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Seit Stunden waren sie dabei, die Tagesordnung zu diskutieren. Aber Anna Watson, die Leiterin der Versammlung, war so optimistisch wie lange nicht. Das erste Mal seit den furchtbaren Ereignissen, die die Welt erschütterten, saßen hochrangige Vertreter aller beteiligten Parteien an einem Tisch zusammen, um einen Weg zu finden, das Töten zu beenden. Und langsam, ganz langsam schienen sie alle eine Sprache zu sprechen, die darauf hoffen ließ, dass sie sich einigen könnten. Der Protokollführer gab ihr gerade ein Zeichen, dass man zur finalen Abstimmung über die Tagesordnung kommen könnte, als sie von draußen Schüsse hörten. Einen Moment lang war es totenstill im Raum, während der Lärm lauter wurde, dann wurde die Eingangstür zum Konferenzraum aufgerissen, und eine Horde maskierter und schwer bewaffneter Gestalten drängte herein.
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Seitenzahl: 139
Veröffentlichungsjahr: 2025
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In der Hölle von Haiti
Vorschau
Impressum
In der Hölle von Haiti
Seit Stunden waren sie dabei, die Tagesordnung zu diskutieren. Aber Anna Watson, die Leiterin der Versammlung, war so optimistisch wie lange nicht. Das erste Mal seit den furchtbaren Ereignissen, die die Welt erschütterten, saßen hochrangige Vertreter aller beteiligten Parteien an einem Tisch zusammen, um einen Weg zu finden, das Töten zu beenden.
Und langsam, ganz langsam schienen sie alle eine Sprache zu sprechen, die darauf hoffen ließ, dass sie sich einigen könnten.
Der Protokollführer gab ihr gerade ein Zeichen, dass man zur finalen Abstimmung über die Tagesordnung kommen könnte, als sie von draußen Schüsse hörten.
Einen Moment lang war es totenstill im Raum, während der Lärm lauter wurde, dann wurde die Eingangstür zum Konferenzraum aufgerissen, und eine Horde maskierter und schwer bewaffneter Gestalten drängte herein.
Mitten in der Nacht klingelte mein Handy. Es war Mr High, der mich mit knappen Worten darüber informierte, dass ich mich sofort auf den Weg nach Washington machen sollte. In unserem dortigen Field Office finde am kommenden Vormittag eine Besprechung unter der Leitung des Direktors statt, an der ich gemeinsam mit Phil Decker teilnehmen sollte.
Ich sprang aus dem Bett, rief Phil an, wusch mich, verdrückte ein trockenes Brötchen und machte mich auf den Weg zu unserer Ecke. Mein Partner stand schon dort, und so fuhren wir direkt weiter nach Washington.
»Weißt du, worum es geht?«, wollte Phil wissen, als wir auf die Interstate abbogen.
»Der Chef hat nichts darüber verlauten lassen, aber es klang ernst«, sagte ich.
Ich gab ordentlich Gas, knappe drei Stunden später trafen wir in Washington ein. Im Field Office erklärte man uns, dass die Besprechung gleich anfangen werde, und nannte uns den Raum, in dem sich die Teilnehmer der Besprechung trafen.
Der Besprechungsraum war im Keller. Vor der Tür warteten zwei Agents an einem kleinen Schreibtisch, die akribisch unsere Ausweise prüften, uns die Handys wegnahmen und uns einen Zettel unterschreiben ließen, mit dem wir uns verpflichteten, keine handschriftlichen Notizen zu machen und niemandem gegenüber verlauten zu lassen, worum es bei dieser Besprechung ging.
»Ganz schöner Aufwand«, murmelte Phil, als sich die Stahltür neben dem Schreibtisch öffnete und uns in einen schmalen Flur entließ, der auf eine einzige Tür hinführte.
Bevor ich etwas erwidern konnte, schloss sich die Tür hinter uns, während sich die Tür vor uns gleichzeitig öffnete.
Der Raum war bis auf einen großen Konferenztisch vollkommen leer. Um den Tisch herum standen zwölf schwere Ledersessel, die bis auf zwei unbesetzt waren. Mir fiel auf, dass es weder Bildschirme noch Computer oder Papier und Schreibgeräte gab. In dem einen Sessel saß ein großer, breitschultriger Mann mit einem dunklen Teint, vollen Lippen, dichten Augenbrauen und lockigem Haar. Er trug einen dunklen Anzug, der sich unter seinen Muskeln spannte.
Der andere Mann war zu meiner Überraschung Moshe Cohen, ein Agent des israelischen Mossad, den Phil und ich aus früheren Einsätzen kannten. Cohen war schlank, hatte unscheinbare Gesichtszüge und trug einen hellen Anzug, der ihn wie einen Buchhalter aussehen ließ. Ich hatte ihn als umständlichen, aber durchaus fähigen Mann kennengelernt und wusste, dass er in so ziemlich allen Kampftechniken geübt war, die auch ich beherrschte. Ein Vorteil, der uns bei unseren gemeinsamen Einsätzen schon so manches Mal gerettet hatte.
Wir begrüßten uns und stellten uns gegenseitig vor, ohne dass Phil und ich uns anmerken ließen, dass wir Moshe Cohen kannten. Cohen verhielt sich ebenso. Wir wussten anscheinend alle nicht, worum es ging, und hielten es in stummer Übereinstimmung für besser, erst einmal höchste Vorsicht walten zu lassen.
Der Mann im dunklen Anzug stellte sich als Hamza Raij vor, Offizier der Armee Palästinas. Es überraschte mich, dass wir zwei Vertreter der so unerbittlich verfeindeten Völker, wie es die Israelis und die Palästinenser waren, in einem Raum an einem Tisch sitzend vorfanden. Cohen ließ sich nicht anmerken, ob er Hamza Raij kannte oder ob es ihn überraschte, einen palästinensischen Offizier hier anzutreffen.
Kaum hatten wir die Vorstellungsrunde beendet und uns gesetzt, tat sich die Tür wieder auf, und ein Mann trat ein, den wir alle vom Sehen kannten. Es war unser Außenminister.
Er trat an das eine Kopfende, setzte sich und öffnete einen schmalen Aktenordner, den er vor sich auf den Tisch legte.
»Gentlemen«, begann er mit ernster Stimme. »Ich danke Ihnen, dass Sie so schnell erschienen sind. Ich glaube, ich muss nicht betonen, dass alles, was wir besprechen werden, der allerhöchsten Geheimstufe unterliegt. Sie haben sich bereits untereinander bekannt gemacht?«
Wir nickten, zu gespannt zu erfahren, warum wir da waren.
Der Außenminister schlug seinen Aktenordner auf. »Heute Nacht um 2:35 Uhr hat eine Gruppe Terroristen in Miami die Teilnehmer einer geheimen Konferenz entführt. Neun Personen wurden bei dem Überfall im Hotel ermordet. Bei den Getöteten handelt es sich um sechs Marines, die die Konferenz bewachen sollten, und um drei Dolmetscher, die die Konferenz begleiteten. Aus dem Umstand, dass man nur die Dolmetscher kaltblütig tötete, schließen wir, dass die Angreifer genau wussten, wer an der Konferenz teilnahm und wer ihnen als Geisel nützlich sein kann und wer nicht. Insgesamt wurden vierzehn Personen entführt. Die Geiselnehmer hinterließen eine Botschaft, die mit den Logos der deutschen RAF, der irischen IRA und der kolumbianischen FARC versehen war.«
Der Außenminister machte eine Pause. Ich folgte seinem Blick und bemerkte, dass die anderen drei Teilnehmer unserer Besprechung ebenso überrascht waren wie ich. Die deutsche Rote Armee Fraktion galt seit Jahren ebenso wie die kolumbianische Fuerzas Armadas Revolucionarias und die Irish Republican Army als vollkommen zerschlagen. Die FARC hatte sich mehr oder weniger den politischen Prozessen des Landes angepasst. Auf jeden Fall waren die Zeiten, in denen diese Organisationen eine Rolle auf dem internationalen Parkett des Terrors spielten, lange vorbei.
»Darf ich fragen, worum es bei dieser Konferenz ging?«, wandte ich mich als Erster an den Außenminister.
Er schloss den Aktendeckel. »Die Konferenz sollte einen neuen Friedensprozess im Nahen Osten anstoßen. Unabhängig von den offiziellen Bemühungen unserer Regierung, die schwierige Lage im Nahen Osten zu befrieden, suchten wir nach Lösungen, die den gordischen Knoten aus gegenseitigen Beschuldigungen, Rachefeldzügen und weiteren Eskalationen beenden könnte.«
Ich nickte.
»Anna Watson, die bekannte Harvard-Professorin für Friedensforschung, trat vor einigen Monaten an uns heran und machte einen Vorschlag für eine inoffizielle Zusammenkunft von Vertretern Israels, der USA, der NATO, aber auch Vertretern der Palästinenser und internationalen Hilfsorganisationen. Es sollte ein Think Tank ins Leben gerufen werden, der jenseits der Interessen der einzelnen Beteiligten nach Gemeinsamkeiten sucht. Auf dessen Grundlage sollte man wieder Gespräche zwischen den Kontrahenten führen können.«
»Verstehe«, sagte ich.
»Da sich sowohl die an der Konferenz beteiligten Vertreter Israels wie auch die Palästinas dem Unwillen ihrer jeweiligen Parteien ausgesetzt sehen würden, sollte dieser Versuch, über alle Grenzen hinweg miteinander ins Gespräch zu kommen, öffentlich werden, entschloss man sich dazu, im Geheimen zu beginnen.«
»Was fordern die Terroristen?«, fragte Moshe Cohen.
»Sie drohen damit«, sagte der Außenminister, »alle Geiseln zu töten und die Existenz dieser Konferenz publik zu machen, sollte die USA nicht binnen eines Monats hundert Millionen Dollar bezahlen, mit denen man angeblich Waffen für die Hamas kaufen will. Es gibt bisher allerdings keinerlei Hinweise darauf, dass die Hamas in irgendeiner Verbindung zu den Terroristen steht. Und, ehrlich gesagt, glaube ich auch, dass die Hamas im Moment andere Probleme hat, als sich mit ausländischen Terroristen zu verbünden, anstatt selbst für den Aufbau ihrer zerstörten Infrastruktur zu sorgen.«
Cohen nickte ernst.
»Da außerdem klar ist, dass die USA den Forderungen der Terroristen nicht nachgeben kann und die Terroristen, sollten sie die Waffen erhalten, trotzdem alle Teilnehmer der Konferenz töten würden, haben wir uns dazu entschlossen, eine Taskforce ins Leben zu rufen, die innerhalb des als Frist gesetzten Monats die Terroristen ausfindig machen und die Geiseln befreien soll.«
»Gibt es Ansatzpunkte, wohin die Geiseln entführt wurden?«, wollte Phil wissen.
Der Außenminister schüttelte den Kopf. »Keine Spuren. Aber die Analyse des Textes durch unsere Spezialisten hat ergeben, dass der Sprachstil einer bereits für tot gehaltenen deutschen Terroristin namens Gerta Wolf zuzurechnen ist. Wolf war vor zwanzig Jahren in einer sogenannten Fünften Generation der RAF in Berlin tätig. Die Gruppe war nicht besonders erfolgreich. Nach einigen Banküberfällen, die der Beschaffung von Geld für Waffen galten, wurde die Gruppe von den deutschen Behörden zerschlagen. Wolf wurde getötet. Es gab mehrere Zeugen für ihren Tod. Ihr Bruder Karl Wolf verschwand im Untergrund. Der Rest der Gruppe konnte verhaftet werden.«
»Also ein Haufen ehemaliger Terroristen, die mittlerweile das Rentenalter erreicht haben dürften«, sagte Hamza Raij.
Der Außenminister seufzte. »Wir wissen rein gar nichts über diese Leute. Und die Hinweise auf Gerta Wolf sind bisher nichts weiter als Vermutungen. Aber wir wissen, dass Gerta Wolf Anfang zwanzig war, als man sie erwischte. Sie dürfte, vorausgesetzt, sie lebt tatsächlich noch, mittlerweile Mitte vierzig sein. Also durchaus noch körperlich wie geistig dazu in der Lage, so etwas durchzuführen.«
Raij nickte.
Der Außenminister warf einen Blick auf seine Uhr und stand auf.
»Unser Vorschlag geht dahin, Gentlemen«, sagte er, nahm den Aktenordner an sich und sah Hamza Raij und Moshe Cohen nacheinander an, »dass unter Ihrer Leitung, Mister Raij und Mister Cohen, die Taskforce zusammengestellt wird. Die beiden anwesenden Agents unseres New Yorker Field Office, Agent Decker und Agent Cotton, werden Ihnen in allen Belangen dabei behilflich sein. Sie haben unseren Sicherheitsorganen gegenüber jegliche Vollmachten, die Sie benötigen. In den nächsten Minuten werden alle Informationen, die ich Ihnen gegeben habe, inklusive des Schreibens der Terroristen, auf Ihre Smartphones geladen. Sollte es Probleme geben, die Sie nicht zu lösen imstande sind, wenden Sie sich an mich.«
Gemeinsam mit Hamza Raij und Moshe Cohen entschlossen wir uns dazu, ein provisorisches Hauptquartier in New York einzurichten. Mithilfe unseres IT-Spezialisten Dr Ben Bruckner statteten wir eines unseres Safe Houses in Queens mit allen technischen Geräten aus, die wir brauchten. Dann erstellten wir eine Liste mit Kollegen aus dem FBI und anderen Sicherheitsdiensten, die wir für geeignet hielten, uns bei unserem Vorhaben zu unterstützen. Nach drei Tagen waren wir so weit, dass Raij und Cohen die Sache in Eigenregie übernehmen konnten.
Die einzige mehr oder weniger konkrete Spur, die wir hatten, war die nach Berlin, wo die totgeglaubte und wiederauferstandene Gerta Wolf ihren Lebensmittelpunkt gehabt hatte. Nach einer Besprechung waren wir uns darüber einig, dass Phil zur Unterstützung von Raij und Cohen vor Ort blieb, während ich mit Kristen Steele nach Berlin reisen würde, um dieser Spur nachzugehen.
Kristen und ich nahmen den nächsten Flug nach Deutschland und landeten am Morgen des vierten Tages bei schönstem Sommerwetter auf dem Flughafen Berlin Brandenburg. Ein Kollege des deutschen Bundesnachrichtendienstes erwartete uns auf dem Rollfeld mit einem Wagen. Wir fuhren nach Berlin Mitte, wo der BND in der Nähe des Regierungsviertels seinen Sitz hatte.
Der Kollege, der sich uns als Hans Maier vorstellte, war ein untersetzter Mann Ende Fünfzig mit fast kahlem Kopf und müden Augen. Als wir in der Nähe des BND-Hauptquartiers waren, schlug er vor, dass wir uns in ein Café an der nahe gelegenen Spree setzen sollten.
»Nehmen Sie das Frühstück für zwei«, sagte Maier. »Die Portionen für eine Person sind hier viel zu mächtig, und ich schätze, Sie müssen sich noch ein wenig bewegen heute.«
Wir folgten seinem Rat und bestellten. Dann kam Maier auf den Punkt.
»Wir haben uns das Schreiben der Terroristen angesehen, das Sie uns geschickt haben«, sagte er und zog ein zusammengefaltetes Stück Papier aus der Tasche. »Die Verwendung bestimmter Begriffe und die Syntax der Sätze deuten tatsächlich auf Gerta Wolf hin. Mehrmals benutzt Sie Lauf der Weltgeschichte rekonstituieren. So hat sie sich auch früher ausgedrückt. Ein Zeichen ihrer Selbstüberschätzung. Die Welt wieder in ihre ursprüngliche Ordnung bringen, das hat sie sicher damit gemeint. Aber die Gruppe ist nie über ein Anfangsstadium hinausgekommen, das wissen Sie wohl schon.«
»Ja«, sagte ich.
»Von Weltgeschichte oder ursprünglicher Ordnung konnte da keine Rede sein. Außerdem schreibt sie den marxistischen Kernbegriff der Bourgeoisie immer falsch: Borgousie. Der Satzbau ist verschachtelt. Unnötig viele Relativsätze, mit denen sie ihre Bildung betonen will. Also würde ich Ihren Spezialisten da zustimmen. Das Schreiben ist aller Wahrscheinlichkeit nach von Gerta Wolf.«
»Wie ist sie denn damals umgekommen? Beziehungsweise angeblich umgekommen?«, fragte Kristen, während sie in ihrem Caffè Latte rührte.
»Ich war dabei.« Maier seufzte. »Sie hat sich selbst in die Luft gesprengt. In ihrer Wohnung in einem Mietshaus in Kreuzberg. Die Explosion hat das halbe Haus pulverisiert.«
»Woher wissen Sie dann, dass sie in der Wohnung war?«, fragte ich.
»Ich habe sie hineingehen gesehen«, sagte er. »Wir hatten sie und ihren Bruder verfolgt. Der Bruder hat sich vor dem Haus von ihr getrennt, und mein Kollege hat ihn verfolgt, während ich ihr hinterher bin. Ich habe gesehen, wie sie die Wohnungstür aufgeschlossen hat und hineingegangen ist. Keine fünf Sekunden später ist das ganze Haus in die Luft geflogen.«
»Und Sie?«, fragte Kristen Steele vorsichtig.
Maier klopfte auf seinen rechten Oberschenkel. »Eisenplatten. Zwei in den Beinen, eine in meinem rechten Arm. Und ich höre nicht mehr so gut. Bin drei Stockwerke tief gefallen und hatte das Glück, dass ich in einem Müllcontainer gelandet bin. Wenn Sie also herausbekommen sollten, wie die Wolf das überlebt hat, dann sagen Sie mir Bescheid. Interessiert mich brennend.«
Ich legte das Messer beiseite, mit dem ich mir etwas Butter auf mein Croissant geschmiert hatte, und biss herzhaft ein Stück davon ab. »Können Sie uns einen Ansatzpunkt geben, wie wir erfahren könnten, wo Gerta Wolf jetzt ist oder mit wem sie in Berlin Kontakt pflegt?«
Maier nickte mit einem müden Lächeln. »Sie haben Glück. Vor knapp einem halben Jahr wurde Anke Brunner, eine ihrer früheren Mitstreiterinnen, aus der Haft entlassen. Sie wohnt jetzt in Kreuzberg. Vielleicht weiß die Frau etwas und sagt es Ihnen. Angeblich ist sie mittlerweile rehabilitiert. Obwohl ich das anzweifele, vielleicht redet sie ja. Besser, wenn ich nicht mitkomme. Sie kennt mich noch persönlich und schätzt mich verständlicherweise nicht sehr. Aber ich fahre Sie gerne bei ihr vorbei.«
Anke Brunner war eine magere Frau in den Vierzigern, sah jedoch deutlich älter aus. Sie trug Jeans und ein T-Shirt, ihre Haut war fahl, das Haar dünn. Sie hustete stark, als sie uns die Tür öffnete. In der Hand hatte sie eine Zigarette, an der sie zwischen ihren Hustenanfällen zog. Sie ließ uns hinein und war nicht überrascht, als wir uns vorstellten.
»Soso, das FBI«, sagte sie mit einem traurigen Lächeln. »Was habe ich wieder angestellt? Ich war noch nie bei Uncle Sam und habe dort niemandem etwas getan. Also, was wollen Sie?«
»Dürfen wir uns setzen?«, fragte Kristen und deutete auf das durchgesessene Sofa, das in dem einzigen Raum der Wohnung vor einem Bett stand. Daneben befand sich eine Kochnische, abgetrennt nur mit einem Vorhang. Eine schmale Tür hinter dem Bett deutete darauf hin, dass es noch ein Badezimmer gab, das war alles.
Anke Brunner nickte, und wir setzten uns auf das Sofa.
»Also?«, wiederholte die Frau, nachdem sie sich einen Hocker aus der Kochnische geholt und ebenfalls gesetzt hatte.
»Es geht um Gerta Wolf«, sagte ich.
Brunners Augen leuchteten kurz auf.
»Gerta?«, fragte sie. »Das hätte ich mir denken können.«
Sie drückte ihre Zigarette auf einem Teller aus, der auf einem Beistelltisch stand, griff zu der Schachtel, die neben dem Teller lag, zog sich eine neue Zigarette heraus und steckte sie mit einem Feuerzeug an.
»Was wollen Sie über Gerta wissen?«, fragte sie zwischen zwei Hustenanfällen.
»Alles, was Sie wissen«, erwiderte Kristen.
Brunners Lachen klang rau. »Das wollen Sie bestimmt nicht alles wissen, was ich über Gerta weiß. Aber ich tippe mal, es geht um ihren Besuch bei mir vor drei Monaten.«
»Sie war bei Ihnen?«, hakte Kristen sofort nach. »Was wollte sie?«
Brunner sah uns misstrauisch an. »Was habe ich davon, wenn ich Ihnen was erzähle?«
Kristen und ich sahen uns an. Wir wussten, dass wir ihr wenig zu bieten hatten.
»Nichts«, gab Kristen zu, bevor ich etwas sagen konnte. »Wir können nur dem BND gegenüber verlauten lassen, dass Sie kooperativ waren.«
»Kooperativ.« Brunner lachte auf. Dann brach ihr Lachen abrupt ab, und sie drückte die halb aufgerauchte Kippe auf dem Teller aus. »Schauen Sie sich doch mal um. Sieht es hier so aus, als ob ich mich noch vor dem BND fürchten müsste? Mein Leben unterscheidet sich nicht wesentlich von dem, das ich im Gefängnis hatte. Ich habe Lungenkrebs. Deshalb haben sie mich zwei Jahre früher rausgelassen. Haben sich wohl ausgerechnet, dass es die Arztkosten nicht lohnen würde, wenn sie mich dortbehalten. Das habe ich auch Gerta gesagt, als sie mir ihren hochwohlgeborenen Besuch abstattete.«
»Sie war also hier?«, wiederholte ich.
Brunner sah mich an, als bemerke sie erst jetzt, dass ich auch noch da war.