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Der Druck lastete enorm auf uns. Bisher hatten wir es mit drei ungeklärten Entführungsfällen zu tun und nicht die geringste Spur von den Opfern. Ein Bauarbeiter, ein Collegelehrer und eine Rentnerin, vollkommen unbescholtene, unauffällige Menschen in New York. Sie hatten keine Beziehungen untereinander, niemand stellte Lösegeldforderungen an die Familien. Wir vom FBI waren ratlos. Der Zufall half uns weiter, denn wir entdeckten Zeitungsannoncen, die auf ein perfides Schachspiel hindeuteten - Menschenschach!
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Seitenzahl: 138
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Schachmatt
Vorschau
Impressum
Schachmatt
Der schwarze Vorhang hob sich langsam vor meinen Augen, die verschwommenen Konturen wurden schärfer. Die Lider wogen bleischwer, doch ich musste mich zwingen, wach zu bleiben, durfte nicht wieder in diesen Dämmerzustand kippen. Ich tastete mein Gesicht ab, fühlte am Hinterkopf eine mächtige Beule, die dafür sorgte, dass es in meinem Schädel summte wie in einem Bienenstock.
Ich lag in einem zellenartigen, fensterlosen und schalldichten Raum auf einer Pritsche. Meine Kleidung, meine Waffe, mein Handy, Dienstausweis und alle persönlichen Gegenstände waren mir abgenommen worden. Dafür steckte ich in einer bodenlangen schwarzen Kutte.
Obwohl ich mit Phil keinerlei Kontakt aufnehmen konnte, war mir klar, dass es ihm bestimmt ähnlich ergangen war.
Mein Partner und ich befanden uns in Lebensgefahr und waren zu Figuren in einem wahnsinnigen, menschenunwürdigen Spiel geworden, das sich kranke Gehirne ausgedacht hatten. Fieberhaft suchten wir unabhängig voneinander nach einer Lösung, um uns aus dieser fatalen Lage zu befreien. Versagten wir, konnte uns niemand mehr helfen.
Seit Tagen beschäftigten uns drei merkwürdige Fälle, und wir ahnten nicht, welche Abgründe sich schon bald auftun würden. Unsere Ermittlungen waren ins Stocken geraten. Wir konnten nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob wir es mit Verbrechen zu tun hatten. Drei Menschen, die unterschiedlicher nicht sein konnten, verschwanden und tauchten nicht mehr auf, schließlich verschwanden in den USA täglich jede Menge Leute. Nicht immer steckten kriminelle Taten dahinter. Oft waren Beziehungsprobleme oder finanzielle Schwierigkeiten Anlässe, um von der Bildfläche zu verschwinden. Manchen war das bisherige Leben zu eintönig verlaufen, und sie suchten nach dem besonderen Kick, um irgendwo unerkannt und weit weg einen Neustart zu wagen.
Nachdem keine Lebenszeichen der Abgängigen erfolgt und sie nicht mehr erreichbar waren, schalteten die Familien das FBI ein. Die Fälle landeten auf unseren Schreibtischen. Nach den Aussagen der Angehörigen dieser wie vom Erdboden verschluckten Menschen gab es keine Gründe, ihre Familien im Stich zu lassen und das bisherige Leben aufzugeben. Jeder befürchtete ein Verbrechen.
Der Erste in dieser seltsamen und durchaus unheimlichen Trilogie war der neununddreißigjährige schwarze Baggerfahrer Marvin Pancok, der nach Dienstschluss auf dem Heimweg nach Harlem mitsamt seinem Wagen verschwunden war. Er war verlobt, stand kurz vor der Hochzeit, und seine zukünftige Frau war im sechsten Monat schwanger. Nach Pancoks Fahrzeug wurde gefahndet, bisher erfolglos.
Zwei Tage später traf es den verheirateten vierzigjährigen Collegelehrer Barry Yannon und Vater zweier kleiner Kinder. Er kam nicht mehr vom Unterricht an seiner Schule in Queens nach Hause. Yannon war mit seinem Fahrrad unterwegs gewesen, das nirgends wiederaufgetaucht war.
Noch in derselben Woche kehrte die neunundsechzigjährige Rentnerin Adele Simson nach dem Einkaufen in ihrer nächsten Umgebung nicht mehr in ihr Apartment in Jersey City zurück. Die Frau war zu Fuß unterwegs gewesen.
Diese drei Menschen verschwanden zu unterschiedlichen Tageszeiten in New York, und es gab keinerlei Zeugen. Kaum vorstellbar im Big Apple, wo sich zu jeder Tages- und Nachtzeit in jedem Winkel Unmengen an Leuten herumtrieben, dass niemand etwas bemerkt hatte, sollten es tatsächlich Entführungen gewesen sein.
Damit fehlten uns Zeugenaussagen, worauf wir hätten aufbauen können. Wir mussten uns mit den Aussagen der Familien begnügen. Wir bekamen nur das Beste zu hören, was diese Fälle noch viel merkwürdiger erscheinen ließ. Keiner der drei hatte Leichen im Keller oder etwas anderes Gravierendes zu verbergen.
Es gab keinerlei Zusammenhänge zwischen Pancok, Yannon und Simson. Sie waren weder miteinander verwandt noch standen sie in geschäftlichen Beziehungen. Sie waren sich vor ihrem Verschwinden vorher nie begegnet. Darauf schworen ihre Familien und Freunde jeden Eid.
Wir waren ratlos. Niemand von uns konnte sich je an einen Fall erinnern, wo nicht zumindest ein vager Hinweis vorhanden gewesen wäre, der uns auf die richtige Spur geführt hatte. Doch ich war mir sicher, wenn diese drei Menschen einem Verbrechen zum Opfer gefallen waren, dass Spuren existierten und wir sie finden würden.
»Nach derzeitigem Wissensstand, Sir«, sagte ich zu Mr. High während unserer morgendlichen Besprechung über die weitere Vorgangsweise, »haben wir es mit Verbrechen zu tun. Pancok, Yannon und Simson sind nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, lebten unauffällig, waren schuldenfrei, beglichen korrekt und pünktlich ihre Mieten und Rechnungen, bezahlten Steuern und Abgaben. Sie sind beliebt und angesehen in ihren Familien, bei ihren Freunden und Arbeitgebern. Drei Leben, die wie auf Schienen in wohlgeordneten Bahnen verliefen.«
»Entführungen können wir ausschließen«, meinte Phil. »Keiner der drei und auch nicht deren Familien verfügen über Vermögen, dass sich Kidnappings lohnen würden. Außerdem wurden bisher keine Lösegeldforderungen gestellt.«
»Dann bleiben im schlimmsten Fall nur drei Morde mit möglichen privaten Motiven übrig«, sagte Mr. High. »Es ist nicht Neues, dass Menschen imstande sind, perfekte Doppelleben zu führen, ohne dass ihr engstes Umfeld auch nur eine Ahnung davon hat.«
»Durchaus in Erwägung zu ziehen«, pflichtete mein Partner dem Chef bei. Gleichzeitig hatte er seine Zweifel. »Wir haben sowohl Pancoks Verlobte wie auch Yannons Frau kennengelernt. Wir fanden harmonische und intakte Beziehungen vor.«
»Nach außen hin. Menschen können sich ausgezeichnet verstellen«, fügte ich hinzu. »Vielleicht haben die Frauen für uns eine Show abgezogen? Die eine wollte gar nicht heiraten und der anderen ging ihr Mann auf die Nerven. Die klassische Story mit dem heimlichen Lover. Wie solche Geschichten ausgehen, ist hinlänglich bekannt.«
»Da stimme ich Ihnen zu, Jerry«, sagte Mr. High und legte die Handflächen auf die Schreibtischplatte. »Adele Simson passt nur nicht in dieses Schema. Sie ist verwitwet und alleinstehend. Nach den Aussagen ihrer Nachbarn leben Tochter und Sohn mit ihren Familien in Europa.«
»Dann bleibt vorerst nur die Variante des Serienkillers, Sir«, antwortete ich.
Phil nickte zustimmend.
»Jemand, der sich draußen herumtreibt und aus purer Mordlust wahllos tötet«, fuhr ich fort. »Allerdings wird es schwer, diese Theorie ohne Leichen aufrechtzuerhalten. Wurden diese drei vermissten Personen getötet, sind ihre Leichen entweder spurlos entsorgt worden oder liegen in perfekten Verstecken.«
»Wie sieht Iris das?«, fragte Mr. High.
Dr. Iris McLane, unsere Profilerin konnte sich tief in die Psyche eines Täters vergraben und war imstande, die dunkelsten Abgründe der menschlichen Seele offenzulegen. Zu diesem Zeitpunkt konnte sie keine schlüssige Analyse liefern.
»Derzeit lässt sich kein Muster erkennen, Sir«, erklärte Phil. »Keine brauchbaren Anhaltspunkte, worauf sie aufbauen könnte.«
»Wir haben noch aus jeder Sackgasse einen Ausweg gefunden«, sagte der Chef zuversichtlich. »Zwar hoffe ich, dass es bei diesen Fällen bleibt, aber meine Hand möchte ich nicht dafür ins Feuer legen.«
Nach der Besprechung suchten Phil und ich unser Büro auf. Als wir an Ben Bruckners offener Bürotür vorbeikamen, saß unser IT-Experte hinter seinem Schreibtisch und kaute seine unvermeidliche Lakritze. Ohne dieses Zeug war er lebensunfähig. Ich klopfte an, er winkte uns herein, ohne aufzusehen.
»Wovon bist du denn so fasziniert?«, fragte ich.
»Ein Wahnsinn!«, rief Ben. »Nichts als Halsabschneider und Verbrecher! Geldgieriges Gesindel!«
Jetzt erkannten wir, dass er über den Inseratenteil in der New York Times brütete, und waren sofort im Bild.
»Hattest du inzwischen mehr Glück auf der Suche nach einem neuen Apartment für eure WG?«, erkundigte sich Phil.
Ben winkte ab. »Die Mieten sind irre! Diese Haie verlangen Wucherpreise für Rattenlöcher. Unsere alte Wohnung ist uns schon lange viel zu klein geworden und verkommt immer mehr zu einer desolaten Bruchbude. Der Vermieter ist nicht bereit, auch nur einen Cent in die Renovierung zu investieren. Schon jetzt kostet mich mein Mietanteil mehr als ein Drittel meines Gehalts. Und bei den Angeboten hier«, er tippte mit dem Zeigefinger auf die Zeitung, »wären sogar zwei Drittel fällig. Ich habe keine Lust mich nur wegen dieser Preise ausschließlich von Fastfood zu ernähren.«
Phil verzog die Mundwinkel, und ich wusste sofort, was ihm auf der Zunge lag. Sicherlich dachte er an eine Spitze wegen Bens Lakritzsucht. Doch mein Partner hielt sich vornehm zurück.
»Wenn ihr schon hier seid«, sagte Ben, »mir ist in der gestrigen Times-Ausgabe ein seltsames Inserat aufgefallen. Unter Verschiedenes«, er zog die entsprechende Seite aus einem Stapel Papiere hervor, »stand das hier: B2 auf B4. Und heute«, er legte das Blatt beiseite und widmete sich wieder der aktuellen Ausgabe, »lese ich: G8 auf F6. Habt ihr eine Idee, worum es sich handeln könnte?«
»Vielleicht ein Code?«, rätselte Phil. »Nur wofür?«
Ich verstand es auch nicht.
»Wer gibt heute noch verschlüsselte Inserate auf?« Ich gab mir gleich selbst die Antwort. »Dafür gibt es Mails, die sozialen Medien, das Darknet.«
»Zuerst habe ich dieser Anzeige überhaupt keine Bedeutung beigemessen«, sagte Ben. »Als heute wieder die eigentümliche Kombination auftauchte, habe ich auch in den Ausgaben der letzten Tage gesucht und wurde fündig.«
»Es handelt sich um ein Spiel«, platzte es aus Phil heraus. »Da spielen zwei oder mehrere ein besonderes Spielchen.«
»Im 21. Jahrhundert?« Ich konnte mich mit der Interpretation meines Partners nicht anfreunden. »Heute wird doch nahezu alles online gespielt.«
Wir zogen Joe Brandenburg, Les Bedell, Steve Dillaggio und Zeerookah hinzu. Auch sie hatten keinen blassen Schimmer, worum es sich handeln könnte.
»Von einem harmlosen Spielchen«, meinte Steve, »über Codes für illegale Handlungen wie Übergaben von heißer Ware bis hin zu Lösegeldzahlungen ist alles möglich.«
Unser Kollege hatte vollkommen recht, nur eine Hilfe war das nicht.
»Ich kann euch alles über Poker und Bowling erzählen«, sagte Joe, während er die Inserate betrachtete, »aber da steige ich aus.«
Eigentlich konnte es uns egal sein, was diese mysteriösen Anzeigen bedeuteten. Wir mussten drei verschwundene Personen aufspüren, von denen wir nicht wussten, ob sie freiwillig untergetaucht oder Opfer eines Verbrechens waren. Unser Instinkt und die Erfahrung sagten uns, dass möglicherweise ein Zusammenhang mit dem Verschwinden der drei bestehen könnte. Abgesehen davon hatte Ben bereits öfter seinen exzellenten Riecher für Ungewöhnliches bewiesen.
Wenn jemand dieses Rätsel lösen konnte oder zumindest die richtungsweisende Idee parat hatte, war es Iris McLane, Psychologin und Supervisory Special Agent. Sie empfing Phil und mich in ihrem Büro, wie immer elegant in einem schwarzen Kostüm und den unverzichtbaren Stilettos.
Aufmerksam studierte Iris die Zeitungsinserate, schwieg, während wir gespannt auf ihre Erklärung warteten. Iris war für ihre überdurchschnittliche Intelligenz bekannt und galt mit ihren messerscharfen Analysen als Koryphäe. Noch ein letzter prüfender Blick, bevor sie sich uns zuwandte.
»Spielt ihr Schach?«
»Kaum, Iris«, antwortete ich.
»Das sind Eröffnungszüge in einem Spiel der Könige.«
»Du meinst Schach, Iris?«, ging Phil auf Nummer sicher.
Iris' mitleidiger Blick erklärte sich von selbst.
»Warum auf solch eine altmodische Art? Das wird doch heute online gespielt.«
»Vielleicht handelt sich um zwei ältere Menschen, die mit Internet und modernen Technologien nicht klarkommen, Jerry. Wahrscheinlich leben die Spieler in verschiedenen Teilen New Yorks. Eher auszuschließen sind Städte in anderen Bundesstaaten oder außerhalb der USA auf den anderen Kontinenten.«
Phil war Iris' geringschätziger Blick wegen der Schachfrage nicht entgangen. Nun wollte er sich auf seine Art dafür revanchieren. »Die New York Times kann ich weltweit als Abonnent online lesen und ebenso inserieren.«
Iris McLane erkannte sofort den Konter meines Partners und lächelte.
»Sicherlich«, bestätigte sie Phils Hinweis, »ich glaube trotzdem, dass die Inserate in New York aufgegeben wurden.«
»Eine Spielergemeinschaft kommt nicht infrage«, wollte ich wissen, um keine Möglichkeit zu übersehen. »Aber ist es denkbar, dass mehrere Spieler ihre Züge abgeben?«
»Sicher, Jerry. Nur was soll das bringen? Ein Wettbewerb, wessen Zug der bessere ist? Es sind bestimmt nur zwei Spieler. Warum seid ihr auf diese unscheinbaren Inserate so scharf?«
»Ich muss noch gründlich überlegen«, sagte ich und blieb ihr vorerst eine Antwort schuldig, »aber vielen Dank. Jetzt wissen wir, was möglicherweise in der Times inseriert wurde. Wir halten dich auf dem Laufenden.«
Iris McLane hatte mich hellhörig werden lassen. Noch hielt ich mich mit meinem Verdacht zurück, denn ich hatte nicht den geringsten Beweis dafür. Auch Phil weihte ich nicht in meine Gedankengänge ein. In unserem Büro wurden wir bereits von Steve, Zeerookah, Joe und Les erwartet.
»Na, was meint unser Superhirn, Jerry?«, fragte Joe.
»Gibt es irgendwo im Haus ein Schachbrett mit Figuren?« Ich ging nicht näher auf Joes Frage ein.
Alle starrten mich verwundert an.
»Spielkarten kannst du sofort haben«, bot Les an und sah mich an, als hätte ich nach einem rosafarbenen Elefanten verlangt.
»Wozu das alles?«, wollte Joe wissen. Insgeheim dachte er wahrscheinlich wie alle, jetzt wäre ich reif für die Klapsmühle.
»Einen Block weiter von uns, Jerry, gibt es einen Laden, die noch die verschiedensten Brettspiele verkaufen. Ich bin mir sicher, dass sie dort ein Schachspiel samt Figuren auf Lager haben«, sagte Phil. »Ich mache mich sofort auf den Weg.«
»Willst du uns nicht endlich verraten, Jerry, was du vorhast?«, drängte Zeerookah.
»Dafür brauche ich das Schachspiel«, sagte ich ausweichend. »Sobald ich das habe, bekommt ihr meine Präsentation.«
Während Phil unterwegs war, ließ ich mir alle Ausgaben der New York Times des vergangenen Monats ausheben. Ben hatte sich nur die Inseratenteile der letzten Tage angesehen. Doch das Zeitungsstudium musste warten. Auf dem Monitor meines Computers erschien die Meldung, dass seit vergangener Nacht der einundfünfzigjährige Taxifahrer Liam Hackman nicht mehr nach Hause zurückgekehrt war. Seine Frau hatte eine Vermisstenanzeige erstattet. Hackman hatte am Broadway eine Fahrt angenommen, danach verlor sich seine Spur. Sein Cab war vor zwei Stunden in Queens aufgetaucht.
Nun bewahrheitete sich, was wir geahnt hatten – dass es nicht bei drei Vermisstenfällen bleiben würde. Steve Dillaggio und Zeerookah fuhren nach Greenpoint, wo die Hackmans wohnten, um mit der Ehefrau zu sprechen.
Auf meinem Schreibtisch war das Schachspiel aufgebaut. Mit Iris McLanes Hilfe stellte ich die aus den Inseraten bekannten Züge nach. Sie war auch eine exzellente Spielerin, die, wenn es ihre Zeit erlaubte, gegen den Computer auf dem höchsten Level antrat und die meisten Partien gewann, wie sie mit leichtem Erröten erzählte.
Mr. High gesellte sich zu uns und wartete ebenso gespannt wie Iris und die Kollegen auf meine Theorie. Ich kam ohne Umschweife zum Kern.
»Dank Iris wissen wir, dass es sich bei diesen eigenartigen Inseraten um Züge in einem Schachspiel handeln könnte. Ich spinne den Faden weiter und behaupte, in dieser Stadt treiben sich zwei Typen herum, die ein Schachspiel mit menschlichen Spielfiguren planen.«
Nach einem Moment der Stille allgemeines Raunen und erstaunte Blicke, ausgenommen Iris McLane, Mr. High und Phil. Ich hatte mit dieser Reaktion gerechnet. Vom Chef bekam ich Schützenhilfe.
»Ich finde Jerrys Gedanken nicht abwegig. Wenn wir meinen, bereits alles gesehen und erlebt zu haben, was kranke Gehirne imstande sind sich auszudenken, gibt es immer wieder eine Steigerung. Inzwischen ist ein Taxifahrer verschwunden, ein vierter Vermisstenfall. Vielleicht gibt es für das unerwartete Verschwinden dieser Personen harmlose Erklärungen.« Der Chef hielt einen Augenblick inne. »Oder es läuft genau in diese Richtung, die Jerry skizziert hat.« Mit einer Handbewegung bedeutete er mir fortzufahren.
Ich setzte mich auf die Schreibtischkante, zeigte zu den Figuren auf dem Brett.
»Zweiunddreißig Figuren: acht Bauern, zwei Springer oder Pferde, zwei Läufer, zwei Türme, eine Königin und ein König. Das Ganze doppelt für zwei Spieler macht zweiunddreißig Figuren. Und das könnte in weiterer Folge achtundzwanzig Entführungen bedeuten«, behauptete ich ohne den geringsten Beweis. »Vier Kidnappings sind bereits erfolgt.«
»Jerry«, meinte Les und biss sich auf die Unterlippe, »ohne dir nahetreten zu wollen oder deine Fähigkeiten infrage zu stellen, deine Theorie ist Science-Fiction. Wie soll das in der Praxis funktionieren? Was für ein Logistikaufwand steckt dahinter, um auch nur eine Person zu entführen? Und nun gleich zweiunddreißig, ohne Spuren zu hinterlassen oder sonst irgendwie Aufmerksamkeit zu erregen. Das ist unmöglich.«
Ich nahm ihm seinen Einwand nicht übel. Schließlich hatte er recht, trotzdem blieb ich bei meiner Überzeugung, nicht völlig falsch zu liegen. Mir war klar, zweiunddreißig Menschen verschwinden zu lassen, bedeutete einen ungeheuren Aufwand. Jeder dieser Menschen hatte Angehörige, Familie, Kinder, Freunde, die das Verschwinden sicherlich nicht sang- und klanglos hinnehmen würden. Es sei denn ... Doch das behielt ich noch für mich. Nicht einmal Phil weihte ich ein. Vielleicht kamen meine Kollegen ja von selbst darauf. Ich hielt mich zurück, sonst erklärten sie mich am Ende noch für geisteskrank.
Auf jeden Fall mussten sämtliche Vermisstenfälle der letzten zwei Monate in den Vereinigten Staaten noch einmal überprüft werden, damit die Spreu vom Weizen getrennt werden konnte. Mr. High war einverstanden, dass wir die Ermittlungen unter der Prämisse eines möglichen Schachspiels mit menschlichen Figuren, dass sich zwei verrückte Spieler ausgedacht hatten, aufbauen sollten.
Allerdings war uns allen klar, sollte meine These stimmen, hatten wir es nach dem Schachmatt in diesem perversen Spiel mit einem Serienmord mit zweiunddreißig Todesopfern zu tun. Keine der menschlichen Figuren durfte logischerweise überleben. Keine Zeugen, sonst würde alles auffliegen.
Steve Dillaggio und Zeerookah kehrten zurück und berichteten über Lilly Hackmans Befragung, der Ehefrau des verschwundenen Taxifahrers Liam. Sein in Queens sichergestellter Wagen war penibel von den Kriminaltechnikern des NYPD Police Crime Lab untersucht worden. Erwartungsgemäß fanden sich in dem Cab Unmengen an Fingerprints, Haaren und DNA verschiedener Fahrgäste. Jede einzelne Spur musste registriert, ausgewertet und durch die Datenbanken gejagt werden. Das bedeutete Sisyphusarbeit.