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Ein lokaler Homeshoppingsender wurde am späten Abend zum Schauplatz einer dramatischen Geiselnahme. Ein Start-up-Unternehmer warb gerade vor der Kamera für seine Nahrungsergänzungsmittel, als zwei Maskierte das Studio stürmten und ihn und acht weitere Personen als Geiseln nahmen. Das Verhalten der Geiselnehmer gab allerdings Rätsel auf. Sie stellten keine konkreten Forderungen und kündigten an, bis zum Ablauf eines Ultimatums eine der Geiseln zu erschießen. Alle Versuche, mit den Unbekannten in Kontakt zu treten, scheiterten. Nach einer hitzigen Debatte beschlossen wir vom FBI dennoch, den Gewalttätern keine Bühne zu bieten, sondern das Sendesignal heimlich zu blockieren. Die Hoffnung, dass die Maskierten auf diese Finte hereinfielen, wurde jedoch enttäuscht, als kurz darauf auf einem Parkplatz eine Bombe explodierte!
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Seitenzahl: 141
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Licht, Kamera – und Action!
Vorschau
Impressum
Licht, Kamera – und Action!
»Ladys und Gentlemen, ich höre gerade aus der Regie, dass Sie uns das Produkt förmlich aus den Händen reißen. Gut für alle, die eines ergattern konnten, und schlecht für alle anderen, denn die schauen gleich in die Röööhre ...«
Die Worte der blonden Moderatorin prasselten wie Maschinengewehrsalven auf die Zuschauer ein.
Der adrette junge Mann an ihrer Seite nickte eifrig. »Völlig richtig, Maureen. Unsere Lager sind nämlich so gut wie leer. Wir verkaufen hier nur noch unseren letzten Restposten ab ...«
»Wählen Sie deshalb gleich die eingeblendete Nummer und ...«
Die Worte der Moderatorin stoppten abrupt, und ihr Blick wanderte zu einem Punkt hinter der Kamera. Und während sich die wenigen Zuschauer vor den Bildschirmen noch fragten, was dort gerade passierte, verließ ein spitzer Schrei ihre Kehle.
Der Anruf aus dem Office erreichte mich kurz nach elf am Abend. Ich hatte es mir gerade mit einer Tasse Rooibostee und einem Buch auf der Couch bequem gemacht. Das Buch, ein halb fiktionaler Roman über den amerikanischen Bürgerkrieg, hatte ich schon vor einem halben Jahr begonnen und war in dieser Zeit erst bis zur Hälfte gekommen. Das lag weniger an der Qualität des Romans und mehr an meinem Arbeitspensum, das mir kaum noch Zeit für private Vergnügen gelassen hatte.
Auch heute war ich erst nach neun aus dem Büro gekommen, hatte mir eine Hühnersuppe aufgewärmt und mir danach vorgenommen, vor dem Schlafengehen noch mindestens eine halbe Stunde zu lesen.
Ich kam bis zum dritten Absatz, als mein Handy klingelte und die Mobilnummer meines Chefs auf dem Display aufleuchtete. Offenbar war auch er nicht mehr im Büro, was keineswegs selbstverständlich war. Mr. High war dafür bekannt, dass er als Erster im Field Office erschien und als Letzter ging. Wie viele Stunden er insgesamt arbeitete, wusste ich nicht. Dass er mich um diese Uhrzeit nach Dienstschluss anrief, hieß, etwas musste passiert sein. Mr. High war streng zu sich selbst, doch seine Mitarbeiter klingelte er nicht grundlos aus dem wohlverdienten Feierabend.
Ich meldete mich mit einem knappen »Sir?«, dann hörte ich auch schon seine sonore Stimme.
»Jerry, sitzen Sie gerade vor dem Fernseher?«
Mein Blick wanderte zu dem Flachbildschirm. »Äh, ja, aber er ist ausgeschaltet.«
»Dann schalten Sie ihn an. Kanal 235.«
Ich stutzte. In das New Yorker Kabelnetz werden Hunderte Sender eingespeist, nur so weit war ich selten vorgedrungen.
Die Fernbedienung lag vor mir auf dem Couchtisch. Ich schaltete ein, dann tippte ich die entsprechenden Ziffern ein. Mit einer kurzen Verzögerung schaltete der Kanal um. Und was ich dann zu sehen bekam, ließ mich meine Lektüre schlagartig vergessen.
Bei dem Sender handelte es sich um einen Homeshoppingkanal. Vor einer sterilen Kulisse stand ein Tisch, auf dem das beworbene Produkt ausgestellt war. Umrahmt wurde es von zwei Stühlen, auf denen ein Mann und eine junge Frau saßen, die starr in die Kamera blickten. Sie waren es nicht, die mir einen kleinen Schock versetzten. Es waren die beiden maskierten Gestalten, die sich hinter ihnen aufgebaut hatten. Jede mit einer Pistole in der Hand, die sie den Co-Moderatoren an die Schläfen hielten. Die Masken waren schwarz und aus Leder und sahen aus wie aus einem SM-Shop. Auch ohne die Waffen hätten sie bedrohlich und martialisch gewirkt.
Ich räusperte mich, um den Frosch aus meiner Kehle zu vertreiben.
»Eine Geiselnahme?« Ich formulierte das als Frage, obwohl das Sendebild mir bereits die Antwort gab.
»Die beiden Männer haben vor etwa einer halben Stunde das Studio gestürmt. Wenig später gingen die ersten Notrufe besorgter Zuschauer bei den Behörden ein. Nach kurzer Zeit war klar, dass es sich dabei um keinen schlechten Scherz handelt.«
»Haben die Geiselnehmer irgendwelche Forderungen gestellt?«, wollte ich wissen.
»Bisher nicht. Sie haben ... Ach, am besten kommen Sie einfach her und sehen es sich selbst an. Phil ist ebenfalls informiert. Er wartet auf Ihren Anruf.«
Dass mein Chef schon am Ort des Geschehens war, hatte ich mir fast gedacht. Ich ließ mir die Adresse geben. Die meisten TV-Sender haben ihre Studios direkt in Manhattan. Die von GoldShoppingPlus lagen in einem Industriegebiet im Osten von Hoboken. Wenn der Verkehr mitspielte, brauchte ich von meinem Apartment in der Upper West Side aus etwa zwanzig Minuten.
Schnell beendete ich das Telefonat mit meinem Chef. Mein Partner ging schon nach dem ersten Klingeln dran und meldete sich mit hellwacher Stimme.
»So viel zu einem geruhsamen Feierabend«, meinte er.
Wir verständigten uns darauf, dass er an unserer üblichen Ecke auf mich wartete und wir gemeinsam nach Hoboken fuhren.
Keine zehn Minuten später sammelte ich Phil ein, und wir machten uns in meinen Jaguar F-Type auf den Weg zum Holland Tunnel.
Kaum hatte mein Partner auf dem Beifahrersitz Platz genommen, schaltete er sein Handy ein und rief über die Website den Livefeed von GoldShoppingPlus auf.
Bisher hatte sich nicht viel getan. Die beiden Maskierten standen noch immer wie die Ölgötzen vor ihren Geiseln, die sich ebenfalls kaum zu rühren wagten.
»Verrückte Nummer«, meinte mein Partner mit kratziger Stimme. »Wer überfällt denn einen Homeshoppingsender?«
»Jemand, dem es nur darum geht, Geiseln zu nehmen, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen«, gab ich zurück. Vermutlich waren die Sicherheitsvorkehrungen in dem Studio nicht besonders hoch.
»Welche Forderungen?«, fragte Phil.
Ich sah ihn von der Seite an. Da hatte er einen Punkt. Sollten die zwei noch immer keine Forderungen gestellt haben, stellte sich tatsächlich die Frage, was sie mit ihrer Aktion bezweckten.
Wir kamen gut durch den Holland Tunnel. Der Feierabendverkehr war längst abgeebbt, und an einem Wochentag hielt sich der Besucheransturm aus New Jersey in Grenzen.
Wir erreichten Newport in der normalen Zeit. Unser Ziel war jetzt nur noch zehn Minuten entfernt, und das benachbarte Hoboken war an diesem Abend wie ausgestorben.
Wir fuhren in Ufernähe. Die schlichten Flachbauten bildeten einen deutlichen Kontrast zu der Skyline Manhattans, die sich jenseits des Hudson River majestätisch in den violetten Nachthimmel erhob. Ein Kaleidoskop aus Farben und Formen, jede mit einer eigenen Geschichte, die sich dahinter verbarg.
Ich konzentrierte mich auf die spärlich befahrene Fahrbahn und bog an einer Kreuzung links ab. Bereits aus einiger Entfernung sahen wir die Polizeibarriere und zwei Streifenwagen, die die Straße abriegelten. In größerem Abstand dahinter entdeckte ich weitere Einsatzfahrzeuge, die ihr rot-blaues Licht über den Asphalt und die Hauswände zucken ließen.
Ich parkte hundert Yards vor der Absperrung in einer wie für den F-Type gemachten Lücke. Wir stiegen aus und gingen auf den wachhabenden Uniformierten zu. Noch auf halbem Weg nestelte ich meine ID Card aus der Tasche. Der Cop warf nur einen Blick darauf. Bestimmt hatte Mr. High dafür gesorgt, dass er über unser Erscheinen informiert war. Er nickte uns nur zu, während er das Band löste. Nachdem wir passiert hatten, sagte er irgendetwas in sein Walkie-Talkie.
Obwohl es sich bei GoldShoppingPlus um einen kleinen Sender handelte, war das Gelände, auf dem er sich befand, recht weitläufig. Vermutlich deshalb, weil er im Grunde ein Versandhaus war, das seine Waren im TV bewarb und diese in entsprechenden Lagerhallen hortete. Ich zählte zwei kleinere Logistikhallen neben einem schlichten Bürogebäude, in dem wahrscheinlich auch das Studio untergebracht war.
Während ich nach einem Gesprächspartner Ausschau hielt, fiel mein Blick auf Mr. High. Er stand zusammen mit Steve Dillaggio neben zwei Uniformierten und einem Mann in Militäruniform. Alle waren so ins Gespräch vertieft, dass sie uns erst bemerkten, als wir direkt neben ihnen stehen blieben.
Unser Chef verzichtete auf lange Begrüßungsarien und kam gleich zur Sache.
»Jerry, Phil, das ist Captain Mulligan vom HRT.«
Wir begrüßten uns knapp. Das Hostage Rescue Team war eine Spezialeinheit des FBI. Ihre Aufgabe waren vor allem Geiselbefreiungen innerhalb der USA, in manchen Fällen sogar im Ausland.
»Wir sind gerade dabei, ein Team zusammenzustellen«, erklärte der etwa Vierzigjährige mit den streichholzkurzen Haaren und dem kantig-markanten Gesicht.
»Das wird in frühstens zwei Stunden einsatzfähig sein«, erklärte Mr. High. Unser Chef trug einen schwarzen Mantel, der von dem dazugehörigen Gürtel eng um seinen schlanken Körper geschlungen war. »Aber aktuell setzen wir ohnehin noch auf Deeskalation«, fügte er schnell hinzu.
Ich nickte zustimmend. Geiselbefreiungen waren eine heikle Angelegenheit, auch wenn sie von Profis durchgeführt wurden.
»Ist bereits ein Negotiator vor Ort?«, fragte ich.
»Steht bereit«, meinte Steve. »Bisher kam er leider noch nicht zum Einsatz.«
»Die Geiselnehmer weigern sich, mit uns in Kontakt zu treten«, sagte Mr. High. »Wir erhielten bisher nur einen Anruf, in dem einer der Geiselnehmer mit scharfen Worten davor warnte, die Liveübertragung zu stoppen. Seine Worte waren: ›Wenn ihr uns den Stecker zieht, knallt's.‹«
»Haben sie inzwischen wenigstens ihre Forderungen gestellt?«, erkundigte sich Phil.
Mr. High und Steve tauschten einen Blick, dann zuckte unser blonder Kollege mit den Schultern und klappte die Hülle eines Tablets auf, das er unter den Arm geklemmt hatte.
»Bildet euch selbst ein Urteil.«
Er rief ein Video auf, dann hielt er Phil und mir den Bildschirm entgegen. Ein Videofenster zeigte einen Mitschnitt des Programms von GoldShoppingPlus. Es was das gleiche Bild, das ich mir vor nicht ganz einer Dreiviertelstunde auf dem heimischen Fernseher angesehen hatte. Die beiden Geiselnehmer mit ihren Opfern. Waren sie zuvor stumm geblieben, ergriff nun einer der Maskierten das Wort.
r richtete sich direkt an die Kamera, während er mit fester Stimme sprach. »Vierundzwanzig Stunden bis zur Ziehung der Lottozahlen. Wir erwarten sechs Richtige, sonst fließt Blut.«
Das war alles, dann brach die Aufnahme ab. Ich räusperte mich und tauschte einen Seitenblick mit meinem Partner.
»Was soll das denn für eine Forderung sein?«, knurrte Phil. »Hat denen keiner beigebracht, sich bei einer Geiselnahme verständlich auszudrücken?«
Ich spielte das Video noch einmal ab und tastete jedes Wort nach konkreten Hinweisen ab, meine Ratlosigkeit blieb.
»Ziehung der Lottozahlen?«, sagte ich mehr zu mir selbst.
»Es gibt keine Ziehung in dem genannten Zeitfenster«, erwiderte Steve. »Es muss sich um einen Code handeln. Er richtet sich an jemanden vor dem Bildschirm. Und das sind vermutlich nicht wir.«
Ich runzelte die Stirn. Was mein Kollege da sagte, ergab Sinn, doch wenn der eigentliche Adressat dieser Drohgebärden ein Unbekannter war, machte das unsere Arbeit nicht gerade einfacher.
»Wie viele Geiseln befinden sich in der Gewalt der Männer?«, wolle ich wissen.
»Soweit wir wissen, müssten es acht sein«, antwortete Steve. »Die Moderatorin Maureen Hessler. Der Mann neben ihr heißt«, er warf einen Blick auf eine Notiz, »Dominic Baxter. Ein Unternehmer, der bei dem Sender seine Nahrungsergänzungsmittel bewirbt. Außerdem zwei Kameraleute, drei Personen aus der Regie und ein Wachmann. Um diese Uhrzeit arbeitet der Sender mit minimalem Personal. Auf dem übrigen Gelände hielten sich nur fünf weitere Securityleute auf, die allerdings der Aufforderung der Geiselnehmer gefolgt sind und sich vom Gelände zurückgezogen haben.«
»Irgendwelche Erkenntnisse darüber, wie die Männer überhaupt in den Sender gelangt sind?«, fragte ich.
»Keine. Da er nachts streng bewacht wird, halte ich es für möglich, dass sie am Tag auf das Gelände gelangt sind und sich dort versteckt haben. Wir haben bereits eine Liste sowohl der Besucher als auch aller Mitarbeiter angefordert, und gehen sie gerade durch.«
Ich nickte. Der Verdacht, dass sich die Männer als Mitarbeiter Zugang verschafft hatten, war nicht abwegig. Vielleicht fanden wir bald einen ersten Hinweis.
»Ist der Kanal weiter auf Sendung?«, fragte Phil.
»Bisher haben wir uns an die Forderung der Geiselnehmer gehalten und nicht den Stecker gezogen«, sagte Mr. High. »Ben arbeitet bereits an einer Methode, bei dem das Sendesignal nur nach außen geblockt wird, aber im Inneren des Senders weiterhin empfangen werden kann.«
Ich nickte anerkennend. Das konnte funktionieren. Wenn die Geiselnehmer gar nicht mitbekamen, dass die Übertragung unterbrochen wurde, gab es auch keine Konsequenzen zu befürchten. Ich hoffte, dass der Plan aufging. Dass sich unser technisches Wunderkind Ben Bruckner der Sache angenommen hatte, stimmte mich zuversichtlich. Wenn es irgendeine Möglichkeit gab, konnten wir nicht zulassen, dass die Geiselnehmer ihr Schreckensshow live in alle New Yorker Wohnzimmer und über das Internet landesweit übertrug.
Steve nahm das Tablet wieder an sich und rief wieder den Livefeed des Homeshoppingkanals auf.
Aus dem Augenwinkel sah ich, dass sich an der Szenerie nichts verändert hatte. Wie lebende Mahnmale standen die Bewaffneten hinter ihren Geiseln. Die Blicke hatten sie fest in die Kamera gerichtet, aber auch ich war mir inzwischen ziemlich sicher, dass sie einer bestimmten Person galten, die irgendwo in dieser Stadt vor dem Fernseher saß und möglicherweise als einzige wusste, was die Geiselnehmer mit ihrer Aktion bezwecken wollten.
»Gentlemen, ich muss mich verabschieden«, meinte Mr. High schließlich. »Der Bürgermeister erwartet mich in einer halben Stunde in seinem Büro.«
Mir war aufgefallen, dass unser Chef in den letzten Minuten immer wieder auf seine Armbanduhr geblickt hatte.
»Wir halten hier die Stellung«, versprach ich.
Mr. High nickte knapp, die Lippen ein dünner Strich, was ein sicheres Anzeichen dafür war, dass auch er unter enormer Anspannung stand. Situationen wie diese waren nie leicht, für keinen von uns.
»Jerry ...« Steves Stimme riss mich aus den Gedanken. Mein Blick fiel auf das Tablet. Das Videofenster war schwarz. Ben hatte ganze Arbeit geleistet. Das Sendesignal war unterbrochen. Jetzt konnten wir nur hoffen, dass die Geiselnehmer nichts davon merkten.
Mein Blick wanderte zu dem Sendergebäude, in dem sich in der letzten Stunde dramatische Szenen abgespielt hatten. Die nächsten würden zeigen, ob wir das Drama unblutig beenden konnten. Sicher war in diesem Moment nur eines: Vor uns lag eine lange Nacht.
Tyrone Williams ließ ein herzhaftes Gähnen vernehmen und warf einen Blick auf die Zeitanzeige in der rechten oberen Ecke des Überwachungsmonitors.
Es war kurz nach fünf, seine Nachtschicht auf dem Parkplatz des Brighton Medical Lab endete in knapp einer Stunde. Keine Sekunde zu früh, denn es fiel ihm immer schwerer, die Augen offen zu halten.
Dennoch war er mit diesem Job zufrieden. Die wenig anspruchsvolle Tätigkeit erlaubte es ihm, nebenbei für sein Medizinstudium zu büffeln. Obwohl in dem Labor auch nachts gearbeitet wurde, war jetzt deutlich weniger los als tagsüber. In den letzten sechs Stunden hatte er die Schranke nur ein knappes Dutzend Mal geöffnet, und das war ein Routinevorgang. Er übte den Job seit einem halben Jahr aus, die meisten Mitarbeiter kannte er längst vom Sehen. Mit dem ein oder anderen wechselte er auch ein freundliches Wort, bevor er sich gedanklich wieder in die Tiefen der menschlichen Anatomie begab.
Tyrone war am Ende seines Grundstudiums und trotz eines Stipendiums für Afroamerikaner darauf angewiesen, sich an drei Tagen in der Woche etwas dazuzuverdienen. Kurz nach sechs würde er in den Bus steigen, der vor dem Werkstor hielt. Eine halbe Stunde später würde er in Brooklyn ankommen und kurz vor sieben in seinem winzigen Studentenzimmer unter dem Dach eines alten Brownstonehauses für fünf Stunden in einen erholsamen Schlaf versinken. Die Vorlesungen hatte er extra so gewählt, dass sie an seinen Arbeitstagen auf den Nachmittag fielen.
So zumindest war der gewohnte Gang. Dass es an diesem Morgen ganz anders kommen würde, ahnte er noch nicht, als sein Blick auf einen der Überwachungsmonitore fiel. Eine Bewegung, aus dem Augenwinkel heraus wahrgenommen, hatte ihn aufgeschreckt. Tatsächlich sah er noch für etwa zwei Sekunden eine kompakte Gestalt in einem schwarzen Kapuzenpulli, die am Zaun entlang über den Parkplatz huschte und dann aus dem Bereich der Überwachungskamera verschwand.
Tyrone legte das Buch beiseite, griff nach seiner Taschenlampe und stemmte sich aus dem unter seinem Gewicht knarzenden Stuhl.
Was immer die Person hier wollte, allein die Tatsache, dass sie nicht den einzigen offiziellen Weg durch die Schranke genommen hatte, machte sie verdächtig.
Tyrone überlegte, ob ratsam war, um Verstärkung zu bitten, und entschied sich dagegen. Wahrscheinlich war es nur irgendein Obdachloser, der einen Schlafplatz suchte. Im schlimmsten Fall ein Junkie, der auf eine offene Wagentür hoffte. Von einem Autodieb war nicht auszugehen, denn der wäre mit seiner Beute nie durch die Schranke gekommen. Spätestens die ausfahrbaren Stahlkrallen im Asphalt hätten der Fahrt nach einigen Yards ein Ende bereitet.
Tyrone griff nach seiner blauen Uniformjacke, die über dem Stuhl hing, und verließ das Wachhäuschen. Die Sonne ging bereits auf, aber noch war die rötlich glimmende Glut zu schwach, um alle Schatten zu vertreiben.
Auf dem Parkplatz hatten etwa zweihundert Fahrzeuge Platz. Mehr als zwei Drittel waren selten belegt, und um diese Uhrzeit war es nur ein Bruchteil davon.
Im Licht der Parkplatzbeleuchtung blickte sich Tyrone auf dem Gelände um. Von einem Unbefugten war nichts zu sehen.
Er räusperte sich, dann schloss er das Wachhäuschen ab und stapfte mit weiten Schritten über den Asphalt. Er gab sich keine Mühe leise zu sein. Wenn sein forsches Auftreten den Eindringling in die Flucht trieb, sollte ihm das nur recht sein. So gut wurde der Job nicht bezahlt, dass Tyrone scharf darauf war, sich in Handgreiflichkeiten verwickeln zu lassen.
Nachdem er stehen geblieben war und eine Weile in das Zwielicht des einsamen Platzes gestarrt hatte, setzte er sich wieder in Bewegung. Er ging nicht quer über den Platz, sondern dicht an dem mannshohen Maschendrahtzaun entlang, der das Gelände umschloss. So war er zumindest auf einer Seite gegen einen möglichen Angriff geschützt und musste nicht ständig über die Schulter blicken.