1,99 €
Als Jacky Parchman tot und mit rasiertem Kopf auf einer Baustelle an der Twelfth Avenue in Höhe von Pier 88 am Hudson River aufgefunden wurde, gingen die Behörden davon aus, dass der "Friseur" wieder zugeschlagen hatte. Dieser Serienkiller, der seine Opfer kahl rasiert zurückließ, hatte in den vergangenen sieben Jahren acht junge Frauen vergewaltigt und anschließend ermordet, bisher allerdings ausschließlich in ländlichen Regionen in Illinois, Tennessee, Ohio und Virginia. Hatte der Mörder sein geografisches Muster geändert? Das war nicht die einzige Frage, die wir vom FBI beantworten mussten, bevor der Killer erneut zuschlug!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 143
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
In den Höhlen lauert der Tod
Vorschau
Impressum
In den Höhlen lauert der Tod
Als Polina den nächsten Quarter in die Slot Machine steckte, klingelte ihr Handy.
»Jacky, was gibt's?«
»Ich hab ihn gesehen.« Ein heiseres Flüstern.
»Was? Wen hast du gesehen? Sprich lauter, ich verstehe dich nicht!«
»Ihn! Ich hab ihn gesehen! Gerade eben, vor zwei Minuten!«
Eine plötzliche Kälte legte sich auf Polinas Herz.
»Das ist unmöglich«, flüsterte sie.
»Wenn ich es sage! Er war es! Ich schwöre!«
Polinas Hand zitterte. Sie suchte Halt an einem Hocker.
»Wo bist du?«, hauchte sie. Die Verbindung brach ab. »Jacky! Verdammt noch mal! Wo steckst du!«
Auf einmal bekam sie keine Luft mehr. Sie fasste sich an die Kehle. Taumelnd wankte sie zur Tür.
Pflaume, Pflaume, Pflaume.
Jackpot.
Rasselnd rauschten die Münzen in die Rinne.
Regen schlug ihr ins Gesicht wie die Pranke eines rasenden Löwen. Panisch kramte sie in ihrer chinesischen Bauchtasche nach dem Asthmaspray.
Presste den Inhalator zwischen die Lippen. Pumpte das Kortison in die Bronchien. Wieder und immer wieder. Zersetzte die eisernen Hände, die sich um ihre Kehle krallten. Ihr die Luft raubten. Höhnisches Gelächter dröhnte in ihren Ohren.
Langsam, ganz langsam löste sich der Krampf. Die Bronchien öffneten sich wie feuchte Rosenblüten im beginnenden Frühling. Der Puls des Lebens fand zurück in seinen Takt.
Polina schloss die Augen und atmete ein paarmal tief durch. Sie erlebte diese tiefe Erleichterung jedes Mal neu. Tod und Auferstehung. Wie das zögernde Auftauchen aus einem Eissee. Wie der Flügelschlag eines jungen Adlers, der sich zum ersten Mal in die Lüfte schwang.
Eine neue Chance.
Vielleicht die letzte.
Ein älterer Mann mit Baskenmütze und Regenschirm, der einen mürrischen Terrier hinter sich her zerrte, rempelte sie an.
»Schlampe!«, zischte er ihr zu.
Was folgte, ging im Prasseln des Regens unter. Erst jetzt registrierte Polina, dass sie Pudding in den Beinen hatte. Einen Moment überlegte sie, ob sie zurück ins Barcade gehen und sich mit einem doppelten Jamaikagrog runterholen sollte.
Dann fiel ihr wieder ein, was Jacqueline ihr am Telefon gesagt hatte, und sie rannte los Richtung Metrostation.
Im Barcade an der Hunts Point Ave hatte sie früher oft nach der Schule mit ihren Freundinnen abgehangen. Sie veranstalteten regelrechte Turniere an den Spielautomaten. Oft ging dabei innerhalb weniger Stunden das gesamte Taschengeld drauf.
Wenn sie jetzt daran dachte, kam es ihr vor, als wäre das in einem anderen Leben passiert. Als wäre die Polina Cole von damals ein Mensch, den sie höchstens flüchtig kannte, der im Übrigen aber nichts mit der Polina Cole von heute gemein hatte.
Damals wohnte sie mit Tom und ihren Eltern in Hunts Point in einem sechsstöckigen Mietshaus am Gilbert Place. Zwischen einem 99-Cent-Store und einem R&L Wines & Liquors. Keine angenehme Wohngegend, ganz im Gegenteil.
Aufgelassene Industriebrachen und leer stehende Lagerhäuser prägten schon damals das Erscheinungsbild von Hunts Point. Und sobald die Dämmerung hereinbrach, schlichen die Obdachlosen und die Cracksüchtigen wie Gespenster durch die menschenleeren Straßenzüge.
Für Polina war es trotzdem das Paradies. Hier erlebte sie ihre erste Liebe. Gordian saß im Biokurs neben ihr, schrieb Tagebuch und spielte Trompete im Schulorchester. Das reichte ihr damals, um in ihm einen einzigartigen, zu Großem bestimmten Menschen zu sehen.
Vier Wochen später hatte sie dann allerdings auch gewusst, dass er Angst vor Spinnen und eine unappetitliche Neigung zu latentem Mundgeruch hatte und außerdem heimlich die Wäschekataloge seiner Mutter studierte.
Während sie die Treppe zur Metrostation Hunts Point Avenue hinunter hastete, drückte sie immer wieder die Wiederholungstaste.
»Komm schon, Jacky, geh dran!«, murmelte sie und schüttelte sich dabei das Wasser aus den Haaren.
Ihre Freundin hatte das Handy ausgeschaltet. Warum hatte sie ihr nicht wenigstens gesagt, wo sie war? Polina überlegte fieberhaft. Heute war Montag. Montagabend war Jacky beim Yoga.
Aber wo, zum Teufel, war die verdammte Yogaschule?
South Bronx, das wusste sie. Hatte Jacky nicht mal die Morris Ave erwähnt? Sie wollte gerade Maryam anrufen und scrollte schon durch ihre Kontakte, da fiel ihr ein, dass Maryam ebenfalls in der Yogagruppe war. Und wenn sie gerade Yoga machte, hatte sie ihr Handy ausgeschaltet.
Vielleicht war Jacky heute gar nicht zum Yoga gegangen. Sie hatte so aufgeregt geklungen, so gehetzt.
Die Linie 6 fuhr ein, die Türen öffneten sich. Polina stieg ein und kauerte sich auf einen Einzelsitz am Fenster.
Die Bahn fuhr an. Polina starrte auf die Tunnelwände, die immer schneller vorbeiflogen. Manche waren mit Graffiti beschmiert. Bei diesem Tempo flossen die Formen ineinander und rissen die Bilder in bunte Fetzen.
»Ich hab ihn gesehen!«
Jackys Stimme kroch wie ein Wurm durch ihren Kopf. War das überhaupt möglich? Sie kannte ihn doch gar nicht. Oder war das Ganze nur ein Missverständnis? Hatte sie jemand ganz anderen gemeint? Und nur sie, Polina Cole, hatte gleich an ihn gedacht.
Den Mann, der ihre Zwillingsschwester getötet und ihr eigenes Leben in eine einzige Hölle verwandelt hatte.
Plötzlich kreischten die Bremsen, und nach wenigen Yards blieb die Bahn stehen.
Polina fuhr zusammen, sofort begann ihr Puls zu rasen. Sie zwang sich, gleichmäßig zu atmen, was ihr alles andere als leichtfiel. Gleichzeitig begann das Zittern. Es stieg von unten nach oben. So fest sie konnte, presste sie die Kiefer aufeinander, damit man das Klappern ihrer Zähne nicht hörte.
Dann ging das Licht aus.
Einige Fahrgäste stöhnten genervt auf.
Und Polina befand sich plötzlich wieder unter dem finsteren Grabhügel am Serpent Mound, Ohio. Sie roch den feuchten, schweren Lehmboden, sah die magischen und irgendwie bedrohlich wirkenden Ornamente, die in die Wände getrieben waren.
Und hörte die markerschütternden Schreie ihrer Zwillingsschwester, die unter dem angrenzenden Grabhügel brutal vergewaltigt wurde.
Es war das Letzte, das sie von Mandy hörte.
Plötzlich flackerte die Deckenbeleuchtung, das Licht ging wieder an.
Polina sah das Blut an ihrer linken Hand. Sie hatte sich mit dem rechten Daumennagel den Handballen aufgeritzt. Unauffällig zog sie ein Taschentuch aus der Tasche und wickelte es um die Wunde.
Ein Ruck ging durch den Waggon, die Bahn setzte sich in Bewegung und nahm langsam wieder Fahrt auf.
Immer noch am ganzen Körper zitternd, griff Polina nach ihrem Handy. Sie musste es mit beiden Händen halten. Sie drückte die Wiederholungstaste.
»Geh dran, Jacky! Verdammt noch mal, geh endlich dran!«
Die Automatenstimme blieb ungerührt bei ihrer Aussage. »The person you are calling is temporarily not available.«
Sie tippte Yogaschulen in die Suchmaschine. Es gab mehr als tausend. Als sie Morris Avenue dazusetzte, landete sie einen Treffer.
An der Station 138th Street und Third Avenue stieg sie um und fuhr weiter zur Grand Concourse. Als sie die Stufen aus dem Metroschacht nach oben nahm, regnete es immer noch.
Jackys Yogaschule lag zwei Blocks entfernt in einer ehemaligen Produktionshalle, die vor einigen Jahren kernsaniert und in schicke Lofts parzelliert worden war.
Der junge Mann, den sie im Treppenhaus nach dem Anfängerkurs fragte, trug weite weiße Leinenklamotten und hatte seine langen Haare zu einem coolen Dutt geflochten. Er musterte Polina mit einer Mischung aus Mitleid und Ekel. Sie war mittlerweile völlig durchnässt und stand im Nu in einer Pfütze Regenwasser.
»Zweiter Stock, erste Tür links.«
Sie hastete die Treppen hoch, rutschte aus und fiel der Länge nach auf die glatten Marmorfliesen. Sofort rappelte sie sich auf und wandte sich hinter der Glastür nach links.
Mit einem Ruck riss sie die Tür auf.
Zwölf junge Frauen saßen mit geschlossenen Augen im Lotussitz auf ihren Yogamatten, eingehüllt in einen sanften Klangteppich von Good-Vibe-Musik. Keine einzige von ihnen zuckte auch nur mit der Wimper.
Polina erkannte Maryam. Jacqueline war nicht dabei.
Leise schloss sie die Tür. Auf der anderen Seite des Flurs entdeckte sie eine Toilette. Sie nahm sich eine Handvoll Papierhandtücher aus dem Spender und trocknete notdürftig ihre Haare.
Dann stützte sie sich mit beiden Händen auf das Waschbecken und starrte mit großen Augen auf ihr Spiegelbild.
»Wer bist du?«, murmelte sie verloren. »Bist du Polina? Bist du Mandy? Wer bist du? Sag es mir!«
Phil und ich saßen an einem kleinen quadratischen Tisch im hinteren Teil des Restaurants Woo Chon, wobei Restaurant eine ausgesprochen ambitionierte Bezeichnung für diese heruntergekommene koreanische Imbissbude war, deren Form an ein chinesisches Essstäbchen erinnerte.
Vor meinem Partner stand ein Teller mit zylinderförmigen Reisküchlein, die lustlos in einer scharfen Soße schwammen. Ich hatte mich für gekochte Glasnudeln entschieden, unter die verschiedene Gemüseabfälle gemischt waren.
Das Lokal befand sich am Kissena Boulevard in Downtown Flushing, einem Stadtteil von Queens, der überwiegend von Einwanderern ostasiatischer Herkunft bewohnt wurde.
»Was sagt die Uhr?«, fragte Phil angespannt.
Ich warf einen Blick auf mein Handy. »22:37 Uhr.«
»Sind alle Teams auf Position?«
»Alle bis auf Carl.«
Special Agent Carl Sager leitete das SWAT-Team, das den Zugriff durchführen sollte. Zu seinem Team gehörten fünf erfahrene Agents, die alle bereits an ähnlichen Aktionen teilgenommen hatten.
»Gibt es Probleme?«, fragte Phil.
»Keine Probleme. Carl liegt voll im Zeitplan und wird mit seinen Leuten in spätestens fünf Minuten vor Ort sein.«
Wir hatten die entsprechende Wohnung bereits vor zwei Monaten angemietet und in der Zwischenzeit sogar drei junge Kollegen dort einquartiert, die nach außen den Alltag einer Studenten-WG simulierten.
Die drei Kollegen gehörten zu Carls SWAT-Team, Carl und ein weiterer Agent würden in Kürze als »Besucher« vorbeischauen. Die für den Zugriff benötigte Ausrüstung war im Laufe der vergangenen Wochen nach und nach unauffällig in die Wohnung geschafft worden.
Phil spießte einen Reiszylinder auf die Gabel, tunkte ihn in die Soße, betrachtete ihn von allen Seiten und schob ihn in den Mund.
»Wer hat eigentlich diesen Laden ausgewählt?«, erkundigte er sich stirnrunzelnd. Eine Frage, die wie eine Anklage klang.
»Ich glaube, das war Zeery«, gab ich zurück. »Oder war es Joe? Einer von den beiden.«
»Wetten, die Mädels haben es besser getroffen.«
Dionne und Kristen saßen zur selben Zeit ein paar Häuser weiter im Pho Bang Restaurant und genossen die vietnamesische Küche. Sie würden beim Zugriff die Rückseite des Wohnblocks sichern.
In diesem Moment gab mein Smartphone ein Signal. Ich warf einen Blick auf das Display.
»Carl ist jetzt in der Wohnung. Damit sind die Teams komplett.«
»Und wo befindet sich unsere Zielperson Nummer zwei?«
Ich rief die Live-Tracking-App auf, um den aktuellen Standort von Zeerookahs Dienstwagen zu ermitteln. Unser Kollege hatte die Zielperson am JFK Airport abgepasst und sich an ihre Fersen geheftet.
»Horace Harding Expressway«, las ich ab, »Ankunft in dreizehn Minuten.«
Seit mehr als drei Monaten hatten wir uns auf diesen Zugriff vorbereitet. Von einem unserer Informanten hatten wir erfahren, dass es in dieser Nacht zu einem Treffen der beiden mächtigsten Drogenhändler der vergangenen zehn Jahre kommen sollte.
Weil sich einer der beiden – Sam Kuchler, der die Westküste belieferte – während dieser Zeit mehreren Krebsoperationen unterziehen musste, wurde der Termin immer wieder verschoben.
Der Ort des Zusammentreffens, eine unscheinbare Dreizimmerwohnung im Zentrum von Downtown Flushing, war sehr kurzfristig vereinbart worden, was unsere Planungen extrem erschwert hatte.
In dieser Wohnung hatte bis vor zwei Jahren ein Cousin des Schwagers von Ted Jenkins, Zielperson Nummer eins, gewohnt. Seitdem stand sie leer, die Miete war immer pünktlich überwiesen worden.
Ein international zur Fahndung ausgeschriebener Drogenboss wusste schließlich nie, wann er einmal ein solches Versteck für eine Transaktion oder ein konspiratives Treffen brauchen konnte.
Unser Problem war nicht nur die knappe Zeit, die uns für die Vorbereitungen zur Verfügung stand. Eine zusätzliche Komplikation war, dass der betreffende Wohnblock von mehr als siebenhundert Menschen bewohnt wurde.
Menschen, die bei der äußerst gefährlichen Aktion nicht in Gefahr gebracht werden, geschweige denn zu Schaden kommen durften.
Ein auf den ersten Blick nahezu unmögliches Unterfangen.
Zeerookah meldete sich. »Wir sind eben vom Expressway runter, da hält der Kerl plötzlich an einem 7-Eleven und spaziert da rein. Ich hoffe, er überlegt es sich nicht anders und fährt zurück zum JFK.«
»Bleib dran, Zeery«, erwiderte ich.
Was hätte ich auch anders sagen sollen?
Phil musterte mich fragend mit hochgezogenen Brauen.
»Offenbar hat Jenkins Durst bekommen und holt sich was zu trinken.«
Wir hatten eine detaillierte Gebäudeanalyse vorgenommen. Eine Liste sämtlicher Bewohner erstellt. Alle Zugänge und möglichen Fluchtwege erfasst und auf ihre Relevanz für unseren Zugriff überprüft.
Dionne und Kristen hatten eine umfassende Risikoanalyse durchgeführt. Auch die mögliche Anwesenheit von Unbeteiligten wurde dabei berücksichtigt.
Beide Zielpersonen verfügten über einen umfangreichen Personenschutz. So hatte Zeerookah uns berichtet, dass die Limousine von Ted Jenkins von zwei weiteren Fahrzeugen begleitet wurde, in denen insgesamt sechs Personen, ausschließlich Männer, saßen.
Neben dem SWAT-Team von Carl Sager hatten wir drei weitere Teams aufgestellt, die zum Teil im Gebäude und davor operierten. Dazu gehörte ein Verhandlungsteam, medizinisches Personal und ein Sprengstoffentschärfungsteam.
Zusammen mit unserem IT-Spezialisten Dr Ben Bruckner und unserer Profilerin Dr Iris McLane hatten wir schließlich einen detaillierten Zugriffsplan erstellt, der den genauen Zeitpunkt des Zugriffs, die Zugangswege und die genauen Rollen der Teammitglieder festlegte. Zusätzlich hatte Iris einen Plan für den Umgang mit unerwarteten Situationen entwickelt.
Für einen Probelauf fehlte uns leider die Zeit. Wir konnten nur hoffen, dass uns keine böse Überraschung einen Strich durch die Rechnung machen würde.
»Die Zielperson befindet sich jetzt in der Tiefgarage und wird jeden Moment den Aufzug besteigen!«
Ich schob mein Tablett zurück und erhob mich. »Das war Zeery. Es geht los.«
Crunchtime.
Polina hatte es mittlerweile aufgegeben, Jackys Nummer zu wählen. Inzwischen war sie nicht einmal mehr davon überzeugt, dass ihre Freundin den Killer tatsächlich gesehen hatte.
Hätte sie in dem Fall nicht die Verbindung zu ihr gehalten? Sie gebeten, ihr so schnell wie möglich zu Hilfe zu eilen? Oder die Cops zu informieren, damit sie den Kerl endlich festnehmen konnten?
Stattdessen hatte sie ihr Handy ausgeschaltet und war abgetaucht. Vermutlich weil ihr klargeworden war, dass sie sich getäuscht hatte.
Kein Wunder, schließlich hatte sie den Mann nie gesehen. Sie kannte ihn nur aus Polinas Schilderungen. Dass er groß war, deutlich über sechs Fuß. Dass er kurz geschorene blonde Haare hatte, einen Dreitagebart und einen starken Bizeps.
Und ein kleines grünes Tattoo im Nacken, einen Schmetterling mit einem Totenkopf.
Es regnete noch immer, aber nicht mehr so heftig. Die Willis Avenue hatte sich in einen großen See verwandelt, den die Autos wie Motorboote durchpflügten.
Polina fror. Sie war bis auf die Unterwäsche nass und sehnte sich nach einer heißen Dusche. Vielleicht war Jacky zu Hause und konnte ihr inzwischen eine große Tasse Melissentee aufbrühen. Allein der Gedanke daran hob ihre Stimmung.
Ihre Wohnung lag im dritten Stock eines alten Brownstonehauses mit den ikonischen Außentreppen. Im Erdgeschoss war eine Pizzeria untergebracht. Die Rollläden waren heruntergelassen, denn die Besitzer, ein älteres Ehepaar, machten zwei Wochen Urlaub in Kalabrien.
Das Licht im Treppenhaus funktionierte nicht. Polina schaltete das Flashlight ihres Smartphones an, denn manchmal stellten die Mieter ihren Abfall einfach vor die Tür.
Als sie die Wohnung betrat, schlug ihr wohltuende Wärme entgegen.
»Jacky? Bist du da?«
Keine Antwort. Zur Sicherheit warf sie einen schnellen Blick in Jackys Zimmer. Es war leer.
Das war nicht ungewöhnlich, denn neben ihrem Studium hatte Jacky noch zwei Jobs, und oft genug kam sie nur zum Schlafen in die gemeinsame Wohnung.
Eilig schälte sich Polina aus ihren nassen Sachen und drehte die Dusche auf. Sie schloss die Augen und überließ sich die nächsten Minuten der belebenden Wirkung des heißen Wasserstrahls.
Als sie später in der Küche saß, die Hände um eine große Tasse grünen Tee gelegt, war sie vollends davon überzeugt, dass der Anruf ihrer Freundin harmlos war. Dass er lediglich ihre schrecklichen Erinnerungen getriggert hatte, die bei ihr wiederum eine starke Reaktion ausgelöst hatten.
Trotzdem blieb die Frage, wo Jacky steckte. Denn eigentlich hatten sie sich für heute Abend verabredet, um die letzten Details ihrer geplanten Reise nach New Mexiko zu klären. Für übermorgen waren die Flüge gebucht, und auf ihrer To-do-Liste gab es noch eine Reihe offener Posten, die bis dahin erledigt werden mussten.
Noch ein letztes Mal versuchte sie, Jacky zu erreichen. Auch diesmal vergeblich. Und ganz allmählich wurde aus der Sorge um ihre Freundin Ärger über ihre Unzuverlässigkeit.
Denn es war nicht das erste Mal, dass sie Polina versetzte. Ganz im Gegenteil. Jacky neigte zu spontanen Planänderungen. Und ob sie dadurch andere Menschen vor den Kopf stieß, kümmerte sie herzlich wenig.
Angestrengt überlegte sie, ob Jacky irgendetwas über diesen Abend gesagt hatte. Ob sie verabredet war. Einen wichtigen Termin hatte. Schließlich hatte sie sogar ihre heilige Yogastunde sausen lassen.
So sehr sie sich das Hirn zermarterte, ihr fiel nichts ein. Offenbar hatte sie es schlicht und einfach mit der typischen Schusseligkeit ihrer Freundin zu tun, die ihre Verabredung wieder mal verpennt hatte.
Sie nahm ihre Tasse und ging damit in Jackys Zimmer. Vielleicht fand sie ja hier einen Hinweis darauf, wo ihre Mitbewohnerin den heutigen Abend verbrachte.
Ordnung gehörte eindeutig nicht zum Lebenskonzept von Jacky Parchman. Auf dem ungemachten Bett lagen Haarbänder, Kopfhörer, ein Tischkalender, zwei Parfümflacons und ein Ladegerät fürs Smartphone. Hosen, Pullis, Poloshirts, Socken in allen Farben des Regenbogens und einzelne Schuhe waren überall im Zimmer verteilt.
Und Jackys Plüschtierarmee, die mehr als hundert Mitglieder zählte.
Polina räumte sich einen Platz auf dem Bett frei und griff nach dem Kalender. Die aktuelle Woche war aufgeschlagen, unter dem heutigen Montag fand sie den Eintrag.
20 Uhr, Melina/Jacke, 455 West 47 Street.
Automatisch warf sie einen Blick auf die Uhr. 22:51 Uhr. Also war Jacky vor gut drei Stunden dort gewesen. Sie brauchte noch eine warme Jacke, denn in Pueblo Bonito konnte es im November schon sehr kühl sein, besonders in der Nacht.