Jerry Cotton 3495 - Jerry Cotton - E-Book

Jerry Cotton 3495 E-Book

Jerry Cotton

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Beschreibung

Selbst FBI Agents brauchten manchmal eine Auszeit. Und die genehmigte sich unser Kollege Steve Dillaggio in einer angesagten Bar im East Village. Hier holte ihn das organisierte Verbrechen von New York ein. Nancy Denozo, die Tochter eines ermordeten Mafiabosses, wurde vor der Bar entführt. Steve vermutete sofort einen neuen Krieg im Gangland des Big Apple. Als wir noch in derselben Nacht mit den Ermittlungen begannen, stießen wir erst einmal auf eine Mauer des Schweigens. Und es gab keinen Hinweis auf eine Erpressung. Wir mussten einige dicke Bretter durchbohren, bevor wir begriffen, was in der Familie Denozo wirklich vor sich ging - und warum. Doch dann war es fast zu spät ...

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Seitenzahl: 145

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

Cover

Geschwisterbande

Vorschau

Impressum

Geschwisterbande

»Sag mal, kannst du auch woanders hinschauen?«, fragte die junge Frau und nippte an ihrem Drink. »Zum Beispiel zu mir?«

»Sorry«, sagte Steve Dillaggio und drehte den Kopf, den er kurz abgewandt hatte, zu seiner Begleiterin. Sie trug den Namen Sheila. Er hatte sie vor zwei Tagen bei einem anderen Barbesuch kennengelernt. Steve lächelte. »Ich weiß, ich habe seit über zwei Stunden Dienstschluss, aber ...«

Sein Blick wanderte durch das Publikum in der Tompkins Bar im Herzen von Manhattan. Und er blieb erneut an der jungen schwarzhaarigen Frau hängen, die sich auf der anderen Seite mit einem jungen Mann unterhielt.

»Stimmt, du hast gesagt, du bist bei der Polizei, oder so was?« Jetzt lächelte sie zurück.

»Ja«, sagte er abwesend. »Oder so was Ähnliches ...«

Bei neuen Bekanntschaften erwähnte er nicht gerne, dass er ein sogenannter G-man war, ein FBI Agent, noch dazu ein ziemlich hoher. Steve Dillaggio war immerhin Special Agent in Charge und leitete das New Yorker Field Office.

Steve war nicht unbedingt ein Frauenheld, aber er wusste, dass seine blonde Mähne und seine athletische Figur gut beim anderen Geschlecht ankamen. Und sie boten einen interessanten Kontrast zu seinem italienischen Namen, was meistens gleich für ein bisschen Gesprächsstoff als Einstieg sorgte.

»Interessiere ich dich vielleicht doch nicht?«, fragte Sheila, die jetzt wieder bemerkt hatte, wie er den Blick unwillkürlich abwandte.

Steve konnte nicht anders, als zu der anderen Frau zu schauen, die noch in das Gespräch mit dem Mann vertieft war. Steve schätzte ihn auf Anfang dreißig. Das einzige Besondere war ein Tattoo auf seinem rechten Handrücken.

Die Schwarzhaarige war niemand anders als Nancy Denozo, Mitglied einer einflussreichen New Yorker Mafiafamilie.

Das war der Grund, warum Steve dieses eigenartige Kribbeln spürte. Er hatte das Foto dieser Frau und der anderen Mitglieder ihrer Familie etliche Male in Fahndungsakten gesehen, die sich nie gegen die Familie selbst gerichtet hatten, sondern gegen Kriminelle aus deren Umfeld. Wer zur Familie gehörte, war meistens fein raus. Die besten Anwälte Amerikas sorgten immer wieder dafür, dass sie ihren Kopf aus der Schlinge ziehen konnten.

»Hallo, ich rede mit dir«, sagte Sheila und hielt ihr leeres Glas hoch. »Kriege ich noch was?«

Mittlerweile hatte sie auch mitbekommen, welche Frau es war, die Steve ins Auge gefasst hatte.

»Klar, Steve«, sagte sie mit einem Gurren in der Stimme, das in dem Gemurmel der Bar und der leisen Jazzmusik, die aus den Lautsprechern drang, kaum noch zu hören war. »Die ist fast zehn Jahre jünger als ich. Dafür habe ich viel mehr Erfahrung ...«

Sie neigte Steve ihren Kopf zu. Er konnte ihr Parfüm riechen, und normalerweise hätte ihn das auch sofort angetörnt.

»Du kannst dir aussuchen, was heute noch auf dem Programm steht«, fuhr sie fort. »Wir müssen nicht in der Bar bleiben, weißt du?«

Nancy Denozo hatte ihr Gespräch unterbrochen. Sie holte ein Handy aus der Handtasche. Der Mann, mit dem sie gesprochen hatte, sah ihr geduldig beim Telefonieren zu.

Steve war sich sicher, dass Nancy Denozo selbst keine Verbrecherin war. Die Frauen in den Mafiafamilien hatten oft Rollen im Hintergrund, außer sie übernahmen, was manchmal vorkam, nach dem Tod ihrer Männer selbst die Führung. Dann waren sie meist schon älter.

Nancy Denozo war gerade mal Anfang zwanzig.

Wer Steve Dillaggio interessierte, war ihr Begleiter. Er war überzeugt, dass er ihn nie zuvor gesehen hatte, weder persönlich noch auf irgendwelchen Fahndungsfotos. Wenn Nancy Denozo mit ihm Kontakt hatte, konnte das ein wichtiger Mann in dem Clan sein.

Steve tastete nach seinem Telefon. Er wollte heimlich ein Foto von ihm machen.

Während er damit beschäftigt war, stieg Sheila von ihrem Barhocker. Auf ihrer Stirn erschien eine Zornesfalte.

»Ich sehe, ich bin hier überflüssig«, sagte sie. »Schade, Steve. Ich hatte gedacht, du wärst anders. Da habe ich mich wohl geirrt. Die Männer sind alle gleich.«

»Sorry, Sheila, aber ...« Er kam nicht dazu, noch etwas zu sagen. Die Frau, mit der er eigentlich den Abend und vielleicht sogar die Nacht hatte verbringen wollen, bahnte sich einen Weg Richtung Ausgang.

Der Barkeeper sah angestrengt weg. Einige Männer in der Bar warfen Steve mitleidige Blicke zu. Für ein, zwei Sekunden war er hin- und hergerissen, Sheila zu folgen oder weiter Nancy Denozo und den Mann im Auge zu behalten.

Etwas sagte ihm, dass es keinen Zweck hatte, hinter Sheila her zu laufen. Er würde sie morgen anrufen und ihr alles erklären. Leider würde er dabei genauer offenlegen müssen, was er beruflich machte.

Er hatte sein Smartphone hervorgeholt und wollte es gerade unauffällig in Position bringen. Die junge Frau beendete ihr Gespräch und steckte das Telefon weg. Sie sprach kurz mit ihrem Begleiter, der sich dabei so positionierte, dass Steve ein, zwei Fotos machen konnte.

Dann drehte sich Nancy Denozo um und ging wie gerade eben Sheila zum Ausgang.

Wieder war Steve im Zwiespalt. Weiter den Begleiter im Auge behalten oder die junge Mafiaprinzessin, die vielleicht nichts anderes tat, als nach Hause zu fahren?

Er beschloss, mit hinauszugehen.

Die Tompkins Bar war ziemlich voll. Es verging fast eine halbe Minute, bis Steve draußen war. Schräg gegenüber befand sich der Tompkins Square Park, eine kleine quadratische grüne Insel mitten im East Village.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis er im Licht der Straßenbeleuchtung Nancy Denozos schmale Gestalt entdeckte. Sie ging Richtung East River, der etwa vierhundert Yards entfernt war. Wenn sie ein Taxi nehmen wollte, wäre sie in die andere Richtung gegangen. Rüber zur Bowery, zum Beispiel, auf der wesentlich mehr Verkehr herrschte als hier.

Die junge Frau blieb stehen und sah sich um.

Im nächsten Moment fuhr ein dunkler Wagen heran. Steve hatte sofort den Eindruck, das Fahrzeug hätte in einer Seitenstraße gewartet. Der Wagen war ein Lieferwagen, allerdings ohne jede Beschriftung.

Das war wieder so ein Detail, das seinen inneren Alarm auslöste.

Steve lief los. Nancy Denozo war etwa hundert Yards entfernt. Er hatte erst ein paar Schritte zurückgelegt, da öffnete sich mit einem schleifenden Geräusch die Seitentür des Wagens. Zwei Hände erschienen, und im nächsten Moment war die junge Frau in dem Fahrzeug verschwunden.

Steve schaffte es gerade noch, sein Handy wieder herauszuholen und Fotos zu machen, auf denen hoffentlich das Kennzeichen zu sehen sein würde.

Der Wagen fuhr los, bevor die Seitentür wieder geschlossen war, und bog um die nächste Ecke, wo sich sein Motorengeräusch in der Ferne verlor.

Der Tag war ziemlich lang gewesen. Phil und ich hatten Ermittlungen im Norden des Staats New York durchgeführt und waren erst nach Einbruch der Dunkelheit wieder im Big Apple angekommen.

Als ich schlafen gegangen war, hatte ich mich auf ein paar Stunden Ruhe gefreut. Das Handy, das auf einmal neben meinem Bett klingelte, holte mich aus dem Tiefschlaf.

Das Display zeigte, dass es gerade mal ein Uhr war. Unter der Zeitangabe stand in großen Lettern der Name des Anrufers. Es war Steve Dillaggio.

Wenn er mitten in der Nacht anrief, musste etwas Besonderes passiert sein. Sofort war ich hellwach.

Sekunden später wusste ich, worum es sich handelte.

»Eine Entführung, Jerry«, sagte er. »Reiner Zufall, dass ich das alles gesehen habe. Hier an der Tompkins Bar. Die Entführte ist Nancy Denozo.«

»Und ich dachte, du liegst mit dieser ... im Bett. Wie hieß sie noch?«

»Sie heißt Sheila«, sagte Steve. »Das ist eine andere Geschichte. Ich brauche euch hier, Jerry. Wenn wir Pech haben ...«

Er brauchte gar nicht weiterzusprechen. Die Entführung eines Mitglieds einer Mafiafamilie war wie jede Entführung ein Verbrechen. In diesem Fall kam hinzu, dass es dabei um Feindschaften zwischen den Familien gehen konnte. Was nichts anderes hieß, als dass wir es mit einem Krieg im Gangland zu tun haben konnten.

Ich erklärte ihm, dass ich praktisch schon unterwegs war. Er kündigte an, meinen Partner Phil ebenfalls telefonisch zu wecken, damit er in den nächsten Minuten an der üblichen Ecke auf mich wartete.

»Steve hat ziemlich aufgeregt geklungen«, sagte Phil, nachdem er mich begrüßt hatte und in den Wagen stieg.

»Kein Wunder«, meinte ich. »Mister High und Steve sind die Chefs unserer Taskforce gegen das organisierte Verbrechen, und wenn ich das richtig sehe, haben wir schon eine ganze Weile keinen nennenswerten Erfolg auf diesem Gebiet gehabt. Kein Wunder, dass Steve auch in seiner Freizeit genau die Augen aufhält, um mitzubekommen, was da in New York los ist.«

»Wir hatten doch schon oft den Fall, dass sich junge Frauen aus den Mafiafamilien schon mal für eine gewisse Zeit lossagen und einfach frei wie andere junge Frauen das Leben in New York genießen wollen«, sagte Phil. »Manche Clanchefs versuchen, das zu verhindern, indem sie sie einfach einsperren. Auch das funktioniert nicht immer.«

Wir fuhren gerade den Broadway hinunter. Um uns herum wanderten die atemberaubenden Lichtreklamen vorbei, für die New York berühmt war. Kein Wunder, dass man es in dieser Umgebung als junger Mensch nicht zu Hause aushielt.

»Soweit ich weiß, ist die familiäre Lage bei den Denozos etwas speziell«, sagte ich nach kurzem Nachdenken. »Nancy Denozos Eltern sind tot, oder nicht? Sie hat nur zwei Geschwister, zwei ältere Brüder. Der eine, der deutlich älter ist, hat die Rolle des Familienoberhaupts übernommen.«

Phil nahm das Tablet, das zur Ausstattung meines Wagens gehörte, aus der Halterung. Er holte das Gerät aus dem Schlafmodus und wischte und tippte darauf herum.

»Du hast dich richtig erinnert«, sagte er, als ich die Bowery erreicht hatte und nach links Richtung East Village abbog. »Der Chef der Familie ist Mario Denozo. Er ist über zehn Jahre älter als die beiden anderen Geschwister, seine Schwester Nancy und sein Bruder Owen. Die sind nur ein Jahr auseinander. Die Mutter ist schon vor einigen Jahren an Krebs gestorben, der Vater wurde erschossen. Von wem, weiß niemand. Es gab aber in diesem Zusammenhang mal eine Ermittlung gegen Mitglieder der mit den Denozos verfeindeten mexikanischen Hernández-Familie. Sie wurde eingestellt.«

Er berichtete noch, dass die Denozos angeblich Handel mit allen möglichen illegalen Waren betrieben. Wahrscheinlich nicht nur mit Drogen, sondern auch mit Waffen und gefälschten Markenprodukten. Diese Ermittlungen, deren Akten ebenfalls auf den Servern des FBI lagerten, waren irgendwann an einem toten Punkt angelangt. Offiziell bewiesen war der Verdacht nicht.

Als ich in die Straße am Tompkins Square Park einbog, sah ich auf der Fahrbahn eine größere Menschenmenge stehen. Mittendrin befand sich Steve, der offenbar damit beschäftigt war, sich mit einem Mann zu unterhalten.

»Ich versuche schon die ganze Zeit, etwas darüber zu erfahren, was Nancy Denozo in der Bar gemacht hat«, sagte er. »Doch es ist nicht so einfach.«

»Ich habe Ihnen jetzt schon dreimal gesagt, dass ich nichts über die Frau weiß«, sagte ein junger Mann und hob die Hände, wobei ein markantes Tattoo auf seinem Handrücken sichtbar wurde. »Ich weiß nicht mal, wie sie heißt.«

Ich ließ mir von ihm seinen Führerschein geben. Er hieß Walton Brown und war einunddreißig Jahre alt. Phil fotografierte das Dokument ab.

»Ich gehe zum Wagen und checke ihn in der Datenbank, Jerry«, sagte er.

»Warte einen Moment«, warf Steve ein und wischte auf seinem Handy herum. »Ich schicke dir die Fotos von dem Wagen, mit dem sie Nancy Denozo abgeholt haben. Überprüf bitte das Kennzeichen. Ich hoffe, es ist zu erkennen.«

»Was soll das Ganze eigentlich?«, fragte Brown. »Okay, ich habe ja verstanden, dass Sie FBI Agent sind, und das hier sind wohl Ihre Kollegen ... Aber ich habe nichts getan.«

»Und ich habe Ihnen auch schon erklärt, dass es nicht um Sie geht, sondern um die Frau, mit der Sie gesprochen haben. Mehr können wir dazu nicht sagen.«

»Kann ich dann jetzt gehen?«, fragte Brown. »Ich muss in New York morgen einen neuen Job antreten, da muss ich fit sein.«

»Und da schlagen Sie sich die Nacht um die Ohren?«, fragte ich. »Was für ein Job ist das eigentlich?«

»Koch in einem Restaurant, Upper East Side«, sagte er. »Sie können das gerne überprüfen. Meine Arbeitszeit wird immer abends und nachts sein.«

Ich ließ mir von ihm die Informationen geben. Dann kehrte Phil zurück und nahm Steve und mich an die Seite.

»Gegen Brown hat nie etwas vorgelegen«, sagte Phil. »Sieht ganz so aus, als wäre er tatsächlich nur eine Zufallsbegegnung von Nancy Denozo gewesen. Das Kennzeichen von dem Wagen war lesbar. Aber es passt nicht zu dem Fahrzeug, das auf dem Foto zu sehen ist. Es ist gestohlen.«

Das waren keine guten Nachrichten. Es hieß nämlich, dass Nancy Denozo tatsächlich einem Verbrechen zum Opfer gefallen war.

»Welche Spuren gibt es jetzt noch, Steve?«, fragte ich.

»Sie hat telefoniert, bevor sie rausging«, sagte er. »Ben muss für uns herausfinden, mit wem. Wir müssen ihn rausklingeln. Und vielleicht gibts ja in der Gegend oder im Inneren der Bar noch Überwachungskameras, die etwas aufgenommen haben, was uns weiterhilft.«

Es war alles so schnell gegangen.

Innerhalb von einer Sekunde fand sich Nancy in dem dunklen Wagen wieder, war gefesselt, und man hatte ihr die Augen verbunden.

Unter ihr vibrierte der Wagen, als Gas gegeben wurde. Zuerst hatte sie noch geschrien, dann war eine starke Hand gekommen und hatte ihr den Mund zugehalten.

Man hatte sie entführt.

Unfassbar, dass das wirklich geschehen war.

Ihr Bruder Mario hatte sie immer davor gewarnt, sich in den Bars in New York herumzutreiben. Er hatte gesagt, dass sie Feinde hatten, gefährliche Feinde sogar, die nichts unversucht ließen, um der Denozo-Familie zu schaden und dabei vor gar nichts zurückschreckten.

Nancy hatte das nie ernst genommen. So wie sie nie ernst genommen hatte, dass sie zu einer Familie gehörte, in der kriminelle Machenschaften an der Tagesordnung waren. Sie wollte es nicht wahrhaben. Sie nicht und Owen, mit dem sie sich besonders gut verstand, auch nicht.

Mario hatte gelacht, als sie versucht hatten, ihm das zu erklären. Was sie wohl glaubten, woher das Geld kam, von dem sie lebten, hatte er sie gefragt. Ob sie wirklich der Ansicht waren, dass man es mit ehrlichen Geschäften zu einem solchen Reichtum bringen konnte.

Er hatte sie gezwungen sich anzuhören, was das große Geheimnis ihrer Familie war. Dass ihr gemeinsamer Vater das Imperium gegründet hatte, von dem sie lebten. Dass man dafür einen Preis bezahlen musste. Dass dieser Preis bei ihrem Vater besonders hoch gewesen war. Denn er hatte mit seinem Leben bezahlt.

Drohte ihr das nun auch?

Jetzt, mit einiger Verzögerung, kam die Panik.

Würde man sie töten?

Würde man ihre Leiche an Mario schicken, damit der irgendetwas tat, was irgendeine verfeindete Familie wollte?

Sie hatte keine Ahnung, was das sein könnte. So wie sie keine Ahnung von den Geschäften hatte, denen Mario nachging.

Das war auch von Mario so gewollt. Je weniger Personen von den Geschäften wussten, desto besser ...

Hatte sie mit ihrem leichtsinnigen Besuch in der Bar am Tompkins Square, in dem hippen ehemaligen Studentenviertel, ihre Familie in Gefahr gebracht?

Sie versuchte, Ruhe zu bewahren. Sie versuchte nachzudenken.

Was war unmittelbar vor der Entführung passiert?

Sie hatte einen Anruf erhalten. Einen Anruf von einer unbekannten Nummer. Nancy hatte sich gerade mit dem netten Typ unterhalten, den sie in der Bar kennengelernt hatte, der heute seinen ersten Abend in New York verbrachte und der morgen einen neuen Job antrat.

Da war der Anruf eingegangen.

Sie hatte sich gemeldet und die Stimme ihrer Freundin Maria erkannt, die wohl ein Problem gehabt hatte und draußen vor der Bar auf sie wartete.

Sie war hinausgegangen, aber da war niemand gewesen.

Erst recht keine Maria.

Und dann ...

Hatte Maria vielleicht die Entführung mitbekommen?

Das wäre ein Lichtblick. Vielleicht hatte sie begriffen, dass etwas passiert war. Vielleicht hatte sie schon Hilfe geholt.

Nancy spürte, wie der Wagen bremste und hielt.

Die Seitentür wurde geöffnet. Jemand packte sie grob. Sie zerrte an den Fesseln ihrer Hände. Kabelbinder schnitt scharf in ihre Gelenke. Ihre Beine und Füße waren frei. Man zog Nancy nach oben, und sie konnte gehen.

Es war kalt um sie her. Kein Wort wurde gesprochen. Jemand führte sie. Die Schritte hallten. Sie mussten in einem großen Gebäude sein.

Plötzlich fiel Nancy ein, dass ihr Mund ja nicht zugebunden war. So begann sie wieder zu schreien.

»Hallo?«, rief sie, und jetzt hallten nicht nur die Schritte, sondern auch ihre Stimme. »Hallo? Ist da jemand?«

Jemand neben ihr lachte.

»Schrei nur«, sagte eine Männerstimme. »Hier hört dich niemand.«

Dann knallte eine Tür. Schritte entfernten sich. Nancy war immer noch blind und gefesselt.

Und jetzt war sie allein.

Dr. Ben Bruckner war Supervisory Special Agent und der IT-Experte unserer Abteilung. Kaum hatten wir ihn geweckt und ihm erklärt, worum es ging, sagte er, dass er sofort ins Büro an der Federal Plaza fahren würde.

Ben, der erst einundzwanzig Jahre alt war, lebte in einer Studenten-WG. »Ich habe hier zwar auch einige gute Möglichkeiten, aber ich brauche das beste Equipment, das wir haben. Ich nehme ein Taxi und bin in zwanzig Minuten vor Ort.«

Wir schickten ihm ebenfalls Steves Foto und die Kopie von Browns Führerschein. Dann befragten wir den Inhaber der Tompkins Bar danach, ob er eine Überwachungskamera hatte.

»Klar, habe ich eine Überwachungskamera«, sagte er. »Die Daten gehen auf einen Server, auf den ich von hier aus nicht zugreifen kann. Ich muss dafür in meine Wohnung. Hat das nicht Zeit bis morgen? Ich mache jetzt zu. Ich hab einen langen Tag hinter mir und würde gerne schlafen.«

»Das würden wir alle gerne«, sagte Steve. »Leider müssen wir da Abstriche machen. Und Sie auch. Es hat vor Ihrer Tür einen Entführungsfall gegeben. Das Opfer war vorher in Ihrer Bar. Da wird ja wohl jedem klar, dass wir massiv unter Zeitdruck stehen.«

»Nur was habe ich mit der Entführung zu tun?«, sagte er, deutlich verärgert. »Das war draußen auf der Straße. Nicht hier drin.«