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Bonnie Kreutzer, die einzige Tochter des Produzenten Josh Pieterman, dessen Filme regelmäßig Einspielergebnisse im hohen zweistelligen Millionenbereich erzielten, war aus ihrer Villa entführt worden. Pieterman wurde bereits verschiedentlich mit dem organisierten Menschenhandel in Verbindung gebracht, ohne dass ihm bislang etwas hatte nachgewiesen werden können. Mir fiel die Aufgabe zu, mich um den Fall zu kümmern. Dabei traf ich auf mehrere zwielichtige Gestalten - und auf einen Jungen, der seine Mutter suchte. Als ich die Zusammenhänge endlich verstand, war es fast zu spät!
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Seitenzahl: 143
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
Casting für die Hölle
Vorschau
Impressum
Casting für die Hölle
Dunkle Wolkenfetzen trieben wie Totenschiffe über den nächtlichen Himmel. Irgendwo schrie eine Frau.
Mark Gleeson schaltete den Motor seines Honda Fit aus. Augenblicklich herrschte Grabesstille. Lautlos glitt die Seitenscheibe hoch. Er stieg aus und ging langsam auf das düstere Gebäude zu.
Den Bunker.
Das Kellerfenster gab sofort nach. Drinnen roch es nach altem Öl und Schimmel. Im Treppenhaus brannte kein Licht. Im ersten Stock lief eine Nachrichtensendung.
Auf den Stufen vor dem Eingang hockte eine dunkle Gestalt auf einem umgedrehten Bierkasten, spielte ein stumpfes Spiel auf dem Handy.
Blitzschnell legte Mark Gleeson dem Mann von hinten einen Arm um den Hals und drückte zu. Als der massige Körper schlaff wurde, ließ er ihn auf den kalten Steinboden gleiten.
Dann lief er die Treppe hoch. Zu beiden Seiten gingen Flure ab. Er wandte sich nach links und riss die erste Tür auf.
»Los, raus! Ihr seid frei! Beeilt euch!«
Die junge Frau in dem pinkfarbenen Babydoll starrte ihn verwirrt an.
»Hast du nicht gehört? Die Tür ist offen! Ihr könnt gehen, wohin ihr wollt! Aber ihr müsst schnell machen!«
Die Frau runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Im Bunker arbeiteten Frauen aus allen Teilen der Welt. Offenbar hatte sie ihn nicht verstanden.
Er versuchte ihr mit Gesten deutlich zu machen, dass sie ihr Zimmer verlassen könne. Ohne Erfolg. Sie traute ihm nicht. Kein Wunder. Die Frauen, die im Bunker gelandet waren, hatten jede Hoffnung aufgegeben, wie Menschen behandelt zu werden.
Die Leute, die sie an diesen finsteren Ort gebracht hatten, hielten sie wie Vieh. Solange sie mit ihren Körpern Geld verdienten, ließen sie sie leben. Andernfalls wurden ihre Leichen Tage später aus dem Hudson gefischt oder unbemerkt in einer Müllverbrennungsanlage entsorgt.
Für viele war der Bunker die Endstation.
Die wenigsten träumten noch von einem Leben in Freiheit.
Mark Gleeson zuckte mit den Schultern. Ihm blieb nicht viel Zeit. Er ließ die Tür offen und lief zum nächsten Zimmer.
»Ihr seid frei! Los, pack deine Sachen, und verschwinde!«
Das Mädchen, das auf dem Bettvorleger kauerte und eine junge Katze streichelte, war höchstens sechzehn Jahre alt. Die mandelförmigen Augen ließen auf ein asiatisches Herkunftsland schließen.
Als es Mark Gleeson sah, sprang es erschrocken auf und legte die Arme schützend um die Katze.
Er schüttelte seufzend den Kopf. Sollte seine Befreiungsaktion am Ende an der Sprachbarriere scheitern? Diese Möglichkeit hatte er tatsächlich nicht bedacht.
Auf der anderen Seite des Flurs ging eine Tür auf, und eine blonde Frau in einem knappen, paillettenbesetzten Bustier steckte neugierig den Kopf heraus.
»Du hast richtig gehört!« Mark Gleeson trat auf sie zu. »Ihr könnt den Bunker verlassen! Für immer! Die Tür wird nicht bewacht! Aber ihr müsst euch beeilen!«
Die junge Frau starrte ihn skeptisch an. »Wer sind Sie?«
Endlich jemand, der seine Sprache sprach!
»Ein Freund. Einer, der euch helfen will. Nur ihr habt nicht viel Zeit. In zehn Minuten kann es schon zu spät sein!«
Es dauerte einen Moment, bis die Frau ihm glaubte. Sie gab sich einen Ruck und lief zum nächsten Zimmer, riss die Tür auf und rief etwas hinein.
Mark Gleeson seufzte auf. Es hatte funktioniert. Dankbar überließ er ihr den Flur und nahm sich den nächsten vor.
Siebenundzwanzig Frauen arbeiteten aktuell im Bunker. Ihre Zimmer waren auf zwei Etagen verteilt. Wenn nur die Hälfte ihre Chance nutzte, würde er das schon als Erfolg verbuchen.
Die Adresse hatte er von einer jungen Prostituierten auf einem Straßenstrich in Brooklyn erhalten. Mit dem Geld, das sie verdiente, finanzierte sie die Drogensucht ihrer Mutter.
»Ich habe selbst ein Jahr auf der ersten Etage gearbeitet«, hatte sie ihm bei einem Hähnchendöner erzählt, zu dem er sie eingeladen hatte, »dann hat mich ein Freier rausgekauft. Nach fünf Monaten hat er mich abserviert, seitdem arbeite ich auf der Straße.«
»Wer betreibt den Bunker?«
»Zu meiner Zeit war es ein Syrer. Aber er hat den Laden nur am Laufen gehalten. Besitzer sind angeblich zwei Leute aus Brooklyn, ein Mann und eine Frau. Keine Ahnung, ob das stimmt.«
Inzwischen herrschte reger Verkehr auf den Fluren. Auch aus der zweiten Etage hörte er Türen klappern und aufgeregte Stimmen.
»Tagsüber sind vier Männer im Haus«, erinnerte sie sich, »denn es gibt immer mal wieder Ärger mit Freiern, die nicht zahlen wollen oder gewalttätig werden. Nachts sind es drei, zwei davon fahren gegen drei Uhr morgens zu einem Türken in der Kaminsky Road frühstücken. Jedenfalls lief das so zu meiner Zeit.«
Er hatte den Bunker zwei Wochen lang observiert und ihre Angaben bestätigt gefunden. Zwei Bodyguards verließen den Bunker um drei für eine halbe Stunde und brachten ihrem Kollegen eine warme Mahlzeit in einer Plastikbox mit.
Er hatte eine halbe Stunde.
Dreißig Minuten, um den Bunker zu räumen und siebenundzwanzig Frauen in die Freiheit zu entlassen.
Die ersten leicht bekleideten Frauen kamen zögernd die Stufen herunter. Sie hatten das Nötigste in kleinen Koffern und Handtaschen verstaut und sahen sich unsicher um.
Mark Gleeson stieß die Flügeltür weit auf. Zum Glück war es Mai, und die Temperaturen waren auch nachts angenehm warm.
»Viel Glück! Und lasst euch hier bloß nicht mehr blicken!«, rief er ihnen hinterher.
Die Frauen musterten ihn skeptisch, als sie an ihm vorbei nach draußen traten. Offenbar wussten sie immer noch nicht, was sie von der Sache halten sollten. Er konnte es ihnen nicht verdenken.
Ein Blick auf die Uhr. Jeden Moment konnten die Männer vom Dönerladen zurückkehren. Mark Gleeson wollte die Tür schließen. Da bemerkte er eine Nachzüglerin, die hastig die Stufen heruntereilte. An der Hand hielt sie einen kleinen Jungen.
Als sie sich an ihm vorbeidrängte, blickte der Junge ihn mit großen Augen an.
»Wie heißt du?«, fragte Mark Gleeson ihn.
»Mateo«, antwortete seine Mutter.
»Alles Gute, Mateo!«
Er schaute den beiden nach, die den anderen Frauen folgten. Die ersten hatten bereits den angrenzenden Park erreicht und verschwanden im Schutz der hohen Hecke, die ihn umgab.
In diesem Moment hörte er den Motor eines Autos, das sich rasch näherte. Angestrengt sah er in die Richtung, aus der die Geräusche drangen. Und wieder zu der Frau, die mit ihrem Jungen gerade die Straße überquerte.
Im nächsten Augenblick wurden die beiden vom grellen Licht der Scheinwerfer erfasst. Die Frau blieb geblendet stehen und hielt sich eine Hand vor die Augen.
Dann fielen Schüsse.
Die Runde, die sich an diesem Vormittag um den Konferenztisch im Büro von Mr High versammelt hatte, war kleiner als sonst. Außer unserem Chef und mir waren vom Field Office nur noch Dionne Jackson, Joe Brandenburg und Zeerookah anwesend. Außerdem Detective Lieutenant Matthew Felton vom 114th Precinct, zuständig für die Randalls Island Fields.
Mein Partner Phil Decker gönnte sich gerade einen zweiwöchigen Strandurlaub auf den Bahamas, und unsere Kollegin Kristen Steele hatte es im Zuge unserer Ermittlungen zum organisierten Menschenhandel vorübergehend nach Mexico Stadt verschlagen.
Um kurz nach zehn Uhr Ortszeit eröffnete Mr High das Meeting.
»Dionne, Gentlemen, Sie fragen sich sicher, was der Grund für dieses kurzfristig anberaumte Treffen ist. Nun, ich erhielt heute früh einen Anruf vom Leiter des 114. Polizeireviers, Deputy Chief Mike Compton. Er hat vor Kurzem erfahren, dass wir aktuell in einigen Fällen von organisiertem Menschenhandel ermitteln. In diesem Zusammenhang berichtete er mir von einem außergewöhnlichen Zwischenfall, der sich am Wochenende in seinem Zuständigkeitsbereich auf Randalls Island ereignet hat.« Mr High wandte sich an Matthew Felton. »Vielleicht sind Sie so freundlich und machen uns mit den Einzelheiten vertraut.«
Felton nickte und zog ein Blatt aus der Innentasche seiner Jacke, auf dem er sich Notizen gemacht hatte. Er war noch jung, kaum dreißig, hatte eine gesunde Gesichtsfarbe und strahlte die Zuversicht aus, dass mit der richtigen Einstellung und etwas gutem Willen jedes Problem gelöst und jedes Leben auf das richtige Gleis gesetzt werden konnte.
Mit anderen Worten, er musste noch viel lernen.
»Es passierte in der Nacht von Samstag auf Sonntag«, begann er und bemühte sich, seine Nervosität hinter einer betont festen Stimme zu verbergen. »Ich hatte Dienst, und bis vier Uhr war die Schicht ausgesprochen ruhig. Um kurz nach ging ein Anruf von unserer Streife ein. Entschuldigung ...«
Er trank einen Schluck Mineralwasser, das Helen wie immer in ausreichender Menge in der Mitte des Besprechungstischs platziert hatte. Wir ließen ihm Zeit.
»Sie hatten eine desorientierte Frau in der Gegend der Baseballfelder aufgegriffen. Die Frau war noch jung, sprach kein Englisch und schien unter dem Einfluss von Drogen zu stehen. Außerdem war sie lediglich mit Spitzendessous bekleidet. Die Beamten waren unsicher, wie sie mit ihr verfahren sollten.«
Mr High nickte ihm aufmunternd zu. »Was haben Sie ihnen geraten?«
»Na ja, wir haben im Revier einen eigenen Raum für solche Fälle. Eine Art Ausnüchterungszelle. Dort haben wir die Lady untergebracht.«
»Wie ging es weiter?«
»Die beiden Kollegen hatten das Revier kaum verlassen, da standen sie schon wieder auf der Matte, Sir. Die Frau, die sie diesmal aufgegriffen hatten, hatte auf einer Bank am Rand eines Spielplatzes gelegen. Offenbar wollte sie dort ihren Rausch ausschlafen, denn auch sie stand offensichtlich unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln.«
»Hatten Sie noch Platz in Ihrer Ausnüchterungszelle?«, erkundigte sich unser Chef.
»Allerdings«, bestätigte Lieutenant Felton, »und als wir sie in den Raum führten, stellte sich heraus, dass sich die beiden Frauen kannten.«
»Ich vermute, dass auch die zweite Frau nicht angemessen gekleidet war.«
Das war eher eine Feststellung als eine Frage.
»Richtig. Auch sie trug nur Reizwäsche. Eine Verständigung war auch mit ihr unmöglich, weil sie ebenfalls unsere Sprache nicht beherrschte.«
Ich sah zu Dionne hinüber. Sie nickte kaum merklich. Offenbar hatten wir es in beiden Fällen mit Opfern von Menschenhändlern zu tun.
Junge Frauen wurden mit falschen Versprechungen angelockt, eingesperrt und gezwungen, ihre Körper zu verkaufen. Von dem Geld, das damit verdient wurde, sahen sie keinen Cent.
Neben dem Waffen- und Drogenhandel gehörte der organisierte Menschenhandel zu den lukrativsten Geschäftsmodellen des internationalen Verbrechens.
»Später kamen noch zwei weitere Frauen dazu«, gab Mr High dem jungen Lieutenant das Stichwort.
»Genau. Kurz vor Ende meiner Schicht brachten meine Kollegen noch zwei aufs Revier. Eine wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen, in die Zelle gesperrt zu werden. Sie trat um sich, biss und kratzte, wir brauchten drei Männer, um sie in den Raum zu verfrachten.«
»Und die vierte?«
»Da hatten wir endlich Glück, Sir, denn sie kam aus Iowa und sprach dementsprechend Englisch. Sie war weggetreten. Inzwischen dürfte die Wirkung der Drogen so weit nachgelassen haben, dass man sie vernehmen kann.« Er legte eine bedeutsame Pause ein. »Sie hat uns von der Toten erzählt.«
Ich stutzte. »Es gab eine Tote?«
Lieutenant Matthew Felton nickte ernst. »Was immer sich in dieser Nacht im Randalls Island Park zugetragen hat, es hat ein Menschenleben gefordert.«
»War die Tote auch eine von diesen Frauen?«, hakte Joe etwas ungeschickt nach. »Ich meine, war sie auch so leicht bekleidet wie die anderen?«
Der Lieutenant nickte und warf einen Blick auf seinen Notizzettel. »Die Tote trug einen schwarzen Bodysuit mit roten Spitzen. Ihr wurde zweimal in die Brust geschossen, und zwar aus einer Entfernung von etwa acht bis zehn Yards. Dem Aussehen nach könnte es sich um eine Mexikanerin handeln.«
»Wo befindet sich ihre Leiche?«, fragte ich.
»Wir haben sie umgehend ins Gerichtsmedizinische Institut gebracht«, antwortete der Lieutenant, »so wie es die Vorschriften verlangen.«
Ich nickte nachdenklich. Dort könnte Dionne kurz vorbeifahren, bevor sie ihren kleinen Sohn abholen musste. Jede noch so unbedeutende Information könnte uns in diesem mysteriösen Fall weiterhelfen.
Mr High wandte sich an mich. »Ich habe mit Deputy Chief Compton vereinbart, dass Sie Lieutenant Felton nach Randalls Island begleiten. Dort werden Sie sich in einem separaten Vernehmungsraum des Reviers mit der von Lieutenant Felton erwähnten Frau unterhalten können und hoffentlich etwas über die Hintergründe dieser Angelegenheit erfahren. Möglicherweise hat sie Informationen zu der Toten.«
»In Ordnung, Sir«, sagte ich.
Er warf einen Blick in die Runde. »Haben Sie irgendeine Idee, von wo diese bedauernswerten Frauen geflohen sein könnten?«
Joe Brandenburg meldete sich zu Wort. »Es gab immer mal wieder Gerüchte, dass in der Gegend von Mott Haven und Port Morris ein illegales Bordell betrieben würde. Konkret wurde das bisher nie.«
»Und was haben Sie über den Betreiber dieser Einrichtung gehört?«
Joe sah rüber zu Zeerookah.
»Alles Mögliche«, sagte der Indianer. »Mal sollte ein syrischer Geschäftsmann dahinter stehen, dann wieder ein kolumbianisches Drogenkartell. Zuletzt hat jemand behauptet, das Ganze sei ein geheimes Projekt der CIA, um Politiker aus Russland und China auszuspionieren.«
Lieutenant Felton faltete sein Notizblatt zusammen und schob es zurück in seine Jacke.
»Wer das Bordell betreibt, weiß ich nicht«, erklärte er, »aber ich denke, nach den Vorkommnissen vom Wochenende können wir davon ausgehen, dass es tatsächlich existiert, und zwar auf Randalls Island.« Er griff zu seinem Wasserglas und leerte es in einem Zug. »Und dieses Etablissement hat auch einen Namen. Die Frau aus Iowa nannte ihn den Bunker.«
Dionne musste mittags ihren Sohn Lamonte von der Schule abholen. Er hatte mit seiner Klasse eine Woche in einem Youth Hostel im Erholungsgebiet auf Randalls Island verbracht.
Deshalb saß ich allein in meinem Jaguar, mit dem ich dem dunkelblauen Hyundai Sonata von Lieutenant Felton folgte. Der Verkehr Richtung Norden rollte zügig, sodass wir sein Heimatrevier nach einer knappen halben Stunde erreichten.
Der »Vernehmungsraum« wurde ansonsten wahrscheinlich als Abstellraum für Getränke, Büromaterial und alte Akten gebraucht. Doch man hatte sich große Mühe gegeben, ihn einigermaßen funktionsgerecht herzurichten.
Auf den schmucklosen Zwei-Personen-Tisch mit grauer Resopalplatte hatte man einen Schreibblock und ein Aufnahmegerät aus dem vergangenen Jahrhundert gelegt. Dazu zwei Energydrinks und eine große Thermoskanne Kaffee.
Ich war gerade damit beschäftigt, meinen eigenen Recorder zu aktivieren, als es klopfte und Lieutenant Felton eine junge Frau in den Raum schob.
»Miss Lindsay Marsh. Melden Sie sich, wenn Sie noch etwas brauchen.« Damit zog er sich zurück und schloss die Tür.
Ich stellte mich vor, wies Lindsay Marsh einen Platz an und setzte mich ihr gegenüber.
Man hatte ihr einen grünen Fleecepullover besorgt, der ihr zu weit war, und eine Jeans, die in der Taille erheblich Spiel hatte. Doch beide Kleidungsstücke erfüllten ihren Zweck, das war die Hauptsache.
»Miss Marsh, der Kollege sagte mir, Sie kommen aus Iowa. Ist das richtig?«
Sie nickte stumm. Dabei musterte sie mich mit einem professionellen Blick, mit dem sie vermutlich ihre Freier abschätzte.
»Wie alt sind Sie?«
Denn natürlich hatte sie keine Papiere bei sich gehabt. Wahrscheinlich waren sie ihr abgenommen worden, als sie in den Bunker gesperrt worden war.
»Achtzehn.«
»Seit wann sind Sie in New York?«
»Keine Ahnung.«
»Wie lange arbeiten Sie schon als Prostituierte?«
»Zu lange.«
»Wie sind Sie im Bunker gelandet?«
Zum ersten Mal sah sie mich aufmerksam an. Das Wort Bunker hatte etwas in ihr ausgelöst. Diese Bezeichnung war nur in eingeweihten Kreisen im Umlauf. Jetzt gehörte ich offiziell dazu.
»Durch eine Anzeige.«
»Was für eine Anzeige?«
»Sie suchten Mädchen, die Models werden wollten. Oder Schauspielerinnen.«
»Und das wollten Sie? Model werden?«
»Warum nicht? Alle sagten mir, dass ich gut aussehe. Super Figur, tolle Beine, Spitzentitten. Wissen Sie, was ein Model im Jahr verdient?«
Die alte Masche. Mädchen aus prekären Verhältnissen wurde versprochen, über Nacht reich zu werden. Nur durch ihr Aussehen. Wer würde da nicht schwach werden?
»Sie haben sich also gemeldet?«
»Klar.«
»Wo fand das Casting statt?«
»In Sioux City. In einem Vorort. Im Gloria. Das ist ein Kino.«
»Waren viele Mädchen gekommen?«
Lindsay Marsh lachte bitter auf. »Soll das ein Scherz sein? Das Kino war rappelvoll. Die Leute standen Schlange bis auf die Straße.«
»Wie lief das Casting ab?«
Sie runzelte genervt die Stirn. »Ist das ein Verhör, oder was? Ich hab doch nichts verbrochen. Die Cops haben kein Recht, mich hier festzuhalten!«
Ich verstand ihren Ärger. Lindsay Marsh war es gewohnt, für die Zeit, die sie mit einem Mann in einem Zimmer verbrachte, bezahlt zu werden. Dass sie mir hier Rede und Antwort stehen sollte, ohne etwas dafür zu erhalten, ging ihr gewaltig gegen den Strich.
»Sie verwechseln da etwas, Miss Marsh, im Bunker waren Sie gefangen. Hier sind Sie frei. Ich bitte Sie lediglich, mir ein paar Fragen zu beantworten, um die Leute hinter Schloss und Riegel zu bringen, die Ihnen das angetan haben.« Ich lehnte mich zurück und breitete die Arme aus. »Sobald wir hier fertig sind, dürfen Sie gehen, wohin Sie wollen.«
Die junge Frau schluckte und rang sich ein Nicken ab. »Okay.«
»Also, wie lief das Casting ab?«
»Erst haben sie einen kurzen Film gezeigt über das Leben eines Models. In welchen Hotels es absteigt. Mit welchen Stars es verkehrt. Was es sich alles leisten kann und so weiter.«
»Okay. Und dann? Mussten Sie vorsprechen? Oder eine kurze Szene nachspielen?«
»Gar nichts! Backstage wurden ein paar Fotos gemacht. In Unterwäsche. Dann musste man seine persönlichen Daten hinterlassen, Adresse, Telefonnummer. Dann drückte einem eine ältere Frau ein kleines Stofftier in die Hand – das war's.«
»Wie ging es weiter?«
»Nach ein paar Wochen kriegte ich einen Anruf. Man sagte mir, ich hätte den Zuschlag bekommen, und sie wollten mir eine Ausbildung zum Model bezahlen. Ich sollte mich in zwei Tagen in einem Hotel in Des Moines melden.«
»Gingen Sie damals nicht noch zur Schule?«
»Die hab ich geschmissen. Ich meine, wenn ich in einem Jahr eine Million auf dem Konto habe, was soll ich dann mit einem Schulabschluss?«
»Verstehe. Was passierte in dem Hotel?«
»Wir hatten einen super Abend, mit Stand-up-Comedy und Livemusik und jeder Menge Cocktails. Einige Mädchen kannte ich noch vom