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Zwei Männer wurden kurz hintereinander in Wilmington, Delaware, und Trenton, New Jersey, in der Nähe einer Klinik tot aufgefunden. Jeder war lediglich mit einem OP-Hemd bekleidet und wies eine frische Operationsnarbe im Bauchraum auf. Die Vermutung lag nahe, dass die Patienten aus dem Krankenhaus geflohen waren. Warum, blieb vorerst ein Rätsel. Dass ein Zusammenhang zwischen den Todesfällen bestand, war hingegen klar. Denn die Opfer hatten jeweils ein Einschussloch in der Stirn. Wir vom FBI nahmen die Ermittlungen auf - und trafen schon bald auf den Teufel in Weiß!
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Seitenzahl: 139
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
Teufel in Weiß
Vorschau
Impressum
Teufel in Weiß
Dr. Dickerson stand am OP-Tisch und setzte das Skalpell an. Er führte den ersten großen Schnitt aus. Zwei Assistenzärzte klappten mit Wundspreizern die Bauchdecke auf. Eine OP-Schwester befreite mit dem Absaugschlauch die Wunde von Blut und übergab Dickerson nach und nach die Klemmen.
Dr. Dickerson lächelte breit. Niemand sah es hinter seiner OP-Maske. Er gierte nach dem Anblick offen liegender Organe. Diese hier waren korrekt angeordnet und sahen wunderbar gesund aus. Er drang mit dem Skalpell zur perfekten Spenderniere vor, um sie zu entfernen. Doch im blinden Eifer passierte ihm eine Panne.
Er stauchte die OP-Schwester zusammen und warf ihr vor, mit dem Absauger den Darm verletzt zu haben.
Phil und ich hatten einen erfolgreichen Tag im FBI Field Office New York hinter uns gebracht. Unser aktueller Fall war nach Wochen der Ermittlungen aufgeklärt worden. Der Serientäter, der zwei Bundesstaaten über Wochen in Angst und Schrecken versetzt hatte, legte ein umfangreiches Geständnis ab und wollte zu seiner eigenen Sicherheit nie mehr im Leben freigelassen werden. Sein Wunsch würde in Erfüllung gehen.
Ich schlug meinem Partner vor, den turbulenten Tag in unserer Lieblingsbar in Lower Manhattan ausklingen zu lassen. Der kurze Fußweg und die Aussicht auf einen köstlichen Snack und ein eiskaltes Tonic Water überzeugten ihn sofort.
Im Moment war nicht viel los in der Bar. Über die Gründe wollte ich nicht näher nachdenken, weil mir die Gegebenheit gefiel. Wir setzten uns auf die Barhocker an der Theke und gaben unsere Bestellungen auf.
»Kommt sofort!«, sagte die Bedienung und gab unsere Wünsche an die Küche weiter. Danach brachte sie uns mit einem Lächeln die Getränke.
Wir stießen auf einen schönen Feierabend an und sahen nach dem ersten Schluck zum Flachbildschirm an der Wand. Der Nachrichtensender CNN lief. Ich war gespannt, ob wir heute etwas Weltbewegendes verpasst hatten. Auch der glatzköpfige Muskelmann neben mir stierte zum TV. Sein halb volles Glas Bier hielt er dabei fest umschlossen, als befürchtete er, jemand könnte es ihm stehlen.
»Noch ein Bier, Sean?«, fragte die geschäftstüchtige Bedienung.
Er nickte, setzte das Glas an und leerte es mit einem großen Schluck. Erst als sie ihm das volle Bierglas hinstellte, war er bereit, das leere abzugeben.
Der Jingle für die Nachrichten zur vollen Stunde erklang.
»Euer Essen ist fertig«, sagte die Grillmeisterin und stellte die vollbeladenen Teller neben unsere Getränke.
»Das ist die beste Nachricht des Abends«, sagte ich und bedankte mich bei ihr.
»Ruhe!«, brummte Sean.
Phil antwortete mit einem lauten »Guten Appetit«.
Der sollte uns schon bald gründlich vergehen.
Die Hamburger waren wie immer hervorragend. Dann wäre mir beinahe ein Bissen im Hals stecken geblieben. Phil zeigte mit dem Messer zum Fernseher. Eine große rot-weiße Laufschrift kündigte eine Eilmeldung an. Die Stimme des Nachrichtensprechers klang zutiefst betroffen.
»In Wilmington, Delaware, wurde ein vierzigjähriger weißer Mann im Waldgebiet in der Nähe einer Klinik erschossen aufgefunden. Er trug lediglich ein OP-Hemd. Seine Bauchdecke wies frische Operationsnarben auf. Womöglich war er aus dem Krankenhaus geflohen. Warum und von wem er erschossen wurde, ist derzeit unklar. Die Polizei vermutet einen Zusammenhang mit dem Toten im OP-Hemd aus Trenton, New Jersey, der ebenfalls in der Nähe einer Klinik erschossen aufgefunden wurde. Auch dieser weiße Mann sei frisch operiert gewesen. Die Polizei ermittelt mit Hochdruck.«
Mein Partner drehte sich zu mir. »Denkst du, was ich denke?«
»Ja, ich befürchte es«, sagte ich und senkte die Stimme, damit es niemand sonst mitbekam. »Ein Toter mit frischen OP-Narben auf der Bauchdecke, hört sich nach Organhandel an. Frische OP-Narben und erschossen nach Organhandel und Mafia. Iss schneller«, sagte ich und nahm selbst einen großen Bissen vom Burger.
»Wir sind zuständig, da zwei Bundesstaaten involviert sind. Wir wissen jedoch nicht, ob für die Taten ein und dieselbe Waffe benutzt wurde, wir es also mit ein und demselben Täter zu tun haben«, sagte er und sah auf die Uhr. »Lass uns in Ruhe zu Ende essen.«
Der Muskelmann neben mir wandte den Blick vom Bildschirm. Er fuhr sich mehrmals mit der flachen Hand über die glänzende Glatze und fluchte irgendetwas. Dabei klang ein seltsamer Dialekt heraus. Dem Vornamen nach zu urteilen, konnte er Schotte sein. Das frischgezapfte Bier hatte er noch nicht angetrunken. Also waren es eher die News, die ihn so aus der Fassung brachten.
Er rückte zu mir heran.
»Jeder muss jetzt Angst um seine Eingeweide haben. Jeder!«, orakelte er. »Es wird nicht bei den zwei Bundesstaaten bleiben. Der Typ macht weiter, wo es ihm gerade gefällt!«
»Kennen Sie ihn etwa?«, fragte Phil.
Probieren konnte er es ja mal.
»Habe ich das gesagt? Nein!«, gab sich Sean schnell selbst die Antwort.
»Schon gut, schon gut«, sagte mein Partner und hob die Hände beschwichtigend. »Bleiben Sie ruhig. Ihnen wird bestimmt nichts passieren. Da muss man nicht sofort in Panik verfallen.«
Die Servicekraft wischte mit einem Tuch über den bereits blitzblanken Tresen.
Wir aßen weiter.
»Spendet man seine Organe normalerweise nicht freiwillig? Und werden sie nicht erst entnommen, wenn man gehirntot ist?«, fragte sie.
»Das ist ja das Elend«, antwortete Sean ihr. »Die Menschen spenden sie zu Lebzeiten einfach nicht. Sie lassen sich keinen Organspendeausweis ausstellen, weil sie Angst davor haben, dass ihnen die Organe bei lebendigem Leib herausgerissen werden.«
»Das ist Blödsinn!«, rief die Frau.
»Sag ich doch! Deshalb fehlen so viele Organe zum Transplantieren, und deshalb blüht der Schwarzhandel damit. So verdienen sich die mafiösen Organisationen dumm und dämlich.«
»Sind Sie denn Organspender?«, fragte ich, um ihm die Luft aus den Segeln zu nehmen.
»Ja klar!« Er zog aus der Gesäßtasche der Jeans seine Geldbörse hervor. Beim Aufklappen leuchtete mir am oberen Rand einer Plastikkarte ein rotes Herz mit dem Vermerk Donor entgegen. Sean holte den Führerschein heraus. Seinen Nachnamen hielt er mit dem Daumen verdeckt.
Phil wollte nach der Fahrerlizenz greifen, der Muskelmann zog jedoch die Karte zurück und steckte sie wieder ein.
Seit geraumer Zeit wurde in sehr vielen Bundesstaaten bei einer Neuausstellung oder Verlängerung des Führerscheins automatisch die Organspendebereitschaft abgefragt und entsprechend vermerkt. Seit diesem Verfahren war zwar die Anzahl der Spenderorgane gestiegen, allerdings fehlten immer viel zu viele, wie ich erst kürzlich in der New York Times gelesen hatte.
»Und wisst ihr was?« Sean wurde lauter. »Obwohl ich ein stolzer Schotte bin, ist es mir egal, wenn ein Amerikaner«, er winkte ab, »von mir aus auch eine Amerikanerin, mein Spenderorgan bekommt. Die anderen Organe müssen sich ja nicht mit meinem unterhalten.«
Wir hielten uns da raus.
Ich nahm einen letzten Bissen, tupfte den Mund ab und warf die Serviette auf den Teller. Auch mein Freund war gesättigt, aber nicht zufrieden. Er saß offensichtlich auf heißen Kohlen, weil er wie ich wusste, was uns bald erwartete.
Anstatt sich wieder anderen Dingen zu widmen, hielt sich mein Nachbar Sean mit seinen Vorträgen zur Organspende dran.
»Ich weiß ja nicht, was Sie so treiben, doch wenn ich mit meinem Wagen durch die Gegend reise, lauern überall Gefahren. Outdoorcamping ist längst nicht so ungefährlich, wie es immer behauptet wird. Mit dieser Spendenbereitschaft leben so wenigstens meine Organe weiter, falls ich umkommen sollte.«
Mein Handy klingelte. Ich stand auf und entschuldigte mich bei Sean. Beim Hinausgehen warf ich Phil einen Blick zu. Er verstand sofort, was los war, zahlte und folgte mir.
Wir gingen zum Parkplatz und stiegen in den Jaguar ein. Mein Handy verknüpfte sich mit der Freisprechanlage. Aus den Lautsprechern drang die Stimme von Mr. High.
Mein Partner und ich grüßten zurück und sagten, wo wir uns momentan befanden.
»Gut, dann können wir frei reden«, sagte der Chef. »Es geht um die Toten im OP-Hemd.«
»Wir haben gerade in den Nachrichten davon gehört«, sagte Phil.
Mr. High atmete tief durch. »Hoffentlich war es nicht einer dieser Sensationsberichte. Die Meldung von den Toten im OP-Hemd geht herum wie ein Lauffeuer. Einige Fernsehsender haben ihre Reportagen mächtig aufgebauscht. Ständig rufen besorgte Bürger aus den Krankenhäusern der Bundesstaaten bei der Polizei an. Sie wollen wissen, ob sie in ihrem Hospital sicher sind. Ärzte beklagen, dass viele OP-Termine ohne Angaben von Gründen erst gar nicht wahrgenommen werden.«
Im Hintergrund hörten wir, wie Mr. High auf der Tastatur seines Laptops tippte, dann war er wieder ganz bei uns.
»Zurück zum Toten aus Wilmington. Er wies maximal zwei Tage alte Narben am Bauch auf und hat ein Einschussloch in der Stirn. Auch der tot aufgefundene Mann aus Trenton besaß Bauchnarben und ein Schussloch der gleichen Größe in der Stirn. Seine Operation muss ebenfalls erst kürzlich stattgefunden haben. Das wissen wir aus der Gerichtsmedizin.« Tippgeräusche. »Schauen Sie sich bitte die ersten Obduktionsergebnisse an.«
Ich erhielt postwendend eine Nachricht.
»Beiden Toten wurden Organe entnommen, genauer gesagt, Nieren, Milz und Leber.«
»Kennt man schon die Identität der Toten, Sir?«, fragte mein Partner.
»Leider nicht«, antwortete Mr. High. »In den umliegenden Krankenhäusern der Fundorte hat bisher niemand die Männer anhand von Polizeifotos wiedererkannt.«
»Steht fest, ob bei beiden Taten ein und dieselbe Waffe benutzt wurde? Wenn ja, welche?«, erkundigte ich mich.
»Eine Waffe wurde nicht gefunden«, sagte Mr. High. »Die Einschusslöcher sind identisch groß. Es wurde wohl aus der gleichen Entfernung geschossen. Den Abmessungen nach handelt es sich um eine Neunmillimeter. Die Kugeln müssen erst noch entfernt werden. Da die Vorgehensweise bei beiden Toten dieselbe ist, gehen wir erst einmal von einem Täter aus. Koordinieren Sie die beiden Fälle und lassen Sie sich von den Field Offices Baltimore und Newark unterstützen.«
»Gibt es Hinweise darauf, ob die Mafia dahintersteckt?«, fragte mein Partner.
»Sollte die Mafia nichts damit zu tun haben, seien Sie dennoch vorsichtig. Wie Sie wissen, kann so mancher Psychopath gefährlicher und unberechenbarer sein als ein Haufen Mafiosi. Ich höre von Ihnen. Viel Erfolg!«
Unsere Mission war klar. Gleich morgen früh mussten wir mit dem Wagen nach Wilmington fahren, wo man den letzten Toten gefunden hatte und uns danach in Trenton sehen lassen.
Phil suchte die zuständigen Agents der Field Offices heraus und kündigte unseren morgigen Besuch per E-Mail an.
Ich startete den Motor und setzte zum Rückwärtsfahren aus der Parklücke an, als mir ein schwarzer Bestattungswagen mit Reservereifen auf dem Dachgepäckträger den Weg abschnitt. Es war ein Cadillac DeVille. Die schwarzen Gardinen mit dem weißen Totenkopfmuster hinter den Scheiben, der Wasserkanister und die Schaufel an der Heckklappe, zeigten mir, dass er nicht mehr für einen Bestatter im Einsatz, sondern zu einem Outdoorcamper umgebaut worden war.
Der Fahrer des Campers ließ die Scheibe nach unten gleiten. Heavy-Metal-Musik dröhnte aus dem Wageninneren.
Der offenbar Schwerhörige war Sean, der Schotte. Er zeigte uns den Teufelsgruß.
Ambros Dickerson saß im Salon vor dem Kamin seiner alten Villa. Er streckte die Hände aus und wärmte sich am Feuer. Draußen herrschten Frühlingstemperaturen, aber im ungeheizten Nebengebäude, wo er sich lange Zeit aufgehalten hatte, war es ihm kalt geworden. Krank werden würde er deshalb nicht. Sein Immunsystem war gestärkt, sein Körper kräftig und durchtrainiert.
Trotz seiner weißen Haarpracht sah ihm niemand die einundfünfzig Jahre an, und keiner wusste, wer er wirklich war. Er galt als Frauenschwarm, seriös, weltoffen und als Koryphäe auf dem Gebiet der Abdominalchirurgie. Was wollte er mehr? Eine ganze Menge!
Vor einem halben Jahr hatte er die zum Verkauf stehende Villa in Binghamton, New York, erworben. Besonders die Abgeschiedenheit des Gebäudes gefiel ihm. Der Prachtbau ruhte inmitten eines parkähnlichen alten Baumbestands und war mit seiner soliden Bauweise und den beiden Nebengebäuden ideal für seine Zwecke. Im Gästehaus, wie er ironischerweise das linke Gebäude nannte, war mithilfe eines verschwiegenen Teams ein Operationssaal ganz nach seinen Wünschen entstanden. Hier übte er seine größte Leidenschaft aus – die Bauchoperation.
Vor dieser Zeit hatte er sein fundiertes medizinisches Wissen in verschiedenen Kliniken eingesetzt und als ein prädestinierter OP-Chirurg gearbeitet. Doch bei der letzten Leberoperation unter seiner Führung war ihm ein schwerwiegender Fehler unterlaufen. Ungern dachte er daran zurück.
»Erster Schnitt!«, hatte Dr. Dickerson zu seinem OP-Team gesagt. Zwei Assistenzärzte, ein Narkosearzt und eine OP-Schwester standen bereit.
Mit Wundspreizern klappten die Ärzte die Bauchdecke auf und gaben den Blick auf das Innere des Bauchraums frei. Dickerson inspizierte die Organe. Ihr gesundes Erscheinungsbild und die Unversehrtheit bereiteten ihm eine tiefe Befriedigung. Niemand von den Anwesenden würde seine Empfindungen nachvollziehen können. Deshalb war er froh, dass sie sein Lächeln hinter der Maske nicht sahen.
»Absaugen«, sagte er im bemüht ruhigen Ton zur OP-Schwester.
Sie reagierte sofort und tupfte mit dem Absauger mehrmals auf eine langsam blutende Stelle, verharrte dort, um den Vorgang jederzeit wiederholen zu können.
Wegen seiner hervorragenden Operationstechnik wurde Dickerson von den anderen Chirurgen bewundert. Niemand von ihnen führte das Skalpell so elegant, schnell und zielsicher wie er. Doch plötzlich spürte er ein feines Zittern in den Händen, das immer stärker wurde. Der Schweiß brach ihm aus. Er hatte sein unbändiges Verlangen, die Organe vom Körper zu trennen, nicht länger im Griff.
Fieberhaft drang er mit dem Chirurgenmesser tiefer in den Bauchraum ein, machte sich mit gezielten Schnitten daran, die Verbindungen der Leber zu lösen. Bald war es so weit, dann würde er sie entnehmen und in seinen Händen wiegen.
Allein bei dem Gedanken ging das Zittern seiner Hand in ein Zucken über – schon war es passiert. Ungewöhnlich viel Blut strömte aus dem Bauchraum hervor.
»Absaugen! Schnell! Absaugen!«, hatte Dr. Dickerson gerufen. »Was haben Sie da nur gemacht, Schwester? Sie haben den Darm verletzt!«
Ambros Dickerson lehnte sich zurück und streckte auch die Beine zum Kaminfeuer aus. Er grinste in sich hinein. Ja, er hatte dafür gesorgt, dass die OP-Schwester kurz darauf entlassen worden war. Das hatte den Assistenzärzten gar nicht gefallen. Sie wollten, dass der Klinikleiter Erkundigungen über Dickersons Arbeit in den Hospitälern einholte, in denen er zuvor gearbeitet hatte. Der Chefarzt hatte dazu keine Veranlassung gesehen.
Ambros Dickerson war seinen skeptisch gewordenen Ärztekollegen zuvorgekommen. Mit Pauken und Trompeten hatte er freiwillig gekündigt, weil man ihm nicht mehr vertraute und seine exzellente Arbeit nicht zu schätzen wusste. Außerdem genügte das unfähige OP-Team, das man ihm zur Seite gestellt hatte, nicht seinen Ansprüchen, um eine qualitativ hochwertige Operation gewährleisten zu können. Ein weiterer Assistenzarzt musste gehen.
Dickerson war aus Sicherheitsgründen in einen anderen Bundesstaat gezogen und wollte nie mehr in einem Krankenhaus als Chirurg arbeiten. Obwohl die Vernetzungen in den Kliniken untereinander nicht immer auf dem neuesten Stand waren, durfte er kein Risiko eingehen. Ein Leben ohne Operationen, ohne den Anblick des offenen Bauchraums und der Organe war für ihn nicht lebenswert.
Er überlegte, woher diese Faszination für die Innereien stammte, und dachte an seine Kindheit zurück, so wie Therapeuten es empfahlen. Als Kind war er oft bei seinen Großeltern in Texas zu Besuch gewesen und hatte dem Großvater helfen dürfen, Hasen auszuweiden. Das sollte einen Cowboy aus ihm machen. Eine Zigarre, wie sein Opa sie immer dabei rauchte, gab es erst dazu, als Dickerson ein Jugendlicher war. Jahre später schlachtete Großvater auch Schweine. Gemeinsam mit ihm verarbeitete er die Innereien zu Wurst und anderen Speisen. Seitdem liebte er es, rohe Schweineleber mit Zwiebeln zu essen.
Da passte es tatsächlich ins klischeehafte Bild, dass er in jungen Jahren kurz daran gedacht hatte, Metzger zu werden. Allerdings war er sehr schnell dahintergekommen, dass ihm der Beruf als Chirurg um Klassen besser zu sein schien und mehr Befriedigung versprach.
Seine Großmutter hatte es damals schon geahnt. Wenn sie ihm beim Schlachten zusah, lächelte sie jedes Mal. »Aus dem Jungen wird mal ein großer, unerschrockener Mann.«
Irgendwann starb der Großvater und die Farm wurde aufgegeben. Dickersons Hochzeit mit Christine hatten sie nicht mehr erlebt und auch nicht, dass er Arzt geworden war. Sie wären stolz auf ihn gewesen.
So hatte es mit seiner maßlosen Begierde tatsächlich in der Kindheit angefangen. Enden würde seine Leidenschaft für Operationen am offenen Bauchraum nie. Dafür würde er schon sorgen.
Am nächsten Morgen holte ich Phil an der gewohnten Ecke ab.
Phil hatte von unserer FBI-Kollegen Hannah Wild die Koordinaten vom Fundort des Toten bekommen und gab sie nun ins Navi ein. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Cassy Cross wollten wir vier uns direkt vor Ort treffen und weitere Einzelheiten besprechen.
Die Route war berechnet.
Ich trat aufs Gaspedal.
Unser Weg führte nach Jersey City, bis es zur Interstate 95 South abging.
Der Verkehr war mäßig. In zwei Stunden und sieben Minuten müssten wir unser Ziel erreicht haben.
Mein Freund nahm das Tablet aus der Halterung und wischte auf dem Display herum.
»Ist die Akte vervollständigt worden?«, fragte ich. »Liegen Fotos der beiden Toten vor?«
»Haben wir«, sagte er und besah sie sich. »Interessant.«
Nach zwei Stunden waren wir kurz vor unserem Zielort. Ich bog die Nächste rechts auf einen Feldweg ab, der in ein Waldgebiet führte. Nachts würde man hier völlig im Dunkeln tappen. Straßenlaternen gab es nicht, geschweige denn Überwachungskameras.
Am Wegesrand stand ein Chevrolet Tahoe LS, wie die Fahrbereitschaft des FBI ihn vergab. Wir parkten dahinter und stiegen aus. Von Hannah Wild und Cassy Cross vom Field Office Baltimore, mit denen wir uns hier treffen wollten, war weit und breit nichts zu sehen.