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Am Rand einer Schulabschlussfeier wurde Michael de Boer bei einem Unfall lebensgefährlich verletzt. Dreizehn Jahre später erwachte er aus dem Koma und verriet seinem Bruder Alan die Namen der vier Mitschüler, die damals dafür verantwortlich gewesen waren. Alan, ein Sonderling mit autistischen Zügen, der seinen jüngeren Bruder abgöttisch liebte, begab sich auf einen mörderischen Rachefeldzug, um die Beteiligten zur Rechenschaft zu ziehen. Und wir vom FBI setzten alles daran, den jungen Mann aufzuhalten!
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Seitenzahl: 138
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
Ich bin die Vergeltung
Vorschau
Impressum
Ich bin die Vergeltung
An den Fensterscheiben des Krankenzimmers rann der Regen in Bächen hinab. Die Beleuchtung war heruntergedimmt und verbreitete schwaches Licht, das an einen verschlafenen Nachmittag am Meer erinnerte.
Wie jeden Tag in den letzten dreizehn Jahren war Alan de Boer nach der Arbeit gekommen, um seinen Bruder Michael zu sehen. Michael lag im Koma, seit dreizehn Jahren, und die Ärzte machten Alan keine Hoffnung, dass sich daran jemals etwas ändern würde.
Er saß im Besucherstuhl und lauschte den monotonen Pieptönen der Monitore, die über dem elektrisch verstellbaren Krankenbett hingen und die Vitalfunktionen anzeigten.
Unter der Zimmerdecke gegenüber dem Bett hing ein kleiner Fernseher. Über den Bildschirm wanderten die aktuellen Schlagzeilen, während ein Nachrichtensprecher stumm die Lippen bewegte.
Aus Gewohnheit trat er ans Fenster, vielleicht auch aus Langeweile. Jedenfalls verpasste er den Moment, auf den er seit dreizehn Jahren wartete. Um 17:37 Uhr, an einem Donnerstag, schlug Michael de Boer die Augen auf.
Es hatte seit Tagen fast ununterbrochen geregnet, das Wasser floss in kräftigen Rinnsalen die Circle Road hinab. Von den ausladenden alten Buchen, die die schmale Straße säumten, troff es unablässig, und wer sich nur schnell ein Ei oder Milch beim Nachbarn leihen wollte, war bis auf die Knochen durchgeweicht, wenn er nach Hause zurückkehrte.
Wer in Todt Hill auf Staten Island wohnte, hatte es in der Regel allerdings nicht nötig, sich ein Ei oder Milch für die Pancakes zu leihen. Der Kühlschrank war hier normalerweise gut gefüllt, und wenn doch mal etwas fehlte, bemühte man eher einen der vielen Lieferdienste, als den Nachbarn zu stören, dem man oft genug noch nie persönlich begegnet war. Geschweige denn, dass man seinen Namen kannte.
Jede Villa in der Gegend rund um den Reed's Basket Willow Swamp Park war eine eigene Welt, und die sie umgebenden parkähnlichen Gartenanlagen nährten die Illusion, dass jenseits der alarmgesicherten Zäune zwar vermutlich Leben existierte, dieses Leben jedoch unbedingt weniger entwickelt und grundsätzlich feindlich gesinnt war.
Als darum an diesem späten Abend im November ein Schatten die Circle Road überquerte und unter dem alten Baumbestand verschwand, hätte jeder Bewohner der Straße sich in seinem Urteil über die fremde Welt jenseits seines Grundstücks bestätigt gefühlt.
Der Schatten trug eine leichte, wasserdichte Regenjacke mit Kapuze aus schwarzem Polyester, schwarze Jeans und rutschfeste Camouflage-Schnürschuhe. Er bewegte sich gewandt wie eine Raubkatze, und auch die Dunkelheit der Herbstnacht schien seinen Orientierungssinn nicht zu beeinträchtigen.
Er huschte den sanft geschwungenen Kiesweg entlang bis zu einem hohen, mit verblühten Rosen umrankten Torbogen.
Dann richtete er eine winzige Taschenlampe auf das Zahlenschloss. Der Code wurde im wöchentlichen Wechsel aus einem Pool von Zahlenkombinationen nach einem bestimmten Algorhythmus geändert. Es handelte sich um die üblichen Zahlenreihen aus Geburtstagen, Jahreszahlen, Todesdaten, Jubiläen und so weiter.
Im Geist rekapitulierte er die letzten Zahlen und versuchte, die nächste Kombination zu erraten. Todesjahr der Mutter. Zwei-null-eins-sieben. Negativ. Geburtsjahr der Schwester. Eins-neun-neun-sechs. Negativ. Richtfest der Villa. Eins-neun-drei-neun. Treffer!
Das schmiedeeiserne Tor öffnete sich lautlos. Der Schatten huschte in den Garten.
Um jedes Geräusch zu vermeiden, lief er über den samtweichen Rasen. Vorbei an breiten Blumenbeeten, in denen rote Dahlien, gelbe Chrysanthemen und blaue Astern blühten. Linker Hand schimmerte die Oberfläche eines lang gezogenen Teichs, eingefasst von hohem Schilf und Wasserlilien. Kois und Goldfische glitten dicht unter der Wasseroberfläche entlang.
In dem Moment hörte er die ersten Töne. Wagner, natürlich, Lohengrin. Seit Wochen hörte Tom Hayes nichts anderes. Seit dem Tod seiner Mutter lebte er allein in der Familienvilla. Und wenn er abends seinen Laptop zuklappte, setzte er sich mit einer Flasche Bushmills ins Wohnzimmer und fuhr Wagner auf Opernhauslautstärke hoch.
Selbst die Vögel im Garten verstummten in Ehrfurcht.
Er ließ den Teich hinter sich, passierte die Sitzecke mit den bequemen Gartenmöbeln und einem lauschigen Blätterdach und erreichte endlich die breiten Marmorstufen, die zur Terrasse hinaufführten.
Die Lautstärke hier draußen vor der Villa war enorm, obwohl alle Fenster geschlossen waren. Die Aufführung befand sich bereits im dritten Akt, ging also unaufhaltsam auf das Ende zu. Er hatte nicht mehr viel Zeit.
An der rechten Seite führte eine Treppe hinunter zum Kellergeschoss. Der Bewegungsmelder ließ die kleine Kugellampe am Fuß der Treppe aufleuchten. Das war kein Problem, denn das Licht war von den Fenstern zum Garten hinaus nicht zu sehen.
Das Fenster neben der Kellertür war mittlerweile ersetzt worden. Vor zwei Wochen hatte ein tölpelhafter Einbrecher das Fenster eingeworfen, und die Alarmanlage hatte einen Höllenlärm gemacht. Der Einbrecher hatte das Weite gesucht, natürlich ohne Beute zu machen.
Das war auch nicht sein Ziel gewesen.
Er wollte das Fenster nur vorübergehend aus dem elektronischen Sicherungssystem der Villa entfernen.
Genau das war geschehen. Eine neue Glasscheibe war inzwischen eingesetzt worden. Aber der Termin mit der Sicherheitsfirma, die die neue Scheibe mit der Alarmanlage verbinden würde, war erst für die nächste Woche vereinbart worden.
Er zog einen Glasschneider aus der Innentasche seiner Regenjacke, schnitt ein quadratisches Loch in die Scheibe, griff hindurch, löste den Verschluss, öffnete das Fenster und sprang hinein.
Der Raum, in dem er sich befand, war etwa neun Yards lang und drei Yards breit. Entlang der Wände liefen Holzregale, die Hunderte Weinflaschen enthielten. An der Wand gegenüber der Tür befanden sich ein Thermometer und ein Hygrometer, die Temperatur und Luftfeuchtigkeit kontrollierten.
Die Musik aus dem Erdgeschoss war hier gedämpfter zu hören als draußen vor der Terrasse. Männer- und Frauenchor hatten mittlerweile den Schwan entdeckt und teilten das mit kunstvollem Gesang den Umstehenden mit.
Der Schatten glitt einen langen dunklen Flur entlang, vorbei am Heizungskeller und einem Raum, in dem sich Kisten und Körbe voller Papiere und Aktenordner stapelten wie bei einem Umzug.
Im Treppenhaus schwoll die Musik an. Er durchquerte die Empfangshalle und betrat die Küche. Es roch nach scharf gewürztem Fleisch, und tatsächlich entdeckte er auf der Anrichte die Verpackung eines Fertiggerichts. Thaicurry mit Hühnchen in Kokosmilch. Ein Teller mit den Resten stand in der Spüle.
Vorsichtig schob er die Tür zum Wohnraum auf. Tom Hayes lag in einem hellbraunen, ledernen Relaxsessel und genoss mit geschlossenen Augen die automatische Vibrationsmassage. Ihm gegenüber standen zwei mannshohe High-End-Boxen, aus denen die Musik ohrenbetäubend dröhnte.
Tom Hayes ergriff seinen Whiskytumbler und nahm einen tiefen Schluck, bevor der Tenor zu den ikonischen Worten ansetzte.
»Mein lieber Schwan!«
Der Schatten hob die Desert Eagle und zielte.
Dieser Mann hatte es nicht verdient, auch nur noch einen einzigen Ton dieser brillanten Einspielung zu hören.
Es war einer dieser Tage, an denen man es sich am liebsten mit einem guten Buch und einer gut abgehangenen Auswahl alter Sinatra-Hits zu Hause gemütlich macht und dem Regen lauscht, den der Wind stoßweise gegen die isolierten Fenster wirft.
Stattdessen steuerte ich meinen neuen Jaguar F-Type 75 R durch die Upper West Side, die im unbarmherzigen Nieselregen wirkte wie an Tag eins nach einer apokalyptischen Katastrophe.
Als ich an der üblichen Stelle an den Straßenrand rollte, sah ich mich suchend nach meinem Partner um. Phil hatte sich in einen Hauseingang geflüchtet und lief jetzt mit eiligen Schritten über den menschenleeren Bürgersteig.
Mit einem tiefen Seufzer ließ er sich in den Beifahrersitz sinken. »Eigentlich wollte ich das Boot nehmen, aber ich konnte dir nicht mehr rechtzeitig Bescheid sagen.«
Immerhin hatte er seinen Humor nicht verloren. Ich setzte den Blinker und reihte mich wieder in den fließenden Verkehr ein.
Zu diesem Zeitpunkt rechneten wir noch mit einem relativ ruhigen Tag im Field Office. In den Tagen zuvor war es uns gelungen, eine internationale, äußerst professionell operierende Bande von Kunstdieben zu zerschlagen und ihre drei führenden Köpfe hinter Schloss und Riegel zu bringen.
Es ging jetzt nur noch darum, die Ergebnisse unserer Ermittlungen zusammenzustellen und sämtliche Beweismittel zu sichten, um eine erfolgversprechende Anklage durch den District Attorney vorzubereiten.
Es sollte anders kommen. Das verriet uns schon die vielsagende Miene von Helen, als wir auf dem Weg ins Büro ihren Arbeitsplatz passierten.
»Der Chef hat Besuch!«
Da wussten wir, dass aus dem geruhsamen Bürotag nichts werden würde.
Tatsächlich dauerte es keine fünfzehn Minuten, bis Helen uns in das Arbeitszimmer von Mr High bat. Auf dem Gang stieß unsere neue Kollegin Kristen Steele zu uns.
»Irgendeine Ahnung, worum es geht?«, wollte Phil wissen.
Kristen zuckte mit den Schultern. »Lassen wir uns überraschen.«
Der Konferenztisch war bereits voll besetzt, es waren sogar zusätzliche Stühle dazugestellt worden. Außer Mr High kannte ich Zeerookah, Dr Iris McLane, Dr Ben Bruckner und Dionne Jackson.
Die drei anderen Teilnehmer der Besprechung nannte John D. High uns in einer kurzen Vorstellungsrunde. »Detective Lieutenant Robert Valdes, Detective Sergeant Tobin Bell und Special Agent Fred Thompson vom Department of Homeland Security.«
Phil und ich tauschten einen erstaunten Blick. Dass ein Mitarbeiter des DHS an einer FBI-internen Besprechung teilnahm, war ungewöhnlich.
Mr High wandte sich an Valdes. »Vielleicht geben Sie uns zunächst einen Überblick über die aktuelle Faktenlage.«
Der Detective Lieutenant nickte und warf einen Blick in die Runde. »Vergangene Nacht wurde ein Anschlag auf ein führendes Mitglied der New Yorker Stadtverwaltung verübt. Tom Hayes war Assistant Commissioner und in der Verwaltung in leitender Funktion zuständig für die Koordination der vielfältigen Kontakte zu unseren Partnerstädten in aller Welt. Er wurde in seiner Villa in Todt Hill auf Staten Island durch einen Schuss aus einer halbautomatischen Waffe in den Nacken getötet, was einer vorsätzlichen Hinrichtung gleichkommt.«
Der Detective Lieutenant wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn. Vermutlich war er die ganze Nacht auf den Beinen gewesen. Er wirkte erschöpft und hatte offensichtlich Mühe sich zu konzentrieren.
»Konnten Sie verwertbare Spuren sicherstellen?«, wollte ich wissen.
»Negativ. Offenbar trug der Täter Handschuhe. Es gibt einige unvollständige Fußabdrücke, doch ich bezweifele, dass sie uns weiterbringen.«
»Wie ist der Täter in die Villa gelangt?«, fragte Kristen Steele. »War die Alarmanlage ausgeschaltet?«
»Und was ist mit bewegten Bildern?«, ergänzte Dionne Jackson. »Gibt es Überwachungskameras im Außenbereich?«
Sergeant Tobin Bell räusperte sich. »Es existieren tatsächlich drei Überwachungskameras, allerdings nur im Eingangsbereich und vor der Fensterfront an der Terrasse. Der Täter ist durch ein Kellerfenster eingestiegen, darum befürchten wir, dass es keine Bilder von ihm gibt.«
»Noch mal: Warum hat die Alarmanlage nicht angeschlagen?« Kristen Steele blieb hartnäckig. Das gefiel mir.
»Tatsächlich wurde das bewusste Fenster vor einiger Zeit eingeschlagen«, wandte sich der Sergeant ihr zu. »Es war noch nicht wieder an das elektronische Sicherheitssystem angeschlossen. Zweifellos eine Nachlässigkeit.«
»Konnten Sie schon feststellen, ob etwas gestohlen wurde?« Diesmal war es Zeerookah, der die Frage an den Lieutenant richtete.
»Es sieht nicht danach aus, aber mit letzter Gewissheit können wir das erst sagen, wenn wir mit der Frau des Opfers gesprochen haben.«
»War das bisher nicht möglich?«, fragte Zeerookah weiter.
»Wir konnten Mrs Hayes nur telefonisch erreichen«, sagte der junge Sergeant. »Sie besucht zurzeit ihre Schwester in Wisconsin, wird aber so bald wie möglich zurück nach New York kommen.«
Ich hatte mich bisher zurückgehalten. Jetzt hatte ich den Eindruck, dass die Diskussion in eine ganz falsche Richtung führte. »Mal abgesehen davon, ob etwas gestohlen wurde oder nicht – die Art der Exekution deutet nicht unbedingt auf einen Einbrecher, der bei seinem Versuch, Beute zu machen, vom Hausherrn überrascht wird.«
Mr High nickte ernst.
»Sehr richtig, Jerry. Darum gehen unsere Überlegungen darüber hinaus auch in eine ganz andere Richtung.« Er wandte sich an Fred Thompson, den Mitarbeiter des Heimatschutzministeriums. »Dazu hören wir jetzt am besten Mister Thompson – bitte!«
Fred Thompson hatte ein breites, teigiges Gesicht, das sofort überall in Bewegung geriet, sobald er anfing zu sprechen.
»Um gleich zum Kern zu kommen«, begann er und setzte sein enormes Doppelkinn sofort in Alarmbereitschaft, »Mister Hayes war Mitglied einer Abordnung, die im vergangenen Monat in Khartum war, um weitere Möglichkeiten des wirtschaftlichen und kulturellen Austauschs auszuloten.«
Mr High zog die Brauen hoch.
»Wie Sie selbstverständlich wissen, ist Khartum Partnerstadt von New York, und so haben wir in den letzten Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen, um das Leben für die Einwohner angenehmer zu machen und die sudanesische Regierung zu unterstützen.« Thompson schloss kurz die Augen, um sie anschließend zu schmalen Schlitzen zu verengen – mit verheerenden Folgen für den gesamten Wangenbereich. »Während der streng geheimen Gespräche mit Regierungsvertretern fanden in der Hauptstadt schwere Kämpfe zwischen der regulären sudanesischen Armee und den paramilitärischen Rapid Support Forces statt. Diese patriotische Bewegung lehnt jede Kooperation mit außerstaatlichen Institutionen ab. Auch die Gespräche mit unserer Delegation waren ihren Anführern ein Dorn im Auge.«
»Der langen Rede kurzer Sinn«, übernahm Mr High, dem langatmige politische Ausführungen ein Gräuel waren, »wir müssen die Möglichkeit berücksichtigen, dass Mitglieder dieser paramilitärischen Organisation den Anschlag auf Tom Hayes inszeniert haben, um die geplante wirtschaftliche Unterstützung des sudanesischen Regimes zu hintertreiben und damit auch jede zukünftige Hilfe für die Machthaber des nordöstlichen afrikanischen Staats in Misskredit zu bringen.«
»So ist es«, bestätigte Fred Thompson zufrieden und beendete seinen Auftritt mit einem Nicken, das sämtliche elastischen Gesichtspartien in Wallung versetzte.
»Jerry, Phil, Sie arbeiten mit Kristen und Dionne zusammen. Zeerookah, Sie bringen bitte in Erfahrung, ob sich Mitglieder der genannten Organisation Rapid Support Forces in unserer Stadt aufhalten, und wenn ja, wo sie sich treffen.« Dann erhob sich Mr High und beendete damit das Treffen. »Ich wünsche Ihnen viel Erfolg!«
Unser Kollege Zeerookah brauchte nicht lange, um die Adresse einer sudanesischen Widerstandsbewegung in unserer Stadt ausfindig zu machen.
»Es ist zwar nicht die Rapid Support Forces, von denen Thompson gesprochen hat«, erklärte er am Telefon, »der Mitarbeiter im Konsulat war sich sicher, dass diese Gruppe keine Vertretung in New York unterhält.«
»Wer ist es dann?«, wollte ich wissen. »Macht es in dem Fall überhaupt Sinn, mit den Leuten zu sprechen?«
»Unbedingt. Offenbar existiert im Sudan eine Vielzahl von sogenannten Befreiungsbewegungen, die Rapid Support Forces sind nur eine davon.«
»Und wie nennt sich die Gruppe, mit der wir reden sollen?«
»Das ist die SPLM, das Sudan People's Liberation Movement. Laut Konsulat ist es die zurzeit mächtigste Oppositionsbewegung, die seit vielen Jahren im Land aktiv ist.«
»Also schön. Und wo finden wir diese SPLM?«, fragte ich.
»206 East 38th Street. Im wunderschönen Murray Hill. Das Büro liegt im Erdgeschoss nach hinten raus. Nach vorne ist es ein Nagelstudio, aber das ist nur ein Fake.«
»Schade, meine Nägel hätten es mal wieder dringend nötig«, flachste ich.
»Mach dir nichts draus, Jerry, das ist das Alter«, kam es postwendend zurück.
»Es geht doch nichts über ein gutes Betriebsklima, Zeery!«
Phil warf mir einen irritierten Blick zu, als ich den Hörer auflegte. Ich tat so, als hätte ich ihn nicht bemerkt, und nickte Dionne Jackson zu, die in diesem Moment den Kopf zur Tür hereinsteckte.
»Kommst du mit, es gibt Arbeit.«
Ich schnappte mir meine Jacke vom Haken und verabschiedete mich von Phil, der mit Kristen Steele die vorläufigen Tatortfotos durchging, die uns Valdes zur Verfügung gestellt hatte.
»Wir statten den Sudanesen einen kurzen Besuch ab. Sehen wir uns später im Mezzogiorno?«
»Immer gerne.« Phil nickte. »Meldet euch, wenn ihr fertig seid.«
Es war das erste Mal, dass ich unsere neue Kollegin in meinem fabrikneuen Jaguar mitnahm.
»Cool«, bemerkte sie lapidar, als ich den Motor startete.
»Ist das alles, was dir dazu einfällt?«, erwiderte ich leicht pikiert.
»Ich versteh nicht viel von Autos.«
»Das ist kein Auto, das ist ein wahres Wunderwerk der Technik«, schwärmte ich, »575 PS, knapp 190 Meilen in der Spitze, zwölffach elektrisch verstellbare Performance-Sitze, Meridian-Soundsystem, sechs Airbags, zwei Getränkehalter ...«
»Und wo ist das Klo?« Dionne sah sich gespielt suchend um. »Und das Ceranfeld? Ich vermisse auch eine Meditationsecke.«
Wir mussten beide lachen.
»Du hast recht, das Modell ist noch nicht ganz ausgereift. Ich werde bei Gelegenheit mal ein ernstes Wort mit dem Chefentwickler sprechen. Da ist noch viel Luft nach oben!«
Die Nummer 206 lag neben einem indischen Imbiss, der vegane, glutenfreie und koschere Kost anbot.
Zeerookah hatte unseren Besuch angekündigt, und tatsächlich kam gleich, nachdem wir das angebliche Nagelstudio betreten hatten, ein junger Mann nach vorne, begrüßte uns freundlich und führte uns durch einen lang gestreckten Flur nach hinten.
Der Gang war unbeleuchtet, duster, es roch nach Patschuli und gekochtem Reis. Auf dem Boden lag ein abgenutzter, schmutzig grauer Teppich, an vielen Stellen kam der helle Estrich durch.
In das Büro der Organisation gelangte man durch eine niedrige Tür am Ende des Flurs. Es fiel nur wenig Licht durch das schmale vergitterte Fenster, das auf einen winzigen Hinterhof hinausging.
Im Halbdunkel erkannte ich zwei Personen, einen Mann und eine Frau, die auf dicken, farbigen Decken auf dem Boden hockten, eine dritte Person saß auf einem Drehstuhl hinter einem alten Bildschirm und einem aufgeklappten Laptop.
Alle drei starrten uns neugierig entgegen.
»Ich bin Agent Cotton, das ist meine Kollegin Agent Jackson«, stellte ich uns vor. »Wir sind mit der Aufklärung eines Mordes befasst, bei der Sie uns möglicherweise helfen können.«
Eine Weile sagte niemand etwas.
Dann wandte sich der Mann auf dem Stuhl an mich. »Wer ist ermordet worden?«