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Wir erhielten Besuch von Aiden Powell, einem bekannten Enthüllungsjournalisten der New York Times. Er berichtete uns, dass er mit dem Ingenieur Troy Banks verabredet gewesen war. Banks wollte ihm Unterlagen überlassen, die angeblich ein fortwährendes Problem mit einem neu entwickelten Flugzeug belegten. Demnach war es bei Testflügen aufgrund eines Softwarefehlers zu Schwierigkeiten mit der Schubumkehr gekommen. Tatsächlich war vor über zwanzig Jahren eine Maschine in Thailand abgestürzt, nachdem sich in großer Höhe die Schubumkehr eingeschaltet hatte. Sollte sich dieses Problem wiederholen? Bevor das Treffen zwischen dem Ingenieur und dem Journalisten hatte stattfinden können, war Banks ermordet worden. Kaum hatten wir die Ermittlungen übernommen, überschlugen sich die Ereignisse, und Hunderte Menschenleben standen auf dem Spiel!
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Seitenzahl: 144
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Schubumkehr
Vorschau
Impressum
Schubumkehr
»Haben Sie alles erledigt?«
»Wie besprochen. Der Kuckuck ist sozusagen im Nest und wartet darauf, entdeckt zu werden. Mir ist nur wichtig, dass niemand zu Schaden kommt.«
»Keine Sorge.«
»Sind Sie sich auch ganz sicher? Ich hätte mich sonst nie darauf eingelassen. Auf keinen Fall möchte ich jemanden auf dem Gewissen haben. Vielleicht ... vielleicht sollte ich ...«
»Denken Sie an Ihre Zukunft, und seien Sie nicht so nervös.«
»Okay. Ist schon okay.«
»Klick.« Das Telefonat war beendet.
Der Kontrast könnte kaum größer sein, überlegte Aiden Powell und musste unwillkürlich grinsen. Links neben Charles Folks, dem Sprecher des Weißen Hauses, saß Owen Schmidt auf dem Podium und blickte verdrießlich auf die über zwei Dutzend Journalisten und Fernsehteams herab, die der Einladung zur Pressekonferenz gefolgt waren.
Mit seinem länglichen Gesicht und dem Bürstenhaarschnitt erinnerte der CEO von Sky Enterprises Powell an J. Jonah Jameson, den stets missgelaunten Herausgeber der Zeitung Daily Bugle aus den Spiderman-Comics. Schmidt brachte es fertig, beim Lächeln die Mundwinkel nach unten zu ziehen. Sein Anzug hatte die Farbe von kalter grauer Asche, was zu ihm passte.
Heute lächelte er nicht mal ansatzweise. Er sah drein, als benötigte er dringend eine Magentablette. Oder besser zwei.
Hazel Sun auf der rechten Seite trug ein himmelblaues Kostüm, das so perfekt saß, dass es sich nur um eine Maßanfertigung handeln konnte. Im Gegensatz zu ihrem Konkurrenten strahlte die Chefin von Stratosphere wie ein Honigkuchenpferd. Mit ihren dunklen, glänzenden Augen musterte sie die Reporterschar und vermittelte dabei den Eindruck, sich über die Anwesenheit jedes einzelnen zu freuen.
Erschien Sun wie eine strahlende Sonne, kam Schmidt als düstere Gewitterwolke daher.
Seit mittlerweile knapp zwei Jahrzehnten berichtete Aiden Powell über die Luftfahrtbranche, national ebenso wie international. Er war bestens vernetzt, kannte praktisch alle wichtigen Leute und dazu eine Menge Geschichten. Deshalb war ihm auch bekannt, dass Schmidt seine Konkurrentin nicht leiden konnte und Stratosphere geradezu verabscheute.
Das Unternehmen war erst vor knapp zehn Jahren von einer Investorengruppe gegründet worden und angetreten, dem Platzhirsch den Rang streitig zu machen. Dass sie ihre Hauptproduktionshallen in New Jersey vor den Toren New Yorks und fast in Sichtweite von denen von Sky Enterprises angesiedelt hatten, war allgemein als Provokation aufgefasst worden. Die Verwaltungszentralen beider Unternehmen befanden sich in New York City.
Anfangs belächelt, hatte Stratosphere schnell erste Erfolge erzielt und Sky Enterprises Kunden in Europa und Asien abgejagt, was in einem behäbigen Markt wie der Luftfahrtindustrie einer Revolution gleichkam. Auch zwei US-amerikanische Fluglinien hatten die Bestellblöcke der aufstrebenden Firma gefüllt, was Schmidt dem Branchengetuschel nach besonders empört hatte.
Möglich geworden waren diese Erfolge auch deswegen, weil die Neuen mit dicken Scheckbüchern gewedelt und die besten Köpfe ihrer alteingesessenen Konkurrenten abgeworben hatten, nicht nur von Sky Enterprises. Ihre schlanken, sparsamen und mit innovativer Technik ausgestatteten Maschinen erfreuten sich zunehmender Beliebtheit.
Seit einem knappen Jahr saß Hazel Sun am Steuerknüppel. Die dreiundvierzigjährige Tochter koreanischer Einwanderer war die erste Frau in ihrer Branche, die es auf einen CEO-Sessel geschafft hatte. Sie hatte am MIT in Massachusetts Ingenieurwissenschaften studiert und mit Auszeichnung abgeschlossen. Danach hatte sie sich die Jobs aussuchen können und war zunächst in die Rüstungsindustrie gegangen, bevor sie kurz nach Gründung bei Stratosphere auftauchte und eine beeindruckende Karriere hinlegte, die sie ganz nach oben geführt hatte.
Powell hatte sie bereits mehrfach interviewt. Sun war eloquent, witzig und konnte die Menschen für sich einnehmen, wohingegen Owen Schmidt einem gerne das Gefühl vermittelte, man wäre ein Störenfried. Es gab Stimmen, die die Ablösung des knorrigen und zu Wutausbrüchen neigenden Mannes forderten, der seit siebzehn Jahren an der Spitze des Unternehmens stand. Es sei Zeit für frischen Wind und neue Impulse, raunten seine Kritiker.
Der CEO pflegte derlei Botschaften zu ignorieren, was er sich auch leisten konnte. Nach all den glorreichen Erfolgen und gigantischen Wachstumszahlen seiner Amtszeit hielt das Board unverbrüchlich zu ihm, Stratosphere hin oder her.
Charles Folks klopfte gegen das Mikrofon vor ihm auf dem Tisch, was ein knackendes Geräusch erzeugte. Augenblicklich verstummten alle Gespräche im Raum. Unwillkürlich nahm Powell auf seinem Stuhl eine aufrechte Haltung ein.
Im Licht der Scheinwerfer glänzten Schweißtropfen auf der Stirn des Regierungssprechers. Der massige Mann im schwarzen Anzug machte ein Gesicht, als würde er gleich verkünden, dass das Weiße Haus an die Inder verkauft worden sei. Die Staatsschulden, ihr wisst schon, Leute. Wenigstens haben es nicht die Chinesen gekriegt, alles klar?
Natürlich sagte er nichts dergleichen. Stattdessen räusperte er sich und begrüßte die Journalisten und Kameraleute, wobei er seine Blicke über sie streifen ließ, als wollte er sich jedes Gesicht einprägen. Powell hatte so eine Ahnung, worum es bei dieser Pressekonferenz gehen würde.
Seine Vermutung wurde bestätigt, nachdem Folks seine Sitznachbarn vorgestellt hatte – mehr aus Höflichkeit denn aus Notwendigkeit – und zum Wesentlichen kam.
»... darf ich Ihnen heute mitteilen, dass das Weiße Haus entschieden hat, die Anschaffung der neuen Air Force One auszuschreiben, und zwar zwischen den beiden Unternehmen Sky Enterprises und Stratosphere.«
Bei diesen Worten machte Owen Schmidt ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Seit den Vierzigerjahren hatte Sky Enterprises das offizielle Fluggerät für den mächtigsten Mann der Welt gestellt. In den Nullerjahren des neuen Jahrhunderts hatte ein europäischer Anbieter mitmischen wollen, sein Angebot aber zurückgezogen, da er vor den amerikanischen Sicherheitsbehörden die Hosen hätte runterlassen sollen, was die eingesetzte Technik anging. Der Gewinn dieses Auftrags hätte viel Prestige bedeutet. Nach Ansicht der Europäer nicht genug, um sich derart tief in die Karten schauen zu lassen.
Sky Enterprises hatte also viele Jahre lang ein Quasimonopol gehabt, was nun zu Ende ging. Wie man sich erzählte, hatte der große Mann in Washington ein Faible für junge und aufstrebende Firmen, was für Owen Schmidt und seine Leute eine wirklich schlechte Nachricht darstellte.
Folks erklärte, dass die Regierung vom Prinzip Wettbewerb überzeugt sei, weil es stets zum besten Ergebnis führen würde. Außerdem sei man sehr stolz auf die Unternehmen, sehe sie als Spitze der globalen Luftfahrtindustrie an und so weiter und so fort.
Powell schrieb nicht ein Wort mit und beobachtete stattdessen die beiden Chefs. Hazel Sun lächelte unentwegt, während Owen Schmidt Folks düster aus dem Augenwinkel musterte, als dächte er darüber nach, ihm vor versammelter Mannschaft den Hals umzudrehen. Es war offensichtlich, dass er das Vorgehen der Regierung als persönliche Beleidigung und diese Pressekonferenz als Affront betrachtete.
Wie hatte er wohl reagiert, als er davon erfahren hatte? Powell hätte ein halbes Monatsgehalt hingelegt, nur um dabei sein zu können. Er wäre jede Wette eingegangen, dass anschließend das ein oder andere Möbelstück aus seinem Büro hatte ersetzt werden müssen.
»... erteile ich nun das Wort Owen Schmidt«, schloss Charles Folks.
Alle Augen richteten sich auf ihn. Powell schlug sein Notizbuch wieder auf und ließ die Mine aus dem Kugelschreiber hervorschnellen. In der plötzlichen Stille kam ihm das klickende Geräusch überlaut vor.
Schmidt versuchte ein Lächeln, was ihm missglückte. Er sah aus wie ein Mann, dem ein schweres Gewicht auf den Fuß gefallen war und der um jeden Preis einen Schmerzensschrei unterdrücken wollte.
»Vielen Dank, Mister Folks, für Ihre Ausführungen«, begann er. »Ladys und Gentlemen, wie Sie wissen, arbeitet Sky Enterprises derzeit intensiv an der Entwicklung eines neuen Flugzeugtyps namens Skydiver. Es handelt sich um einen vierstrahligen Langstreckenjet, mit dem wir nichts weniger als ein neues Kapitel der Luftfahrtgeschichte aufschlagen wollen.«
Hört, hört, dachte Powell.
»Der Skydiver wird über neunhundert Passagieren Platz bieten, eine Reichweite von rund zehntausend Meilen haben und dabei weniger Treibstoff verbrauchen als je ein Großraumflugzeug zuvor. Da die Markteinführung in knapp zwei Jahren mit der geplanten Bestellung der Air Force One zusammenfällt, haben wir uns entschlossen, mit diesem Modell ins Rennen zu gehen. Der Skydiver wird alle Anforderungen des Weißen Hauses nicht nur erfüllen, sondern übertreffen.«
Gemurmel wurde laut. Powell nickte anerkennend. Die Entscheidung, mit einer noch nicht auf dem Markt befindlichen Maschine bei diesem Wettbewerb anzutreten, war zweifellos mutig, wenn nicht waghalsig.
Einen Jet zu entwickeln war etwas anderes als etwa ein Automobil, und selbst da konnte alles Mögliche schiefgehen. Zum jetzigen Zeitpunkt vollkommen unerwartete Probleme konnten auftreten, was zu verzögerten Auslieferungen und verärgerten Kunden führte. Beispiele dafür hatte es in der Vergangenheit genug gegeben. Im konkreten Fall würde das bedeuten, dass sich Schmidt die Air Force One in die Haare schmieren konnte. Um ein solches Risiko einzugehen, mussten sie sich bei Sky Enterprises ihrer Sache sehr sicher sein.
Folks wartete geduldig ab, bis das Getuschel im Auditorium verstummt war, bevor er Hazel Sun das Wort erteilte.
»Ich danke Owen Schmidt für seine Ausführungen«, sagte sie mit ihrer markanten rauen Stimme, die im Widerspruch zu ihrer zierlichen Erscheinung stand. »Bei Stratosphere arbeiten wir an der Modifizierung unseres Erfolgsmodells Strato 963, mit der wir den Skydiver alt aussehen lassen werden – und das, obwohl er ganz neu ist.«
Schmidts Gesicht nahm binnen Sekunden die Farbe einer reifen Tomate an. Wäre Rauch aus seinen Ohren gestiegen, hätte es Powell nicht überrascht.
Sun öffnete den Mund, um fortzufahren, Schmidt kam ihr zuvor.
»Das werden wir ja sehen«, zischte er in ihre Richtung, ohne sie anzusehen.
Sie tat, als hätte sie die Bemerkung nicht gehört, was wegen der Mikrofone unmöglich war. Einige Journalisten begannen zu kichern.
»Seit seinem Markteintritt ist Stratosphere dafür bekannt, mit Innovationen und technischen Lösungen die Grenzen des Machbaren zu erweitern«, fuhr Sun ungerührt fort. »Unter unserem Dach arbeiten die innovativsten Köpfe Tag für Tag daran, unsere Branche in ein neues Zeitalter zu führen. Jedenfalls so, wie wir es verstehen.«
»Was genau meinen Sie damit, Miss Sun?«, fragte ein Reporter, den Powell noch nie gesehen hatte.
»Ich meine damit, dass Innovation nicht nur ein Wort sein sollte. Es muss mit Leben gefüllt werden und im Sinne seiner Bedeutung etwas wirklich Neues bieten. Etwas, was unseren Kunden hilft und sie weiterbringt. Oder anders gesagt, wir wollen uns nicht darauf beschränken, alten Wein in neue Schläuche zu füllen.«
Alle Anwesenden hielten kollektiv den Atem an. Selbst Charles Folks nahm Habachtstellung ein. Jeder, der sich nur ein bisschen in der Branche auskannte, verstand die Anspielung.
Etwas aufsehenerregend Neues hatte Sky Enterprises seit Längerem nicht an den Start gebracht. Stattdessen hatten sie sich darauf verlegt, Bewährtes behutsam weiterzuentwickeln, was sowohl für das Design als auch für die Technik und das Innenleben ihrer Flugzeuge galt. Nicht nur Powell war der Ansicht, dass die meisten ihrer Modelle im Vergleich zu denen von Stratosphere im Wortsinn ein klein wenig alt aussahen.
Owen Schmidts Gesichtsfarbe war nun die einer überreifen Tomate, doch er widerstand der Versuchung, seine Konkurrentin mit einer Schimpfkanonade zu überziehen, was er zweifellos gerne getan hätte. Stattdessen verlegte er sich darauf, noch finsterer vor sich hin zu starren als gewöhnlich.
Nachdem die Reporter ihre Fragen gestellt und beantwortet bekommen hatten, war die Pressekonferenz beendet. Schmidt verabschiedete sich mit einem knappen Nicken und rannte förmlich aus dem Saal.
Auch Aiden Powell verließ den Raum, nahm ein Taxi zum Washington Dulles International und flog nach New York zurück, wo er seinen Artikel schrieb.
Diese Geschichte versprach spannend zu werden.
Zwei Jahre später
Troy Banks nahm die Brezel entgegen, zahlte und setzte seinen Weg fort. An der nächsten Straßenecke biss er herzhaft hinein und verzog das Gesicht. Manchmal übertrieben sie es mit dem Salz, aber auf einen Hotdog hatte er keine Lust gehabt. Der Wagen und der Verkäuferin darin hatten keinen besonders vertrauenswürdigen Eindruck auf ihn gemacht. Man konnte nie wissen, was in so einer Wurst alles drinsteckte.
Während er weiter den Broadway Richtung Norden entlangmarschierte, mampfte er das Gebäck und spülte mit einem kräftigen Schluck aus seiner Wasserflasche nach, die er in der Innentasche seiner Jacke mit sich trug.
Als er den Union Square passierte, warf die Sonne lange Schatten auf den belebten Platz. Zwei weibliche Teenager hielten sich Schilder vor die Brust, auf denen mit blauem Filzstift geschrieben stand, dass sie kostenlose Umarmungen anboten. Eine der beiden schaute in seine Richtung. Er wandte den Blick ab. Für solchen Kram hatte er weder Zeit noch Nerven, obwohl die Kleine echt gut aussah.
Er sah auf seine Uhr. Bei seinem derzeitigen Schritttempo würde er es pünktlich zu dem Treffen mit Aiden Powell schaffen. Der Journalist hatte für ihre Unterredung einen Coffeeshop in der Nähe des Flatiron Building vorgeschlagen.
Von Banks' Apartment in der Madison Street bis dorthin waren es knapp zweieinhalb Meilen. Er hatte überlegt, ein Taxi zu nehmen, sich mit einem Blick auf seine in jüngster Zeit leicht aus der Form geratene Figur dann aber doch für einen Fußmarsch entschieden. Seit Chloe ausgezogen war, ließ er sich gehen und ernährte sich überwiegend von Tiefkühlpizza und ähnlichem Fertigfraß. Vom Alkohol ganz zu schweigen.
Bei dem Gedanken an seine Frau spürte er Ärger in sich aufwallen. Nach all den gemeinsamen Jahren hatte sie ihm einen kräftigen Tritt in den Hintern verpasst und die Scheidung eingereicht. Genau wie es Sky Enterprises zwei Monate später mit ihm getan hatte. Er musste an die jungen Frauen auf dem Union Square mit ihren Schildern denken. Genauso gut hätte er sich neben sie stellen können, nur dass auf seinem Schild Bereit für kostenlose Arschtritte stehen würde.
Es war so verdammt unfair. Hatte er nicht alles für Chloe getan? Und hatte er nicht sämtliche Energie für seinen früheren Arbeitgeber geopfert? Zum Dank hatten sie ihn einträchtig abserviert. Er hätte nicht sagen können, welcher Verlust schmerzlicher für ihn war. Mit Sky Enterprises war er jedenfalls länger liiert gewesen als mit seiner Nochgattin.
Sein Ärger verwandelte sich in Wut. Ein Gefühl, das ihm in den vergangenen Wochen zu einem vertrauten Begleiter geworden war.
Alles war nur passiert, weil sein Alkoholkonsum ein kleines bisschen außer Kontrolle geraten war, wie er ja gerne einräumte. Wenn schon, er hatte das längst wieder im Griff, wobei ihm das Chloe nicht hatte abkaufen wollen. Ein paar Drinks in der Mittagspause und ein paar weitere nach Feierabend in einer Bar in der Nähe der Zentrale in der Washington Street, wem schadete das schon?
Es stimmte, dass er in einer Konferenz gelallt hatte und ein anderes Mal an seinem Schreibtisch eingeschlafen war. Er hatte sich entschuldigt und seinen Vorgesetzten versichert, dass dergleichen nie wieder vorkommen würde. Sie hatten ihn beim Wort genommen, bloß anders als von ihm gedacht. Zwei Tage nach dem Nickerchen hatte er seinen Hut nehmen müssen. Das lag gut sechs Wochen zurück.
Damit würden sie nicht so einfach davonkommen. Als Chloe zum letzten Mal ihr gemeinsames Apartment verlassen hatte, hatte er schweigend zugesehen. Schließlich konnte er sie schlecht verprügeln oder ihr gar Schlimmeres antun. So eine Art Mann war er nicht. Aber an Sky Enterprises wollte er sich rächen, und der Journalist würde ihm dabei helfen. Dank der Unterlagen, die er in einem Umschlag in seinem beigefarbenen Rucksack mit sich trug.
Er schickte sich an, die E 20th Street zu überqueren, als ihm der Bursche in den Weg trat. Die Kapuze seiner grauen Sweatjacke hatte er tief ins Gesicht gezogen, sodass Banks nur sein unrasiertes Kinn sehen konnte. Seine dürren Beine steckten in schmuddeligen Jeans. An den Füßen trug er grüne, ausgelatschte Turnschuhe. In der Hand hielt er ein Messer.
Die kurze Klinge war auf ihn gerichtet.
Banks blieb stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen. Was sollte das werden? Ein Überfall, mitten auf dem Broadway? Ihm fiel auf, dass sich niemand in ihrer näheren Umgebung befand, der ihm zu Hilfe hätte kommen können. Zwar fuhren Autos vorbei, doch der Kerl stand so dicht und in einer so geschickten Position vor ihm, dass die Insassen die Waffe nicht sehen konnten.
Das machte er garantiert nicht zum ersten Mal so.
»Den Rucksack her!« Die Worte kamen verwaschen aus seinem Mund. Der nur allzu vertraute Geruch nach Alkohol stieg Banks in die Nase. Der Typ hatte mächtig einen im Tee.
Einen Moment lang wusste er nicht, wie er reagieren sollte. Er war noch nie überfallen worden. Dann meldete sich seine Wut zurück, diesmal richtete sie sich gegen das betrunkene Arschloch. Er würde ihm den Rucksack nicht geben. Ohne die Dokumente konnte er seine Rache an Sky Enterprises vergessen. Der Räuber würde ihm keine Gelegenheit geben, sie vorher rauszuholen. Gut, dass er sich einen genehmigt hatte, bevor er aufgebrochen war. Nüchtern hätte er kaum den Mut dafür aufgebracht, was er als Nächstes tat.
»Kannst du abhaken«, knurrte er. »Verpiss dich!«
Der Bewaffnete zuckte zusammen, als hätte Banks ihm eine Ohrfeige verpasst.
»Ich habe ein Messer«, presste er unnötigerweise hervor.
»Bist du taub? Hau ab!«
Sein Gegenüber wirkte unschlüssig. Egal, wie besoffen er war, ihm musste klar sein, dass er mit jeder Sekunde, die er hier herumstand, ein größeres Risiko einging. Es brauchte nur eine Polizeistreife vorbeizufahren, die genauer hinsah. Banks baute darauf, dass er keinen Widerstand einkalkuliert hatte und deshalb das Weite suchen würde.
Stattdessen griff er mit der freien Hand nach dem Riemen des Rucksacks.
Den kriegst du nicht!
Banks handelte instinktiv, ohne nachzudenken. Seine rechte Faust schoss auf den Kerl zu, der überraschend schnell reagierte und den Kopf zur Seite drehte, sodass der Schlag ins Leere ging. Fast gleichzeitig spürte er einen stechenden Schmerz in der Magengrube. Abermals griff sein Gegner nach dem Riemen. Diesmal hatte Banks ihm nichts entgegenzusetzen. Seine Beine wurden weich, konnten sein Gewicht nicht mehr tragen. Ächzend stürzte er auf die Knie und kippte zur Seite.
Er sah noch, wie der Scheißer mit seiner Beute davonrannte, dann wurde ihm übel, und die Welt um ihn herum versank in einem trüben Schwarz.