Jerry Cotton 3466 - Jerry Cotton - E-Book

Jerry Cotton 3466 E-Book

Jerry Cotton

0,0
1,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Auf die Minute um acht Uhr abends fuhr vor dem Thurgood Marshall United States Courthouse am Foley Square ein Truck vor. Vor der großen Freitreppe entlud der Fahrer einen Container und verschwand im Gewühl der Straßen von Downtown Manhattan. Kurz darauf krachten mit infernalischem Lärm die Seitenwände des Containers herunter. Zum Vorschein kam ein gläserner Käfig. Darin stand ein elektrischer Stuhl, auf den ein Mann gefesselt war. Er trug einen Anzug. Sein Gesicht konnte man nicht sehen, denn über seinen Kopf hatte man eine schwarze Kapuze gezogen.
Rundum war der Glaskasten mit Zeitungsausschnitten geschmückt. Ihnen konnte man entnehmen, dass es sich bei dem Mann um Lawrence "Buster" Fletcher handelte, einen gedungenen Killer der Mafia. Obwohl er unzählige Menschenleben auf dem Gewissen hatte, hatte er bislang jedes Gerichtsverfahren als freier Mann verlassen. Ein QR-Code forderte dazu auf, im Internet über das Schicksal des Delinquenten abzustimmen - schuldig oder nicht schuldig.
Wie eine mahnende Überschrift thronte über allem eine Uhr, deren rot leuchtende Anzeige die Sekunden und Minuten herunterzählte. Buster Fletcher hatte noch dreiundfünfzig Minuten zu leben.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 141

Veröffentlichungsjahr: 2023

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

You are the law

Vorschau

Impressum

You are the law

Auf die Minute um acht Uhr abends fuhr vor dem Thurgood Marshall United States Courthouse am Foley Square ein Truck vor. Vor der großen Freitreppe entlud der Fahrer einen Container und verschwand im Gewühl der Straßen von Downtown Manhattan. Kurz darauf krachten mit infernalischem Lärm die Seitenwände des Containers herunter. Zum Vorschein kam ein gläserner Käfig. Darin stand ein elektrischer Stuhl, auf den ein Mann gefesselt war. Er trug einen Anzug. Sein Gesicht konnte man nicht sehen, denn über seinen Kopf hatte man eine schwarze Kapuze gezogen.

Rundum war der Glaskasten mit Zeitungsausschnitten geschmückt. Ihnen konnte man entnehmen, dass es sich bei dem Mann um Lawrence »Buster« Fletcher handelte, einen gedungenen Killer der Mafia. Obwohl er unzählige Menschenleben auf dem Gewissen hatte, hatte er bislang jedes Gerichtsverfahren als freier Mann verlassen. Ein QR-Code forderte dazu auf, im Internet über das Schicksal des Delinquenten abzustimmen – schuldig oder nicht schuldig.

Wie eine mahnende Überschrift thronte über allem eine Uhr, deren rot leuchtende Anzeige die Sekunden und Minuten herunterzählte. Buster Fletcher hatte noch dreiundfünfzig Minuten zu leben.

An diesem Morgen holte ich Phil nicht an der üblichen Ecke ab. Ich hatte mir den Vormittag freigenommen, um etwas für mein Karma zu tun. Ich steuerte den Jaguar um den Central Park herum, quer durch Harlem, über die Robert Kennedy Bridge und am East River entlang. Bald schon kündigte sich der New Fulton Fish Market durch seinen unverkennbaren Geruch an, lange bevor die ersten Buden zu sehen waren.

Südlich der Markthallen, am Hunts Point, stellte ich den Wagen ab und stieg aus. Vor mir, träge im Wasser liegend wie eine schwimmende Festung, erhob sich ein Komplex, der nur noch entfernt daran erinnerte, dass es sich hier um ein Schiff handelte. Die abweisenden Wände aus dicken Stahlplatten waren hundertmal grau und blau überstrichen worden, vermutlich von den Bewohnern des Ungetüms. Und hundertundeinmal hatte sich der Rost an den Rändern und in den Ecken durch die Farbschichten gefressen. Ich entfernte den Deckel von meinem Becher Kaffee und blies den Dampf weg. Während nahm einen Schluck ich, sah ich auf die Uhr. Es wurde langsam Zeit.

Zwanzig Minuten später glitt ratternd das Tor zum Eingang des Vernon C. Bain Correctional Center, dem einzigen Gefängnisschiff der USA, zur Seite. Ein etwa sechzigjähriger Schwarzer trat hinaus. Er nahm die blaue Basecap mit einem S und einem Stern ab, das Emblem der Seattle Mariners. Eine echte Losermannschaft, wenn man mich fragt, aber Loyalität kommt ja leider vor Vernunft. Der Besitzer der Mütze richtete den Blick zum Himmel. Er blinzelte, richtete den Blick nach vorn, setzte sie wieder auf. Er winkte mir zu. Ich warf den leeren Kaffeebecher weg und wollte ihm entgegengehen, doch er signalisierte mir mit erhobener Hand zu warten. Er wollte seine ersten Schritte in Freiheit allein tun, und das konnte ich ihm nicht verdenken.

Dann standen wir uns gegenüber. Don Burry lächelte. Seinen Augen sah ich jedoch an, dass er kurz davor war, die Fassung zu verlieren.

»Ist wirklich 'ne nette Überraschung, dass Sie mich abholen, Agent Cotton«, sagte er.

»Einfach nur Jerry«, sagte ich und bot ihm die Hand an.

Er ergriff sie. »Donald – Don.«

Etwas unschlüssig standen wir da, Don schien meine Hand nicht loslassen zu wollen. Er wirkte, als wollte er mich in den Arm nehmen. Kurz erbebte sein Oberkörper, ich drückte seine Schulter, dann war der Moment vorüber. Don löste sich von mir.

Ich nahm ihm den zerschlissenen kleinen Koffer ab und verstaute das Gepäckstück.

»Sollen wir?«, fragte ich.

»Wenn Sie mich einfach irgendwo in Downtown rauslassen ...«

»Haben Sie eine Bleibe?«, fragte ich.

Er schüttelte den Kopf.

»Ich dachte mir, ich bringe Sie erst mal bei mir unter, bis wir was für Sie gefunden haben. Aber Sie müssen auf dem Sofa schlafen, wenn das okay ist.«

Er machte große Augen. »Das kann ich nicht annehmen, Agent Cotton!«

»Können Sie, Don. Sie saßen fünfzehn Jahre unschuldig im Gefängnis. Ist nur recht und billig, dass man sich jetzt ein bisschen um Sie kümmert. Und wie gesagt, Jerry, nicht Agent Cotton.«

Don atmete tief durch, bedankte sich und ließ den Blick über das Gefängnis schweifen. »Wissen Sie, was ich nicht einen Tag vermissen werde?«

»Die große Freiheit?«, scherzte ich in Anspielung auf sein Dasein auf dem Schiff.

Er schüttelte grinsend den Kopf. »Nein, den Scheißfischgestank von der Markthalle.«

Nachdem ich Don Burry, den Ex-Sträfling, bei mir einquartiert und ihm gezeigt hatte, wie die Kaffeemaschine funktioniert, fuhr ich ins Büro. Kaum hatte ich mein Jackett über die Stuhllehne geworfen, schickte Helen Phil und mich zum Chef. Da wir auf dem Weg auch Supervisory Special Agent Dr. Ben Bruckner einsammelten, waren wir wohl an einer größeren Sache dran. Ich staunte nicht schlecht, als wir Mr. Highs Büro betraten. Denn am Tisch saß bereits Supervisory Special Agent Dr. Iris McLane, die Psychologin und Profilerin unserer Taskforce. Sie trug wie fast immer ein schwarzes Kostüm und eine exzentrische rote Brille.

Sie sah von ihren Unterlagen auf. »Wie man hört, machst du jetzt in Resozialisierung.«

Phil sprang in die Bresche. »Don Burry hat es wesentlich Jerry zu verdanken, dass sein Verfahren neu aufgerollt und seine Unschuld bewiesen wurde. Jetzt hat mein Freund hier Vatergefühle entwickelt.«

»Für jemanden, der doppelt so alt ist wie ich«, scherzte ich. »Ist doch schön, die Leute nicht immer nur hinter Gitter zu bringen, sondern sie da rauszuholen, wenn sie es verdient haben.«

»Sehr lobenswert«, erwiderte sie. »Meine Kunden müsste ich aus der Psychiatrie holen, aber die tragen alle völlig zu Recht eine Zwangsjacke.«

Mr. High forderte uns auf, Platz zu nehmen.

Auf dem Konferenztisch lagen alle wichtigen Tageszeitungen ausgebreitet, dazu ausgedruckte Fotos und mit Material gefüllte Kladden. Die Schlagzeilen der Titelseiten waren überall ähnlich. Sie unterschieden sich nur durch die Anzahl der hintangestellten Ausrufezeichen und die Explizitheit der Abbildungen.

»You are the law«, eröffnete der Chef die Sitzung. »Das ist der heutige Aufmacher der seriöseren und der nicht ganz so seriösen Blätter.«

Mein Blick blieb an der Fotografie eines Glaskastens vor dem Gerichtsgebäude am Foley Square hängen.

»Jemand hat beschlossen, das Recht in die eigenen Hände zu nehmen. Gestern Abend tauchte in Lower Manhattan ein gläserner Käfig auf, darin Lawrence Fletcher, ein Killer der Agnelli-Familie, den wir lange schon gerne hinter Gittern gesehen hätten. Leider sind die Anwälte der Familie den Staatsanwälten bislang immer einen Schritt voraus. So konnte Fletcher, der vermutlich mehr Menschenleben auf dem Gewissen hat als Carlo Gambino, seinen Kopf jedes Mal aus der Schlinge ziehen. Bis gestern.«

Ich fuhr mir durchs Haar und wartete, dass Mr. High weitersprach.

»Unser geheimnisvoller Richter und seine Komplizen fesselten Fletcher auf einen selbst konstruierten elektrischen Stuhl. Die Bevölkerung konnte innerhalb von sechzig Minuten auf einer Internetseite abstimmen: schuldig oder nicht schuldig. Auf der Seite und am Glaskasten gab es eine umfassende Dokumentation von Fletchers Schandtaten. Die Abstimmung im Internet ergab eine Stunde später mit deutlicher Mehrheit schuldig. Um kurz nach neun Uhr durchströmte Fletcher mehrere Minuten lang ein Strom von zehn Ampere. Die herbeigerufene Feuerwehr hatte zuvor vergeblich versucht, das Panzerglas zu durchbrechen. Erst eine Spezialeinheit mit schwerem Gerät konnte spät in der Nacht den Käfig öffnen und Fletchers Leiche bergen.«

Mr. High gab seinen Worten etwas Zeit, um nachzuwirken.

Phil ergriff als Erster das Wort. »Warum übernimmt das FBI die Ermittlungen und nicht das NYPD?«

»Der Täter hat auf der Internetseite angekündigt, so lange für Gerechtigkeit zu sorgen, wie er es nennt, bis sich niemand mehr findet, der das Urteil zu fällen bereit ist. Wir gehen also davon aus, dass es noch mehr Opfer geben wird, falls wir ihn nicht vorher dingfest machen.«

»Hätte ich auch nicht gedacht, dass wir so jemanden wie Fletcher mal Opfer nennen würden«, bemerkte Phil.

»Es mag uns nicht gefallen, aber wir legen für alle die gleichen Maßstäbe an, Partner«, hielt ich dagegen. »Und wenn jemand ohne ein von einer Jury gefälltes und einem Richter unterzeichnetes Todesurteil umgebracht wird, ist das Mord und der Tote aus unserer Perspektive ein Opfer.«

»Das hätte ich selbst nicht besser ausdrücken können, Jerry«, meinte der Chef. »So wie es aussieht, wird es auch zukünftig keine Unschuldslämmer treffen. Mir ist völlig klar, dass wir, die wir auf der anderen Seite des Gesetzes stehen, diesmal sehr gefordert sind, unsere Gefühle aus dem Spiel zu lassen. Ich verlasse mich hier absolut auf Ihre professionelle Integrität, Gentlemen und Doktor McLane.«

Sein Blick wanderte prüfend vom einen zum Nächsten, als wollte er sich persönlich der Objektivität seiner Truppe versichern. Das war natürlich überflüssig. Wir alle verfügten über einen intakten moralischen Kompass.

»Die Informationen über die Website habe ich Ben weitergeleitet. Er wird versuchen, sich in dieser Richtung den Tätern zu nähern.«

Ben Bruckner nickte zur Bestätigung. Ich war beinahe sicher, er hatte sich schon vor dem Frühstück in die Website gehackt.

»Iris habe ich dazu gebeten, weil ich vermute, dass es sich hier um jemanden mit einer gewissen psychischen Disposition handelt. Eine Art Serientäter. Sie soll ergänzend ein Täterprofil erstellen.«

Iris' Reaktion erschöpfte sich in einem geheimnisvollen Lächeln. Vermutlich formte sich in ihrem Hirn bereits eine grobe Beschreibung des Täters – Alter, Hautfarbe, Schulbildung, Herkunft, Beziehungsstatus.

Mr. Highs Blick ruhte auf mir. »Bei Ihnen beiden, Phil und Jerry, laufen die Fäden zusammen. Sie koordinieren die Ermittlungen und halten mich täglich auf dem Laufenden. Hoffen wir, dass es nicht zu noch mehr ›Urteilen‹ kommt.«

Ben sah unglücklich aus. So deprimiert hatte ich ihn in unserer gemeinsamen Zeit beim FBI kaum je erlebt.

»YATL ist weg.« Er seufzte.

Phil und ich hatten ihn in seinem Büro aufgesucht. Wir zogen uns zwei Stühle heran an seinen Schreibtisch, Darauf standen mehr als ein halbes Dutzend Monitore. Von den meisten Fenstern regneten kryptische Zahlenkolonnen herab, eines jedoch zeigte eine laufende Waschmaschine an. Durch die Glasscheibe konnten wir Wäschestücke beobachten, die im schaumigen Wasser im Kreis herumfuhren.

»Du hast eine Webcam für deine Waschmaschine aufgebaut?«, wunderte ich mich.

Ben schüttelte den Kopf. »Das ist ein Waschmaschinensimulator. Hab ich übers Wochenende programmiert.«

Entgeistert sah ich zu Phil, der sich das Lachen ebenfalls verbeißen musste.

Ben bemerkte unsere Belustigung. »Sehr beruhigend, wenn man eine Weile zusieht.«

»Wenn es dich entspannt, warum nicht?«, erwiderte ich.

Ben beugte sich vor und las eine kleine Zahl am rechten unteren Rand seines Waschmaschinensimulators ab. »Mich und sechseinhalb Millionen weitere User, die ihn sich seit Samstagabend heruntergeladen haben.«

Mir blieb der Mund offen stehen. Ein paar Millionen Leute sahen einer virtuellen Waschmaschine beim Waschen, Spülen und Schleudern zu? Und ich brachte meine Sachen in die Reinigung, denn zum Waschen und Bügeln fehlte mir einfach die Zeit.

»Also, was wollt ihr beiden eigentlich? Sicher seid ihr nicht zu Besuch, um meiner Wäsche beim Vollwaschgang zuzusehen«, versuchte er, das Thema zu wechseln.

»Du sagtest eben, YATL ist weg? Hattest du etwa eine Kurzzeitfreundin, von der wir nichts wissen?«, fragte Phil.

»YATL ist die Website von You are the law.«

»Du sagst, sie ist weg. Was bedeutet das?«, fragte ich.

»Die Seite war nur während der Abstimmung im Internet. Danach hat der Betreiber sie verschwinden lassen. Die komplette Instanz wurde gelöscht. Und wo nichts ist, kann ich nichts hacken.«

»Muss man solche Internetadressen nicht registrieren?«, fragte Phil.

»Ja, aber das nützt nichts, wenn die Identität gefälscht ist«, erklärte Ben. »Und bevor du weiterfragst: Auch sämtliche Kopien der Seite, die sonst irgendwo im unendlichen Speicher des Internets noch vorhanden waren, wurden entfernt.«

»So einfach geht das?«, fragte ich.

»Nein, einfach ist das nicht, doch es geht. Dazu muss man die allmächtigen Suchmaschinen austricksen.«

»Dann muss derjenige, der das programmiert hat, wohl ein ähnliches Genie sein wie du«, sagte Phil.

»Ganz so weit würde ich nicht gehen«, murmelte Ben.

»Ich glaube, ich verstehe dein moralisches Dilemma«, sagte ich, »du musst abwarten, bis wieder jemand stirbt, damit du Zugriff auf diese Seite hast.«

»Genauso ist es.« Unser Informatikgenie seufzte.

Ich tätschelte ihm die Schulter. »Nimm's nicht so schwer, wir können alle nur mit dem arbeiten, was wir haben. Außerdem hattest du in deiner Nachricht von positiven Ergebnissen gesprochen, die deine Recherchen ergeben haben.«

Ben richtet sich auf. »Ach ja, ich hab hier für den Anfang mal eine Liste von drei Personen, die ihr euch ansehen solltet.«

Er reichte Phil und mir je einen Ausdruck mit drei Namen und den Kontaktdaten dazu.

»Curtis Stanton«, las ich vor.

»NYPD Officer. Er und sein Partner Ed Perez hatten Fletcher, der jetzt auf dem elektrischen Stuhl starb, vor ein paar Jahren in flagranti beim Mord an zwei Straßendealern erwischt. Fletcher kam davon, und einen Monat nach dem Freispruch wurde sein Partner Officer Perez tot unten in Jamaica Bay angespült. Sie brauchten eine ganze Weile, um die Leiche zweifelsfrei zu identifizieren.«

Phil pfiff leise durch die Zähne.

»Die Täter hatten Mus aus ihm gemacht. Natürlich hat man sich Fletcher vorgeknöpft. Irgendjemand hat Stanton rechtswidrig Zutritt zu dem Vernehmungszimmer verschafft, in dem Fletcher dazu befragt wurde, und sich dann auf eine Zigarettenlänge verdrückt. Stanton hat ihm ein paar Zähne ausgeschlagen, aber nichts aus ihm rausbekommen. Fletcher verzichtete auf eine Beschwerde, und Stanton kam mit einer Suspendierung von zwei Monaten davon. Seitdem fährt er unbescholten und ohne Tadel Streife in Manhattan.«

»Kommt mir eher wie eine Tat im Affekt vor und weniger wie ein groß angelegter Rachefeldzug«, sagte ich.

»Mag sein, aber vor einem Jahr hat ein Fernsehteam von NBC eine Reportage über den Fall gemacht, und Stanton sagte vor laufender Kamera, es vergehe kein Tag, an dem er sich nicht wünsche, Fletcher auf dem elektrischen Stuhl zu sehen«, sagte Ben.

»Auch Wunschdenken kann man ihm nicht verübeln. Nur zwischen dem reinen Wunsch und der Umsetzung klafft eine große Lücke«, erwiderte Phil.

»Ihr ahnt nicht, welche Streife ausgerechnet als Erste zur Stelle war, als man den Glaskasten mit Fletcher entdeckt hat.«

»Ist nicht dein Ernst!«, sagte ich.

»Officer Scott Walsh und sein Partner Officer Curtis Stanton.«

»Okay«, gab ich zu, »das sind ein bisschen zu viele Zufälle auf einmal. Den werden Phil und ich uns auf jeden Fall vornehmen. Und die anderen beiden?«

»Die ehemalige Bezirksstaatsanwältin Vera Mitchell. Sie hat in drei Verhandlungen den Staat gegen Lawrence Fletcher vertreten. Nach der dritten Niederlage hat sie ihren Job gekündigt, ist in ein Etablissement an der Bowder Street gegangen und hat sich bei Salvatore dem Lachs erkundigt, was sie hinblättern müsste, um Fletcher verschwinden zu lassen.«

»Salvatore ›der Lachs‹ Salmone, der Kopf des Salmone-Clans, der die Bronx kontrolliert?«, fragte Phil verwundert.

»Genau der. Die Salmone-Familie und die Agnellis, auf deren Lohnliste Fletcher stand, befinden sich im Krieg. Mitchell hatte wohl gehofft, der Lachs würde ihr einen Sonderpreis machen. Da hatte sie sich geschnitten. Stattdessen verpfiff er sie. Allerdings kam sie mit einem blauen Auge davon. Zwar hatte Salmone das Gespräch in der Bar aufgezeichnet, doch sie wählte ihre Formulierungen so achtsam, dass ihr ehemaliger Chef in der Staatsanwaltschaft sie guten Gewissens laufen lassen konnte. Einen Moment bitte ...« Ben klickte auf seiner Computerwaschmaschine herum, worauf sie Wasser abpumpte und zu schleudern begann. »Wo waren wir?«

»Du hast uns drei Verdächtige versprochen«, knüpfte ich an.

»Der dritte ist – tada! – Jim Galetti«, sagte Ben süffisant und wartete auf unsere Reaktion.

»Big Jim Galetti, der für den Stadtrat kandidiert?« Ich fiel aus allen Wolken.

Ben nickte. »Veteran im Irak, glühendes Mitglied der NRA und Law-and-order Politiker.«

»Warum ausgerechnet er?«, fragte Phil.

»Seht euch das mal an«, forderte Ben uns auf. Er startete einen Videomitschnitt auf seinem Computer.

Politiker kann ich fast so gut leiden wie Immobilienmakler oder Investmentbanker. Es gibt sicher Ausnahmen, aber Jim Galetti gehörte nicht dazu. An diesem Vormittag bestätigte er alle Vorurteile, die ich der Politikerkaste gegenüber hegte. Phil konnte ihn ebenso wenig ausstehen. Immerhin lag es also nicht an mir.

Wir trafen unseren potenziellen Verdächtigen bei seiner Lieblingsbeschäftigung an – er machte Wahlkampf. Auf dem Hubbard Square hatte man ein Holzpodest zusammengezimmert und dieses mit Hunderten Stars-and-stripes Bannern verziert. Big Jim, wie er sich von seinen Anhängern vermutlich nicht nur wegen seiner Leibesfülle nennen ließ, stand breitbeinig und mit Stetson vor einem Mikrofon. Er zog über alle her, die noch schwächer waren als die paar bemitleidenswerten Kreaturen, die man vor das Podest geschleift hatte. Seine Tiraden galten Schwarzen, Latinos, illegalen Einwanderern, Teenagermüttern, Aidskranken, Obdachlosen. Außerdem lederte er gegen die Lügenpresse mit ihren Fake News, das politische Establishment im Stadtrat und natürlich gegen die dekadente Westküste mit ihren drogensüchtigen Hippies ganz allgemein. Lobende Worte hatte er nur für einen südamerikanischen Diktator übrig, mit dem er angeblich Golf spielen ging.

Leider hatte Galetti mit seinen Hasspredigten ziemlich gute Chancen, in den Stadtrat einzuziehen.

Und er musste so eine Art siebten Sinn für G-men haben, denn als er uns vorne an der Bühne entdeckte, fügte er den Hassbotschaften eine weitere hinzu – das FBI und seine unamerikanischen Umtriebe. Zu meinem Bedauern erntete er dafür enthusiastisches Kopfnicken allenthalben. Ich ahnte, dass das mit schlechten Erfahrungen zusammenhing, die einige der Zuhörer bereits persönlich mit unserem Verein gemacht hatten.