6,99 €
Sammelband 12: Fünf actiongeladene Fälle und über 300 Seiten Spannung zum Sparpreis!
G-Man Jerry Cotton hat dem organisierten Verbrechen den Krieg erklärt! Von New York aus jagt der sympathische FBI-Agent Gangster und das organisierte Verbrechen, und schreckt dabei vor nichts zurück!
Damit ist er überaus erfolgreich: Mit über 3000 gelösten Fällen und einer Gesamtauflage von über 850 Millionen Exemplaren zählt er unbestritten zu den erfolgreichsten und bekanntesten internationalen Krimihelden überhaupt! Und er hat noch längst nicht vor, in Rente zu gehen!
In diesem Sammelband sind 5 Krimis um den "besten Mann beim FBI" enthalten:
2835: Mexikanische Scharade
2836: Ein Teil von dir gehört mir
2837: Hinter dem Schleier des Todes
2838: Nichts geht mehr!
2839: Mit besten Grüßen aus Neapel
Jerry Cotton ist Kult - und das nicht nur wegen seines roten Jaguars E-Type.
Jetzt herunterladen und garantiert nicht langweilen!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 673
Veröffentlichungsjahr: 2019
Jerry Cotton
Jerry Cotton Sammelband 12 - Krimi-Serie
Cover
Impressum
Mexikanische Scharade
Vorschau
Mexikanische Scharade
Es war ein schöner Vormittag im Spätsommer. Im Saint Nicolas Park in Harlem fand an diesem Tag ein Sommerfest statt, zu dem Tausende von Menschen erwartet wurden. Die Vorbereitungen liefen auf vollen Touren und die ersten Gäste waren bereits eingetroffen.
»Schneller, Daddy, schneller«, rief das kleine Mädchen im Wagen aufgeregt.
Sie hatte kurze Rastalocken, die gut zu ihrer kaffeebraunen Haut passten.
»Daddy holt sich nur schnell noch ein paar Zigaretten, dann suchen wir uns einen Parkplatz«, sagte ihr Vater, Henry Nolan III. Er stoppte den Geländewagen, zog die Handbremse an und stieg aus.
»Sally, du bist schön brav und wartest im Wagen, dann bringe ich dir auch was mit«, sagte er zu seiner Tochter und schloss dann die Tür.
Nolan ging in den Shop, um sich Zigaretten zu holen. Es war eines seiner kleinen Laster, von denen er einfach nicht lassen konnte. Er wusste, dass es in gewissem Maße eine Sucht war, aber es war eben auch angenehm.
Nachdem er seine Lieblingsmarke gefunden hatte, ging er zum Kassierer und bezahlte.
»Einen schönen Tag«, wünschte der Mann an der Kasse und gab ihm sein Wechselgeld.
Henry Nolan III. steckte die Packung ein und ging zum Ausgang. Von hier aus konnte er den Saint Nicolas Park in der Ferne bereits sehen.
Gerade als er einen Schritt aus dem Geschäft machen wollte, ertönte ein lauter Knall und er wurde von einer Druckwelle nach hinten geworfen. Wie in Zeitlupe nahm er wahr, wie andere Leute ebenfalls umfielen, und er hörte Scheiben zerbersten. Alle möglichen Dinge flogen durch die Luft, Glassplitter, Staub, Papiere und so weiter.
Unsanft landete er auf dem harten Steinboden. Einen Augenblick lang wusste er nicht, was geschehen war. Er spürte nur den dröhnenden Schmerz an seinem Hinterkopf und merkte, dass er blutete. Noch halb bewusstlos richtete er sich langsam auf und schaute sich um. Ihm bot sich ein Bild der Verwüstung. Der Shop, in dem er sich befand, glich einem Schlachtfeld. Nichts stand mehr dort, wo es sich vorher befunden hatte. Die Fensterscheiben waren entweder ganz oder teilweise zerborsten. Und überall lagen Menschen herum.
»Sally!«, stieß er hervor.
Er humpelte zu seinem Wagen, um zu sehen, ob seiner Tochter etwas geschehen war. Von außen schien der Wagen fast unbeschädigt, abgesehen davon, dass sich irgendwelche Trümmer von etwas, das er nicht identifizieren konnte, in die Windschutzscheibe gebohrt hatten. Er öffnete die hintere Wagentür und schaute nach seiner Tochter. Sie kauerte am Boden des Rücksitzes und blickte ihn ängstlich an.
»Daddy!«, sagte sie weinend, stand auf und sprang in seine Arme. »Was war das?«
»Ist mit dir alles in Ordnung?«, wollte er wissen.
»Ich habe mich erschreckt«, sagte sie und fühlte das Blut, das an seinem Hinterkopf herunterlief. »Was ist mit dir?«
»Mit mir ist alles okay, kein Problem, Kleines«, sagte er und zwang sich zu lächeln.
Auch wenn er noch nicht vollständig realisiert hatte, was geschehen war, war er dennoch froh, dass sie angehalten hatten, um Zigaretten zu kaufen. Das hatte ihm und seiner Tochter vermutlich das Leben gerettet.
***
Als wir die weitläufige Absperrung rund um den Saint Nicolas Park erreicht hatten, sahen wir eine riesige Menschenmenge, die sich dort versammelt hatte. Anwohner, Passanten, Schaulustige und Reporter versperrten uns und den Rettungskräften den Weg. Fast jeder hatte einen Fotoapparat, eine Videokamera oder ein Handy in der Hand und versuchte, Aufnahmen zu machen.
Ich parkte den Jaguar, dann stiegen Phil und ich aus.
Schon von hier aus konnte man die Schäden der Explosion erkennen. An vielen Häusern waren die Fensterscheiben zerbrochen, die Reklameschilder einiger Geschäfte hingen zerstört herunter.
»Das ist ein düsterer Tag für New York«, sagte Phil ernst.
Er brachte nur das zum Ausdruck, was ich auch empfand. Die Explosion, deren Ursache noch ungeklärt war, hatte die Gegend um den Saint Nicolas Park herum verwüstet, und das in Harlem, dem Farbigen-Viertel von New York, wo heute ein Sommerfest stattfinden sollte.
Wir drängten uns durch die im Weg stehenden Menschenmassen und erreichten die Absperrung.
»Halt!«, sagte ein Cop des NYPD bestimmt, als wir unter der Absperrung durchgehen wollten.
Phil zeigte ihm seine Marke. »Cotton und Decker, FBI«, sagte er.
Der Cop nickte. »Gut, kommen Sie durch.«
Jetzt konnten wir die Katastrophe in ihrem ganzen Umfang erkennen. Es sah aus wie nach einem Luftangriff. Gebäude waren beschädigt, Äste von den Bäumen gerissen worden, Autos standen kreuz und quer, und dazwischen lagen Menschen, die teilweise von Sanitätern versorgt wurden. Es roch unangenehm nach verbranntem Fleisch. Ich hoffte nur, dass es nicht zu viele Opfer gegeben hatte.
Ein paar Meter weiter sah ich Dr. Gassettes stehen, die geschockt auf die Szenerie blickte.
Als sie uns kommen sah, sagte sie: »Ich kann es kaum glauben. Eigentlich wollte ich heute freinehmen, um mit meinen Neffen zum Sommerfest zu gehen. Zum Glück ist ein Kollege krank geworden und ich musste für ihn einspringen. Wer weiß, was sonst passiert wäre.«
Sie war den Tränen nahe. Ich konnte sehen, dass es für sie enorme Anstrengung bedeutete, sich unter Kontrolle zu halten. Und das bei einer Frau wie ihr, die bei ihrem Job als Forensikerin schon eine Menge üble Sachen gesehen hatte.
»Ich hoffe, deine Neffen waren noch nicht hier, als es geschehen ist«, sagte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, sie haben mal wieder herumgetrödelt. Ich habe sofort angerufen, als ich gehört habe, was geschehen ist. Das hat mir einen gehörigen Schreck eingejagt.«
»Das kann ich gut verstehen«, sagte ich. »Der Schock lähmt einen in gewisser Weise, weil es schon geschehen ist und man nichts mehr tun kann.«
Sie schaute mich mit ihren dunklen Augen und einem zornigen Blick an. »Jerry, versprich mir, dass ihr die Typen findet, die dafür verantwortlich sind, und sie ihrer gerechten Strafe zuführt!«
Ich nickte. »Ja, das werden wir!«
Joe Brandenburg kam aus der Richtung des Zentrums der Explosion auf uns zu. Er war schneller vor Ort gewesen als Phil und ich.
»Jerry, Phil«, grüßte er uns.
»Hallo Joe«, erwiderte ich. »Das sieht ziemlich heftig aus.«
Er nickte und schaute ernst drein. »Bis jetzt haben wir fünf Leichen gefunden. Und es werden wahrscheinlich noch mehr sein.«
Einen Augenblick lang schwiegen wir alle. Das war keine gute Nachricht.
»Ist die Quelle der Explosion schon lokalisiert worden?«, brach Phil das Schweigen.
Joe schaute ihn an. »Ja, es war eine Autobombe. Die Jungs vom Sprengstoffkommando nehmen das Gestell gerade unter die Lupe. Über die genaue Zusammensetzung des Sprengstoffs oder die Art des Zünders habe ich noch nichts erfahren. Bin auch gerade erst angekommen.«
»Wir sehen uns die Sache mal aus der Nähe an«, sagte ich und schaute kurz zu Phil hinüber.
Zusammen gingen wir los. Je näher wir dem Auto kamen, umso heftiger waren die Spuren der Verwüstung.
»Und das bei einem Sommerfest, zu dem vor allem Familien und Kinder kommen! Die Typen sollten sich schämen!«, stieß Phil aus.
Als wir das Zentrum der Explosion erreicht hatten, sprach ich einen der Männer des Sprengstoffkommandos an. »Wer hat hier das Sagen?«
»Ich, James Rowland«, antwortete ein kräftiger Mann von etwa 1,90 Meter Größe und kam auf uns zu. »FBI?«
Ich nickte. »Decker und Cotton«, stellte ich uns kurz vor. »Wir haben von unserem Kollegen Joe Brandenburg gehört, dass es eine Autobombe war. Haben Sie schon weitere Details herausgefunden?«
Er hob ein ziemlich verkohltes Teil hoch. »Das hier ist der Zünder. Zeitzünder. Wenn wir uns das Ding im Labor vornehmen, können wir vielleicht herausfinden, wann er eingestellt wurde. Der Sprengstoff selbst – das war C4. Könnte beides aus militärischen Quellen kommen, ist wahrscheinlich unser eigenes Zeug. Das war keine selbstgebastelte Bombe aus irgendwelchen Düngemitteln, sondern hochwertiges Material made in USA.«
»Das hört sich nicht gut an«, meinte Phil.
»Ganz und gar nicht«, bestätigte Rowland. »Wir haben es hier mit Profis zu tun, und wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass sie bei uns ausgebildet wurden.«
»Ich hätte eigentlich mehr auf den Nahen Osten getippt«, sagte ich.
»Wäre natürlich möglich«, sagte Rowland. »War auch nur eine Vermutung von mir. Vielleicht finden die im Labor ein paar Fingerabdrücke und können den Bombenbauer identifizieren.«
»Ja, wir brauchen so viele Fakten wie möglich, dann stehen die Chancen, die Täter zu identifizieren und zu fassen, besser«, sagte ich.
Zusammen mit Phil schaute ich mir den Tatort genauer an. Wir sprachen auch mit den ersten Cops, die vor Ort angekommen waren, und natürlich mit Augenzeugen, die die Explosion miterlebt hatten. So konnten wir uns ein Bild machen. Zum Glück hatte das Sommerfest noch nicht angefangen. Es war kurzfristig um eine Stunde verschoben worden.
***
Nach dem Abschluss der ersten Ermittlungen vor Ort fuhren Phil und ich zurück ins FBI-Gebäude an der Federal Plaza. Dort angekommen gingen wir direkt zum Büro von Mr High.
Dort war der Teufel los. Helen saß am Telefon und nickte nur kurz zur Begrüßung, als sie uns kommen sah. Im Büro von Mr High saßen mehrere Agents, unter anderem Steve Dillaggio, Zeerookah, Sarah Hunter und Blair Duvall. Der Chef selbst telefonierte gerade.
Da alle Stühle besetzt waren, lehnte sich Phil, nachdem er die anwesenden Agents begrüßt hatte, an die Wand. Ich tat es ihm gleich.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte Mr High, nachdem er den Telefonhörer aufgelegt hat. »Sie wissen alle, was vor wenigen Stunden in Harlem geschehen ist. Wir bilden zusammen mit anderen Ermittlungsbehörden eine Task Force, um den Anschlag zu untersuchen und die Schuldigen festzunehmen.«
Alle im Raum nickten zustimmend.
»Haben wir schon irgendwelche Hinweise auf die Täter?«, fragte ich.
»Leider nein«, antwortete Mr High. »Bei einem solchen Anschlag würde man normalerweise ein Bekennerschreiben erwarten. Aber bisher haben wir nichts erhalten.«
»Sir, Sie sollten den Fernseher einschalten, Channel Eight«, sagte Helen, die aufgeregt ins Büro gekommen war.
Mr High schaltete das Gerät ein. Es war ein Mann von etwa fünfzig Jahren mit mittelblondem Haar und einigen grauen Strähnen zu erkennen, der eine Rede hielt. Hinter ihm wehte die amerikanische Flagge im Wind.
»… war dies nur der erste Schlag gegen die schleichende Machtergreifung der farbigen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten. Während aktuell noch 74 Prozent der Amerikaner europäischer Herkunft sind, nimmt dieser Wert ständig ab. Der von afrikanischen Sklaven abstammende Anteil beträgt bereits 13 Prozent der Bevölkerung. Hinzu kommen noch viele Asiaten und illegale Einwanderer aus Mittel- und Südamerika. Wir von White USA haben die Gefahr erkannt und stellen der Regierung hiermit ein Ultimatum. Wir fordern sie auf zu handeln und Amerika wieder den Amerikanern zurückzugeben. Den wahrhaftigen Amerikanern. Denn es ist unser Amerika: die Heimat der Mutigen und das Land der Freien.«
Er hielt die Hand aufs Herz und stimmte die Nationalhymne an.
Dann wurde die Übertragung unterbrochen und eine Nachrichtensprecherin meldete sich zu Wort. »Das war Billy Noah Smith, der Führer von White USA, einer rassistischen Bewegung, die Amerika wieder den Weißen zurückgeben will. Nach diesem Bekenntnis zum heutigen Anschlag in Harlem, bei dem nach neuesten Informationen acht Menschen den Tod fanden und vierundvierzig teilweise schwer verletzt wurden, werden sämtliche Strafverfolgungsbehörden des Landes hinter Smith und seinen Anhängern her sein.«
Mr High schaltete den Fernseher aus. Einen Augenblick lang war es absolut still.
Dann brach der Assistant Director das Schweigen. »Damit hätten wir wahrscheinlich schon die Gruppe hinter dieser verachtenswerten Tat. Steve, besorgen Sie bitte das Original-Video, das Channel Eight erhalten hat. Zeery, Sie bleiben mit Joe, Les und den anderen Leuten am Tatort in Verbindung und sorgen dafür, dass Sie alles erhalten, was Sie brauchen. Jerry, Phil, Sie finden alles über diesen Billy Noah Smith und White USA heraus. Die anderen bleiben hier. In einer Stunde treffen wir uns für die nächste Lagebesprechung.«
***
Steve und Zeery standen auf und verließen das Büro, ebenso Phil und ich.
»Ein rassistisch motivierter Anschlag«, dachte Zeery laut. »Der Typ sollte sich mal daran erinnern, wer zuerst in den USA gelebt hat, lange bevor die weißen Europäer hierherkamen. Auch wenn die Native Americans nur noch etwa ein Prozent der amerikanischen Einwohner darstellen.«
Ich konnte Zeery gut verstehen. Aufgrund seiner indianischen Abstammung waren ihm Diskriminierung und Rassismus nicht fremd.
»Wir schnappen die Kerle und sorgen dafür, dass sie nie wieder die Gelegenheit zu solch einer Tat haben«, sagte ich und folgte Phil in unser Büro.
»Wo fangen wir an?«, fragte Phil und zog sein Sakko aus.
Ich setzte mich. »Schauen wir mal, was das National Crime Information Center über Billy Noah Smith gespeichert hat. So wie der drauf ist, hat er bestimmt vorher schon Probleme mit dem Gesetz gehabt.«
Phil loggte sich in seinen Computer ein und machte sich auf die Suche. Es dauerte länger, als ich erwartet hätte.
»Nein, über ihn ist nichts gespeichert. Scheint eine reine Weste zu haben – beziehungsweise bisher gehabt zu haben. Nach dem, was heute geschehen ist, sieht das natürlich anders aus.«
Ich schaute Phil ungläubig an. »Wirklich nichts? Das überrascht mich jetzt aber. Und wie sieht es mit White USA aus?«
»Im NCIC ist nichts darüber zu finden. Wohl aber im Internet. Die haben eine eigene Homepage – was in der heutigen Zeit scheinbar sogar für Terroristen üblich ist.«
»Lass mal sehen«, sagte ich und rutschte mit meinem Stuhl neben Phil und schaute auf den Monitor. »Die haben ja ganz schön schräge Vorstellungen.«
Die Seite war gepflastert mit rassistischen Parolen und Aussagen, die definitiv gegen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verstießen. Von wegen, jeder hatte das Recht auf Arbeit, Bildung, Familie etc. Diese Rechte standen gemäß den Vorstellungen von White USA nur weißen Amerikanern zu. Die schwarzen Amerikaner wurden als Krake dargestellt, die mit böser Absicht die ehrlichen Weißen im Griff hielt. Latinos und Asiaten wurden als minderwertig und verschlagen bezeichnet.
Auch wenn sich die Aussagen vor allem gegen all jene Bürger der USA richteten, die nicht weiß waren, war klar, was das Endziel der Bewegung war: die Beseitigung aller anderen Rassen! Eine absolut menschenverachtende Vorstellung.
»Die Typen denken wohl, dass sich ihnen viele Amerikaner anschließen werden«, bemerkte Phil.
»Das ist wohl die sekundäre Gefahr, die von dieser Gruppe ausgeht«, sagte ich. »Schlimmer ist die Gewalt, vor der sie, wie sie heute bewiesen haben, nicht zurückschrecken. Je schneller wir diesen Typen das Handwerk legen, desto besser.«
Phil druckte die Inhalte der Website aus und suchte weiter nach Hinweisen auf Billy Noah Smith.
»Hier ist was«, sagte er schließlich. »Es geht weniger um ihn als um seinen Vater. Die Familie Smith hat in Eagleton Village südlich von Knoxville in Tennessee gelebt. Zumindest bis der Vater bei einem Autounfall ums Leben kam. Der alte Herr war für seine rassistischen Äußerungen bekannt und dafür sogar ein paar Mal verklagt worden. Allerdings kam es wohl nie zu einem Schuldspruch. Offenbar waren ihm die Richter wohlgesonnen. Jedenfalls starb er vor drei Jahren bei einem Autounfall. Und rate mal, wer der Fahrer des Wagens war, durch den Smith senior ums Leben kam: ein schwarzer Amerikaner namens Edward Laundry.«
»Vielleicht gab das bei Billy Noah Smith den Ausschlag, mit Gewalt gegen Schwarze vorzugehen«, sagte ich. »Dazu würde Harlem als Ziel passen.«
Phil suchte weiter und fand noch ein paar interessante Details. »Du hast recht, White USA wurde vor knapp drei Jahren gegründet. Und heute ist der dritte Todestag seines Vaters.«
»So viel dazu«, sagte ich ernst.
Wir fanden noch weitere Details heraus. Unter anderem, dass er einen Bruder namens John Bob Smith hatte, der in Mexiko im Gefängnis saß. Er hatte versucht, Drogen über die Grenze zu schmuggeln, und war erwischt worden. Das hatte ihm vier Jahre eingebracht, von denen er erst ein paar Monate abgesessen hatte.
Wie von Mr High angeordnet, fanden wir uns anschließend zu einer weiteren Lagebesprechung in seinem Büro ein. Nachdem zwei andere Agents ihren Bericht vorgetragen hatten, waren Phil und ich an der Reihe. Wir führten die Fakten auf, die wir ermittelt hatten.
Mr High schaute sich in der Runde um, nachdem wir unser Briefing beendet hatten. »Jetzt wissen wir also, wer hinter dem Anschlag steckt und was seine Motivation ist. Ich muss Ihnen wohl nicht sagen, wie ernst die Situation ist. Billy Noah Smith wurde vom Präsidenten offiziell zum Staatsfeind Nummer eins erklärt. Und es ist unsere Aufgabe, ihn zu fassen, damit er für seine Taten vor Gericht gestellt werden kann.«
»Wir sollten Edward Laundry, den Mann, der den Vater von Smith überfahren hat, entweder in Schutzhaft nehmen oder beschatten. Vielleicht taucht Smith bei ihm auf, um sich zu rächen«, sagte Sarah Hunter.
»Guter Vorschlag, kümmern Sie sich darum«, gab Mr High die Anweisung.
Anschließend wurde die weitere Vorgehensweise besprochen und allen Agents wurden Aufgaben zugewiesen. Die nationalen Ermittlungen wurden von der FBI-Zentrale in Washington koordiniert, während wir für New York zuständig waren. Der gesamte Polizeiapparat des Landes wurde in die Ermittlungen eingebunden. Wir waren sicher, die Drahtzieher des Anschlags bald zu fassen.
***
Zwei Tage waren vergangen, ohne dass das FBI irgendwelche Fahndungserfolge vorzuweisen hatte. Eagleton Village, der frühere Wohnort der Familie Smith, war auf den Kopf gestellt worden – ohne Ergebnis. Und was Edward Laundry betraf – er war vor einer Woche überfahren worden. Die Zeugenaussagen wiesen darauf hin, dass es kein Unfall war, sondern der Fahrer absichtlich auf ihn zugefahren war. Damit war klar, dass Billy Noah Smith seine Rache bereits bekommen hatte. Zwar wurden mehrere mutmaßliche Mitglieder von White USA verhaftet, doch konnte nicht bewiesen werden, dass sie mit dem Bombenanschlag in Verbindung standen. Selbst die Echelon-Überwachung aller Telefongespräche führte uns nicht zu Smith. Offenbar kannte er sich mit elektronischer Überwachung aus. Wie sich herausstellte, war er früher Mitglied der Streitkräfte gewesen und hatte in verschiedenen Waffengattungen gedient. Wir hatten ihn wohl unterschätzt.
Was die Brisanz der Situation noch verstärkte, war die Tatsache, dass White USA einen weiteren Anschlag ankündigte, wenn die Regierung der Vereinigten Staaten nicht innerhalb einer Woche neue Rassengesetze verabschiedete.
Unser Gegner hatte nach wie vor die Kontrolle und entzog sich unserem Zugriff. Das führte zur Entwicklung eines Planes, der mich fast das Leben kosten sollte.
***
Es war vier Tage her, dass sich das Leben der New Yorker Bürger durch den Bombenanschlag von Grund auf geändert hatte. Viele Leute hielten sich, sofern möglich, von öffentlichen Plätzen fern. Für Bahnhöfe, U-Bahn-Stationen und Flughäfen wurden die Sicherheitsvorkehrungen enorm verschärft. Die Cops des NYPD absolvierten Doppelschichten und das gesamte FBI befand sich in Alarmbereitschaft. Im Urlaub und auf Weiterbildung befindliche Agents wurden zum Dienst zurückgerufen. Alles, um einen weiteren Anschlag zu verhindern.
Dabei war den Verantwortlichen klar, dass es keine wirkliche Sicherheit geben konnte, bis die Drahtzieher des »Harlem-Anschlags«, wie er überall genannt wurde, gefasst waren. Unser Gegner war zwar in der Minderheit, hatte aber aufgrund des Überraschungseffekts und der Tatsache, dass er aus dem Verborgenen heraus operierte, mehr Vorteile auf seiner Seite.
Es dämmerte schon, als Mr High Sarah Hunter, Phil und mich zu sich ins Büro rief.
»Sie wollten uns sprechen?«, fragte ich, während ich die Tür hinter mir schloss.
Die anderen beiden saßen bereits.
»Ja, in einer dringenden und heiklen Angelegenheit«, antwortete er und deutete auf einen freien Stuhl.
Ich nahm Platz und sperrte die Ohren auf.
»Die Lage ist recht angespannt«, berichtete Mr High. »Die Presse spielt verrückt, hetzt die verschiedenen Bevölkerungsgruppen teilweise gegeneinander auf, und sämtliche Polizeikräfte des Landes arbeiten auf Hochtouren, um Billy Noah Smith und seine Leute ausfindig zu machen. Bisher ohne Erfolg.«
Er holte tief Luft. »Während alle laufenden Ermittlungsaktionen fortgesetzt werden, soll gemäß Anweisung der FBI-Zentrale ein Undercover-Sondereinsatz durchgeführt werden, um den Aufenthaltsort von Smith herauszufinden. Eine Schwachstelle, die er hat, und ein Punkt, an dem man ansetzen kann, ist sein Bruder, John Bob Smith.«
»Der in Mexiko im Gefängnis sitzt«, bemerkte Phil.
»Richtig«, bestätigte Mr High. »Genauer gesagt im Matamoros-Gefängnis im Norden von Mexiko, unweit der Grenze zur USA. Wir gehen davon aus, dass er weiß, wo sich sein Bruder befindet.«
»Wobei er den Aufenthaltsort sicher nicht ohne Weiteres preisgeben wird«, merkte ich an.
»Das ist richtig«, sagte Mr High. »Daher muss jemand sein Vertrauen gewinnen und ihn dazu bringen, den Aufenthaltsort zu nennen.«
Er schaute mich an. Mir war klar, was das zu bedeuten hatte.
»Da wir drei hier sitzen, nehme ich an, dass wir auserwählt wurden, diesen besonderen Einsatz durchzuführen«, sagte ich.
Mr High nickte. »Das ist richtig. Wobei ich darauf hinweise, dass es sich um einen freiwilligen Einsatz handelt, der mit einem enorm hohen Risiko verbunden ist.«
»Was ihn für uns besonders attraktiv macht«, sagte Phil.
»Absolut«, fügte Sarah hinzu. »Wie genau sieht der Plan aus?«
Mr High räusperte sich. »Da sich John Bob Smith im Gefängnis befindet, muss entweder Jerry oder Phil als Gefangener Kontakt zu ihm aufnehmen. Der Einsatz ist zwar mit dem State Department und dem mexikanischen Innenministerium koordiniert, aber von den Wärtern des Zuchthauses weiß niemand Bescheid. Wer auch immer sich dort einliefern lässt, wird wie jeder andere Insasse behandelt. Und die Zustände im Gefängnis Matamoros sind nicht mit denen in amerikanischen Gefängnissen zu vergleichen. In keinster Weise. Das Risiko ist also hoch.«
»Ich mache es!«, stieß ich aus, bevor Phil etwas sagen konnte, und schaute ihn an. »Diesbezüglich gibt es keine Diskussion. Ich gehe in das Gefängnis und besorge die benötigten Informationen!«
Es war eine Entscheidung, die ich blitzschnell fällte, ohne groß darüber nachzudenken. Es war etwas, das getan werden musste, und ich war bereit, es zu tun und die damit verbundenen Konsequenzen zu tragen. So etwas wie in Harlem durfte sich einfach nicht wiederholen!
Phil nickte. »Na gut, dann gebe ich die Rückendeckung – so gut es in der gegebenen Situation möglich ist.«
»Die Zentrale in Washington hat schon ein detailliertes Szenario erarbeitet«, sagte Mr High und verteilte drei Mappen an uns. »Jerry wird als Jerry Doyle eine Schlägerei in einer Bar im Einzugsbereich des Gefängnisses anfangen und lässt sich festnehmen. Er hat genug Drogen bei sich, um zu einer mehrjährigen Haftstrafe im Matamoros-Gefängnis verurteilt zu werden. Im Gefängnis freundet er sich mit John Bob Smith an und arrangiert eine gemeinsame Flucht. Da Jerry nicht mehr in Mexiko bleiben kann, gehen beide über die Grenze, zurück in die USA. Aufgrund eines offenen Haftbefehls will Jerry Doyle untertauchen und ist daher auf die Hilfe von John Bob angewiesen, der ihn, wenn alles gut geht, mit zum Versteck seines Bruders nimmt. Ein weiterer Aspekt ist, dass Jerry ebenso rassistische Einstellungen zur Schau stellt wie die Brüder Smith, sodass er vielleicht als Mitglied von White USA angeworben wird.«
»Das hört sich in der Theorie ganz leicht an«, dachte ich laut. »In der Praxis kommen aber viele unwägbare Variablen hinzu, die das Ganze verkomplizieren können.«
»Welche Aufgabe kommt mir zu?«, fragte Sarah.
Mr High schaute sie an. »Als Sarah Doyle und Ehefrau von Jerry Doyle besuchen Sie ihn im Gefängnis und sind dabei für den Informationsaustausch zuständig. Sie können ihn auch mit Geld und anderen benötigten Dingen versorgen. Phil mimt Phil Parker, Ihren Bruder, und ist als Verstärkung vor Ort. Dieser Teil von Mexiko ist nicht ganz ungefährlich. In Matamoros liefern sich Drogenkartelle heftige Kämpfe. Sie begeben sich mitten in den Schmelztiegel der amerikanisch-mexikanischen Drogenconnections.«
»Alles klar«, sagte Sarah.
»Und was ist, wenn der Ausbruch schiefgeht?«, fragte Phil. »Muss Jerry dann die Strafe absitzen?«
»Wenn der Einsatz schiefgeht, kontaktieren wir über das State Department das mexikanische Innenministerium und klären die Angelegenheit. Ich weise aber noch mal darauf hin, dass das FBI in Mexiko keine Amtsbefugnis hat. Das bedeutet: keine Dienstwaffen, keine FBI-Ausweise, keine polizeilichen Rechte! Die Gesetze des Landes sind zu befolgen.«
Phil schaute mürrisch drein. »Keine Dienstwaffe?«
»Wir werden Ersatz zur Verfügung stellen«, beschwichtigte ihn Mr High. »Aber wenn Sie in Mexiko auf jemanden schießen, dann ist das rein rechtlich eine andere Situation, als wenn es hier in den USA als FBI-Agent geschieht.«
»Ich passe schon auf Phil auf«, sagte Sarah und lächelte Phil an.
»Dann wollen wir die Details durchsprechen und alle Fragen klären«, sagte Mr High und öffnete die Akte, die vor ihm lag.
Es dauerte gut zwei Stunden, den Plan in allen Einzelheiten durchzugehen. Es gab viele Punkte, die den ganzen Einsatz zum Scheitern bringen konnten, und diese mussten natürlich entsprechend behandelt werden. Die Zentrale in Washington hatte bei den Vorbereitungen gute Arbeit geleistet. Im Matamoros-Gefängnis befand sich kein Insasse, der einen von uns kannte. Das war geprüft worden. Wichtig war auch der Fluchtplan. Uns lag ein genauer Grundriss des Gefängnisses vor, den ich mir einprägen musste. Auch Sarah und Phil mussten ihren Teil dazu beitragen, die Flucht möglich zu machen.
Nach der Besprechung fuhr ich mit Sarah und Phil ins Mezzogiorno, um noch ein letztes Mal vernünftig zu essen und gewissermaßen von der Zivilisation Abschied zu nehmen. Denn das, was mich im Gefängnis erwarten sollte, würde alles andere als zivilisiert sein.
In der Nacht spielte ich alle möglichen Situationen, die mir einfielen, im Geiste durch, bis ich schließlich einschlief.
***
Am nächsten Tag brachte uns eine Regierungsmaschine vom JFK-Airport nach Texas. Von dort aus wurden wir mit einem Hubschrauber der amerikanischen Grenzpatrouille nach Mexiko geflogen. Seit dem 11. September war es nicht mehr ungewöhnlich, dass die amerikanische Seite bis kurz hinter der mexikanischen Grenze operierte. Das wurde mit der mexikanischen Seite abgestimmt und fiel nicht weiter auf. Damit hatten Jerry und Sarah Doyle sowie Phil Parker mexikanischen Boden unter den Füßen. Wir legten die paar Meilen bis zum nächsten Dorf zu Fuß zurück. Dabei folgten wir der Route, die uns die amerikanische Grenzpatrouille vorgegeben hatte und auf der kein Kontakt mit mexikanischen Federales zu erwarten war.
Im Dorf angekommen kauften wir ein Auto. Sarah handelte den Händler von zehntausend Dollar auf achttausend herunter. Dafür bekamen wir einen nicht mehr ganz neuen Ford Explorer mit Klimaanlage. Das FBI hatte uns mit ausreichend Bargeld versorgt, sodass die Bezahlung kein Problem war.
»Hoffentlich funktioniert die Klimaanlage in einer Stunde auch noch«, meinte Phil, der ein wenig mit der Hitze zu kämpfen hatte. Es waren mehr als 35 Grad im Schatten – auf Dauer eine ziemliche Belastung für den Körper.
Wir legten die 50 Meilen bis nach Matamoros innerhalb einer Stunde zurück. Zwar herrschte nicht viel Verkehr, aber die Landstraße, die wir benutzten, hatte viele Schlaglöcher.
»Hier wäre ein bisschen Entwicklungshilfe angebracht«, sagte Phil.
»Ich mache mir mehr Sorgen um die klimatischen Verhältnisse im Gefängnis«, erwiderte Sarah. »Jerry muss gut in Form bleiben, was bei den Temperaturen nicht so einfach ist.«
»Wenn ich genug Geld habe, sollte es kein Problem sein, ausreichend Wasser zu bekommen«, sagte ich. »Damit sollte ich auch bei der Hitze einigermaßen fit bleiben können.«
»Dann werde ich dich bald besuchen, Schatz«, sagte Sarah lächelnd.
Ein großes Schild am Straßenrand wies darauf hin, dass wir die Stadtgrenze von Matamoros erreicht hatten. Die offizielle Bezeichnung der Stadt lautete Heroica Matamoros. Matamoros mit seinen rund 450.000 Einwohnern war als Sitz des Cartel del Golfo, des Golf-Kartells, bekannt, das neben Drogenhandel auch in den Bereichen der Schutzgelderpressung und Entführung tätig war.
In Matamoros angekommen, nahmen wir uns zwei Zimmer im El Paradiso Hotel: ein Doppelzimmer für Sarah und mich und ein Einzelzimmer für Phil.
»Nicht, dass du auf dumme Gedanken kommst«, scherzte Phil, als Sarah und ich in unser Zimmer verschwanden.
»Dafür habe ich sicherlich keine Zeit«, sagte ich zu ihm.
Sarah lächelte nur. Sie war ein Profi und wusste, dass ich sie als Partnerin und Kollegin schätzte.
»Ich lege mich ein wenig hin, in drei Stunden gehe ich los«, sagte ich zu ihr.
»Gut, ich dusche eben und checke dann mit Phil die Umgebung«, sagte sie.
Zum Schlafen hatte ich nicht die Ruhe, obwohl ich nach den letzten Stunden etwas Ruhe gebrauchen konnte. Meine Gedanken kreisten um den nächsten Teil unseres Planes und all das, was dabei schief gehen konnte. Etwas Glück konnte nicht schaden.
***
Sarah war zurückgekehrt und Phil war auch zu uns ins Zimmer gekommen.
»Es gibt eine kleine Bar, die für unsere Zwecke passend sein könnte«, berichtete er. »Etwas heruntergekommen, mit einigen Gästen und genug Platz für eine ausgiebige Schlägerei. Ist nicht weit vom Hotel entfernt. Man kann sie von unserem Zimmer aus sehen.«
»Ich gehe gleich los«, sagte ich zu den beiden und zog mir eine dunkle Lederjacke über.
»Die wirst du draußen nicht brauchen«, meinte Sarah. »Sieht aber schick aus. Etwas verwegen sogar.«
»Genau das Image, das ich brauche«, sagte ich und lächelte. »Immerhin muss ich wild genug sein, um ins Gefängnis zu kommen. Da ist Leder genau richtig.«
Dann verließ ich das Zimmer, ging den Flur entlang zur Treppe und durch den Eingangsbereich auf die Straße. Sarah hatte recht, in der Sonne war es zu heiß für eine Lederjacke. Ich hoffte, dass die Bar klimatisiert war.
Nachdem ich die Straße überquert hatte, ging ich in die Bar. Sie war tatsächlich klimatisiert. Die Anlage war wohl nicht mehr gut in Schuss, denn sie ratterte laut. Die anwesenden Gäste schien das aber nicht zu stören – wahrscheinlich hatten sie sich schon daran gewöhnt.
Ich musterte die drei Gäste kurz, während ich zur Bar ging. Es waren junge Kerle, mögliche Gegner für eine Schlägerei. Und dann war da noch der Mann hinter der Bar, ein kleiner, rundlicher Typ von Ende vierzig mit Schnurbart und pechschwarzen Haaren.
»Sie wünschen?«, fragte er in gebrochenem Englisch.
Natürlich hatte er sofort erkannt, dass ein Gringo vor ihm stand.
»Tequila!«, sagte ich und warf ein paar Geldscheine auf den Tresen.
Er drehte sich um, nahm ein Glas und eine halbvolle Flasche Tequila und goss ein.
»Die Flasche können Sie gleich hier lassen«, sagte ich und deutete auf die Stelle, wohin er sie stellen sollte.
Er lächelte verkrampft und kam meiner Aufforderung nach. Dann machte er ein paar Schritte zurück und polierte ein paar Gläser, die meiner Meinung nach bereits sauber waren. Offenbar langweilte er sich.
Ich trank das erste Glas auf ex und schüttete nach. Der Tequila brannte in meiner Kehle. Jetzt kam es darauf an, genau einzuschätzen, wie viel ich trinken konnte, ohne wirklich betrunken zu werden. Immerhin wollte ich bei dem Kampf, den ich gleich anstiften wollte, weder schwer verletzt werden noch selbst jemanden ernsthaft verletzen.
Ein paar Minuten später trank ich das zweite Glas auf ex. Langsam spürte ich die Wirkung des Alkohols. Zwei Gläser waren aber noch nicht genug. Nach einer kurzen Pause schüttete ich wieder ein und leerte das dritte Glas. Dabei merkte ich, wie mein Körper ein wenig meiner Kontrolle entglitt. Ich verstärkte diese Anzeichen und schwankte etwas herum. Meiner Stimme gab ich einen lallenden Tonfall.
»Das Zeug ist echt heftig«, sagte ich zum Barkeeper. »Möchte wissen, womit ihr das braut. Etwa mit Ziegenpisse?«
Der Barkeeper schaute kurz auf, zeigte aber sonst keine Reaktion. Das hatte ich auch nicht erwartet. In seinem Job war er es gewohnt, wenn jemand über den Durst getrunken hatte und irgendwelchen Mist erzählte. Also musste ich mit der Show weitermachen.
Ein paar junge Mexikaner, die die Bar betraten, kamen mir gerade recht. Sie hatten bestimmt kein so dickes Fell wie der Barkeeper.
Es waren zwei Männer Anfang zwanzig. Sie stellten sich an die Bar, hielten aber Abstand zu mir. Offenbar wollten sie unter sich sein.
Ich wartete, bis sie ein paar Gläser intus hatten, und torkelte dann zu ihnen rüber. »Hallo, Jungs, seid ihr welche von den heldenhaften Mexikanern, die hier die Gegend unsicher machen?«
Die beiden sagten etwas auf Mexikanisch, das ich nicht verstand, und lächelten, kümmerten sich aber sonst nicht um mich.
»Nicht zu antworten, wenn man gefragt wird, ist unhöflich!«, beschwerte ich mich mit lauter werdender Stimme.
Die beiden reagierten immer noch nicht, sondern entfernten sich noch ein paar Schritte von mir.
Ich tat so, als würde ich wütend werden. »Ihr verdammten mexikanischen Schwuchteln, seid zu fein, mit mir zu reden. Das hätte ich mir denken können. Denkt wohl, ihr seid was Besseres. Typisch! Weiß man ja, wenn mehr als zwei Mexikaner irgendwas unternehmen, wird einer zum General. Genau wie dieser Matamoros. Erst war er ein Priester und dann General. Ich wette, der stand auf kleine Jungs!«
»Das nimmst du zurück, Gringo!«, fauchte mich einer der beiden jungen Kerle an.
Offenbar hatte ich endlich einen Nerv getroffen.
»Und wenn nicht?«, fragte ich herausfordernd und torkelte auf ihn zu. »Was willst du dann machen, du halbstarker Romeo? Holst du dann deine Mami?«
Er baute sich vor mir auf und spannte seine Muskeln an. Ich wusste, was das zu bedeuten hatte. Sein Begleiter packte ihn am Arm und wollte ihn zurückhalten, doch er riss sich los. »Na los, Gringo, komm her, wenn du ein Mann bist!«
Seine Augen glühten vor Zorn. Ich hatte ihn genau da, wo ich ihn haben wollte. Mit einer langsamen Bewegung schlug ich nach seinem Kopf. Er wich aus, aber langsamer, als ich es erwartet hätte. Meine Faust streifte seine Stirn leicht und er torkelte zurück.
»Das hättest du nicht erwartet!«, lallte ich und bewegte mich wieder auf ihn zu.
Diesmal schlug er zu. Ich sah die Faust kommen und wich leicht zurück, um nicht zu schwer getroffen zu werden. Trotzdem war der Aufprall in meinem Gesicht ziemlich unangenehm. Ich torkelte zurück, fand mein Gleichgewicht wieder und sprang auf ihn zu, rammte ihm meinen Kopf in die Magengegend. Er brach mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen. Dann kam sein Begleiter und trat mich in die Seite. Ich ließ mich fallen, kam aber relativ schnell wieder auf die Beine.
Der Barkeeper sah sich die Schlägerei mit mildem Interesse an, machte aber keine Anstalten, die Polizei zu rufen. Also schnappte ich mir einen Stuhl, holte aus und verfehlte einen meiner Gegner knapp, woraufhin ich den Stuhl über den Tresen sausen ließ. Er krachte hinter der Bar in die Flaschen. Ein Regal gab nach und es schepperte laut.
Jetzt wurde der Barkeeper wach und schnappte sich ein Telefon. Ich kümmerte mich indes um die beiden Männer, die schwer atmend vor mir standen.
Einer von ihnen zog ein Messer und sagte: »Mach dein Testament, Gringo!«
Er stürzte auf mich zu und ich wich der scharfen Klinge aus, packte seinen Arm und schleuderte ihn durch die Bar. Er knallte vor einen Tisch, an dem ein anderer Gast saß, und fiel zu Boden.
Gerade wollte sich der andere auf mich stürzen, als Polizeisirenen zu hören waren. Die beiden jungen Männer schauten sich an und liefen aus der Bar.
»Hey, wo wollt ihr hin?«, fragte ich und schaute ihnen nach.
Dann torkelte ich zur Bar und nahm auf einem Hocker Platz. Der Barkeeper fluchte laut und giftete mich an. Ich griff nach meinem Glas Tequila, das unversehrt auf dem Tresen stand. Aus den Augenwinkeln sah ich einige mexikanische Polizisten in die Bar kommen. Sie wechselten ein paar Sätze mit dem Barkeeper und packten mich dann von hinten. Ich leistete nicht viel körperlichen Widerstand und ließ mir Handschellen anlegen. Ein merkwürdiges Gefühl überkam mich.
»Viva Mexico!«, rief ich mit alkoholisierter Stimme und wurde abgeführt. Die Polizisten verfrachteten mich auf den Rücksitz eines Wagens, stiegen ein und fuhren los. Ich tat so, als würde ich einschlafen, und sagte während der kurzen Fahrt kein Wort mehr. Auf der Polizeistation angekommen, wurde ich zuerst durchsucht. Ein Polizist versuchte mit mir zu reden, gab es dann aber schnell auf, da ich so tat, als ob ich ihn nicht verstehen würde. Scheinbar hatte er keine Lust, Englisch zu sprechen.
Als dann einer der Polizisten einen durchsichtigen Plastikbeutel mit Marihuana aus meiner Lederjacke fischte, machte er große Augen und schimpfte etwas, das ich wirklich nicht verstand. Ich wurde gepackt und in eine Zelle gesperrt, in der sich nur zwei harte Pritschen, ein Waschbecken und eine Toilette befanden. Aus Letzterer drang ein wenig angenehmer Geruch. Zum Glück war ich der einzige Insasse, sodass ich mich etwas ausruhen und meinem Körper Zeit geben konnte, den Alkohol abzubauen.
Bisher war alles wie am Schnürchen gelaufen.
***
Es war schon dunkel geworden, als ein Mann zu mir in die Zelle gesperrt wurde, ein Mexikaner mit gedrungenem Körperbau und Halbglatze. Er schien betrunken zu sein. Die Polizisten legten ihn auf die andere Pritsche und verließen die Zelle wieder.
»Und was ist mit mir?«, fragte ich, während ich sie durch die Gitterstäbe anschaute.
»Der Richter ist morgen wieder da«, kam die Antwort in gebrochenem Englisch.
Mein neuer Zellengenosse war nicht sehr gesprächig. Er schlief sofort ein und schnarchte wie ein Walross.
Als ich nach einer guten Stunde aufgrund des Lärms immer noch nicht einschlafen konnte, ging ich zu ihm hinüber und versetzte ihm einen sanften Stoß. Er zuckte zusammen, bewegte sich und beendete die Schnarchorgie. Ich legte mich wieder auf meine Pritsche. Doch kaum hatte ich mich umgedreht, legte er wieder los.
»Willkommen in Mexiko«, dachte ich laut.
***
Als die Sonne am nächsten Morgen aufging, wurde ich wach. Es war noch sehr früh, vielleicht fünf oder sechs Uhr. Von Polizisten oder Wärtern keine Spur. Mein Zellengenosse schlief noch. Er hatte wohl ganz schön einen über den Durst getrunken.
Gegen zehn Uhr kam ein Polizist und brachte uns etwas zu essen – Brot, Käse und Wasser. Ich nahm die Hälfte vom Tablett und ließ den Rest stehen.
»Wann werde ich zum Richter geführt?«, fragte ich den Polizisten.
»Wenn es so weit ist«, kam die gelangweilte Antwort.
»Kann ich denn telefonieren? Mit meiner Frau?«, war meine nächste Frage.
Er schien einen Augenblick zu überlegen. »Ich frage nach.«
Dann verließ er den Trakt und kehrte die nächsten drei Stunden nicht zurück.
Gegen Mittag gab es wieder etwas zu essen. Mein Zellengenosse war inzwischen wach geworden, hatte aber noch kein Wort mit mir geredet. Als das Essen kam, wollte er sich das ganze Tablett schnappen. Ein durchdringender Blick von mir ließ ihn das noch mal überdenken. Schließlich entschied er sich dafür, zu teilen. Das ersparte ihm ein paar blaue Flecken und mir die Notwendigkeit klarzustellen, wer der Stärkere war.
Auf meine erneute Frage nach dem Richter und einem Telefonat mit meiner Frau ging der Polizeibeamte nicht ein. Er zuckte einfach mit den Schultern.
»Was dauert da nur so lange?«, fragte ich mich laut.
Mein Zellengenosse schaute auf. »Die Polizei hier arbeitet nicht sehr schnell, Gringo.«
Er sprach ziemlich gutes Englisch, hatte kaum Akzent.
»Dann ist sie nicht viel besser als bei uns«, sagte ich cool.
»Diego Vargas«, sagte mein Gegenüber und reichte mir die Hand.
»Jerry Doyle«, stellte ich mich vor und schlug ein.
»Und warum sitzen Sie hier?«, fragte Vargas mich.
Ich grinste. »Hatte etwas zu viel getrunken. Dann bin ich in eine Schlägerei geraten. Hatte auch etwas zu rauchen dabei. Das hat denen hier nicht besonders gefallen.«
Er nickte. »Ja, mit Drogendealern machen die hier kurzen Prozess.«
»Ich bin kein Drogendealer«, protestierte ich.
»Na, das erspart Ihnen bestimmt ein paar Jahre«, bemerkte Vargas sarkastisch.
»Paar Jahre? Wegen einer Schlägerei und etwas Gras?«, fragte ich ungläubig nach.
»Ja, der Richter hier ist ein ziemlich harter Hund. Will das Kartell aus Matamoros vertreiben. Das ist zwar so gut wie unmöglich, aber bei Drogenangelegenheiten kennt er kein Pardon«, sagte Vargas.
»Verdammter Mist!«, fluchte ich.
Vargas grinste. »Hola Gringo, willkommen in Mexiko!«
Wir unterhielten uns noch eine Zeit lang und ich nutzte die Gelegenheit, meine Tarnung zu proben und nur das zu sagen, was zur Persönlichkeit von Jerry Doyle passte. Vargas selbst war ein Trinker, der ab und zu zur Ausnüchterung in die Zelle gesteckt wurde – sagte er zumindest. Da ich ihn nicht kannte, blieb ich vorsichtig.
Am späten Nachmittag kam ein Polizist und ließ Vargas aus der Zelle. Er verabschiedete sich von mir und wünschte mir viel Glück.
»Und was ist mit meinem Anruf? Meine Frau macht sich bestimmt schon Sorgen!«, sagte ich zum Wärter.
Doch der zuckte wieder nur mit den Schultern und ging schweigend davon.
Das ewige Warten war unangenehm. Ich war es gewohnt, aktiv zu sein und etwas zu tun. Zuerst vertrieb ich mir die Zeit mit etwas Gymnastik und ein paar Dutzend Liegestütz. Dann fiel mir keine sinnvolle Tätigkeit mehr ein.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis schließlich zwei Polizisten auftauchten. Sie kamen in die Zelle, legten mir Handschellen an und führten mich ab. Auf meine Fragen reagierten sie nicht. Ich wurde in einen Wagen gesetzt und zu einem stattlichen Gebäude gefahren – wahrscheinlich das Gericht.
Auf dem Weg zum Gerichtssaal kam uns ein mittelgroßer mexikanischer Mann von etwa vierzig Jahren entgegen, der mich sofort ansprach: »Mister Doyle? Ich bin Julian Ruiz Segura, Ihr Pflichtverteidiger. Ihre Verhandlung fängt gleich an.«
Er sprach gut Englisch.
»Meine Verhandlung? Schön, dass ich das auch mal erfahre«, murrte ich. »Was wird mir eigentlich vorgeworfen?«
Wir setzten uns auf eine Bank im Flur, die beiden Polizisten blieben nur wenige Schritte entfernt stehen.
Mein Anwalt schaute in seine Akten. »Gefährdung der öffentlichen Ordnung, Körperverletzung, Drogenbesitz und Drogenhandel.«
»Und was bedeutet das für mich?«, fragte ich wenig begeistert.
»Schwer zu sagen«, antwortete Segura mit verkniffenem Gesicht. »Der Richter hatte heute keinen guten Tag. Und auf Gringos steht er auch nicht. Also alles in allem würde ich sagen, acht bis zehn Jahre im hiesigen Gefängnis von Matamoros.«
Ich zuckte absichtlich zusammen. »Was? Acht bis zehn Jahre? Das soll ja wohl ein Scherz sein!«
Segura schüttelte den Kopf. »Nein, ganz und gar nicht. Der Richter ist ein ziemlich harter Hund. Bei Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Körperverletzung hätte er vielleicht noch ein Auge zugedrückt. Aber was Drogen angeht – da kennt er kein Pardon. Sein Sohn ist vor ein paar Jahren an einer Überdosis gestorben. Ziemlich üble Sache. Seitdem geht er gegen Drogenvergehen hart vor.«
Ich beruhigte mich ein wenig. »Und da kann man nichts machen? Vielleicht mit Geld oder so? Irgendwelche mildernden Umstände, die wir anführen können?«
»Na ja«, antwortete Segura, »Sie können Reue zeigen und gestehen. Dann könnte ich mit dem Richter etwas aushandeln. Vielleicht drei bis fünf Jahre.«
»Das hört sich immer noch nicht viel besser an«, sagte ich.
»Es ist Ihre Entscheidung«, sagte Segura unbeteiligt. »Ich würde Ihnen raten zu gestehen.«
Einen Moment lang sagte ich gar nichts und tat so, als würde ich überlegen. Natürlich wollte ich verurteilt werden, das war Teil des Planes.
»Na gut, dann werde ich lieber gestehen. Aber ich hoffe, Sie haben recht und ich habe dadurch einen Vorteil«, sagte ich. »Vorher würde ich aber gerne noch mit meiner Frau reden, damit sie erfährt, was hier los ist.«
Segura wollte gerade etwas erwidern, als die Tür zum Gerichtssaal geöffnet wurde.
»Tut mir leid, dazu ist es jetzt zu spät«, sagte er und ging voran.
Ich folgte ihm, flankiert von den beiden Polizisten.
Der Saal war recht leer, es waren nur drei Zuschauer anwesend, dann ein Gerichtsdiener und eine Schreibkraft, und natürlich der Richter selbst, ein Mann von etwa sechzig Jahren mit vollem, hellgrauem Haar. Er sah nicht besonders freundlich aus.
Als wir uns gesetzt hatten, sagte der Richter etwas auf Spanisch. Ich verstand nur meinen Namen, der irgendwo vorkam. Dann meldete sich mein Anwalt und ging nach vorne zum Richter. Die beiden unterhielten sich eine Weile. Ab und zu schauten sie zu mir herüber.
Dann schließlich kam mein Anwalt zurück. »Es ist alles klar. Sie gestehen und bekommen fünf Jahre. Bei guter Führung können Sie dann vielleicht nach drei Jahren entlassen werden.«
»Hoffentlich«, sagte ich. »Aber mir bleibt ja nichts anderes übrig.«
Und so kam es, wie es kommen musste: Ich wurde zu fünf Jahren Haft in Matamoros verurteilt. Mein Anwalt verabschiedete sich, die beiden Polizisten brachten mich aus dem Gericht und überstellten mich direkt zum Gefängnis.
***
Als wir das wenig einladend wirkende, große Gebäude erreichten, beschlich mich ein beklemmendes Gefühl. Es war etwas anderes, als Agent oder als Verurteilter eine solche Einrichtung zu betreten. Darüber hinaus war ein mexikanisches Gefängnis nicht mit einem in den USA zu vergleichen.
Die beiden Polizisten, die mich zum Gefängnis begleitet hatten, übergaben mich ihren Kollegen im Gefängnis. Die dortigen Wärter hatten andere Uniformen, aber den gleichen, unbeteiligten Blick.
Ich wurde in eine kleine Kammer geführt, wo ich mich komplett entkleiden musste. Offenbar das Standardvorgehen, um zu verhindern, dass ich etwas ins Gefängnis schmuggelte. Da das nicht meine Absicht war, ließ ich die Prozedur ohne Widerstand zu leisten über mich ergehen. Es war ohnehin nicht sinnvoll, sich mit den Wärtern anzulegen oder zu viel Aufmerksamkeit von ihnen auf mich zu ziehen. Also verhielt ich mich gehorsam und schwieg, wenn ich nicht gerade zum Reden aufgefordert wurde.
Ich bekam die im Gefängnis übliche Einheitskleidung – eine schäbige Hose und ein paar noch schäbigere Hemden – und wurde dann von zwei Wärtern zu meiner Zelle geführt. Dabei kamen wir an den Zellen verschiedener anderer Insassen vorbei. Die meisten waren Latinos, wahrscheinlich Mexikaner. Es waren aber auch eine Menge Schwarze dabei. Die Weißen waren definitiv in der Minderheit.
Besonders auffällig war der Geruch von Schweiß und Fäkalien, der in der Luft lag. Bei der Temperatur von schätzungsweise 30 Grad, die hier im Zellenblock herrschte, war das kein Wunder. Entweder gab es keine Klimaanlage oder sie war ausgeschaltet.
Als wir bei der vorletzten Zelle angekommen waren, wurde die Gittertür geöffnet. Die Wärter gaben mir zu verstehen, dass ich eintreten sollte. Ich kam dem nach. Als ich in der Zelle stand, verschloss sich die automatische Gittertür mit einem Knall.
»Hola, Gringo«, begrüßte mich der Bewohner der Zelle, der auf dem oberen Bett saß. »Ich bin Pat Morrison.«
Er streckte mir die Hand entgegen. Ich musterte den Mann, dessen Haut einen leichten Sonnenbrand aufwies. Er war wahrscheinlich Amerikaner, möglicherweise auch Europäer.
»Jerry Doyle«, stellte ich mich vor und schüttelte ihm die Hand. »Amerikaner?«
Er nickte. »Ja, genau wie du, nehme ich an.«
»Ja, frisch nach Mexiko eingewandert«, antwortete ich.
»Und warum bist du hier?«, wollte er wissen.
Ich schaute mich kurz in der kleinen Zelle um, in der sich neben dem doppelstöckigen Bett nur ein Tisch, ein Schrank, ein Spülbecken und eine Toilettenschüssel befanden. »Bin an den falschen Richter geraten, nehme ich an. Der hat den großen Macker markiert, nur weil ich mich mit ein paar Einheimischen geschlagen habe und etwas Gras dabeihatte. Hat mich dann gleich für fünf Jahre verdonnert.«
»Ja, so kann es gehen«, sagte Morrison. »Die sind hier ein bisschen verrückt, was das Thema Drogen angeht. Dabei haben die davon ja genug.«
Er grinste über den Scherz, den er gemacht hatte.
»Und warum haben sie dich hier eingesperrt?«, fragte ich.
Morrisons Miene verfinsterte sich etwas. »Das war nur eine Verkettung unglücklicher Umstände. Ich hatte viel getrunken und dann bei einer Schlägerei etwas zu fest zugeschlagen. Bei irgend so einem Typen, den ich nicht mal kannte. War sofort tot. Pech für ihn. Und wie sich dann herausstellte, auch für mich. Acht Jahre wegen Totschlag. Na ja, ich habe jetzt schon drei Monate rum, dann sind’s nur noch etwa acht Jahre.«
Wieder grinste er über seinen flachen Witz.
»Ja, so kann’s gehen«, wiederholte ich, was er vorher zu mir gesagt hatte. »Sieht so aus, als würden wir einige Zeit zusammen verbringen.«
»Sieht so aus«, sagte Morrison. »Wenn wir es hier so lange aushalten.«
Ich schaute ihn an. »Wie meinst du das?«
Er blickte recht grimmig drein. »Das Gefängnis hier ist nicht gerade für seine Hygiene bekannt. Letzten Monat sind zwei Insassen an einer Lebensmittelvergiftung gestorben. Die Temperaturen setzen einem auch ganz schön zu. Und wenn einen das nicht wegrafft, sind da noch die verschiedenen Gangs, die sich ab und zu Schlachten liefern, bei denen richtig viel Blut fließt. Da muss man schon aufpassen, dass man am Leben bleibt.«
»Das hört sich nicht besonders gut an«, sagte ich. »Und was ist mit der Alternative? Die Biege machen?«
Er grinste. »Das haben schon einige versucht. Die meisten haben sie wieder geschnappt. Wobei Anfang letzten Jahres rund vierzig Häftlinge ausgebrochen sind – mit der Hilfe von einigen Wärtern. Die sind einfach durch den Haupteingang rausmarschiert. War eine ziemlich spektakuläre Flucht – zumindest nach dem, was ich gehört habe. Danach haben sie den alten Gefängnisdirektor rausgeworfen und einen neuen auf den Posten gesetzt. Ein ziemlich harter Brocken. Damit ist die Möglichkeit, den Knast durch Bestechung zu verlassen, wohl passé.«
Ich seufzte. »Schade, das mit Geld zu regeln wäre wohl die eleganteste Methode gewesen. Aber das bedeutet nicht, dass man hier nicht mehr rauskommt. Jedes System hat seine Schwachstellen. Werden wir nicht auch für Arbeiten außerhalb der Gefängnismauern eingesetzt?«
»Ab und zu, aber nur diejenigen Häftlinge, die sowieso bald entlassen werden, und dann nur unter strengster Bewachung. Man hat dann zwar die Mauern hinter sich gelassen, frei ist man aber noch lange nicht«, antwortete er.
»Was soll’s, ich bin ja gerade erst angekommen«, sagte ich und setzte mich auf das untere Bett. »Ist das meine Koje?«
»Sieht so aus«, antwortete Morrison.
Wir unterhielten uns noch ein wenig über dies und das, belangloser Smalltalk, wobei ich zwischendurch ein paar Themen anbrachte, um mehr über ihn herauszufinden. Er war ein ehemaliger Marine, hatte fünf Jahre im Corps gedient und war dann aufgrund einer körperlichen Auseinandersetzung mit einem Vorgesetzten unehrenhaft entlassen worden. Hatte sein Temperament wohl nicht immer unter Kontrolle. Nachdem er das Corps verlassen hatte, hat er versucht, sich irgendwie durchzuschlagen, meist mit körperlicher Arbeit.
Er hatte es aber nie irgendwo länger ausgehalten. Irgendwann hat ihn dann ein Job nach Mexiko geführt. Und da kam es zu der schicksalhaften Schlägerei, die den Tod seines Gegners zur Folge hatte. Er war kein durch und durch schlechter Kerl, eher einer dieser Pechvögel, die im Leben nichts gebacken kriegen und irgendwann auf die schiefe Bahn geraten. Und noch etwas war ganz klar: Er verstand es zu kämpfen und wusste, wie man einen Menschen tötete. Folglich sollte ich es mir mit ihm nicht verscherzen.
***
Wir hatten uns etwa eine Stunde lang unterhalten, als ein Signal ertönte.
»Zeit für die abendliche Fütterung der Raubtiere«, scherzte Morrison.
Die Gittertür glitt zur Seite und gab den Weg nach draußen frei. Er sprang vom Bett runter und bedeutete mir, ihm zu folgen.
»Schau den anderen nicht direkt in die Augen, das wird hier als Provokation angesehen. Und bleib dicht hinter mir«, sagte er und marschierte los.
Ich folgte ihm und hielt mich weitgehend an seine Anweisung. Natürlich ließ ich es mir nicht nehmen, mich umzuschauen. In diesem Trakt befanden sich rund fünfzig Zellen, also etwa einhundert Insassen. Die meisten verhielten sich recht zivilisiert, reihten sich in eine Schlange ein, die in Richtung Ausgang führte. Morrison und ich taten es ihnen gleich. Nachdem wir ein paar Mal rechts und links abgebogen waren, erreichten wir eine große Kantine.
Der Raum war etwa zwölf mal fünfzehn Meter groß. Die Wände waren ehemals weiß gestrichen gewesen, wobei sie jetzt ziemlich dreckig aussahen. Es gab mehrere Reihen von dunklen Holztischen, die wahrscheinlich noch aus dem letzten Jahrhundert stammten und voller Macken und Kritzeleien waren. An einer Seite des Raumes standen drei Personen vor einer Reihe großer Metalltöpfe, die wahrscheinlich das Essen enthielten. Zumindest stieg aus einem der Töpfe Dampf auf. Der damit verbundene Geruch war allerdings gewöhnungsbedürftig.
Die Häftlinge bildeten eine Schlange, in die Morrison und ich uns auch einreihten. Es ging nur langsam voran. Ich nutzte die Zeit, um mich umzuschauen und vielleicht John Bob Smith auszumachen. Und tatsächlich: Er stand ein paar Meter hinter uns, zusammen mit einem anderen Weißen. Die meisten anderen waren – mit Ausnahme einiger Schwarzer – Südländer, wahrscheinlich Mexikaner.
Als ich an die Reihe kam, schnappte ich mir einen Teller und reichte ihn dem ersten Mann, der auffüllte. Er schaute unbeteiligt drein und klatschte mir eine gelbbraune Pampe auf den Teller, dann noch etwas Grünes, wahrscheinlich irgendwelches Gemüse. Er reichte mir den Teller und wandte sich dann dem Mann hinter mir zu.
Nachdem ich Morrison zu einem der Tische gefolgt war und wir uns hingesetzt hatten, fragte ich: »Was ist das?«
Er grinste. »Das ist so ziemlich das Beste, was man hier bekommt. So eine Art Brei aus Mais und Kartoffeln und irgendein Gemüse. Am Wochenende gibt’s auch Fleisch, freitags manchmal Fisch. Schmeckt auf Dauer ziemlich fad, macht aber satt.«
Er fing an, sich den Brei in den Mund zu stopfen.
Ich probierte erst vorsichtig und langte dann auch zu. Es schmeckte wirklich nicht besonders. Viel zu wenig Salz. Wahrscheinlich kochten die Häftlinge selbst, auf jeden Fall war hier kein Profi am Werk gewesen. Nach gut zehn Minuten waren wir fertig.
»Gibt es auch Nachtisch?«, fragte ich Morrison.
»Manchmal, aber heute wohl nicht«, antwortete er und deutete auf einen Tisch an der Wand. »Du kannst dich da vorne bedienen und dir Brot holen. Ist gut, wenn man zwischendurch was zu essen hat. Hier kann man ja nicht so einfach jederzeit in die Kantine gehen.«
Ich schaute zu dem Tisch und nickte. »Und was ist mit Getränken? Gibt es noch was anderes als Wasser?«
»Selten«, antwortete er. »Morgens Milch, und ab und zu Fruchtsaft. Du kannst dir eine von den Plastikflaschen nehmen und etwas von dem gekühlten Wasser oder was gerade da ist einfüllen. Sonst haben wir nur noch den Hahn in der Zelle. Das Wasser solltest du allerdings mit Microdyn reinigen. Die Wächter sagen zwar, dass es sauber sei, aber in der Regel erkranken drei bis vier Häftlinge im Monat an Durchfall. Und das muss ich in meiner Zelle nicht haben.«
»Keine Sorge, ich pass schon auf«, sagte ich und stand auf. »Dann gehe ich mal und lege mir eine Flasche zu.«
Er hatte recht, mit Montezumas Rache – Durchfall – war nicht zu spaßen. Das Leitungswasser in Mexiko wimmelte nur so von Bakterien. Aber ein paar Tropfen des Mittels Microdyn beseitigten die Bakterien.
Während ich zu den Tischen mit dem Brot und den Getränken hinüberging, spürte ich die Blicke, die auf mich gerichtet waren. Das war nicht überraschend. Ich war »der Neue«. Und noch dazu ein Gringo. Kein Wunder, dass ich Aufmerksamkeit erregte.
Als ich den Tisch mit dem Brot fast erreicht hatte, stellte sich mir ein breitschultriger Schwarzer in den Weg. Er hatte lange, tiefe Narben im Gesicht und fixierte mich mit seinen kalten Augen. Ich musste zu ihm aufblicken, da er einen halben Kopf größer war als ich.
»Immer der Reihe nach«, knurrte er mit tiefer Stimme. »Die Neuzugänge müssen warten.«
»Kein Problem«, sagte ich und blieb stehen. »Und wer bist du?«
Er plusterte sich auf. »Ich bin der King!«
»Und ich bin Jerry«, entgegnete ich knapp.
Er fixierte mich weiter mit seinem Blick und wartete darauf, dass ich etwas tat. Ich blieb ruhig und erwiderte den Blick einfach. Wir standen mehrere Sekunden da, ohne dass sich einer von uns bewegte. Schließlich wandte er seinen Blick ab, drehte sich um, nahm sich ein Stück Brot und ging zu einer Gruppe Schwarzer hinüber.
Ich deckte mich mit Brot und Wasser ein und ging zu Morrison zurück.
»Wer war das denn?«, fragte ich.
»Der King«, antwortete er. »Denzel Louis King, von allen nur der King genannt. Ein ziemlich harter Schläger. Hat schon eine Menge Neuankömmlinge auf die Krankenstation geschickt. Vor dem solltest du dich in Acht nehmen. Der ist ein Lebenslänglicher.«
Natürlich wusste ich, was er meinte. Lebenslängliche hatten fast nichts mehr zu verlieren. Entsprechend schreckten einige auch vor schweren Gewalttaten und Mord nicht zurück. Das machte sie unberechenbar und gefährlich.
»Ich hab nicht vor, Ärger zu machen«, sagte ich zu ihm.
Mehr wollte ich nicht von mir geben, da wir nicht allein waren. Überall neben uns saßen Mexikaner. Und deren Ohren waren wahrscheinlich weit aufgesperrt – auch wenn sie alle recht unbeteiligt dasaßen und ihren Brei vertilgten.
John Bob Smith saß zwei Tische weiter. Morrison hatte ihn kurz gegrüßt, ich vermied es aber, zu ihm herüberzuschauen oder ihn zu kontaktieren. Das wäre zu auffällig gewesen. Da Morrison ihn offensichtlich kannte, würde er ihn mir ohnehin bald vorstellen.
Nach dem Essen ging es zurück in die Zelle. Mein Zellengenosse bot mir ein Buch an, das ich dankend annahm. Es war schon ziemlich übel zugerichtet und nicht gerade mein Lieblings-Genre, aber es war besser, etwas zu lesen, als nur in der Zelle herumzuhängen und zu warten.
Als es Schlafenszeit war, schalteten die Wärter die Hauptlichter aus. Nur ein paar Lämpchen glommen noch und hüllten den Trakt in ein gespenstisches Licht.
Glücklicherweise war mein Bett bequemer als die Pritsche, auf der ich während der Untersuchungshaft nächtigen musste. Allerdings beunruhigte mich die Vorstellung, fünf Jahre auf einem solchen Bett schlafen zu müssen. Gut, dass das nicht der Plan war. Hinzu kam die feuchte Hitze, die es neben dem Geruch all der Ausdünstungen der anderen Insassen nicht einfach machte, einzuschlafen.
Mein Schlaf war nicht sehr tief. In der Nacht wurde ich mehrere Male wach. Zumeist, weil irgendjemand laut schnarchte.
***
Als ich am nächsten Morgen erwachte, war ich schweißgebadet. Morrison schlief offenbar noch. Also benutzte ich die Toilette und wusch meinen Oberkörper mit dem lauwarmen Wasser aus dem Spülbecken ab. Ein Handtuch benutzte ich nicht. Es war angenehm, die Kälte des verdunstenden Wassers auf meinem Oberkörper zu spüren.
»So früh schon auf den Beinen?«, fragte Morrison und richtete sich in seinem Bett auf. »Hier kannst du ruhig länger schlafen. Du verpasst rein gar nichts!«
»Muss mich erst an den neuen Rhythmus gewöhnen«, sagte ich. »Wann wird gefrühstückt?«
Er schaute auf seine Uhr. »In etwa einer Stunde. Die Wärter haben dir wohl keinen Stundenplan gegeben. Mach dir nichts draus, das ist normal. Nach ein paar Tagen kennst du den Plan sowieso auswendig und bist froh, wenn es etwas Abwechslung gibt.«
»Die Langeweile scheint hier die schlimmste Strafe zu sein«, sagte ich.
Er nickte. »Ja, das ist schlimmer, als man denkt. Zum Glück erlauben sie Bücher und Zeitschriften. Elektronische Geräte sind verboten. Wenn du also daran gedacht hast, dir einen Gameboy schicken zu lassen – das kannst du gleich vergessen.«
Ich schaute mich um. Erst jetzt fiel mir auf, dass es in der Zelle keine Steckdosen gab. Der einzige Stromanschluss war der, an dem die Deckenlampe hing. »Die wollen uns wohl jeden Spaß verderben. Was ist denn überhaupt erlaubt? Ich hoffe, dass meine Frau mich bald besuchen kommt. Dann kann ich ihr eine Liste geben.«
»Du bist verheiratet?«, fragte er ungläubig. »Und sie kommt dich hier besuchen? Ich will dir ja nicht deine Illusionen rauben, aber es gibt kaum eine Frau, die so etwas länger mitmacht. Nach ein paar Wochen kommen sie meist einfach nicht mehr. Und was die eine Sache angeht, die wir mit Frauen so gern machen – dafür muss man bei den Wärtern extra bezahlen. Wenn man Glück hat und der Gefängnisdirektor nichts davon erfährt.«
»Das sind ja rosige Aussichten«, sagte ich.
»Ja, bestell dir schon mal ein Playboy-Abo«, scherzte er.
»Wie sieht es mit Handtüchern, Seife, Shampoo und so aus? Kann sie mir das mitbringen?«, fragte ich.