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In der Gemeinschaftsküche eines Wohnheims wurden in den frühen Morgenstunden die Leichen zweier Studenten der Columbia University aufgefunden. Sie waren mit Schüssen hingerichtet worden. Eine dritte Studentin, die den Abend zeitweise mit den beiden verbracht haben sollte, war spurlos verschwunden. Bei der Vermissten handelte es sich um Maisy Brenner. Sie war die Tochter von Keith Brenner, einem ehemaligen Geschäftsmann und Ex-Politiker. Seit einigen Jahren lebte er als überzeugter Survivalist, der an einen drohenden Bürgerkrieg glaubte, mit einem Dutzend Mitstreiter auf einer Farm in Missouri. Maisy hatte bereits vor Jahren den Kontakt zu ihm abgebrochen. Immer wieder hatte er angekündigt, Maisy und ihre Schwester zu sich zu holen. Hatte er seine Tochter entführt? Und waren ihm die zwei Studenten dabei im Weg gewesen?
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Seitenzahl: 144
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
Blutsbande
Vorschau
Impressum
Blutsbande
Acht Männer belauerten sich wie Raubtiere kurz vor dem Sprung. Zwei von ihnen saßen sich an einem kargen Holztisch gegenüber. Die anderen standen mit gezogenen Waffen im Halbkreis um ihren jeweiligen Anführer.
Einer der beiden trug eine Militäruniform. Vor seiner Brust baumelte die Erkennungsmarke, die ihn bei all seinen Einsätzen begleitet hatte.
Der andere sah aus, als hätte man seine schlanke Figur in einen Maßanzug gegossen. Seine Finger trommelten auf den Griff des Revolvers, der vor ihm auf dem Tisch lag.
Die kantigen Gesichtszüge seines Gegenübers blieben unbewegt. »Wir finden eine Lösung. Wir ...«
»Sie hatten Ihre Chance!« Der Anzugträger griff nach der Waffe und ließ die Trommel aufschnappen. Alle Kammern waren gefüllt. »Jetzt sind meine Leute am Zug. Bleiben Sie besser, wo Sie sind, denn im Big Apple wird es in den nächsten Tagen verdammt ungemütlich werden ...«
»... durch die zunehmende internationale Vernetzung und den Einsatz neuer Technologien ergeben sich zahlreiche weitere Herausforderungen für Ihre tägliche Arbeit. Lassen Sie mich im Folgenden einige Stichpunkte nennen ...«
Phils Knuff in die Seite war sanft, dennoch ließ er mich hochfahren. Ich war nicht eingenickt, ich hatte nur kurz die Augen geschlossen und über ein paar Dinge nachgedacht, denen ich in letzter Zeit zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Der Gastvortrag eines gewissen Dr. Parker, von der CIA-University in Chantilly, Virginia, der heute in einem unserer Konferenzräume referierte, schien mir dafür bestens geeignet. Denn was der Theoretiker uns in den letzten dreißig Minuten zum Thema »Ermittlungsarbeit im 21. Jahrhundert unter Einbeziehung moderner Technologien« erzählt hatte, war für mich und wahrscheinlich auch für die meisten meiner Kollegen wenig erhellend. Ich wusste nicht, ob sich Dr. Parker im Klaren darüber war, was wir vom FBI hier tagtäglich leisteten. Sein Bericht hatte nur an der Oberfläche gekratzt.
Wahrscheinlich kam der interessante Teil erst noch, denn für den gesamten Vortrag waren gut zwei Stunden eingeplant. Zeit, die wir an unseren Schreibtischen besser genutzt hätten. Am liebsten hätte ich mich bei Mr. High darüber beschwert, doch selbst unserem Chef, sonst ein genialer Strippenzieher, waren in diesem Fall die Hände gebunden.
Das Budget sah für alle Mitarbeiter unseres Field Office mehrere Fortbildungskurse pro Jahr vor. Fanden diese nicht statt, würde es in den Folgejahren wahrscheinlich gekürzt werden. Damit hätte ich leben können – im Gegensatz zu unserer Direktion, die sehr viel Energie darauf verwendete, jede mögliche Einsparung zu verhindern. Und so mussten wir zwei- bis dreimal im Jahr mehr oder weniger trockene Sitzungen über uns ergehen lassen, die immer sehr theoretisch blieben und in unserer Praxis meist wenig Anwendung fanden.
Ich warf Phil einen Seitenblick zu. Mein Partner grinste mich frech an, ich schüttelte jedoch den Kopf und signalisierte, dass ich nicht eingenickt war, sondern mit geschlossenen Augen umso konzentrierter zuhören konnte, was genauso wenig stimmte, aber das musste mein Partner ja nicht wissen. Sein noch breiteres Grinsen, verriet mir, dass er mir das keinen Moment lang abkaufte.
Ich verdrehte die Augen und wandte den Blick nach vorne, wo Dr. Parker gerade über die Kommandostrukturen des britischen MI6 referierte. Seine Ausführungen illustrierte er mit einem Organigramm, das er von seinem Laptop direkt auf die weiße Wand hinter sich projizierte.
Ich hatte mir gerade fest vorgenommen, ihm für den Rest des Vortrags mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als mir mein Handy einen Strich durch die Rechnung machte. Ich hatte es auf lautlos gestellt und den Vibrationsalarm eingeschaltet. Unauffällig zog ich es unter dem Tisch aus meiner Jackentasche und schaute auf das Display. Der Anruf kam aus dem Vorzimmer unseres Chefs. Leise räuspernd nahm ich den Anruf entgegen und drückte das Handy fest ans Ohr.
»Jerry, ich weiß, dass du gerade in einer Vorlesung sitzt, aber könntet ihr in der Pause kurz vorbeikommen? Der Chef hat etwas Dringendes mit euch zu be...«
»Sind gleich da«, antwortete ich schnell und legte auf, bevor Helen noch etwas erwidern konnte.
Phil sah mich fragend an, während ich nach meiner Jacke griff und das Smartphone wieder in der Innentasche versenkte.
»Helen«, sagte ich knapp. »Wir sollen sofort beim Chef antanzen.«
Nein, das waren nicht die exakten Worte von Mr. Highs Sekretärin gewesen, doch ich fand, dass meine Interpretation der Realität ziemlich nahe kam.
Mein Partner runzelte die Stirn und griff auch nach seiner Jacke. Unter den irritierten Blicken von Dr. Parker und einigen Kollegen huschten wir schweigend zur Tür. Einen Moment lang fühlte ich mich wie ein Schüler, der mitten in der Stunde zum Direktor gerufen wird, dann drückten wir uns verstohlen hinaus in den Flur.
»Hast du ein Glück«, meinte Phil grinsend, als wir die Richtung zu Mr. Highs Büro einschlugen. »Noch fünf Minuten und du wärst mit dem Kopf auf die Tischplatte geknallt.«
»Ich habe nicht geschlafen!«, beharrte ich. »Ich habe lediglich ...«
»Vergiss es«, lachte mein Partner und klopfte mir auf die Schulter. »Hat Helen verlautbaren lassen, worum es geht?«
»Nicht einmal angedeutet hat sie es, wir werden es gleich erfahren.«
Keine Minute später standen wir ihr im Vorzimmer gegenüber. Die Sekretärin blickte bei unserer Ankunft konzentriert auf ihren PC und sah nur kurz davon auf.
»Könnt gleich reingehen«, sagte sie nur. »Der Chef weiß Bescheid.«
Der Form halber klopfte ich trotzdem an, bevor ich die Tür öffnete. Mr. High saß ebenfalls hinter seinem Schreibtisch und erhob sich, als wir eintraten. Er steuerte die lederne Sitzecke an, in der er die meisten seiner Besprechungen abhielt.
»Ist Ihr Vortrag schon zu Ende?«, fragte er, während wir Platz nahmen.
»Nicht ganz«, gab ich zurück. »Aber Helen vermittelte mir das Gefühl, es wäre wichtig.«
»Ist es auch«, bestätigte unser Chef und reichte mir eine Mappe, die er vom Schreibtisch mitgebracht hatte.
Ich öffnete sie und hielt sie so, dass auch Phil den Inhalt sehen konnte. Er bestand aus drei Schwarz-Weiß-Fotos, aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen. Alle zeigten dasselbe Motiv, zwei männliche Leichen an einem Esstisch. Eine lag quer über der Tischplatte, das Einschussloch über den starr blickenden Augen war deutlich zu erkennen. Die andere saß auf einem Stuhl, den Kopf in den Nacken gelegt. Der schwarze Fleck, der in Brusthöhe auf seinem ansonsten blütenweißen Hemd prangte, bedurfte keiner Erklärung.
Phil und ich tauschten einen ernsten Blick, dann gab ich Mr. High die Mappe zurück.
»Die Toten heißen Derek Lyndon und Luke McFarland«, erklärte unser Chef, ohne einen Spickzettel zu benötigen. »Fünfundzwanzig und sechsundzwanzig Jahre alt. Beide promovieren ... promovierten an der Columbia University. Ein Kommilitone fand sie in den frühen Morgenstunden in der Gemeinschaftsküche eines Studentenwohnheims, in dem sich beide ein Zimmer teilten.«
»Gibt es bereits eine Spur?«, fragte ich.
Mr. High lehnte sich zurück und faltete seine feingliedrigen Hände vor der Brust.
»So präzise, wie die Schüsse gesetzt wurden, deutet alles auf eine Hinrichtung hin«, meinte er. »Vermutlich kam ein Schalldämpfer zum Einsatz, sonst hätte man die Schüsse gehört. Da die Tat wohl mitten in der Nacht geschah, gibt es keine unmittelbaren Zeugen. Allerdings soll eine Kommilitonin etwa zwei Stunden davor noch bei den beiden gewesen sein und mit ihnen zusammen gekocht haben.«
»Wurde die Studentin befragt?«, fragte Phil.
»Das geht leider nicht. Sie ist seit der Tat spurlos verschwunden. Und jetzt, Gentlemen, kommt der interessante Teil ...«
Ich horchte auf. Wenn alles, was wir bisher erfahren hatten, nur Nebensächlichkeiten waren, konnte ich es kaum erwarten, den Rest zu hören.
»Bei der vermissten Studentin handelt es sich um Maisy Brenner.«
»Muss man die kennen?«, fragte mein Partner.
»Sie nicht«, erwiderte Mr. High gelassen, »aber der Name ihres Vaters ist Ihnen bestimmt ein Begriff. Er lautet Keith Brenner.«
Ich pfiff leise durch die Zähne, während Phil mir einen vielsagenden Blick zuwarf. Wir hatten noch nie direkt mit Brenner zu tun gehabt, wussten jedoch, um wen es sich handelte. Brenner hatte vor etlichen Jahren ein kleines Vermögen mit dem Verkauf von Outdoorausrüstung verdient, bevor es ihn in die Politik zog. Für den Bundesstaat Virginia hatte er sogar einige Jahre im Kongress gesessen, bevor er über einen Skandal gestolpert war und sich aus der aktiven Politik zurückgezogen hatte.
Ab diesem Zeitpunkt wurde er für uns interessant. Schon früher hatte er mit extremen Positionen von sich reden gemacht, die nach seinem Rücktritt umso extremer wurden. Brenner war davon überzeugt, dass ein Bürgerkrieg oder eine andere Katastrophe bevorstand. Er hatte Anhänger um sich geschart und eine Miliz gegründet, die er für einen Kampf gegen die Regierung wappnete und die irgendwo in den Wäldern Virginias Wehrsportübungen abhielt. Seitdem hatte zumindest ich ihn aus den Augen verloren, doch die Kollegen, die sich vorrangig mit inländischem Terrorismus befassten, hatten ihn bestimmt noch auf dem Schirm.
Mr. High nickte, als ich diese Vermutung äußerte. »Brenner hat vor über einem Jahr seine Zelte in Virginia abgebrochen und ist mit seinen engsten Vertrauten auf eine Ranch in der Einöde von Missouri gezogen.«
»In welcher Beziehung steht seine Tochter zu ihm?«, wollte ich wissen.
»Nach unseren Informationen besteht kein Kontakt. Das Sorgerecht für seine beiden Töchter Maisy und Caitlin wurde in einem erbittert geführten Prozess ihrer Mutter zugesprochen. Ein Besuchsrecht wurde ihm verwehrt. Brenner kündigte bereits nach der Urteilsverkündung an, sich dagegen zu wehren.«
»Das kann man so oder so interpretieren«, warf ich ein.
Mr. High beugte sich zu mir herüber und runzelte leicht die Stirn. »Wenn man mitbekommt, wie sich Mister Brenner in den sozialen Netzwerken äußert, weiß man, dass man bei ihm mit allem rechnen muss.«
»Sie glauben, Brenner hat Maisy entführt und dabei den Tod zweier unbeteiligter Studenten in Kauf genommen?«, fragte Phil.
»Die Morde waren bestimmt nicht geplant«, warf ich ein. »Sicher hat Brenner erwartet, Maisy allein anzutreffen und ...«
»Brenner war es nicht«, unterbrach Mr. High mich zu meiner Überraschung. »Wenn, dann hat er jemanden damit beauftragt. Auch dafür gibt es bisher keinen Hinweis.«
»Sir, was macht Sie da so sicher?«, wollte ich wissen.
Ein feines Lächeln umspielte die Lippen unseres Chefs. »Die Tatsache, dass wir einen Maulwurf in Brenners Gruppe haben. Vor über einem Jahr ist es den Kollegen gelungen, einen von Brenners Sympathisanten auf unsere Seite zu ziehen. Er gehört nicht zu Brenners engstem Kreis, lebt aber auf der Ranch und erstattet regelmäßig Bericht. Von einer geplanten oder gar durchgeführten Entführung weiß der Mann nichts. Er hat uns versprochen, die Ohren offen zu halten.«
»Dann hat Brenner das Anwesen gar nicht verlassen?«, vermutete ich.
»Korrekt. Und auch keiner seiner Leute vor Ort. Entweder hat er jemanden von außerhalb mit der Entführung seiner Tochter beauftragt oder ...«
»... oder er hat nichts damit zu tun«, sagte ich nachdenklich. »Dann hat es wohl auch keinen Sinn, mit einem Durchsuchungsbeschluss auf der Ranch aufzutauchen.«
Mr. High nickte. »Davon wollen wir zunächst absehen. Wir halten es für unwahrscheinlich, dass wir die Vermisste dort finden. Wenn Brenner sie entführt hat, hat er sie an einem geheimen Ort versteckt und wäre durch eine unbedachte Aktion gewarnt. Zurzeit überwachen wir die Aktivitäten auf Brenners Grundstück mit Drohnen. Und dann haben wir ja noch unseren Maulwurf, der uns regelmäßig berichtet.«
»Das heißt, wir können im Moment nur Däumchen drehen?«, fragte Phil.
»Eine heiße Spur gibt es bisher nicht«, bestätigte Mr. High und fügte hinzu: »Vielleicht haben Sie ja mehr Erfolg als die Kollegen vom NYPD. Eine Kopie der Ermittlungsakte sollte bereits auf Ihren Schreibtischen liegen.«
Ich nickte nachdenklich. Unsere erste Anlaufstelle war das Studentenwohnheim. Auch wenn sich die Tat spät in der Nacht ereignet hatte, bestand Hoffnung, dass einer der Bewohner etwas mitbekommen hatte.
»Einige unserer Leute sind schon vor Ort«, bremste Mr. High mich aus. »Fahren Sie zuerst zu Brenners Ex-Frau. Sie und ihre jüngere Tochter halten sich im Moment in ihrer Wohnung in Carroll Gardens auf. Unter Polizeischutz, versteht sich. Solange wir nicht wissen, was es mit Maisys Verschwinden auf sich hat, müssen wir davon ausgehen, dass zumindest auch ihre Schwester Caitlin in Gefahr schwebt.«
Carroll Gardens lag im südwestlichen Teil von Brooklyn und war bekannt für seine historischen Brownstonehäuser, die von Bäumen gesäumten Straßen und die vielen kleinen Geschäfte und Restaurants entlang der Hauptverkehrsstraßen. Im Gegensatz zu anderen Teilen Brooklyns lagen die Immobilienpreise hier weit über dem Schnitt.
Auch Cybill Granger, wie sich Brenners Ex-Frau nach der Scheidung wieder nannte, wohnte mit ihrer Tochter Catlin in einem der charakteristischen Reihenhäuser aus braunem Sandstein. Mit dem Erdgeschoss umfasste es drei Etagen, dazu kam das Dachgeschoss. Viel Platz für zwei, aber obwohl Maisy offiziell ein Zimmer im Studentenwohnheim bezogen hatte, konnte ich mir vorstellen, dass sie noch viel Zeit hier verbrachte.
Bei der Anfahrt bemerkte ich den Streifenwagen auf der anderen Straßenseite. Ich erspähte einen Parkplatz direkt vor dem Haus, und nachdem ich den Jaguar in die enge Lücke bugsiert hatte, stiegen wir aus und näherten uns dem schmiedeeisernen Tor. Dahinter führte eine Treppe zur Eingangstür. Wir klingelten und mussten nicht lange auf ein Lebenszeichen warten. Noch bevor die Tür geöffnet wurde, hörten wir schwere Schritte, gefolgt von einer immer schärfer werdenden Silhouette, die sich hinter der Milchglasscheibe abzeichnete.
Der Mann, der uns öffnete, war breitschultrig, hatte kurze strohblonde Haare und ein kantiges Gesicht mit vollen Lippen und buschigen Brauen über den eisgrauen Augen. Ich hatte bereits meine ID Card gezückt. Der Mann nickte kurz, dann trat er an uns vorbei und hielt uns dabei die Tür auf.
»Detective Reynolds«, stellte er sich dabei vor. »Ich habe gerade das Haus auf Sicherheitsmängel hin überprüft, das war's auch schon. Mrs. Granger erwartet Sie im Salon. Einfach den Gang vor bis zur Tür.«
Ich nickte dankend. Mr. High musste die Verantwortlichen über unser Erscheinen informiert haben.
Cybill Granger saß in einem Sessel vor einem offenen Kamin, in dem kein Feuer brannte. Ein etwa sechzehnjähriges Mädchen hockte auf einer Couch rechts im Raum, blätterte in einer Zeitschrift und zog dabei eine Leidensmiene, wie sie nur die Schwermut eines Teenagers zutage förderte. Sie hatte kurze blonde Haare und ein hübsches Gesicht und ignorierte uns völlig.
Auch ihre Mutter blickte nicht zu uns auf, als sie sagte: »Bitte schließen Sie die Tür hinter sich.«
Phil und ich sahen uns schulterzuckend an. Ich wollte der Aufforderung gerade nachkommen, als das Mädchen unvermittelt aufsprang, die Zeitschrift auf den gläsernen Couchtisch knallte und an uns vorbei aus dem Zimmer stürmte. Mit fragendem Blick sah ich ihm nach.
»Caitlin!«, rief ihre Mutter ihr hinterher, aber da war sie schon auf der Treppe nach oben verschwunden.
Seufzend stellte Cybill Granger ihr schweres Bourbonglas neben sich auf einem Beistelltisch ab. Die rotbraune Flüssigkeit, die den Boden des Glases nur einen Fingerbreit bedeckte, schwappte fast bis zum Rand.
Erst als wir uns ihr bis auf wenige Schritte genähert hatten, stand sie auf und dirigierte uns zu einem Tisch auf der linken Seite des Raums.
»Sie müssen meine Tochter entschuldigen«, sagte sie mit heiserer Stimme. »Die Situation ist auch für sie nicht leicht.«
Ich nickte verständnisvoll, und mit einem unbehaglichen Gefühl wurde mir klar, dass wir gerade mitten in ein Familiendrama geplatzt waren.
»Sie sind die Gentlemen vom FBI?«, versicherte sich Mrs. Granger vorsichtshalber, als wir uns setzten. »Darf ich Ihnen etwas anbieten?«
Wir lehnten dankend ab.
Ich nutzte den kurzen Moment, in dem sie uns gegenüber ihren Platz einnahm, um sie zu mustern. Sie hatte rotblonde Locken, die ihr bis auf die Schultern fielen, und ein schmales Gesicht mit blassen, fein geschnittenen Zügen. Lediglich die Falte über ihrer Nasenwurzel verlieh ihr etwas Strenges, Unnachgiebiges.
Ich nickte knapp. »Sie wissen sicher, warum wir hier sind?«
»Keith!« Sie spuckte mir den Namen förmlich entgegen. »Ich wusste ja, dass mein Ex etwas im Schilde führt, aber dass er so weit gehen würde ...«
»Ma'am, wie meinen Sie das?«, fragte Phil.
Cybill Granger holte tief Luft und wischte sich eine Strähne aus der Stirn.
»Es ist nicht das erste Mal, dass er meinen Töchtern nachstellt. Hätte ich Caitlins Onlineaktivitäten nicht überwacht, hätte ich nie davon erfahren.« Sie musste meinen skeptischen Blick bemerkt haben, denn schnell fügte sie hinzu: »Leider gab sie konkreten Anlass dazu.«
Cybill Granger stand abrupt auf, ging zu einer antiken Anrichte im hinteren Teil des elegant eingerichteten Salons, zog einen kleinen Messingschlüssel aus der Tasche und öffnete eine Schublade. Was sie herausholte, sahen wir erst, als sie sich wieder zu uns umdrehte. Es waren mehrere gefaltete DIN-A4-Seiten, die sie noch im Gehen auseinanderfaltete und dann so schnell vor uns auf den Tisch warf, als würde sie sich davor ekeln.
Ich räusperte mich, nahm die Seiten und blätterte sie durch. Es handelte sich dabei um ausgedruckte Chatprotokolle, die ein virtuelles Gespräch zwischen zwei Personen dokumentierten. Die eine trat unter dem schlichten Kürzel CB auf, die andere nannte sich XMan23.
»Wofür CB steht, ist klar«, meinte Phil, der über meine Schulter blickte. »Und Caitlins Chatpartner ist offenbar ein Comicfan.«
»X steht für den Tag X, auf den sich mein Ex-Mann und seine Mitstreiter seit Jahren vorbereiten«, widersprach Cybill Granger. »Der Tag, an dem die staatliche Ordnung zusammenbricht und er und andere Milizen die Macht im Staat übernehmen.«
Ich blickte zu Cybill Granger auf, die neben uns stehen geblieben war. Die Falte über ihrer Nase hatte sich noch tiefer in die Haut gegraben, und im Licht, das schräg durch eines der Fenster auf ihr Gesicht fiel, wirkten ihre Züge wie die einer exotischen Totenmaske.
Der Chat begann harmlos, und schnell wurde klar, dass sich die beiden kannten. Nach etwas Small Talk über die Schule und bestimmte Freizeitaktivitäten kam XMan23 schnell zur Sache.
XMan23: Würde dich gerne zu uns auf die Ranch einladen.
CB: Mom erlaubt das nicht.
XMan23: Nur für ein Wochenende. Ich kann dir beibringen, wie man jagt und in der Wildnis überlebt.
CB: Sehr hilfreich in New York City.
Der letzte Satz wurde von einem Smiley beendet.
XMan23: Will dir keine Angst machen, aber in der Stadt ist es bald nicht mehr sicher.
CB: Wie meinst du das?