.«
»Oder etwas Spezielles, weswegen ich danach nicht mehr auf einem Barhocker sitzen könnte.«
Diesmal konnte Savanna nicht verhindern, dass sie losprustete. Leise kichernd standen sie sich gegenüber und hielten sich dabei an den Schultern.
»Verdammt, was soll das?«
Schlagartig verstummten sie. Das war die Stimme von Mister Staatsanwalt gewesen. Im ersten Moment dachte Savanna, dass er ihr Gekicher mitbekommen hatte und sich darüber ärgerte, weil er – nicht zu Unrecht – glaubte, dass sie sich über ihn lustig machten. Dann hörte sie seine nächsten Worte.
»Nehmen Sie die Waffe runter, zum Teufel.«
Savanna erstarrte.
»Da ist jemand«, flüsterte Phoebe.
Mit zwei Schritten war Savanna an der nur angelehnten Tür zum Schlafzimmer. Mit angehaltenem Atem lugte sie durch den Spalt. Mister Staatsanwalt stand nackt und mit erhobenen Händen vor seinem riesigen, mit anthrazitfarbener Seide bezogenem Bett. Vor ihm hatte sich ein Mann in einem schwarzen Mantel aufgebaut und wandte ihr den Rücken zu. Seine Haare waren grau und kurz geschnitten.
Mister Staatsanwalt funkelte ihn wütend an. »Ich habe gesagt ...«
Der gedämpfte Knall schnitt ihm das Wort ab. Auf seiner Brust erschien ein roter Fleck. Als hätte ihm der Eindringling einen Schlag versetzt, wurde er zurückgeworfen und fiel rücklings aufs Bett. Savanna schlug die Hand vor den Mund.
Der Grauhaarige trat neben Mister Staatsanwalt. In der behandschuhten Hand hielt er eine schwarz glänzende Pistole mit einem langen, dicken Lauf. Ein Schalldämpfer, schoss es ihr durch den Kopf. Hatten die Killer in den Filmen nicht immer so ein Ding bei sich?
Aber das hier war kein Film.
Mister Staatsanwalt stieß röchelnde Geräusche aus, hob eine Hand und fuchtelte damit herum, als wollte er den Grauhaarigen abwehren. Der hob ungerührt die Pistole und richtete sie auf seine Stirn. Es knallte ein zweites Mal. Sein Körper zuckte noch einmal, dann lag er still.
»Was ist da los?«, flüsterte Phoebe hinter ihr.
Savanna hob eine Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. Der Grauhaarige hatte ihren Kunden ermordet. Und sie hatte alles gesehen. Wenn er sie entdeckte ...
Sie beobachtete, wie er in aller Ruhe den Schalldämpfer abschraubte und ihn samt der Waffe in seinem Mantel verschwinden ließ. Dabei ruhte sein Blick auf der Leiche, als wollte er sichergehen, dass sie nicht wieder zum Leben erwachte. Ihr fiel auf, dass an seinem linken Ohrläppchen ein Stück fehlte, als wäre es abgeschnitten worden. Dann wandte er sich zum Gehen – und hielt inne. Er ging auf die andere Seite des Betts, blieb am Kopfende stehen und griff nach etwas, das auf dem Kissen lag.
Savanna hatte das Gefühl, als hätte jemand einen Kübel mit Eiswasser über ihr ausgegossen. Der Killer hielt einen ihrer halterlosen schwarzen Strümpfe in der Hand. Mister Staatsanwalt hatte von ihnen verlangt, dass sie durch das Wohnzimmer ins Bad liefen, sich dort bis auf die Unterwäsche auszogen und im Schlafzimmer wieder herauskamen – wie Schauspielerinnen, die erst in die Garderobe gingen, um kurz darauf in einem prächtigen Kostüm auf der Bühne zu erscheinen. Dann hatte er ihnen genüsslich den Stoff vom Leib geschält. Als sie sich später wieder angezogen hatten, hatte sie die Strümpfe auf dem Bett liegen lassen.
Dummer Fehler.
Der Grauhaarige sah sich prüfend um.
Savanna zuckte zurück. Phoebe starrte sie an. Eine Mischung aus Furcht und Neugier lag in ihrem Blick.
»Sagst du mir jetzt ...?«
Savanna legte ihr die Hand auf den Mund.
»Wir müssen verschwinden«, hauchte sie mit zitternder Stimme. »Der Kerl hat ihn erschossen.«
Phoebe blinzelte verwirrt. In der nächsten Sekunde war die Botschaft bei ihr angekommen. Sie griff nach ihren Sachen, die sie auf einem Schränkchen neben der Dusche drapiert hatte. Savanna klaubte hastig ihre Jeans, ihre Jacke und ihre Stiefel zusammen, die zerstreut auf dem Fußboden lagen. Dann drängte sie sich an Phoebe vorbei zur Tür ins Wohnzimmer und drehte am Knauf. Mit einem leisen Knarren schwang sie auf. Eine Stehlampe tauchte den Raum in gedämpftes Licht. Ihr Blick glitt über die große weiße Ledercouch. Neben der Couch befand sich die Tür zum Hausflur.
Hinter ihr näherten sich Schritte. Der Mörder. Er wollte im Bad nachsehen. Plötzlich war sie wie gelähmt. Sie wollte loslaufen, doch ihre Beine schienen den Dienst eingestellt zu haben.
Phoebe packte sie am Arm und zog sie mit sich. Auf nackten Füßen tappten sie lautlos durchs Wohnzimmer. Jeden Moment erwartete sie den Knall eines Schusses und den Schlag, wenn die Kugel ihren Rücken traf, aber beides blieb aus. Dann waren sie an der Tür. Phoebe riss sie auf, und im nächsten Moment spurteten sie zum Aufzug. Während sie nach unten fuhren, stiegen sie hektisch in ihre Klamotten.
Als sich im Erdgeschoss die schwere Stahltür öffnete, schossen sie förmlich aus der Kabine, rannten auf die Straße und dann immer weiter, ohne sich noch einmal umzuschauen.
»Guten Morgen, Agents«, begrüßte Mr. High uns und forderte uns mit einer Geste auf, Platz zu nehmen.
Phil und ich ließen uns auf die Stühle vor seinem Schreibtisch nieder. Mit ernster Miene blätterte unser Chef in einer dünnen Akte.
»Wenn Sie Kaffee möchten, muss ich Sie enttäuschen. Helen hat Urlaub«, informierte er uns.
»Das haben wir schon mitbekommen, Sir«, erwiderte Phil. »Wir haben uns mit zwei Bechern aus dem Automaten getröstet. Ich frage mich schon seit Längerem, mit welchem Recht diese Firma ihre braune Plörre Kaffee nennt. Die hat nie im Leben auch nur eine Bohne gesehen.«
»Das können Sie bei Gelegenheit gerne ermitteln, Phil. Aber vorher habe ich einen anderen Fall für Sie. Kenneth Brandon wurde gestern in seinem Apartment in Midtown mit zwei Schüssen in die Brust und in den Kopf getötet. Seine Putzfrau hat ihn im Schlafzimmer gefunden. Sagt Ihnen der Name etwas?«
Wir schüttelten die Köpfe.
»Brandon hat im Büro des Staatsanwalts gearbeitet. Ein sehr tüchtiger und akribischer Mann, so beschreibt ihn jedenfalls sein Vorgesetzter. Brandon war jemand, der Karriere machen wollte, er hat ihn ›schlimmer als einen Pitbull‹ genannt. Wenn er sich in einen Fall verbissen hatte, ließ er nicht mehr los, nahm jedes Detail akribisch unter die Lupe, immer auf der Suche nach dem entscheidenden Hinweis. Ein Ermittler wie aus dem Bilderbuch. Bei seinen Kollegen war er allerdings nicht besonders beliebt. Offenbar neigte er zur Arroganz.«
»Könnte seine Ermordung etwas mit einem seiner aktuellen Fälle zu tun haben?«, fragte ich.
»Der Verdacht ist natürlich naheliegend, Jerry. Ein Raubmord scheint außerdem ausgeschlossen. Seine Brieftasche lag zwar aufgeklappt neben dem Bett, aber seine Kreditkarte und über tausend Dollar in bar waren noch drin. Ich habe mir eine Übersicht der Fälle kommen lassen, an denen er zuletzt gearbeitet hat. Eine Sache finde ich besonders vielversprechend. Es geht um einen Drogenfund in einem Lagerhaus in Harlem. Die Verdächtige ist eine gute Bekannte von Ihnen. Sie erinnern sich ganz bestimmt an Madame Mona Marble.«*
Phil und ich wechselten einen Blick. Unsere Begegnung mit der Grande Dame der New Yorker Unterwelt lag nicht lange zurück. Damals war es um den Raub einer wertvollen Inkastatue gegangen. Wir hatten die Statue zwar wiederbeschaffen und den Fall aufklären können, jedoch hatte es einen großen Wermutstropfen gegeben. Wir waren davon überzeugt, dass Madame Marble bei diesem Fall ihre Finger im Spiel gehabt hatte. Nur konnten wir ihr nichts nachweisen, und so befand sie sich weiter auf freiem Fuß und saß in ihrer Villa auf der Upper East Side. Vor meinem geistigen Auge sah ich ihr Bild vor mir. Trotz ihrer über sechzig Jahre war die große, schlanke Frau mit den grauen Haaren eine eindrucksvolle, vitale Erscheinung. Ihr kühler, durchdringender Blick war mir besonders in Erinnerung geblieben.
»Worum genau geht es dabei?«, wollte ich wissen.
»Nach Informationen der Drogenfahnder vom NYPD ist vor etwa drei Wochen eine größere Menge Heroin in New York eingetroffen. Eine halbe Tonne von dem Zeug wurde in dem besagten, ansonsten leer stehenden Lagerhaus gefunden. Das Gebäude befand sich bis vor Kurzem im Besitz von Madame Marble.«
»Es befand sich in ihrem Besitz?«, hakte Phil nach.
»Sie behauptet, es verkauft zu haben. Der angebliche Käufer, ein Immobilienhändler, befindet sich derzeit in Europa und konnte noch nicht befragt werden. Allerdings kehrt er diese Woche nach New York zurück. Alle Informationen und die Kontaktdaten des Detectives, der in dem Fall ermittelt, finden Sie auf Ihren Computern. Ich habe Ihnen die Dateien zukommen lassen, während Sie auf dem Weg hierher waren. Wenn jemand nicht davor zurückschrecken würde, einen Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft zu ermorden, dann Madame Marble. Brandon war wohl von ihrer Schuld überzeugt.«
»Ob sie einen ihrer Killer auf ihn angesetzt hat?«, warf Phil ein. »Einen ihrer legendären Mörder?«
Mr. High wiegte den Kopf. »Die womöglich nur eine Legende sind, wie Sie wissen.«
Mein Partner spielte auf die geheimnisvollen Killer an, die Madame Marble angeblich nur für besondere Fälle anheuerte. Sie sollten Meister ihres Fachs sein und allesamt im Ausland leben. Nur wusste niemand, ob sie tatsächlich existierten. Bei unserer Jagd nach der Inkastatue hatte ich einen Mann erschossen, der uns angegriffen hatte. Seine Identität hatte bis heute nicht geklärt werden können. Möglich, dass er einer von ihnen gewesen war.
»Da ist noch etwas«, fuhr Mr. High fort. »In einem Papierkorb in Brandons Schlafzimmer befanden sich zwei benutzte Kondome. Brandon war nackt, und auf dem Bett lagen schwarze Damenstrümpfe.«
»Dann hatte er kurz vor seinem Tod Besuch«, vermutete ich.
Mr. High nickte. »Dafür spricht auch, dass die Crime Scene Unit im Badezimmer ein orangefarbenes Schminktäschchen gefunden hat, das kaum ihm selbst gehört haben dürfte. Im Bad waren außerdem an mehreren Stellen Fingerabdrücke von mindestens zwei weiteren Personen.«
Phil stieß einen leisen Pfiff aus. »Ein professioneller Killer hätte bestimmt keine Fingerabdrücke hinterlassen.«
»Da bin ich ganz Ihrer Meinung, Phil. Möglich, dass Brandon nicht nur eine, sondern zwei Frauen zu Besuch hatte. In unseren Datenbanken gab es leider keine Treffer. Die Kollegen checken die Kondome gerade auf genetisches Material.«
»War Brandon verheiratet, oder hatte er eine Freundin?«, fragte ich.
»Das wissen wir nicht genau. Was sein Privatleben angeht, hat er sich seinen Kollegen gegenüber sehr bedeckt gehalten. Allerdings gibt es eine Ex-Frau. Ihr Name ist Alicia Hagen, sie arbeitet als Journalistin für ein Modemagazin. Vor einem knappen Jahr hat sie sich von ihm scheiden lassen. Sie sollten sich mit ihr unterhalten. Es wäre ja möglich, dass sie noch Kontakt zu ihm hatte und über seine Bekanntschaften auf dem Laufenden ist. Wer immer bei ihm zu Besuch war, hat vielleicht etwas beobachtet. Es wäre denkbar, dass sie dem Killer begegnet ist, als sie das Apartment verlassen hat. Das Türschloss wurde manipuliert, Brandon hat seinen Mörder also nicht selbst hereingelassen.«
»Als Erstes sollten wir uns mit Madame Marble unterhalten«, schlug ich vor. »Auch wenn ich wenig Hoffnung habe, dass uns das auch nur einen Inch weiterbringt.«
Phil seufzte. »Daran kommen wir wohl nicht vorbei, Jerry.«
Max Bishop starrte aus dem Wohnzimmerfenster. Sechs Stockwerke unter ihm herrschte auf dem Bürgersteig das um diese Uhrzeit übliche Gewimmel. Es war später Nachmittag. Die New Yorker hatten ihre Büros verlassen und waren auf dem Nachhauseweg. Seine Augen hefteten sich an eine Blondine in einem grauen Kostüm, die einen blauen Rucksack auf dem Rücken trug. Er hätte nicht sagen können, warum gerade sie seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Er beobachtete einfach gerne Menschen, verfolgte sie mit seinen Blicken und studierte ihre Bewegungen. Wahrscheinlich ein Überbleibsel aus seiner Zeit beim Militär. Beobachten hatte damals lebensrettend sein können.
Die Blondine bog um die Ecke und verschwand aus seinem Blickfeld. Wo lebte sie? Was erwartete sie zu Hause? War sie ein glücklicher Mensch? Oder litt sie an Depressionen? Hatte sie einen Job, der sie erfüllte? Oder hasste sie ihn und hätte lieber heute als morgen gekündigt? So viele Fragen, auf die er nie eine Antwort bekommen würde. Er hatte nur einen winzigen Ausschnitt aus ihrem Leben erhascht, nicht mehr als eine Momentaufnahme.
Das Bild vor seinen Augen verschwamm. Ein dumpfer Schmerz breitete sich hinter seiner Stirn aus. Wie so oft, wenn er über etwas zu lange nachgrübelte. Er vertrieb die Blondine aus seinem Kopf, löschte sie auf seiner persönlichen Festplatte und starrte wieder aus dem Fenster, ohne die Passanten auf der Straße wahrzunehmen. Regen hatte eingesetzt und sprenkelte den Asphalt mit dunklen Flecken. Das Bild wurde bald klarer, und der Schmerz ebbte so schnell ab, wie er gekommen war. So war es besser. Viel besser.