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Die siebzehnjährige Sarah Montana war der neue Stern am Eiskunstlaufhimmel. Nicht nur ihre sportlichen Erfolge, auch ihre Lebensgeschichte - ihre prekären Familienverhältnisse, die sie mit viel Fleiß und Ehrgeiz hinter sich gelassen hatte - dienten ihrer Fangemeinde und den Medien als Inspirationsquelle. Die Schattenseiten des Ruhms ließen jedoch nicht lange auf sich warten. Sarah hatte seit Kurzem das Gefühl, von einem Unbekannten verfolgt zu werden. Tage später wurde ein Mann mit einer Kugel in der Brust im Central Park aufgefunden. Als das Bild des Toten durch die Presse geisterte, erlitt Sarah einen Schock. Sie erkannte in ihm den Mann wieder, der sie verfolgt hatte. Entsetzt wandte sie sich an die Behörden. Und der mysteriöse Fall landete auf unserem Tisch ...
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Seitenzahl: 143
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Blut auf dem Eis
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Impressum
Blut auf dem Eis
Es war früh am Morgen, durch die hohen Fenster der Trainingshalle fiel das erste trübe Licht eines schneereichen Wintertags.
Sarah Montana, seit drei Stunden auf den Beinen, ließ sich ihre Müdigkeit nicht anmerken. Wie im Rausch glitt sie über das Eis, absolvierte ihr Trainingsprogramm aus Pirouetten und Sprüngen. Die einzigen Geräusche waren das leise Summen der Halle und das rhythmische Klacken ihrer Schlittschuhe.
Ihre Bewegungen waren präzise und geschmeidig. Kein Schritt war falsch gesetzt. Keine Armbewegung verschwendet. Ein Doppelaxel – dann fiel ihr Blick auf die fast leeren Zuschauerränge. Ein Schock durchfuhr sie. Für einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen. Sie spürte nur noch den stechenden Schmerz, der beim Aufprall durch ihre Wirbelsäule zuckte.
Als die Sterne vor ihren Augen verschwanden, blickte Sarah in die Gesichter der beiden Menschen, die ihr am nächsten standen.
Natalia Gelashvili fiel es wie immer schwer, ihre Gefühle offen zu zeigen. Aber Sarah kannte die gebürtige Georgierin gut genug, um hinter der strengen Fassade der Trainerin die liebevolle Ersatzmutter zu erkennen, die sie seit Sarahs zehntem Lebensjahr für sie war.
Die zweite Person war ihr Bruder Keith, und obwohl Sarah zwei Brüder hatte, hatte sie sich ihm schon immer näher gefühlt als dem drei Jahre älteren Robb. Vielleicht lag es am geringeren Altersunterschied, vielleicht daran, dass Robb lieber sein eigenes Ding durchgezog.
Keith kniete neben ihr, und im Gegensatz zu Natalia gab er sich keine Mühe, seine Besorgnis zu verbergen.
»Sarah, ist alles in Ordnung?«
»Alles bestens«, antwortete Sarah. Sie fühlte sich zwar noch etwas benommen, aber der Schmerz ließ bereits nach, was ein gutes Zeichen war. »Nur ein harmloser Sturz.«
»Du musst dich besser konzentrieren«, schaltete Natalia sofort wieder in den Trainerinnenmodus. »In drei Tagen ist der Vorentscheid für die Meisterschaft. Da darfst du dir keine Patzer erlauben.«
Sarah verzog das Gesicht. Glaubte Natalia, dass sie sich den Kopf gestoßen hatte? Sie wusste genau, dass das bevorstehende Qualifikationsturnier für die US-Meisterschaft über den weiteren Verlauf ihrer gerade aufblühenden Karriere entschied. Dafür stand sie täglich sechs Stunden auf dem Eis. Hinzu kam ein intensives Kraft- und Konditionstraining. Disziplinen wie Ballett, Tanz und Plyometrie, um Kraft und Ausdauer zu verbessern. Alles unter den strengen Augen der Georgierin, die selten von ihrer Seite wich und sie mit einer Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche zu immer neuen Höchstleistungen anspornte.
»Es tut mir leid«, sagte Sarah, als sie sich auf die Kufen stellte. »Ich war kurz abgelenkt. Da war dieser Mann ...«
»Welcher Mann?« Die Falte über Natalias spitzer Nase wurde tiefer.
»Er ... stand ganz oben in der letzten Reihe und ... Ich glaube, ich habe ihn schon einmal gesehen.«
Das war gelogen. Sarah glaubte es nicht, sie war sich sicher, dem Unbekannten mindestens einmal über den Weg gelaufen zu sein. Bereits gestern drückte er sich vor der Halle herum und drehte sich abrupt um, als sich ihre Blicke getroffen hatten. Und als sie gestern von der Eishalle zum Balletttraining gefahren wurde, hatte sie das Gefühl, dass sie von einem anderen Auto verfolgt wurden.
Sarah hatte nichts gesagt. Weder Natalia noch ihren Brüdern gegenüber. Zu groß war die Angst, sich zu irren und als hysterische Kuh dazustehen, überfordert vom Stress des bevorstehenden Wettkampfs. Doch nun, da derselbe Mann in ihre Trainingshalle eingedrungen war, musste sie der Wahrheit ins Auge sehen. Sie litt nicht unter Verfolgungswahn, nein, sie wurde verfolgt!
Man hörte viel von aufdringlichen Fans, die keine Grenzen kannten und deren Begeisterung bedrohliche Züge annahm. Die meisten waren harmlos, aber der Übergang von Schwärmerei zur Besessenheit war oft fließend. Ihr Bruder Robb, der ihre Fanpost bearbeitete, hielt ihr unpassende Briefe vom Leib. Deshalb wusste sie nicht, ob der Unbekannte sie auf diesem Weg bereits kontaktiert hatte. Bei Gelegenheit würde sie ihn danach fragen.
Natalia warf Keith, der Sarah beim Aufstehen half, einen auffordernden Blick zu. »Sieh nach, ob sich jemand illegal Zutritt verschafft hat.«
Keith nickte finster und verschwand Richtung Ausgang.
Natalia wandte sich ihrem Schützling zu. »Wir machen eine kurze Pause. Aber wir können das Training nicht unterbrechen. Der Wettkampf ...«
»Daran hätte ich nie gedacht, Natalia«, unterbrach Sarah die Georgierin. »Du weißt, der Wettkampf bedeutet mir alles.«
Natalia nickte zufrieden. Erst als sie sich umdrehte und zurück zur Trainerbank ging, erstarb Sarahs gespieltes Lächeln, und ihr Blick verdüsterte sich.
Der Unbekannte war zwar weit weg gewesen, aber in dem Moment, in dem ihr Blick auf seine kompakte Statur, die verschränkten Arme und das maskenhafte Gesicht gefallen war, hatte sie die Bedrohung gespürt, die von seiner bloßen Anwesenheit ausging.
»Bitte schreiben Sie: Für Katy.«
Sarah, die den Stift bereits auf ihrer Autogrammkarte angesetzt hatte, blickte erstaunt auf. Der Mann, der in dem Sportgeschäft vor ihr stand, war über zwei Köpfe größer, hatte breite Schultern und strähniges dunkelblondes Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel.
»Katy ist meine Tochter«, fügte er hinzu. »Sie lebt bei ihrer Mutter in Chicago, die mir das verdammte Sorgerecht entzogen hat. Trotzdem chatten wir heimlich, daher weiß ich, dass sie ein großer Fan von Ihnen ist und ...«
Bevor der Mann seine ganze Lebensgeschichte herunterrattern konnte, hatte Sarah bereits ihre Unterschrift auf die Autogrammkarte gekritzelt und schob sie mit einem bemühten Lächeln über den Tisch. Der Mann nickte dankend, steckte die Karte in seine Brusttasche und machte Platz für den Nächsten in der Schlange.
Sarah holte tief Luft und rieb sich den Nacken. Die regelmäßigen Autogrammstunden, zu denen ihr Management sie zwang, gehörten zu den Aspekten ihrer Karriere, die ihr wohl nie leichtfallen würden. Sie hatte zwar einige Jahre Zeit gehabt, sich an ihre kleine, aber stetig wachsende Fangemeinde zu gewöhnen, aber sie verstand nicht, warum wildfremde Menschen so wild darauf waren, sie persönlich zu treffen. Noch vor wenigen Jahren hatte sie die Lincoln City High School in Nebraska besucht. Ein schüchternes, blasses Kind aus ärmlichen Verhältnissen im amerikanischen Niemandsland. Flyover Country, wie die Küstenbewohner die Staaten im Herzen Amerikas verächtlich nannten.
Ihre Zukunft war buchstäblich vorgezeichnet gewesen. Die Mutter jung an Krebs gestorben, der Vater, ein ehemaliger Stahlarbeiter, mit Ende dreißig nach einem Unfall aus dem Arbeitsleben ausgeschieden. Danach hielt er sich mit Aushilfsjobs und Nachtwächtertätigkeiten über Wasser, bis ihn ein Nierenversagen früh aus dem Leben riss. Ihre Brüder waren zu diesem Zeitpunkt bereits volljährig und hatten die Vormundschaft für ihre kleine Schwester übernommen.
Sarah, eine klassische Nachzüglerin, war ungeplant in diese Welt geworfen worden und kannte ihre Mutter nur von Fotos und den alkoholgeschwängerten Erzählungen ihres Vaters.
Keith, der reifere der Brüder, war fest entschlossen gewesen, den Rest der Familie vor dem Armenhaus zu bewahren. Seine Entschlossenheit wurde nur von seiner Scheu vor ehrlicher Arbeit übertroffen, und so dauerte es nicht lange, bis er und Robb ihre erste Gefängnisstrafe verbüßten.
Die damals sechsjährige Sarah kam in eine Pflegefamilie, was sich im Nachhinein als Glücksfall erwies. Die Wilsons, ungewollt kinderlos, kümmerten sich aufopferungsvoll um Sarah, als wäre sie ihr leibliches Kind. Ihnen war es auch zu verdanken, dass sie sich mit elf Jahren zum ersten Mal auf die Kufen gewagt hatte, die von da an ihr Leben bestimmten.
So zeigte sich, dass in der kleinen Sarah ein Talent schlummerte, das sonst nie zum Vorschein gekommen wäre. Und obwohl elf schon ein relativ »gesetztes« Alter für den Beginn einer Profikarriere war – viele ihrer Konkurrentinnen standen seit ihrem fünften Lebensjahr auf dem Eis –, gewann sie in kürzester Zeit alle lokalen Turniere. In Nebraska eine zugegebenermaßen überschaubare Zahl.
So war Natalia auf sie aufmerksam geworden. Die Georgierin hatte ihr Talent sofort erkannt und sie unter ihre Fittiche genommen. Der Startschuss für eine nationale Erfolgsgeschichte, die sie zuletzt beim renommierten Cranberry Cup auf Platz zwei des Siegertreppchens gebracht hatte.
Nun standen die U. S. Figure Skating Championships vor der Tür, danach die Juniorenweltmeisterschaften. Doch zuvor musste sie ein letztes Qualifikationsturnier hier in New York am kommenden Montag absolvieren.
Ihr Weiterkommen war zwar aufgrund ihrer bisherigen Leistungen so gut wie sicher. Aber allein für ihr Selbstvertrauen und ihre Psyche, ganz zu schweigen von ihrem hart erarbeiteten Renommee, war es unerlässlich, eine gute Figur zu machen. Neue, größere Sponsoren waren in den Startlöchern, machten ihren Einstieg jedoch von ihren weiteren Leistungen abhängig. Umso wichtiger, dass sie alles andere ausblendete. Und das Letzte, was sie jetzt brauchte, war irgendein verrückter Stalker, der ihr nachstellte.
Sarah atmete tief durch, straffte die Schultern und verdrängte die düsteren Gedanken. Sie blickte zu der älteren Lady auf, die als Nächste in der Schlange stand und ein kleines Mädchen an der Hand hielt.
»Das ist Rose, meine Nichte«, erklärte sie lächelnd. »Sie hat vor drei Monaten mit dem Eiskunstlaufen angefangen. Nur wegen Ihnen ...«
Sarah lächelte zurück und nahm die oberste Autogrammkarte vom Stapel. Das Foto zeigte sie im Stehen auf dem Eis. Ihre blonden Haare waren zu einem festen Knoten zusammengebunden. Sie trug ein schlichtes, aber elegantes Trainingsoutfit, das ihre athletische Figur betonte. Niemand, der nicht eingeweiht war, hätte dieses Mädchen mit dem Kind in Verbindung gebracht, das vor drei Jahren aus Nebraska nach New York gekommen war. Ohne lange zu überlegen, kritzelte sie die Widmung auf das glänzende Papier.
Lebe deinen Traum. Für Rose von Sarah.
Mit großen Augen nahm die Kleine die Karte entgegen, bevor sie und ihre Großmutter von einer Mitarbeiterin des Managements sanft zur Seite dirigiert wurden.
Sarah sah den beiden hinterher, wollte sich gerade dem nächsten Fan zuwenden, als ihr Blick auf eine Person fiel, die im hinteren Teil des Verkaufsraums vor einem Regal mit Basketballschuhen stand. Scheinbar interessiert betrachtete der Mann die Auslage, doch Sarah bemerkte, dass er immer wieder verstohlen in ihre Richtung schaute.
Sarah rutschte das Herz in die Hose. Die Statur, die Frisur, die Kleidung. Obwohl sie den Mann nur von hinten sah, war sie sich plötzlich sicher, wer sich da in ihre Autogrammstunde geschlichen hatte.
Prüfend blickte sie sich nach Keith um, der sie nicht bemerkte, sondern sich stattdessen mit einer Mitarbeiterin des Sportgeschäfts unterhielt. Auch von Natalia war weit und breit nichts zu sehen. Die Trainerin hatte sich vor ein paar Minuten wegen eines Anrufs entschuldigt und sich zurückgezogen.
Egal. Sarah war fest entschlossen, den Verfolger zu stellen. Und wann wäre die Gelegenheit besser als jetzt, vor den Augen von drei Dutzend Fans?
»Einen Moment«, raunte sie dem nächsten Autogrammjäger zu, ohne ihn anzusehen.
Sie stand auf, trat hinter dem Tisch hervor und ging schnurstracks an den Wartenden vorbei zu dem Mann, der einen Schuh in der Hand hielt und ihn von allen Seiten begutachtete.
Sarah blieb hinter ihm stehen und tippte ihn an die Schulter.
»Hey, Sie! Verraten Sie mir, was Sie von mir wollen?« Energisch, aber mit leicht gesenkter Stimme, spie sie ihm die Worte entgegen. »Turnt es Sie an, minderjährige Teenager aus der Ferne zu begaffen?«
Der Mann starrte sie fragend an.
Wieder rutschte Sarah das Herz in die Hose, diesmal aus einem anderen Grund.
Er ist es nicht!, wurde ihr siedendheiß klar. Der andere hatte volles schwarzes Haar gehabt, dieser eine Stirnglatze. Außerdem trug er eine Hornbrille, und sein Gesicht war viel runder. Nicht so kantig wie das ihres Stalkers.
»Entschuldigen Sie bitte ...«
»Was erlauben Sie sich ...?« Der Kunde musterte sie verächtlich.
Die Leute, die die Szene beobachtet hatten, begannen leise zu tuscheln.
Jetzt wurde auch die Verkäuferin, die mit Keith sprach, auf die Szene aufmerksam. »Gibt es ein Problem?«
»Fragen Sie die junge Lady. Ich bin ein guter Kunde dieses Ladens und werde hier aufs Übelste beschimpft.«
»Bitte unterlassen Sie das!« Die Worte der Verkäuferin waren an jemanden in der Schlange gerichtet. Sarah drehte sich um und bemerkte, dass einige ihre Smartphones gezückt hatten und eifrig filmten. Auch von der klaren Ansage ließen sie sich nicht abhalten.
Als sich Sarah wieder umdrehte, stand Keith neben ihr.
»Sarah, was ist passiert? Hat der Kerl dich belästigt?«
Ihr zerknirschter Blick ging zu dem Mann, der immer noch den Basketballschuh in der Hand hielt, nun aber so aussah, als wollte er ihn nach ihr werfen.
Sarahs Blick wanderte zwischen Keith, der Verkäuferin und dem Mann hin und her. Ein Schwindelgefühl erfasste sie, und sie spürte, dass sie ihre Blicke in diesem Moment ebenso wenig ertrug wie die Kameras, die noch immer jede Sekunde dieses peinlichen Moments festhielten.
Schließlich schüttelte sie den Kopf, drehte sich um und rannte zum Ausgang.
Eisige Kälte schlug ihr entgegen, als sie durch die Drehtür auf die Straße hinaustrat. Der Winter zeigte seit Tagen sein grimmigstes Gesicht, und auch jetzt sorgten ein schneidender Wind und leichtes Schneetreiben dafür, dass Sarah im ersten Moment gar nicht sah, wohin sie rannte.
Sie kam nur drei Schritte weit, dann schloss sich eine starke Hand um ihren Arm und zog sie zurück. Blinzelnd blickte sie in das besorgte Gesicht ihres Bruders. Keith legte ihr die Daunenjacke um die Schultern, die sie in der Eile zurückgelassen hatte. Dankbar schlüpfte sie in die Ärmel und zog den Reißverschluss zu. Doch die Kälte, die bereits durch die Haut gekrochen war, fraß weiter an ihren Knochen.
»Sarah, was ist los? So kurz vor dem Wettkampf verlierst du doch nicht die Nerven?«
Sarah ließ seine Hand los. »Darum geht es nicht, und das weißt du auch. Dieser Mann ...«
Keith legte ihr beide Hände auf die Schultern, sein Blick wurde noch ernster. »Niemand hat den Mann in der Trainingshalle gesehen. Nicht einmal auf den Aufnahmen der Überwachungskameras taucht er auf.«
Sie sah ihn mit großen Augen an. »Du hältst mich also für völlig übergeschnappt?«
»Unsinn. Ich glaube dir, dass da jemand war. Aber du hast selbst gesagt, dass du deinen angeblichen Stalker immer nur aus der Ferne gesehen hast. Viele Menschen sehen sich ähnlich, wenn man ...«
»Es war derselbe Mann!« Sarah fiel es nicht leicht, einen ruhigen Tonfall beizubehalten. Zumindest gelang es ihr, alles zu unterdrücken, was auf einen Anflug von Hysterie hindeutete.
Sie wollte etwas sagen, als sie aus den Augenwinkeln eine weitere Person bemerkte, die aus dem Geschäft auf die Straße trat.
»Keith? Ist alles in Ordnung?« Natalias raue Stimme mit dem osteuropäischen Akzent konnte sich kaum gegen das Rauschen des Windes durchsetzen.
»Alles in Ordnung!«, rief Keith, ohne sich zu ihr umzudrehen. »Wir brauchen noch einen Moment.«
Sarah verzog das Gesicht. Ihr gefiel nicht, wie die beiden über ihren Kopf hinweg über sie sprachen.
»Ich habe den Fahrer informiert«, sagte Natalia. »Er bringt Sarah zurück in die Wohnung. Sie soll sich ausruhen. Es war ein anstrengender Tag.«
Keith wandte sich der Trainerin zu. »Bleibt es bei dem Treffen mit den Leuten von ARF?«
Natalia kam weitere drei Schritte auf sie zu. »Natürlich. Der Sponsorendeal hat oberste Priorität. Aber ich glaube nicht, dass wir Sarah noch so einen Abend zumuten können. Es sei denn, sie besteht darauf, bei den Gesprächen dabei zu sein.«
Sarah wollte etwas erwidern, aber als sie Natalias prüfendes Gesicht sah, schüttelte sie nur den Kopf.
»Wir nehmen mein Auto«, sagte Natalia zu Keith. »Komm rein, wenn du bereit bist.«
Damit drehte sie sich um und zog sich wieder in das Gebäude zurück.
Sarah sah ihr nach. Obwohl sie die Georgierin seit Jahren kannte, würde sie sie nie ganz durchschauen. Mal gab sie sich mütterlich und fürsorglich, um ihr im nächsten Augenblick die kalte Schulter zu zeigen. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass Sarah für sie nur Mittel zum Zweck war. Ein Rennpferd, das gehätschelt wurde, solange es Höchstleistungen brachte. Und wenn sie das nicht mehr tat? Würde man sie dann zum Abdecker bringen?
Sarah lachte bitter auf, dann schüttelte sie den Kopf über ihre eigenen Gedanken. Als Keith sie fragend ansah, wandte sie sich von ihm ab und eilte Schutz suchend unter die Markise des asiatischen Restaurants, das neben dem Sportgeschäft lag. Hier blies ihr der Wind zwar schräg ins Gesicht, aber das Schneetreiben blieb teilweise hinter der gewölbten Plane zurück.
Keith blieb stehen. Er griff in seine Tasche und steckte sich etwas in den Mund. Sarah sah die rote Glut einer Zigarette. Er machte drei Züge, bis eine schwarze Limousine am Straßenrand hielt. Das musste der Fahrer sein, den Natalia bestellt hatte.
Anstatt die Zigarette in den Schneematsch zu werfen, löschte Keith sie an seiner Stiefelsohle und ließ sie in seiner Tasche verschwinden. Eine Angewohnheit aus einer Zeit, in der das Geld sehr viel knapper gewesen war als heute.
Als Sarah die Limousine erreichte, hielt Keith ihr die Tür auf. Sie wollte gerade einsteigen, doch er hielt sie am Arm zurück.
Seine dunklen Augen schienen tief in sie hineinzublicken, als er sagte: »Mach dir keine Sorgen, Schwester. Ich lasse nicht zu, dass dir etwas passiert.«
Sarah nickte knapp, rutschte auf den bequemen Rücksitz des Wagens und schnallte sich an, während Keith die Tür hinter ihr schloss. Sie beugte sich vor und nahm im Rückspiegel Blickkontakt mit dem Fahrer auf. Diese eisgrauen Augen ...
»Sie kennen die Adresse?«, fragte sie.
Der Mann brummte etwas, das wie eine Bestätigung klang, und fuhr los.
Der Verkehr war nicht besonders stark, floss aber trotzdem nur zähflüssig. Die Autos krochen träge durch den Schneematsch, während die Scheibenwischer um freie Sicht kämpften.
Keith und das Sportgeschäft waren gerade hinter ihnen verschwunden, als Sarah bemerkte, dass die Limousine in die völlig falsche Richtung abbog. Die Wohnung, die Natalia vor einem Jahr möbliert für sie gemietet hatte, lag in einem schicken Apartmentkomplex in Lower Manhattan. Wenn sie sich nicht täuschte, waren sie nach Osten auf die Canal Street abgebogen.