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Es war ein paar Monate her, dass ich zuletzt mit Li-Ming telefoniert hatte. Phil und ich erinnerten uns sehr gut an die junge Frau. Ihr Verlobter, der Sohn eines Drogenbosses, war tot in einem Betonmischer aufgefunden worden. Sie selbst sollte nach Aussage ihres angehenden Schwiegervaters bei den Triaden sein. Das Telefonat mit der Chinesin wurde plötzlich unterbrochen, ohne dass wir erfuhren, warum sie angerufen hatte. Brauchte sie wieder unsere Hilfe? Noch am selben Tag erhielten wir einen neuen Auftrag. Im Kühlhaus eines Restaurants in Chinatown hatte der Koch eine Frauenleiche ohne Kopf entdeckt. Und wir fragten uns unweigerlich, steckten die Triaden dahinter?
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Seitenzahl: 144
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Goldener Drache
Vorschau
Impressum
Goldener Drache
Li-Ming hörte Schritte auf dem Flur und unterbrach rasch die Telefonverbindung. Ihr Vater stellte sich in die offen stehende Tür und sah sie mit strengem Blick an.
»Mit wem hast du gerade gesprochen?«, fragte er.
Li-Ming ging nicht darauf ein.
»Antworte! Suchst du wieder Hilfe bei den Agents vom FBI? Das würdest du bereuen.«
Sie erhob die Stimme. »Es geht dich nichts an, mit wem ich telefoniere, aber ich sage es dir ausnahmsweise. Es war eine Freundin.«
Er knallte wütend die Waffe auf den Tisch. »Erledige endlich deinen Auftrag. Ich gebe dir achtundvierzig Stunden Zeit. Erst danach wirst du aufgenommen.«
Ihr Vater wandte sich ab und ging. Er sah nicht, wie Li-Ming die Waffe hob und auf seinen Rücken zielte. Sie nahm die Pistole wieder herunter.
Nicht jetzt, dachte Li-Ming. Noch war nicht der richtige Zeitpunkt gekommen. Sie musste sich gedulden. Alle Vorbereitungen liefen ...
Im FBI Field Office in New York fing fast jeder Morgen erst einmal harmlos an.
Ich ging an meinen Schreibtisch und sehnte mich nach Kaffee. Phil hatte bereits eine volle Tasse vor sich stehen. Normalerweise brachte er mir immer eine mit, oder ich erledigte das für uns. Hier stimmte etwas nicht.
Anstatt zu trinken, gähnte er mit weit geöffnetem Mund, ohne sich die Hand davorzuhalten, was ebenfalls ungewöhnlich für ihn war.
»Das muss eine anstrengende Nacht gewesen sein«, sagte ich. »Fernsehen oder Frau?«
»Beides«, antwortete er. »Sie wollte unbedingt einen Psychothriller mit mir schauen und anschließend darüber diskutieren. So würde man viel über sein Gegenüber erfahren, gerade in der Anfangsphase des Kennenlernens.«
Ich hob eine Braue und lächelte. »Ach so, dann war es die anschließende Diskussion, die dir den Schlaf geraubt hat?«
»Nein, eine Diskussion fand nicht statt.« Phil gähnte wieder. »Es war eine Miniserie mit vier Staffeln. Ich habe nur zwei geschafft, dann bin ich eingeschlafen.«
Ich konnte es mir nicht verkneifen. »Bei einem Psychothriller schläfst du ein? Mit einer Frau in deinem Arm? Ich fasse es nicht. Du wirst alt, mein Freund.«
»Ganz ehrlich?«, fragte Phil. »Der Film hat mich nicht die Bohne interessiert. Unsere Arbeit und das wahre Leben sind viel spannender.«
Da musste ich ihm zustimmen. »Hauptsache, du konntest es anschließend wiedergutmachen.«
Phil schüttelte den Kopf. »Eben nicht. Sie war plötzlich verschwun...«
Mein Telefon klingelte, bevor er ausreden und ich ihn mit ein paar Worten trösten konnte. Ich nahm den Anruf entgegen.
»Hallo, Jerry, Li-Ming hier. Erinnerst du dich an mich?«
Der Name und die weibliche Stimme mit dem chinesischen Akzent waren mir bekannt, obwohl es ein paar Monate her war, dass Phil und ich in einem Ermittlungsfall Kontakt zu Li-Ming gehabt hatten.
»Selbstverständlich erinnere ich mich an dich, Li-Ming«, antwortete ich. Mir waren die genaueren Umstände eingefallen. Ihren Verlobten, den Sohn eines Drogenbosses, hatte man tot in einem Betonmischer aufgefunden, den zweiten Toten in diesem Fall kannten wir als den Enthäuteten vom Murderkill River. Li-Ming selbst war damals in die Schusslinie der Verdächtigen geraten. Ihr angehender Schwiegervater hatte vermutet, sie wäre Mitglied einer Triade. Das konnte jedoch nie bewiesen werden.
Ich war gespannt, was der Grund ihres Anrufs war, und ging nicht davon aus, dass sie sich nur mal so bei uns melden wollte, um sich nach unserem Befinden zu erkundigen. Warum hatte sie ihre Handynummer unterdrückt?
»Ich stelle auf laut«, sagte ich. »Phil möchte dich auch begrüßen.«
»Hallo, Li-Ming. Ist etwas passiert?«, fragte er. »Wirst du beschattet? Bedroht dich jemand?«
Li-Ming zögerte. »Ich weiß nicht so recht, ob ich ...«
»Li-Ming? Li-Ming! Bist du noch da?«, rief ich in das Mikrofon.
Stille.
»Auf die Rückruftaste können wir nicht drücken«, sagte Phil und zeigte auf das Display. »Moment, ich müsste ihre Handynummer im Telefonverzeichnis gespeichert haben.« Er rief seine Kontakte auf und wählte den Anschluss.
»Rufzeichen«, flüsterte er mir zu und stellte auf laut.
Es meldete sich der Ansagedienst. Selbst nach erneutem Wählen blieb die automatisierte männliche Stimme dabei, dass dieser Anschluss vorübergehend nicht erreichbar sei.
Phil lehnte sich entspannt zurück. »Li-Ming wird sich bestimmt wieder bei uns melden, wenn es wichtig ist«, beschwichtigte er mich und schloss für einen Moment die Augen.
»Mag sein«, sagte ich. »Ich hole mir einen Kaffee. Möchtest du auch noch einen?«
»Nein danke. Der macht mich immer so schläfrig.«
Li-Ming stierte auf die Pistole in ihrer Hand, mit der sie eben noch auf den Rücken ihres Vaters gezielt hatte. Er hatte von ihr verlangt, jemanden innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden zu erschießen. Durch das Töten einer x-beliebigen Person sollte sie ihre Skrupellosigkeit unter Beweis stellen, zeigen, dass ihr ein Menschenleben nichts wert und sie jederzeit dazu bereit war, es auszulöschen.
Li-Ming wusste, was dem Bewerber blühte, wenn er Mitglied in einer chinesischen Verbrecherorganisation werden wollte. Versagte er bei der Prüfung, musste er mit seinem eigenen Leben bezahlen. Sollte er tatsächlich aufgenommen werden und sich eines Tages wieder abwenden wollen, erging es ihm nicht besser. Er stellte eine Gefahr für die Triade dar und würde für immer beseitigt werden.
Sie legte die Pistole vorsichtig auf den Tisch. Der Lauf deutete zur Tür.
Zwar kannte Li-Ming die Gesetze einer Triade, aber nie im Leben hätte sie damit gerechnet, dass sie selbst als Tochter des Gangsterbosses diese Hürde nehmen müsste. Das bedeutete, sie durfte sich keinesfalls in Sicherheit wiegen. Ihr Vater würde auch ihr gegenüber rücksichtslos sein.
Dabei hatten sie sich früher sehr nahe gestanden. Als Zehnjährige hatte sie von dem tragischen Unfall ihrer Mutter und ihres Onkels erfahren, bei dem beide ums Leben gekommen waren. Ab dem Zeitpunkt hatte sie sich an ihren Vater geklammert und große Angst gehabt, ihn auch noch zu verlieren.
Erst als Erwachsene hatte sich Li-Ming getraut, der Sache mit dem Unfall auf den Grund zu gehen. Sie hatte ihrer Tante Hao, der Frau des verstorbenen Onkels, einen Überraschungsbesuch abgestattet, um sie nach den genauen Todesumständen zu befragen. Die Tante lebte in einer Anstalt. Angeblich sollte sie verrückt geworden sein. Davon wollte sie sich selbst überzeugen.
»Ich wusste, dass du eines Tages zu mir kommst, meine Schöne«, begrüßte Tante Hao sie und umarmte sie lange. »Setz dich. Du willst wissen, wie deine geliebte Mutter und mein lieber Mann ums Leben gekommen sind, richtig?«
Li-Ming nahm ihr gegenüber Platz und hielt die zittrigen Hände der alten Frau fest.
Die Augen der Tante glänzten wässrig, als sie weitersprach. »Deine Mutter und dein Onkel hatten einen Komplott gegen deinen Vater geschmiedet. Sie wollten nicht länger unschuldige Mädchen zur Prostitution zwingen und den Menschenhandel unterstützen.«
»Haben sie Vater bei der Polizei angezeigt?«, fragte Li-Ming.
»Nein, dann wären auch sie sofort festgenommen worden. Sie wollten nur aussteigen und mit alldem nichts mehr zu tun haben. Glaube niemanden, der dir weismachen will, die beiden hätten ein Verhältnis gehabt. Es gab keinen treueren Ehemann als deinen Onkel. Ach, wie habe ich ihn geliebt.« Sie schluchzte und wischte sich ein paar Tränen weg.
»Und der Unfall?«, fragte Li-Ming.
»Unfall? Welcher Unfall? Sie wurden aus dem Hinterhalt erschossen.«
Li-Ming riss Mund und Augen auf. »Hat Vater sie ...?«
»Wo denkst du hin? Der macht sich nicht die Hände schmutzig. Dafür hat er seine Leute. Nur mich hat er am Leben gelassen, weil nur ich weiß, wo die Goldbarren versteckt sind, die er einmal erben soll.«
Li-Ming interessierten die Goldbarren nicht. Sie hatte die grausame Wahrheit über den Tod ihrer liebsten Menschen erfahren. Für sie war eine Welt zusammengebrochen. Nein, ihre Tante war nicht verrückt, sondern ihr Vater.
»Versprich mir, dass du es niemandem erzählst«, bat die Tante.
»Das mit Mutter und Onkel?«, fragte Li-Ming.
Sie schüttelte den Kopf. »Das, was ich dir jetzt über die Goldbarren erzähle.«
»Mache ich nicht«, versprach Li-Ming. »Aber du musst mir nicht sagen, wo sie sind.« Sie wollte später nicht verdächtigt werden, sie der Tante gestohlen zu haben.
»Doch, du bist die Einzige, der ich vertrauen kann, und ich muss es endlich einmal loswerden.«
Li-Ming seufzte.
Tante Hao holte tief Luft.
»Ich habe nie Goldbarren geerbt. Solange er meint, er könnte herausfinden, wo sie stecken, bleibe ich am Leben.« Sie kicherte wie ein Teenager. »Was will ich mehr? Auch die Ärzte und Pfleger kümmern sich rührend um mich, nachdem ich eine Andeutung über das Gold gemacht und gesagt habe, dass ich mich eines Tages erkenntlich zeigen werde.« Sie winkte Li-Ming zu sich und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ich bin müde, Li-Ming. Pass auf dich auf, meine Schöne, und denke immer daran, dein Vater ist ein Teufel. Vertraue ihm nicht.«
Seit dem Gespräch mit Tante Hao hatten ihre Rachegefühle zu lodern begonnen, hatte sie den innigen Wunsch verspürt, Teil seiner Triade zu werden, damit sie das Feuer entfachen konnte.
Phil und ich beschlossen, nicht länger auf den Rückruf von Li-Ming zu warten, und sprangen gleichzeitig auf, als das Telefon klingelte.
»Guten Morgen, Jerry«, sagte Helen und atmete tief durch.
Das machte sie immer, wenn sie uns etwas Unangenehmes mitzuteilen hatte. Nach so vielen Jahren der Zusammenarbeit und Sympathie hörte man die Feinheiten heraus.
»Ist Phil bei dir?«, fragte sie.
Ich stellte auf laut.
»Guten Morgen, Helen. Ja, ist er«, sagte Phil. »Was ist los? Du kannst uns alles schonungslos sagen.«
»Leider nichts Gutes. Mister High möchte, dass ihr sofort zu ihm kommt. So besorgt habe ich ihn schon lange nicht mehr erlebt.«
»Da sind Sie ja«, begrüßte uns Mr. High wenig später und wünschte uns einen Guten Morgen. »Bitte nehmen Sie Platz.« Er räusperte sich und deutete zum Flachbildschirm, auf dem etwas zu sehen war, was man nicht am frühen Morgen sehen wollte – auch nicht am Mittag oder Abend. Er beugte sich nach vorne. »Das ist in Chinatown auf der Mott Street im Restaurant White Snake. Wir sehen hier den Kühlraum, wo man die Leiche in den frühen Morgenstunden gefunden hat. Die Spurensicherung hat ihre Arbeit bereits aufgenommen.« Er lehnte sich wieder zurück und ließ das Bild wirken.
Wir mussten nicht lange rätseln, was an der Toten so ungewöhnlich war.
»Wie unschwer zu erkennen ist«, fuhr Mr. High fort, »fehlt der Kopf der Toten. Dennoch wissen wir, wie sie heißt und wer sie ist. Am Kittel war ihr Namensschild befestigt. In der Kitteltasche befand sich der Schlüssel vom Spind, im Spind ihre Handtasche und darin der Führerschein. Es gibt also bei der Personenerkennung erst einmal keine Zweifel. Es sei denn, jemand wollte uns bewusst damit in die Irre führen.« Er blendete mit einem Klick die Vorder- und Rückseite ihres Führerscheins ein.
Ich kniff die Augen zusammen.
»Die Aufnahmen vom Tatort und diese Dokumente finden Sie ab sofort in der elektronischen Akte. Auf dem Foto sehen wir Bo Shine mit langem rotem Haar abgelichtet. Haarfarbe und Frisur könnten sich im Laufe der Zeit verändert haben, darauf dürfen wir uns nicht festlegen. Bo Shine lebte mitten in Chinatown, was für eine Amerikanerin ungewöhnlich ist, da dort die Chinesen normalerweise unter sich bleiben wollen. Solange die Spuren gesichert werden, befragen Sie bitte die Kollegen aus dem Restaurant und das soziale Umfeld der Frau. Ich habe den Fall zu einer dringenden FBI-Sache erklärt. Sie werden mir sicher zustimmen, Agents, dass wir es bei dieser brutalen Vorgehensweise eindeutig mit einer Triade zu tun zu haben.«
Phil nickte.
Ich bestätigte das ebenfalls mit einem Kopfnicken und äußerte das, woran Mr. High und Phil jetzt sicher dachten. »Demnach müsste der Kopf von Bo Shine zur Warnung an jemanden überbracht oder geschickt worden sein, entweder an die Konkurrenz oder an einen Verräter in den eigenen Reihen.«
»Korrekt«, sagte Mr. High, »deshalb hat die Angelegenheit höchste Priorität. Wir müssen einen Gegenanschlag in Chinatown verhindern. Wir wollen keine zweite blutige Straßenschlacht, keinen Bloody Angel, so wie seinerzeit in der Doyers Street. Passen Sie auf sich auf, Jerry und Phil. Holen Sie sich Verstärkung, sobald Sie abschätzen können, dass es allein nicht machbar ist. Ich wünsche keine halsbrecherischen Alleingänge.«
Wir nickten, weil wir wussten, wie er das meinte. Wann eine Situation gefährlich wurde, war nicht immer vorhersehbar. Gestern Abend waren wir noch der Meinung gewesen, Chinatown wäre friedlicher geworden, was die öffentlichen Hinrichtungen und Triadenkämpfe anging. Doch diese Stadt in der Stadt war nach wie vor der Unterschlupf für das nicht zu unterschätzende und immer und ewig existierende organisierte Verbrechen, dem es nicht an Nachwuchs mangelte.
Für diesen Einsatz ließ ich den Jaguar in der Tiefgarage des Jacob K. Javits Federal Building stehen und stieg mit Phil in einen unauffälligeren Wagen der Fahrbereitschaft.
»Wissen wir schon, ob die Tote in der Gerichtsmedizin ist?« Phil rieb sich den Bauch.
»Ist sie«, klärte ich ihn auf, »habe es vorhin in der Akte gelesen. Das bewahrt uns nicht davor, den Kopf suchen zu müssen. Es sei denn, die Crime Scene Unit entdeckt ihn während der Spurenermittlung.«
Mein Partner hatte wenig Hoffnung. »Höchst unwahrscheinlich, wenn wir uns auf die Theorie stützen, dass mit der Kopfabtrennung etwas bezweckt werden sollte. Also dürfte der Kopf längst auf der Reise sein oder bereits beim Empfänger für Schrecken gesorgt haben.«
Er zog das Tablet zu sich und rief die Akte auf.
Am Ziel angekommen, scherte ich in eine Parklücke ein, die gerade frei geworden war. Der Fußweg führte uns an unzähligen prall gefüllten Kisten mit Obst- und Gemüsesorten und asiatischen Delikatessen vorbei. An den Streetfoodständen wehten uns köstliche Gerüche entgegen. Hier frittierte man Fisch und Fleisch im siedend heißen Öl, dort brodelten in großen Kesseln Suppen mit undefinierbaren Zutaten. Überall herrschte reges Treiben.
Wir gingen auf direktem Weg zum White Snake, das seit den frühen Morgenstunden zum Tatort geworden war.
Säulenartige goldene Drachen links und rechts des Eingangs symbolisierten Glück und ein langes Leben. An der gläsernen Tür hing ein Geschlossen-Schild. Dennoch klingelte ich, als hätte ich das Schild übersehen.
Phil suchte in der Zwischenzeit nach einem Hintereingang. Er verschwand in der schmalen Seitengasse links des Hauses.
Ich veränderte den Blickwinkel durch die Glastür und versuchte, an der mannshohen chinesischen Vase im Flur vorbeizusehen. Aus einem der Zimmer trat ein Chinese auf den Flur, den Kopf gesenkt. Ich machte mich diesmal durch Klopfen bemerkbar, falls die Klingel nicht funktionierte.
Er ging kopfschüttelnd auf mich zu. Seine dunkelblaue Jacke mit Mandarinkragen war mit ineinander verschlungenen goldfarbenen Drachen verziert. Obwohl ich meinen Dienstausweis nicht gegen das Türglas gehalten hatte, schien er zu ahnen, wem er die Tür aufmachen sollte. Er kehrte rasch um und lief bis zum Ende des Gangs, wo er scharf rechts abbog.
In dem Moment kam Phil schulterzuckend zurück.
»Andere Seite!«, rief ich.
Wir liefen los. Die enge Gasse war mit Müllcontainern zugestellt. Wir zwängten uns daran vorbei und stoppten abrupt vor einer Klappe im Boden, die sich langsam öffnete. Etwas Blau-Goldenes blitzte daraus hervor, nur für einen Moment, dann fiel die Klappe wieder zu.
Ich riss sie hoch und ließ Phil den Vortritt.
Mit der Glock im Anschlag hasteten wir einen verwinkelten Gang entlang. Schritte hallten auf dem gefliesten Boden vor uns. Plötzlich verstummten sie.
Wir blieben stehen und hörten das schwere Atmen des Flüchtenden. Phil gab mir Deckung. Ich drückte mich dicht an die Wand und schlich um die Ecke.
Schritte! Diesmal hörten sie sich an, als würde der Mann über die Treppe nach oben fliehen, in den Gastraum. Wir überlegten nicht lange und stürmten los.
Der Chinese war spurlos verschwunden. In diesem Raum gab es zahlreiche Möglichkeiten, sich hinter der Theke, den Bänken und den Milchglasabtrennungen der Tischbereiche zu verschanzen.
Nach Sekunden der Anspannung durchbrach ein umfallender Stuhl die Stille. Der Verfolgte war unter einem Tisch hervorgeschnellt, warf Gegenstände durch den Raum und tat alles, um uns aufzuhalten.
Eine Tür krachte ins Schloss.
Phil und ich teilten uns auf. Er durfte uns nicht auf die Straße entwischen und in der Menschenmenge abtauchen. Doch die Eingangstür war nach wie vor verschlossen. Vom Flur aus gingen mehrere Türen ab, keine davon stand offen.
Ich sah meinen Partner an und hielt einen Finger an meine Lippen.
Da war es wieder, das rasselnde Atmen, diesmal vermischt mit einem leisen Jammern.
Wir gingen dem Geräusch nach und entdeckten den Chinesen hinter der mannshohen Vase im Flur. Dort hockte er wie ein Häufchen Elend.
Ich steckte meine Glock zurück ins Holster und forderte ihn auf, langsam mit erhobenen Händen aufzustehen.
Währenddessen hielt Phil ihn mit seiner Pistole in Schach.
Vorsichtig erhob sich der Mann und streckte die Arme in die Höhe. Seine Unterlippe zitterte.
»Okay«, sagte ich, nachdem ich ihn abgetastet hatte.
Phil steckte die Pistole weg.
Pflichtgemäß zeigten wir ihm unsere Dienstausweise, versuchten, ihn zu beruhigen. Wir führten ihn in den Gastraum zu den Tischen. Ich füllte ein Glas Wasser aus dem Kran ab und reichte es dem Chinesen. Er sollte seine auffällige Blässe verlieren und nicht jeden Moment umkippen.
Mit beiden Händen ergriff er das Glas, trank und bedankte sich mit mehreren tiefen Kopfverbeugungen.
»Warum sind Sie geflüchtet?«, fragte ich.
Schweigen.
Phil holte sein Notizbuch hervor.
»Name?«, probierte ich es erst einmal damit. Seinen Namen musste er kennen.
Er nannte ihn tatsächlich. Doch es half uns im Moment wenig weiter, da er aus vielen einsilbigen Wörtern bestand. Ich sah auf Phils Notizen. Außer einem Meng stand dort nichts.
Eines war sicher, den Namen des Restaurantbesitzers Cheng Hong hatten wir nicht herausgehört.
»Was machen Sie hier?«, versuchte ich erneut, ihm die Sprache zu entlocken.
Wieder zuckte er mit den Schultern, deutete zum angrenzenden Raum. Den Bullaugen in der doppelflügeligen Schwingtür nach befand sich dort die Küche.
»Wollen Sie uns etwas zeigen?«, fragte Phil.
Der Chinese hob wieder die Hände in die Höhe und schob sich seitwärts wie ein Krebs zur Küchentür.
Wir folgten ihm.