1,99 €
Unsere Profilerin Dr. Iris McLane und ich sollten für ein paar Wochen an der FBI-Akademie in Quantico einspringen. Ein Unfall hatte zwei der dortigen Lehrkräfte aus dem Leben gerissen. Bald stellte sich heraus, dass es sich um ein Attentat gehandelt hatte und Rekruten der Akademie in die Morde verwickelt waren. Widerwillig mussten wir uns eingestehen, dass unsere alte Ausbildungsstätte von Rechtsextremisten unterwandert war. Wir recherchierten, kamen aber nicht recht weiter, bis Agent Susan Tyler von der National Security Branch uns in ihre Ermittlungen einweihte, die die gesamten USA betrafen. Gemeinsam setzten wir alles daran, ein Horrorszenario zu verhindern!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 137
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Schlangennest Quantico
Vorschau
Impressum
Schlangennest Quantico
Er bog auf den Jefferson Davies Highway ein und sah aus dem Fenster zum Quantico Creek. Die Abendsonne warf ihr rotes Licht auf den Potomac River, der Fahrtwind kühlte seine heiße Stirn. Trotzdem lief ihm der Schweiß in Sturzbächen den Rücken hinunter, seine Hände krampften sich um das Lenkrad des Tanklastzugs. Nervös starrte er auf die Gegenfahrbahn, wo der Feierabendverkehr ihm entgegenrollte.
»Ein roter Hyundai Tucson SUV mit einem Weißkopfadler auf der Motorhaube und einem defekten linken Vorderlicht. Nicht zu übersehen«, hatte man ihm gesagt. »Es muss heute Abend sein. Morgen ist es zu spät.«
Er hätte nie gedacht, dass er das Versprechen, das er seinen Kameraden gegeben hatte, so schnell würde einlösen dürfen. Keine fünf Minuten und er würde in Walhall aufwachen, an der Tafel der Auserwählten, die ihr Leben für ihr Land gelassen hatten. Für ihre Nation, die am Abgrund stand und die zivilisierte Welt mit sich reißen würde, wenn sie unterging.
Er konnte das verhindern.
Er sah auf der gegenüberliegenden Fahrbahn einen roten Wagen auf sich zukommen, ungefähr eine Meile entfernt, aber gut als SUV erkennbar.
Instinktiv zog er den Laster nach links, wäre fast mit einem Bus voller Hippies kollidiert und konnte das Lenkrad erst in letzter Sekunde wieder herumreißen und die Spur halten.
Wütendes Gehupe hinter ihm lenkte ihn für einen Moment ab, und noch bevor er hätte reagieren können, zog auf der gegenüberliegenden Fahrbahn der rote SUV an ihm vorbei.
Kein Weißkopfadler auf der Motorhaube.
Er schrie auf und schlug mit der Faust gegen die Frontscheibe. Tränen rannen sein Gesicht hinunter. Er zitterte am ganzen Leib.
Er musste sich zusammenreißen und auf die Straße achten.
»Das Schicksal der Nation liegt in euren Händen. Seht zu, dass es starke Hände werden. Erbarmungslose Hände, die die Arbeit machen können, die eure Väter nicht mehr tun konnten, weil man sie daran hinderte, echte, starke Amerikaner zu sein, die das Beste für ihre Familien wollten.«
Die Erinnerung an diese Worte, die er wohl tausendmal in den letzten Monaten gehört hatte, löste eine Welle der Euphorie in ihm aus, ein Gefühl, das nur mit dem zu vergleichen war, wenn sein Vater ihn voller Stolz in den Arm genommen hatte, weil er als Kind einen Homerun geschafft oder einen Fisch gefangen hatte. Das war, bevor sein Leben mit dem Tod des Vaters für immer zerbrochen war an der Erbarmungslosigkeit des Deep State, der seinem Vater erst die Arbeit, dann das Haus und zum Schluss die letzte Lebenskraft genommen und in den Suizid getrieben hatte.
Er wischte die Tränen weg, lachte vor Verzweiflung und Freude gleichzeitig, verlangsamte das Tempo, zog vorsichtig auf die linke Fahrspur und hätte fast den Weißkopfadler verpasst, der auf der Gegenfahrbahn mit mittlerer Geschwindigkeit auf ihn zukam, umkränzt von der Glorie der untergehenden Sonne. Das Licht brach sich im zersplitterten Glas des defekten linken Scheinwerfers.
Kein Gedanke war mehr in seinem Gehirn, nur augenblicklicher Friede und ein Bild von der Festtafel in Walhall, mit Odin an der Spitze, mit dem geflügeltem Helm, die Hunde des Krieges neben seinem Thron, umgarnt von den Walküren.
Dann lenkte er mit einem Aufschrei den Tanklastzug auf die Gegenfahrbahn.
Robert Thompson, ein alter Freund von Mr. High und Direktor der FBI-Akademie in Quantico, hatte darum gebeten, zwei Agents für die Dauer von zwei, vielleicht drei Wochen ausleihen zu dürfen. Zwei Ausbilder waren durch einen schrecklichen Autounfall vor einigen Tagen ums Leben gekommen. Nachfolger wurden schon gesucht. Da die Ausbildung insgesamt nur zehn kurze, aber harte Wochen dauerte, suchte man schnell nach einem Ersatz, bis geeignetes Personal gefunden war. Da ich gerade zu Hause eine schmerzhafte und zum Glück harmlose Verletzung auskurierte und Dr. Iris McLane sowieso für eine Weiterbildung vom regulären Dienst befreit war, tat unser Chef seinem Freund den Gefallen und schickte uns. Ich sollte die jungen Leute im Nahkampftraining ausbilden und unsere Profilerin einen Kurs in Forensik übernehmen.
Am Morgen nachdem wir zugestimmt hatten, erreichten wir Quantico. Obwohl ich nicht zur Nostalgie neige, war es ein seltsames Gefühl, den Ort, den ich vor Jahren als fertiger Agent verlassen hatte, nun als Lehrkörper, wenn auch auf Zeit, wieder zu betreten. Die Gebäude von Quantico inmitten der Basis des US Marine Corps mit ihrer nüchternen Architektur, die Wälder ringsum, die an den Quantico Creek grenzten, die Treppe zum Eingangsgebäude mit dem Schriftzug FBI Academy und der Anblick von Hogan's Alley hinter den Gebäuden, des Trainingsgeländes für taktische Einsätze, brachte so manche Erinnerung hoch.
»Tränen in den Augen?«, flüsterte Iris mir zu, nachdem der junge Mann, der uns auf dem Parkplatz eingewiesen hatte, mit unseren Koffern in beiden Händen vorausging, um uns quer durch das Gebäude zu unseren Zimmern zu bringen.
»Nicht die Spur«, erwiderte ich und machte einen Bogen um das Emblem des FBI, das zwischen vier mächtigen Säulen in den Boden der Halle in der Mitte des Gebäudes eingelassen war. Ich wollte es nicht mit meinen Füßen berühren. »Respekt, würde ich sagen, vielleicht sogar Ehrfurcht. Ich hätte damals, als ich hier anfing, nie gedacht, was da alles auf mich zukommt. Doch ich bereue nichts.«
Iris McLane nickte stumm und deutete auf eine Gruppe junger Rekruten, die gerade draußen vor dem Fenster in Reihe zum Schießstand marschierten.
Ich betrachtete die Gruppe, Männer und Frauen, die sich einem Dienst verschrieben hatten, der ihnen alles abverlangen würde. Einige würden schon in wenigen Tagen freiwillig aufgeben, einige von den Ausbildern nach Hause geschickt werden, aber diejenigen, die durchhielten, hatten das Schwierigste noch vor sich: das Leben, wie es für einen Agent eben war.
Der Rekrut blieb zwischen zwei der Türen stehen und deutete einen militärischen Gruß an, nachdem wir einen längeren Flur mit Dutzenden von Türen betreten hatten. »Ihre Zimmer.«
Ich öffnete eine der Türen und sah hinein. Ein Raum mit einem Fenster, einem Bett, einem Schrank, einem Tisch mit einem Laptop darauf und davor eine braune Mappe mit den Instruktionen, die wir benötigten. Neben dem Bett eine weitere Tür, die, wie ich wusste, in ein Badezimmer führte.
»Wunderbar«, sagte ich und wollte Iris andeuten, dass sie die Wahl hätte, doch meine Kollegin hatte schon ihren Koffer genommen, war im anderen Zimmer verschwunden und sofort wiederaufgetaucht.
»Wann können wir mit Direktor Thompson reden?«, fragte sie den Rekruten.
Die Hand des jungen Mannes flog gestreckt zur Stirn.
»Er erwartet Sie bereits«, sagte er und ging voraus.
»Gut«, meinte ich, schob meinen Koffer ins Zimmer, schloss die Tür und folgte Iris und dem Rekruten. »Sie müssen nicht jedes Mal zusammenzucken, wenn wir miteinander reden. Eine direkte Antwort reicht.«
Der Rekrut drehte sich im Gehen halb zu uns um, wollte schon wieder die Hand zur Stirn reißen, besann sich im letzten Moment, ließ die Hand sinken und lief weiter.
Nachdem wir im Büro des Direktors die grundlegenden Dinge besprochen hatten, kamen wir auf das Thema zu sprechen, das nicht zu umgehen war.
»Eine Tragödie«, meinte Robert Thompson, ein Mann im gleichen Alter wie Mr. High, mit Bauchansatz, einem Bart und Glatze, aber mit scharfen Augen und einer Stimme, die keinen Zweifel daran ließ, dass er genau überlegte, was er als Nächstes sagte. »Mark Smith hinterlässt Frau und Kind. Greg Walker war erst seit einem Jahr bei uns. Beide wohnten außerhalb des Geländes und waren auf dem Weg nach Hause, als es passierte. Ich hoffe, Ihnen macht es nichts aus, dass wir Sie im Trakt mit den Rekruten untergebracht haben.«
Ich deutete mit einer Handbewegung an, dass das unsere geringste Sorge war.
»Wie ist es zu dem Unfall gekommen?«, wollte Iris wissen.
»Der Tanklastzug kam von der Fahrbahn aus der Gegenrichtung und hat sie voll erwischt«, erwiderte Thompson und lehnte sich mit einem Seufzer in seinem Sessel zurück. »Zeugen zufolge war er schon kurz vor dem Unfall ins Schlingern geraten. Die Polizei nimmt an, dass der Fahrer entweder betrunken oder übermüdet gewesen ist. Hinweise auf die genaue Unfallursache ließen sich nicht mehr ermitteln, die Explosion, die der halb gefüllte Tank verursachte, zerfetzte nicht nur den Wagen der Kollegen, sondern noch drei weitere Fahrzeuge derart, dass nicht einmal die Anzahl der Personen, die starben, mit absoluter Genauigkeit zu bestimmen war.«
Thompson beugte sich vor, sah in eine Akte, die auf seinem Tisch lag. Wir ließen ihm Zeit.
»Der Fahrer des Tanklasters war ein gewisser Bob Farmer, Angestellter eines Fuhrunternehmens. Farmer hatte wegen Alkohol am Steuer bereits einmal seinen Führerschein abgeben müssen. Wie der Mann ans Steuer einer fahrenden Bombe gekommen ist, bleibt mir ein Rätsel.«
»Das ist wirklich schlimm«, erwiderte ich. »Auch wenn wir selbst nichts tun können, interessiert uns, wie die Sache weitergeht.«
»Das verstehe ich«, sagte Thompson. »Die örtlichen Polizeibehörden haben ordentlich gearbeitet, konnten aber bisher auch nicht mehr herausfinden. Sobald sich etwas ergibt, werde ich die Information an Sie weiterleiten. Bis dahin bedanke ich mich für Ihren Einsatz bei uns in Quantico und sorge dafür, dass Ihnen alle Unterlagen, die Ihre Kollegen angelegt haben, auf Ihre Zimmer gebracht werden. Ich bin mir sicher, dass wir in ein bis zwei Wochen unser Personalproblem gelöst haben werden.«
Er stand auf, wir erhoben uns ebenfalls. Dabei knickte ich mit dem linken Bein ein, weil mir meine Verletzung immer noch ab und an zu schaffen machte.
»Schlimme Sache?«, fragte Thompson und reichte mir über seinen Schreibtisch hinweg die Hand.
Ich schüttelte den Kopf. »Schusswunde. Hat den Knochen gestreift. Schmerzhaft, zum Glück nicht von Dauer.«
Thompson nickte und reichte Iris die Hand. »Und wenn wir uns nicht mehr sehen sollten, grüßen Sie Mister High von mir. Er schuldet mir noch eine Revanche im Schach. Sagen Sie ihm, ich habe die Figuren schon aufgebaut und putze sie jede Woche einmal, damit sie keinen Staub ansetzen.«
Wir rangen uns alle drei ein Lächeln ab, wohlwissend, dass der eigentliche Anlass unseres Zusammentreffens nicht hätte trauriger sein können. Dann verließen Iris McLane und ich das Büro und machten uns bereit, unseren Unterricht anzutreten.
Nachdem wir den Rest des Tages damit verbracht hatten, so gut es eben ging, die nächsten Tage vorzubereiten, fand am Abend eine Zusammenkunft im Versammlungssaal statt, an dem wir dem Lehrkörper und den Absolventen vorgestellt wurden und noch einmal eine Schweigeminute für die Opfer des Unfalls eingelegt wurde. Während die Anwesenden von ihren Stühlen aufstanden, die Hände falteten und die Köpfe senkten, ließ ich den Blick über die rund zweihundert Rekruten in ihren hellen Hosen und blauen T-Shirts mit dem Emblem des Stützpunkts wandern. Es fanden sich Teilnehmer aus allen Nationalitäten, die dieses großartige Land zu seinen Staatsbürgern versammelte, fast die Hälfte war weiblich. Den meisten sah man an, dass das tragische Ereignis sie immer noch persönlich berührte.
Im Anschluss fand eine Besprechung mit den anderen Dozenten statt, die in einer lockeren Zusammenkunft endete. Einige der älteren Dozenten kannte ich sogar noch, und auch Iris, obwohl älter als ich, konnte ein oder zwei alte Bekanntschaften auffrischen. Besonders gern erinnerte ich mich an den Ausbilder Mike O'Brian, ein irisches Kantholz der alten Schule, breit wie ein Schrank, mit dem Schnauzbart eines Walrosses und Muskeln, die trotz seines fortgeschrittenen Alters immer noch seinen Anzug zu sprengen drohten. Bei ihm hatte ich Häuserkampf und allgemeine Waffentechnik gelernt. Inzwischen kümmerte er sich um die Ausrüstung der Rekruten. Er versprach, mir morgen vor meiner ersten Stunde alle Neuerungen zu zeigen, die es seit meinem Abschluss gegeben hatte.
»Wir haben letztes Jahr ein wenig aufgerüstet«, erzählte O'Brian stolz. »Neben der Bank, dem Hotel und den anderen Gebäuden haben wir hinter dem Areal ein Stück Wald abgeholzt und den Torso einer Boeing 747 und zwei ausrangierte Hubschrauber aufgestellt. Da können wir Flugzeugentführungen und ein paar andere Szenarien ausprobieren. Soweit ich weiß, wollte Smith dort ein neues Programm ausprobieren, kurz bevor ...«
Er machte eine kurze Pause, fasste beherzt meinen Arm und sah mir in die Augen.
»Fahren Sie bitte fort.«
»Sie werden das sicher schon in seinen Unterlagen gefunden haben. Er war sehr darauf bedacht, realistische Aufgabenstellungen zu entwickeln. Natürlich müssen Sie nicht ...«
»Aber sehr gern«, unterbrach ich meinen alten Ausbilder. »Ich habe die Unterlagen flüchtig gesichtet und denke, es ist genau das Richtige, dort weiterzumachen, wo er aufgehört hat. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mich dabei unterstützen würden.«
Ich sah, wie sehr ihn das freute, und war selbst froh, dass es jemanden gab, der mir die ersten Tage erleichtern würde. Die Unterlagen, von denen O'Brian gesprochen hatte, hatte ich tatsächlich durchgesehen.
Smith hatte sich in der Ausarbeitung eines ziemlich anspruchsvollen Trainingsprogramms auf neue Formen des Terrors bezogen und versucht, Muster herauszuarbeiten, die seiner Auffassung nach immer wiederkehren würden und auf die sich vorzubereiten die Chance erhöhte, Einsätze effizienter zu gestalten.
Eines seiner neueren Projekte befasste sich mit der Erstürmung des Capitols durch den Mob vor einiger Zeit. Er hatte die Ereignisse analysiert und versucht vorauszusagen, wie sich eine vor Wut blinde Meute verhielt, wenn es keine expliziten Rädelsführer, sondern nur Individuen gab, die sich aus der Situation heraus spontan zu Anführern aufschwangen.
Das Ganze war sicher noch nicht fundiert, bot jedoch interessante Ansätze, etwa wenn man die Breite und Tiefe von Fluren berücksichtigte. Der Mob bog in sie ab oder nicht, aus der instinktiven Annahme heraus, dass ein breiter Flur in Bereiche des Gebäudes führte, die wichtiger waren als die mit schmalen Fluren.
Am Abend sah ich mir die Unterlagen noch einmal genauer an und rief die verlinkten Videomitschnitte auf, die es von der Erstürmung des Capitols gab. Es waren Hunderte, die man nicht alle sichten konnte, aber Smith hatte sich die Mühe gemacht, ein paar Dutzend zu kennzeichnen, sodass ich Zusammenhänge zu seinen Vermutungen durchaus nachvollziehen konnte.
Es war fast Morgen, als ich damit fertig war, und ich hatte schon ein ungefähres Szenario im Kopf, das ich am Nachmittag in Hogan's Alley durchspielen wollte. Dazu musste ich unsere Schauspieler briefen, die den Mob spielen sollten.
Ich legte mich ein paar Stunden schlafen, dann stand ich auf, frühstückte mit Iris McLane in der Kantine und machte mich auf den Weg zur Besprechung mit den Darstellern des Mobs. Am frühen Nachmittag hatte ich mithilfe von O'Brian, der mich in die Waffenkammer begleitete und geeignetes Material für mich aussuchte, alles vorbereitet, sodass meine erste Lehrstunde beginnen konnte.
Die Gruppe bestand aus zwölf Rekruten, die mit Schutzwesten, Helmen und Paintballgewehren ausgerüstet waren und sich mit mir vor dem Gebäude in Hogan's Alley versammelten, das wir für unseren Zweck als Rathaus gebrandet hatten. Ich erklärte die Situation, die darin bestand, dass sich eine wütende Meute in der Vorhalle des Gebäudes versammelt hatte, um gegen ein Gesetz zu protestieren. Von der örtlichen Polizei war die Meldung eingegangen, dass mehrere der Teilnehmer bewaffnet waren und man befürchten musste, sie würden das Büro des Bürgermeisters stürmen. Das Wachpersonal des Rathauses war, von der Situation überfordert, geflüchtet und hatte uns das Feld überlassen. Aufgabe war es nun, das Gebäude zu stürmen, die Meute zu finden und aufzuspalten, um gezielte Verhaftungen der Rädelsführer vornehmen zu können.
Zu meiner Freude lief die Übung besser als erwartet. Die von mir eingeplante Irritation meiner Schüler durch die Darsteller, die sich entgegen jeder Vernunft durch die Flure bewegten wie Wasser, das man auf eine Tischplatte schüttete, wo es sich unvorhersehbar nach allen Seiten hin ausbreitete, dauerte nicht lange. Schon nach einigen Minuten hatten die Rekruten die Meute ohne Verluste an Menschenleben im Griff und die Rädelsführer entwaffnet.
Während sich alle Beteiligten wieder in der Vorhalle des Gebäudes versammelten, nickte O'Brian mir anerkennend zu. Er stand neben mir auf einer Treppe über der Halle. Die Rekruten klatschten sich unten unter gegenseitigen Beifallsbekundungen ab.
»Gut gemacht, Frischling«, meinte er lächelnd und deutete auf die Darsteller, die Spuren der Farbpatronen an ihrer Kleidung hatten. »Kaum Verlust von Farbe, wie ich sehe.«
»Nicht mein Verdienst«, erwiderte ich bescheiden, konnte jedoch meine Erleichterung darüber, dass unsere erste Übung so gut verlaufen war, nicht verbergen.
Ich ließ den Blick zufrieden über die Szene gleiten. Dabei blieb ich an einer Gruppe von drei Personen hängen, die abseits der Menge standen und sich gerade mit High five gegenseitig beglückwünschten. Mein Blick ging weiter, kehrte aber, ohne dass ich genau gewusst hätte, warum, zu den dreien zurück. Es handelte sich um zwei junge Männer und eine Frau, die sich jetzt leise unterhielten. Die Männer waren blond und kräftig, sahen aus wie Tausende ihrer Altersgenossen. Die junge Frau war klein und drahtig, trug ihr dunkles Haar zu einem Zopf gebunden und hatte ein kantiges Gesicht mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck. Zwei weitere Rekruten traten zu ihnen, und die Gruppe trennte sich und mischte sich unter die anderen.
O'Brian sagte etwas, was ich nicht verstand. Ich wandte meine Aufmerksamkeit ihm zu.