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Lilian Banks war als Fünfzehnjährige entführt und mehrere Wochen lang gefangen gehalten worden, vermutlich auf Befehl des Brooklyner Drogenbosses Nathan Tripps hin. Eine junge Frau besuchte Lilian damals regelmäßig in ihrem Verlies. Obwohl alles darauf hindeutete, dass die mysteriöse Unbekannte zu den Entführern gehörte, konnte das FBI keine Hinweise auf ihre Existenz feststellen. Unsere Profilerin Dr. Iris McLane diagnostizierte eine posttraumatische Dissoziationsstörung und hielt die junge Frau für das Produkt von Lilians Fantasie. Jetzt wurde einer von ihren Peinigern nach sechs Jahren aus der Haft entlassen - und kurz darauf brutal ermordet. Und die Frage nach dem mörderischen Engel stellte sich neu ...
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Seitenzahl: 148
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Mörderischer Engel
Vorschau
Impressum
Mörderischer Engel
Fröstelnd drückte sich Rory Portnoy in den Hinterhof. Um die schwere Stahltür offen zu halten, schob er mit dem Fuß den dafür bereitgelegten Holzkeil in den Spalt.
Während er sich ein paar Schritte von der Halle der Großfleischerei entfernte, zündete er die Zigarette an, die bereits in seinem Mundwinkel hing.
Ein eisiger Wind pfiff über den nächtlichen Hof und brachte die dünne Plastikhaube auf seinem Kopf zum Flattern.
Als er den ersten Lungenzug nahm, hörte er Schritte hinter sich. Verwundert drehte er sich um. Er entspannte sich, als er sah, wer da aus den Schatten auf ihn zutrat. Ein ungewöhnlicher Anblick in kalter Nacht.
»Hallo ...«, sagte Rory Portnoy mit wölfischem Grinsen. Die Frau erinnerte ihn an jemanden, aber er konnte nicht genau sagen, an wen.
Als es ihm siedendheiß einfiel, war es bereits zu spät. Die Klinge bemerkte er erst, als sie im fahlen Licht der Notbeleuchtung aufblitzte, bevor sie mit einem gezielten Stoß in seine Bauchdecke drang.
Dr. Iris McLane hatte Mühe, auf ihren Stilettos und mit dem Aktenkoffer in der Hand mit dem Justizvollzugsbeamten Schritt zu halten. Aus irgendeinem Grund hatte es der junge Mann mit den streichholzkurzen roten Haaren eilig.
Als Psychologin und Profilerin des FBI war sie schon einige Male auf Rikers Island gewesen und kannte dennoch nur einen Bruchteil der Einrichtung, die aus zehn Gefängnisbauten und zahlreichen Verwaltungsgebäuden bestand. Nicht umsonst galt die Insel als größter Gefängniskomplex der Welt. Und hier, im Rose M. Singer Center, in dem ausschließlich weibliche Häftlinge verwahrt wurden, war sie heute zum ersten Mal. Sich ohne kundigen Begleiter in dem Labyrinth gleichförmiger Gänge zu orientieren, war praktisch aussichtslos.
Iris dachte dennoch nicht daran, sich an einem Wettlauf zu beteiligen. Als der Wachmann zehn Yards weiter vor einer Tür stehen blieb und ungeduldig mit dem Schlüsselbund klimperte, verlangsamte sie ihre Schritte noch, anstatt sich zur Eile antreiben zu lassen.
Erst als sie zu ihm aufgeschlossen hatte, suchte der Mann einen Schlüssel heraus und drehte ihn langsam im Schloss.
Iris nickte ihm zu, als sie an ihm vorbeitrat. Normalerweise hätte sie einen ironischen Spruch auf den Lippen gehabt, aber an diesem Tag schluckte sie ihn herunter. Was sie erfahren hatte, nachdem man sie in den frühen Morgenstunden aus dem Bett geklingelt hatte, fühlte sich noch immer an wie die Nachwehen eines bösen Traums.
»Klopfen Sie, wenn Sie fertig sind«, sagte der Aufseher, während er die gut geölte Tür für sie aufhielt.
Der Raum dahinter war ein Ausbund an Kargheit. Ein Tisch, zwei Stühle. Nicht einmal ein venezianischer Spiegel, dafür eine Kamera, die oberhalb der Tür wie ein wachsames Auge auf die Person gerichtet war, die mit verschränkten Armen an dem verschrammten Metalltisch saß.
Iris hätte sie fast nicht wiedererkannt. Wäre die junge Frau ihr auf der Straße begegnet, hätte sie sie für eine Fremde gehalten. Ihre ehemals blonden Haare waren jetzt länger, braun gefärbt und fielen in wilden Locken auf die Schultern der Anstaltskleidung. Das blasse Gesicht, das sie einrahmten, war auf die Tischplatte gerichtet, als würde sie sich selbst in der blank polierten Oberfläche betrachten.
Als die Tür hinter Iris ins Schloss gedrückt wurde, blickte sie zu ihr auf. Iris glaubte, einen Ausdruck von Erleichterung darin zu erkennen.
»Doktor McLane!«
»Lilian, ich bin sofort gekommen, als man mich benachrichtigt hat.« Sie stellte ihren Aktenkoffer neben den Tisch, nahm gegenüber der jungen Frau Platz und musterte sie eindringlich.
Wie alt mochte Lilian Banks heute sein? Damals war sie fünfzehn gewesen und das war ... Iris musste nachdenken und war sich dann sicher. Es musste vor genau sechs Jahren gewesen sein, dass das FBI sie gebeten hatte, sich dem Entführungsopfer anzunehmen. Es war eine ihrer ersten Aufgaben gewesen, nachdem sie aus Boston nach New York gekommen war. Iris konnte kaum glauben, dass diese noch immer so unschuldig wirkende junge Frau als Hauptverdächtige in einem Mordfall verhaftet worden war.
»Lilian, erzählst du mir, was passiert ist?« Sie blieb bei der vertraulichen Anrede, auf die die Teenagerin damals bestanden hatte. Iris war grob im Bild, wollte es aber aus dem Mund ihres ehemaligen Schützlings hören.
»Rory Portnoy wurde ermordet!«, stieß Lilian atemlos hervor. »Und die Cops behaupten, ich sei es gewesen!«
Iris nickte kaum merklich. Auf Anhieb hätte ihr der Name nichts gesagt. In die eigentlichen Ermittlungen im Fall Lilian Banks war sie nicht involviert gewesen. Man hatte sie erst dazu geholt, als alles vorbei gewesen war. Und auch den Prozess hatte sie nur am Rand verfolgt. Nur aufgrund des heutigen Briefings wusste sie, dass er einer der Entführer gewesen war. Ein einfacher Handlanger, deshalb war er bereits nach sechs Jahren wegen guter Führung in die Freiheit entlassen worden, nur um kurz darauf an seiner neuen Arbeitsstätte, einem Schlachtbetrieb, brutal niedergemetzelt zu werden. Wie passend ...
»Was hat man dir bei deiner Verhaftung gesagt?«, fragte Iris mit belegter Stimme.
Lilian schüttelte resigniert den Kopf. »Nicht viel. Nur dass dringender Tatverdacht besteht und ...«
»Hast du bereits mit einem Anwalt gesprochen?«
Lilian nickte knapp. »Mit einem Pflichtverteidiger.«
»Ist deine Mom nicht informiert worden?« Sylvia Banks hatte zwar all ihren Reichtum verloren, verfügte aber bestimmt noch immer über gute Kontakte zu diversen Staranwälten.
Lilians finsterer Blick sprach mehr als tausend Worte.
»Du redest immer noch nicht mit ihr?«
»Wundert Sie das?«, blaffte die junge Frau. »Nach allem, was sie mir angetan hat!«
Iris schluckte. Sie hatte damals vergeblich versucht, zwischen den beiden zu vermitteln. Doch Lilian hatte darauf beharrt, den Kontakt zu ihrer Mutter abzubrechen und zu ihrer Tante in die Nähe von Philadelphia zu ziehen.
Iris konnte es ihr nicht verdenken. Was im Entführungsprozess über Sylvia und vor allem ihren Mann Theodore herausgekommen war, war ein Schock für die Fünfzehnjährige gewesen. Und auch die Richter waren der Meinung, dass man es der Teenagerin nicht zumuten konnte, weiter im Haus der Eltern zu leben. Immerhin trugen die beiden eine erhebliche Mitschuld an Lilians Martyrium.
Der nach außen hin seriös wirkende Buchhalter Theodore Banks hatte, wie sich nach Lilians Befreiung herausstellte, jahrelang für einen Mann namens Nathan Tripps Drogengelder gewaschen. Bis ihn das schlechte Gewissen gepackt hatte und er die Zusammenarbeit beenden wollte, ohne dabei zu bedenken, dass man bei der Drogenmafia nicht einfach seine Kündigung einreichte. Um Banks zurück ins Boot zu holen, ließ er dessen Tochter entführen und drohte mit ihrer Ermordung, sollte sich Banks nicht fügen.
Elf Wochen dauerte Lilians Tortur. Elf Wochen, allein in einem kalten Verlies, im Keller eines Privathauses in Newark. Elf Wochen, in denen Sylvia ihren Mann bekniet hatte, die Polizei über die wahren Gründe für die Entführung zu informieren. Dass Theodore Banks es vorgezogen hatte, seine Tochter der Gewalt der Drogengangster zu überlassen, anstatt sich selbst ans Messer zu liefern, schockierte Iris noch immer zutiefst. Irgendwann hielt Sylvia Banks es nicht mehr aus und packte im Alleingang bei der Polizei aus. Von da an ging alles ganz schnell. Und da das Haus einem engen Mitarbeiter von Nathan Tripps gehörte, gelang es den Cops, das Versteck in kürzester Zeit ausfindig zu machen und Lilian unversehrt zu befreien.
Und während Tripps den Kopf vor Gericht dank einiger Bauernopfer aus der Schlinge ziehen konnte, wurde Theodore Banks wegen Geldwäsche zu zehn Jahren Haft verurteilt.
Obwohl seine Frau das FBI nach wochenlangem Stochern im Nebel auf die richtige Spur gebracht hatte, konnte Lilian ihr bis heute nicht verzeihen. Nicht, dass sie damit so lange gewartet hatte. Und auch nicht, dass sie von den kriminellen Aktivitäten ihres Mannes gewusst, ihn gedeckt und damit ihren aufwendigen Lebensstil finanziert hatte. Sie war mit einer Bewährungsstrafe davongekommen, doch Reue hatte sie nie gezeigt.
Im Gegensatz zu Theodore Banks, der sich in Rikers offenbar der Tragweite seiner Taten bewusst wurde und zu der Erkenntnis gelangte, mit dieser Schuld nicht weiterleben zu können. Genau ein Jahr nach seiner Inhaftierung fanden Justizvollzugsbeamte ihn mit Schaum vorm Mund leblos in seiner Zelle. Er hatte sich mit Abflussreiniger vergiftet, den er nach dem Toilettendienst in seine Zelle geschmuggelt hatte.
Oder war es Nathan Tripps' langer Arm gewesen, der ihn für seinen Verrat zur Rechenschaft gezogen hatte? Aufgeklärt wurde das nie, und der Fall wurde schnell zu den Akten gelegt.
Iris beschloss, Sylvia Banks noch heute zu kontaktieren, jedoch hier und jetzt das Thema zu wechseln.
»Auf dem Gelände der Fleischerei gibt es eine Überwachungskamera«, fuhr sie nüchtern fort. »Die Mörderin muss davon gewusst haben, denn auf den Aufnahmen ist sie nur von hinten oder mit gesenktem Kopf zu erkennen. Und sie trägt vermutlich eine Perücke. Aber eines wird deutlich: Sie hat in etwa deine Statur.«
Iris ließ die letzten Worte einen Moment lang in der Luft hängen, um Lilians Reaktion zu beobachten. Die junge Frau blieb vollkommen ungerührt. Iris war bewusst, dass die Vorwürfe nicht neu für sie waren. Bestimmt war sie während ihrer Vernehmung damit konfrontiert worden. Sie räusperte sich und fuhr fort.
»Der Täterin ging es offenbar nicht nur darum, einen Mord zu begehen. Sie wollte ein Zeichen setzen. Obwohl sie vermutlich in Eile war, nahm sie sich die Zeit, Mister Portnoy das Hemd aufzuknöpfen und ihm mit einem scharfen Gegenstand, vermutlich mit einem Messer, einen Buchstaben in den Bauch zu ritzen. Ein ...«
»Melody.« Das Wort kam so plötzlich aus Lilians Mund, dass Iris das M, das ihr bereits auf der Zunge lag, wieder herunterschluckte. »Es war Melody.«
Iris zwang sich, jede äußere Gefühlsregung zu unterdrücken, obwohl der Name eine Saite in ihr zum Klingen brachte, die sie am liebsten ignoriert hätte. Waren die wochenlangen Therapiesitzungen, in denen sie das Thema immer wieder durchgekaut hatten, am Ende vergeblich gewesen?
»Lilian, Melody existiert nicht. Das hast du selbst ...«
»Ich habe gelogen«, fuhr Lilian ihr mit ungewohnter Schärfe ins Wort. »Ich wusste immer, dass Melody existiert. Ich bin nicht verrückt!«
»Lilian, das hat niemand ...«
»Ich weiß nicht, wo sie sich die ganzen Jahre versteckt gehalten hat, aber sie ist zurück!«
Ganz kurz hatte Iris das Gefühl, als würde ihr eine fremde Person aus diesen wasserblauen Augen entgegenblicken. Ein leiser Schauer rann über ihren Nacken, als sich Lilian zu ihr hinüberbeugte, die Stimme senkte und leise sagte: »Melody ist zurück. Und sie will Rache!«
»Na warte, das gibt Rache!«
Phil Decker verengte die Augen zu Schlitzen, visierte sein Ziel mit eiskalter Entschlossenheit an – und feuerte.
Die daumengroße silberne Kugel wirbelte durch die Luft, genau auf den Pappbecher zu, der neben der Tür auf meinem Bürostuhl stand. War die letzte Kugel noch am Rand abgeprallt, segelte diese zielgenau durch die Öffnung.
»Strike!« Mein Partner sprang von seinem Stuhl auf, ballte die Hand zur Faust und warf mir einen triumphierenden Blick zu.
Um Phils Siegestaumel einzubremsen, klatschte ich langsam in die Hände und meinte gelassen: »Nicht schlecht. Aber ich glaube, ich habe noch einen.«
Ohne seine Antwort abzuwarten, riss ich eine weitere Ecke der Alufolie ab, mit der mein Essen eingeschweißt gewesen war.
Wir hatten uns in unserer Mittagspause asiatisch beliefern lassen, und auf dem Boden des Plastikbehälters schwammen noch drei Reiskörner in einer bräunlichen Teriyakisoße. Alles andere war restlos verputzt.
Phil war als Erster fertig gewesen und hatte aus einer Laune heraus damit begonnen, mit Alukugeln auf den Müllereimer zu zielen. Jeder Schuss ein Treffer, was mich auf die Idee gebracht hatte, den Schwierigkeitsgrad zu erhöhen.
Zugegebenermaßen ein etwas unreifer Zeitvertreib für zwei gestandene Special Agents des FBI, doch heute war zur Abwechslung mal ein ruhigerer Tag, an dem die Last vieler aufreibender Fälle der letzten Zeit von uns abfiel.
Zwischen meinen Handflächen rollte ich das Alupapier zu einer Kugel, visierte mein Ziel an – und warf.
Womit ich nicht rechnete, war, dass im selben Moment die Bürotür aufging und eine schlanke Blondine in ihren Fünfzigern über die Türschwelle und damit in meine Flugbahn trat. Es war unsere Psychologin und Profilerin Iris McLane. Verwundert beobachtete sie, wie die Kugel das Revers ihres schwarzen Kostüms traf, davon abprallte und als Querschläger nach links abgelenkt wurde.
Ich räusperte mich entschuldigend, während sie mich mit schiefem Blick ansah. »Ich habe mich wohl in der Etage geirrt. Eigentlich wollte ich ins FBI Field Office, nicht in die Manhattan Elementary.«
»Sorry, Iris«, sagte Phil grinsend. »Wir haben gerade Mittag gemacht und ...«
»Teriyaki Chicken und Erdnuss-Saté«, unterbrach sie, während sie die Tür hinter sich schloss.
Ich nickte anerkennend. Den Geruch, der noch im Raum hing, hatte ihre feine Nase perfekt analysiert.
»Wir würden dir ja was anbieten ...«
»Danke, Jerry, mein Besuch hat allerdings einen ernsten Anlass. Und der ist mir ziemlich auf den Magen geschlagen.«
Ich horchte auf. Dass das kein reiner Freundschaftsbesuch war, davon war ich ausgegangen, aber offenbar war der Anlass ernster als angenommen.
»Sagt euch der Name Lilian Banks noch etwas?«
Da musste ich nicht lange nachdenken. »Natürlich. Nathan Tripps ließ sie entführen, um ihren Dad unter Druck zu setzen.«
»Was nie zweifelsfrei bewiesen werden konnte«, warf Phil ein. »Dass es Tripps war, meine ich.«
»Stimmt. Der Besitzer des Hauses, in dem man sie fand, wurde zu fünfzehn Jahren verurteilt«, erinnerte ich mich. »Ein Komplize kam glimpflicher davon. Und Tripps zog seinen Kopf aus der Schlinge.«
Phil und ich waren aufgrund anderer Verpflichtungen nicht federführend an dem Fall beteiligt gewesen, dennoch hatte er unsere halbe Abteilung wochenlang in Beschlag genommen.
Iris nickte, während sie den Pappbecher in den Mülleimer warf und sich mit übereinandergeschlagenen Beinen auf den Bürostuhl pflanzte. Ich verharrte auf der Tischkante meines Schreibtischs.
»Sein Bruder Micky stand vor Gericht und wurde freigesprochen«, sagte sie. »Um die Tripps geht es aber nicht, jedenfalls nicht direkt.«
In knappen Worten erzählte sie uns, womit sie den frühen Morgen verbracht hatte.
»Rory Portnoy?«, hakte ich nach.
»Der Komplize, der glimpflich davonkam. Er wurde kürzlich entlassen und gestern Nacht brutal ermordet.« Iris umriss, was sie über die Tat wusste.
»Ein M?«, unterbrach ich sie, als sie zu der entscheidenden Stelle kam.
»So wie in Melody«, meinte mein Partner, der schon einen Schritt weiter war.
Ich nickte verstehend. Melody war ein Auswuchs von Lilians Fantasie gewesen. Eine imaginäre Freundin, die ihr dabei geholfen hatte, während der wochenlangen Gefangenschaft in diesem Kellerverlies nicht der Verstand zu verlieren.
Allerdings hatte sie bis zuletzt daran geglaubt, dass es sich bei der jungen Frau, die sie bis ins Detail beschreiben konnte, um eine reale Person handelte. Melody, so hatte sie nach ihrer Befreiung erzählt, habe sie regelmäßig besucht, ihr heimlich Essen gebracht und ihr Trost gespendet. Sie sei ihr rettender Engel gewesen, ohne den sie die wochenlange Isolation nicht überstanden hätte.
»Dann existiert Melody also doch?«, fragte ich in die kurze Stille hinein.
Iris sah mich mit ihren tiefblauen Augen stirnrunzelnd an. »Zumindest scheint Lilian nach wie vor fest daran zu glauben.«
»Soweit ich weiß, fanden die Kollegen in Tripps' Umfeld keinen Hinweis auf eine solche Person«, warf Phil ein.
Mein Blick blieb auf Iris gerichtet. »Du hast damals intensive Gespräche mit ihr geführt. Wenn ich mich recht erinnere, war deine Einschätzung ...«
»... dass Lilian während ihrer Gefangenschaft eine schwach ausgeprägte Dissoziationsstörung entwickelt hat«, meinte Iris. »Eine Reaktion ihres Gehirns auf die Angst und die Einsamkeit. Jetzt frage ich mich, ob das ein Irrtum war.«
»Hast du jemals eine Fehldiagnose erstellt?«, wollte Phil wissen.
Die Psychologin überging die Frage und legte den Kopf leicht schief. »Möglich, dass mich meine Kenntnis der Ermittlungsergebnisse und Lilians eigenes Verhalten in die Irre geführt haben.«
»Natürlich gibt es noch eine andere Möglichkeit«, wandte ich ein. »Lilian hat erfahren, dass Portnoy aus dem Knast entlassen wurde, und sich blutig gerächt.«
Iris schüttelte den Kopf, doch ich sah ihr an, dass dieser Gedanke auch an ihr nagte.
»Ich glaube nicht, dass sie das in sich hat«, sagte sie schließlich.
»Hattest du in den letzten sechs Jahren Kontakt mit ihr?«, fragte Phil.
»Sporadisch. Ich habe mich immer wieder erkundigt, wie es ihr geht, aber sie hat mich abgeblockt. Ich hatte das Gefühl, dass sie die Vergangenheit ruhen lassen will.«
»Dann weißt du nicht, was sich in dieser Zeit in ihr aufgestaut hat«, erwiderte ich. »Und wenn Melody wirklich ein Teil ihres eigenen Unterbewusstseins ist, könnte es dann nicht sein, dass dieser Teil stärker geworden ist und ohne ihr Zutun die Kontrolle übernimmt?«
Iris signalisierte mit einem Naserümpfen, was sie von dieser Theorie hielt. »Wir sind hier nicht bei Hitchcock. Persönlichkeitsspaltungen dieser Ausprägung sind zwar keine Fiktion, jedoch äußerst selten. Und dass sie durch eine relativ kurze, wenn auch traumatische Erfahrung ausgelöst wird, ist unwahrscheinlich.«
»Es gibt noch eine simplere Variante«, meinte Partner. »Wir suchen nach einer Mörderin, die Lilians Vergangenheit kennt und sich dieses Wissen zunutze gemacht hat, um uns auf eine falsche Fährte zu lenken.«
»Ihr sucht überhaupt niemanden«, sagte Iris. »Der Mord an Rory Portnoy fällt in den Zuständigkeitsbereich des NYPD.«
Ich nickte bedächtig. Das war uns natürlich klar, andernfalls wäre der Fall bereits auf unseren Schreibtischen gelandet. Nicht klar war, weshalb sich Iris überhaupt an uns gewandt hatte. Ich fragte sie danach.
»Ihr habt Nathan Tripps bestimmt weiter auf dem Schirm?«
»Natürlich«, antwortete ich. »Nach unserer Einschätzung kontrolliert er mehr denn je den Handel mit synthetischen Drogen in Brooklyn und Queens, auch wenn er schlau genug ist, sich nicht mit den Händen in der Keksdose erwischen zu lassen.«
Iris nickte und senkte verschwörerisch die Stimme. »Ich will euch nicht von eurer eigentlichen Arbeit abhalten, aber wenn euch danach ist, könntet ihr euch mal inoffiziell in der Szene umhören, ob etwas im Busch ist.«
»Du meinst, ob sich Tripps in letzter Zeit Feinde gemacht hat und der Mord an einem seiner Lakaien eine Warnung sein könnte?«, fragte ich. »Oder ob Tripps eine eigene Theorie hat, wer die Täterin sein könnte?«
Ein ironischer Zug legte sich um Iris McLanes Mundwinkel. »Wie schön, dass wir uns so gut verstehen.«
Micky Tripps schnappte sich einen Holzstuhl, drehte ihn um und nahm umgekehrt darauf Platz. Er stützte sich mit den Ellenbogen auf der Lehne ab und blickte auf sein Gegenüber herab.