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Sammelband 21: Fünf actiongeladene Fälle und über 300 Seiten Spannung zum Sparpreis!
G-Man Jerry Cotton hat dem organisierten Verbrechen den Krieg erklärt! Von New York aus jagt der sympathische FBI-Agent Gangster und das organisierte Verbrechen, und schreckt dabei vor nichts zurück!
Damit ist er überaus erfolgreich: Mit über 3000 gelösten Fällen und einer Gesamtauflage von über 850 Millionen Exemplaren zählt er unbestritten zu den erfolgreichsten und bekanntesten internationalen Krimihelden überhaupt! Und er hat noch längst nicht vor, in Rente zu gehen!
In diesem Sammelband sind 5 Krimis um den "besten Mann beim FBI" enthalten:
2880: Wir hatten nur 24 Stunden
2881: Die falsche Geisel
2882: Die Nacht der vier Morde
2883: Die Schattenmacht
2884: Im Netz der Spinne
Jerry Cotton ist Kult - und das nicht nur wegen seines roten Jaguars E-Type.
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Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 680
Veröffentlichungsjahr: 2020
Jerry Cotton
Jerry Cotton Sammelband 21 - Krimi-Serie
Cover
Impressum
Wir hatten nur 24 Stunden
Jerry Cotton aktuell
Vorschau
Wir hatten nur 24 Stunden
»Ja, spiel noch weiter mit deiner Puppe!«, sagte Miss Tremaine, das Kindermädchen, zu der kleinen Sarah, die lächelnd im Kinderwagen saß und ein Stofftier in der Hand hatte. Die beiden waren auf dem Weg vom Spielplatz zurück zum Haus der Whitepeaks, der Eltern von Sarah.
»Gleich sind wir da, dann bekommst du was Leckeres zu essen«, sagte das Kindermädchen und spürte plötzlich eine Bewegung, direkt hinter ihrem Rücken.
Bevor sie sich umdrehen konnte, packte sie jemand und hielt sie fest. Sie schrie, doch ihre Stimme wurde durch das Tuch gedämpft, das ihr vor Mund und Nase gehalten wurde. Mit einem Mal fühlte sie sich benebelt, nahm die Umgebung nur noch schemenhaft wahr. Es wurde schwarz um sie herum und sie verlor die Kontrolle über ihren Körper.
Als sie wieder zu sich kam, musste sie erst ihre Gedanken ordnen. Was war geschehen? Wieso lag sie auf dem Boden? Sie öffnete die Augen und nahm eine Rasenfläche wahr, auf der sie sich befand. Ein großer Busch verhinderte, dass sie die Straße sehen konnte.
Vorsichtig bewegte sie ihre Glieder. Obwohl sie sich etwas schwach fühlte, konnte sie sich normal bewegen. Auch spürte sie keine Schmerzen.
Sie erinnerte sich an das, was vorgefallen war, und eine Schockwelle durchfuhr ihren Körper. Ein Überfall! Jemand hatte sie von hinten überfallen!
Sie richtete sich auf und stellte fest, dass es ihr gut ging. Offenbar hatte der Täter nicht vorgehabt, ihr etwas anzutun. Aber was war mit Sarah? Wo war sie? Ging es ihr gut?
Das Kindermädchen lief los, über die Rasenfläche des Vorgartens auf den Bürgersteig, wo sie den leeren Kinderwagen sah. Sarah war weg. Keine Spur von ihr!
In ihrer aufkommenden Verzweiflung rief Miss Tremaine nach dem kleinen Mädchen. So laut, dass es fast wehtat. Aber Sarah war nicht da.
»Oh Gott, sie ist entführt worden!«, sprach das Kindermädchen ihren schlimmsten Alptraum aus.
***
»Summertime, and the livin’ is easy«, summte Phil den alten Song, der schon von verschiedenen Interpreten gesungen worden war, und lächelte dabei.
»Dir scheint es ja heute richtig gut zu gehen«, bemerkte ich und setzte den Blinker, um die Fahrspur zu wechseln.
Wir hatten gerade ein spätes Mittagessen beendet und waren auf dem Weg zurück ins Büro.
Er nickte. »Ja, wenn die Sonne scheint, der Tag einigermaßen ruhig verläuft, dann …«
In dem Moment klingelte mein Handy. Ich aktivierte die Freisprecheinrichtung. Es war Mr High. »Hallo, Jerry, sind Sie schon wieder im Gebäude?«
»Nein, Sir, wir brauchen noch ein paar Minuten«, antwortete ich.
»Dann fahren Sie am besten gleich weiter nach Staten Island«, sagte Mr High.
»Staten Island?«, fragte Phil interessiert.
»Ja, Phil«, erwiderte Mr High. »Uns ist ein Entführungsfall gemeldet worden. Es geht um die Tochter des Bürgermeisters Dan Whitepeak. Der Fall hat oberste Priorität. Ich veranlasse, dass Helen Ihnen die vorliegenden Informationen zukommen lässt.«
»Geht klar, Sir, wir sind schon unterwegs«, sagte ich.
»Gut, ich erwarte Ihren vorläufigen Bericht, wenn Sie mit den Untersuchungen vor Ort fertig sind. Weiterhin kümmere ich mich darum, dass die Standardmaßnahmen wie Fangschaltung etc. durchgeführt werden«, sagte Mr High und beendete das Gespräch.
»Dan Whitepeak, kennst du den?«, fragte Phil.
»Nicht persönlich«, antwortete ich. »Aber aus der Boulevardpresse weiß ich, dass er nicht gerade arm ist. Ein lohnendes Ziel für Erpresser.«
»Aber jemanden zu entführen – das ist wirklich verabscheuungswürdig«, meinte Phil. Seine gute Stimmung war verflogen. Die harte Realität hatte uns wieder eingeholt.
Noch bevor wir Staten Island erreicht hatten, erhielt Phil die Informationen, die Mr High uns zugesagt hatte. Er überflog die Daten auf dem Bildschirm des Bordcomputers und gab mir eine Zusammenfassung. »Dan Whitepeak bekleidet seit zwei Jahren das Amt des stellvertretenden Bürgermeisters von New York, verheiratet mit Chloe Whitepeak. Die beiden haben zwei Kinder, den vierzehnjährigen Samuel und die dreijährige Sarah. Letztgenannte ist heute Morgen entführt worden.«
Phil presste die Lippen zusammen und schaute angewidert drein. Ich konnte ihn gut verstehen. Ein dreijähriges Mädchen zu entführen war absolut niederträchtig. Das arme Kind. Ganz zu schweigen von den Eltern, die keine Ahnung hatten, ob sie ihre Tochter jemals wiedersehen würden.
Phil fuhr fort: »Gemäß den vorliegenden Informationen war Sarah heute Nachmittag wie üblich mit ihrem Kindermädchen Anna Tremaine unterwegs. Das Kindermädchen ist auf dem Weg vom Spielplatz zum Haus der Whitepeaks betäubt worden. Als sie wieder zu sich kam, hat sie die Entführung sofort gemeldet. Das war gegen zwei Uhr und ist somit knapp eine Stunde her.«
Eine Stunde. Also hatten die Entführer genug Zeit, um zu entkommen. Straßensperren nützten jetzt nichts mehr.
»Irgendwelche Hinweise auf die Täter?«, fragte ich Phil.
Er schüttelte den Kopf. »Nein, nichts. Ich habe die Aussage des Kindermädchens aber noch nicht vorliegen. Keine Ahnung, ob sie die Entführer gesehen hat.«
»Das werden wir herausfinden«, sagte ich und fasste das Lenkrad fester. »Wie sieht es mit Informationen zu den Whitepeaks aus?«
Phil recherchierte am Computer. »Dan Whitepeak, 48 Jahre alt, ist ein vermögender Industrieller, der seit acht Jahren in der Politik aktiv ist. Ein Selfmademan, recht unabhängig. Hat vor sechzehn Jahren seine Frau Chloe, geborene Williams, geheiratet. Sie ist 37 und eine echte High-Society-Lady aus reichem Hause. Die Familie Williams besitzt mehrere Fabriken und Ländereien. Chloe Whitepeak ist eine der Erbinnen des Familienvermögens.«
»Um das Lösegeld müssen wir uns also keine Gedanken machen«, warf ich ein.
»Nein, sicher nicht«, meinte Phil. »Wenn es nur um Geld geht, stehen die Chancen für die kleine Sarah gut.«
»Irgendwelche Hinweise darauf, dass schon eine Lösegeldforderung gestellt worden ist?«, wollte ich wissen.
»Nein, nichts«, antwortete Phil.
***
Wir brauchten noch gut zwanzig Minuten, bis wir das Haus der Whitepeaks auf der Stone Lane in der Nähe des Latourette Park erreicht hatten. Neben einem sündhaft teuer aussehenden, schwarzen Mercedes und einem Audi Q7 standen zwei Streifenwagen vor dem Haus.
»Schöne Autos«, bemerkte Phil, als wir ausgestiegen waren.
Ich deutete auf die großen Garagen. »Ich kann mir vorstellen, dass sich der Rest des Wagenparks dort befindet. Geld scheint für die Familie wirklich keine Rolle zu spielen.«
Wir gingen zum Hauseingang, wo ein Cop des NYPD stand und Wache hielt.
»FBI?«, fragte er uns.
»Agents Cotton und Decker«, antwortete Phil und zeigte seinen Dienstausweis.
Der Cop nickte und ließ uns passieren.
Wir schritten durch die rund vier Meter breite, zweiflügelige Tür und befanden uns in einer atemberaubend schönen Eingangshalle. Fast alles in diesem Raum war in hellen Farben gehalten, Boden und Treppen und sogar teilweise die Wände aus hellem Marmor.
»Nicht schlecht«, bemerkte Phil. »Wahrscheinlich ist die Eingangshalle etwa genauso groß wie mein Apartment.«
»Dafür ist es bei dir bequemer«, sagte ich.
Vom Erdgeschoss führten zwei geschwungene Treppen in die erste Etage. Bei der rechten tauchte oben ein Cop auf und winkte uns zu.
»Hier oben!«, sagte er.
Wir nickten und gingen die Stufen hinauf.
»Detective Backford«, stellte er sich uns vor. »Sie müssen die Agents Cotton und Decker sein. Ihr Erscheinen wurde mir bereits angekündigt. Sie sollen den Fall übernehmen.«
»Ja, das ist korrekt«, erwiderte Phil. »Wie ist die Lage? Sind Mister und Mistress Whitepeak anwesend?«
»Mistress Whitepeak ist da«, antwortete er und deutete in Richtung eines Zimmers in der ersten Etage. »Die Sache hat sie ziemlich mitgenommen. Sie schwankt zwischen Trauer und Wut, versucht ihre Emotionen im Griff zu behalten, schafft das aber nicht so ganz. Mister Whitepeak wurde verständigt und ist auf dem Weg. Der Sohn der beiden, Samuel, wurde aus der Schule geholt und ist auch auf dem Weg hierhin. Wir wollten sichergehen, dass er außer Gefahr ist. Wenn irgendwelche Typen ein Kind entführt haben, wer weiß, was sie sonst noch planen.«
»Das ist richtig«, sagte ich. »Gut, dass Sie das in die Wege geleitet haben. Und Miss Tremaine, das Kindermädchen? Ist sie auch hier?«
Detective Backford nickte. »Ja, aber in einem anderen Zimmer als Mistress Whitepeak. Sie ist völlig fertig, gibt sich die Schuld daran, dass die Kleine weg ist. Kann ich gut verstehen – schließlich war sie bei ihr, als die Entführung stattfand, und somit die zuständige Aufsichtsperson. Als ich erfahren habe, dass Sie den Fall übernehmen, habe ich mir nicht die Mühe gemacht, sie intensiv zu befragen. Ich weiß nur, dass jemand, den sie nicht sehen konnte, sie betäubt hat. Keine Hinweise, denen wir sofort nachgehen könnten. Der Hausarzt hat sie untersucht und ihr ein leichtes Beruhigungsmittel gegeben.«
»Gut, dann reden wir zuerst mit dem Kindermädchen«, sagte ich.
Phil nickte zustimmend.
»Würden Sie uns zu ihr begleiten?«, fragte ich Detective Backford. »Kann nicht schaden, wenn jemand dabei ist, den sie schon kennt.«
»Natürlich, kein Problem«, antwortete Backford uns und ging los.
Er öffnete die Tür zu dem Zimmer, in dem sich Miss Tremaine, das Kindermädchen, befand. Sie war eine eher zierliche Person, vielleicht hundert Pfund schwer, mit zarten Händen. Ihre Gesichtszüge hatten einen leicht asiatischen Touch, der durch die schwarzen Haare noch unterstrichen wurde. Im Kontrast dazu standen ihre blauen Augen. Sie trug eine enge Jeans und ein hellblaues T-Shirt.
Neben ihr auf der Couch lag eine braune Lederjacke, die wahrscheinlich ihr gehörte. Zumindest passte der Stil zum Rest ihrer Kleidung.
Als wir eintraten, schaute sie auf. Der verlaufene Kajalstift und die Taschentücher in ihren Händen deuteten darauf hin, dass sie geweint hatte. Und das spiegelte sich auch in ihren Bewegungen wider.
»Miss Tremaine, das sind die Special Agents Cotton und Decker vom FBI New York«, stellte uns Backford vor.
Sie schaute erst mich an und musterte dann Phil genau. »Gut, dass Sie da sind. Sie müssen Sarah finden, so schnell wie möglich! Sie muss morgen zur Dialyse, das ist für sie lebenswichtig.«
Mit einem Mal quollen wieder Tränen aus ihren Augen und ihre Mundwinkel bogen sich nach unten.
Als sie sich wieder einigermaßen gefangen hatte, sagte ich: »Wir wollen Sarah wieder nach Hause bringen, das ist genau der Grund, aus dem wir hier sind.«
Sie nickte. »Das ist gut.«
Phil schaute mich an. Ich wusste, was der Blick zu bedeuten hatte. Bisher war uns nicht bekannt, dass Sarah Whitepeak ein Nierenleiden hatte.
»Wie ernst ist die Krankheit von Sarah?«, fragte ich Miss Tremaine.
»Sie muss regelmäßig zur Blutwäsche«, kam die Antwort. »Morgen früh ist der nächste Termin. Wenn sie ihre Behandlung nicht erhält, vergiftet sich ihr Körper selbst und sie wird …«
Was Miss Tremaine nicht auszusprechen wagte, war die Tatsache, dass Sarah Whitepeak dann sterben würde. Das ließ den Fall in einem ganz anderen Licht erscheinen. Es blieben uns vielleicht vierundzwanzig Stunden, um das Mädchen zu finden und zur Behandlung zu bringen. Oder etwas mehr. Aber mit jeder zusätzlichen Stunde würde sich ihr Zustand verschlechtern.
Ich nahm ihr gegenüber auf einem Sessel Platz. »Miss Tremaine, es ist von größter Wichtigkeit, dass Sie uns genau schildern, was passiert ist, wie genau die Entführung abgelaufen ist. Jedes noch so kleine Detail kann dabei von Bedeutung sein.«
Sie putzte sich die Nase und fing an zu reden. »Ich bin heute Nachmittag wie jeden Tag mit Sarah zum Spielplatz gefahren. Nach dem Mittagessen. Auf unserer üblichen Route. So bekommt sie ein wenig Sonne und frische Luft und kann mit anderen Kindern spielen. Auf dem Spielplatz haben wir uns etwa eine halbe Stunde aufgehalten, dann war sie müde und ich habe sie in den Kinderwagen gesetzt, um sie nach Hause zu fahren. Zuerst ist nichts Besonderes passiert. Es war auch nicht viel los. Das ist eine recht ruhige Gegend. Dann hörte ich plötzlich ein Geräusch hinter mir, hatte aber nicht mehr die Gelegenheit, mich umzudrehen. Ein Mann packte mich von hinten und hielt mich fest. Er drückte mir etwas ins Gesicht. Erst wurde mir schwindelig, dann verlor ich das Bewusstsein. Als ich wach wurde, lag ich ein paar Meter weiter auf dem Rasen eines Vorgartens, hinter einem Busch. Ich habe nach Sarah gesucht, sie aber nicht gefunden. Dann habe ich den Notruf gewählt.«
»Woher wissen Sie, dass es ein Mann war?«, fragte Phil.
»Genau weiß ich das nicht«, antwortete sie. »Die Person hatte aber eine Menge Kraft, ich fühlte mich, als hätte mir jemand Schraubzwingen angelegt. Auch wenn ich nicht sehr kräftig aussehe, trainiere ich regelmäßig. Und die Person, die mich angegriffen hat, war wirklich stark, daher tippe ich auf einen Mann.«
»Aber Sie konnten ihn nicht sehen?«, hakte ich nach.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht. Er kam von hinten, hatte sich wahrscheinlich irgendwo versteckt.«
»Konnten Sie etwas riechen? Ein Parfüm oder Rasierwasser vielleicht?«, fragte ich weiter.
Sie überlegte kurz. »Wäre möglich. Cool Water fällt mir ein – mein Ex-Freund Toby hatte das mal benutzt. Aber ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher. Kann auch das Chloroform gewesen sein.«
»Das ist schon in Ordnung«, sagte ich. »Manchmal dauert es eine Weile, bis die Erinnerungen zurückkommen. Wenn man sich darauf konzentriert, treten gewöhnlich mehr und mehr Einzelheiten zutage. Erzählen Sie uns jetzt so viele Details, wie Ihnen einfallen. Wenn Sie etwas übersehen, was Ihnen später wieder ins Bewusstsein kommt, melden Sie sich bitte sofort bei uns.«
Sie nickte.
»Ist Ihnen in den letzten Tagen irgendetwas aufgefallen? Jemand, der Sie verfolgt hat? Oder irgendeine Person, die viele Fragen gestellt hat?«, fragte Phil.
Sie überlegte, verneinte das aber dann. »Nein, da fällt mir nichts ein. Auf dem Spielplatz habe ich die gleichen Leute getroffen wie sonst auch. Das sind alles Frauen und Kindermädchen aus der Gegend mit ihren Kindern. Und bei keiner von ihnen ist mir etwas Ungewöhnliches aufgefallen.«
»In Ordnung«, sagte ich. »Dann ruhen Sie sich erst einmal aus. Wir kümmern uns um die Sache.«
»Werden Sie Sarah heil nach Hause bringen?«, fragte sie in weinerlichem Tonfall.
»Das hoffe ich«, war meine Antwort.
Ich wollte ihr etwas Hoffnung machen, sie aber auch nicht belügen. Bei Entführungsfällen wusste man nie, wie es ausgehen würde. Da Entführung von den Gerichten teilweise so hart bestraft wurde wie Mord, beseitigten die Entführer oft den wichtigsten Zeugen – die entführte Person. Hinzu kam, dass wir das Motiv der Entführung noch nicht kannten. Falls sich jemand an der Familie Whitepeak rächen wollte, sah es für Sarah nicht gut aus.
Wir verließen das Zimmer.
»Das war nicht besonders viel Information«, bemerkte Detective Backford.
»Nein, wirklich nicht«, bestätigte Phil.
»Immerhin wissen wir, dass der Entführer darauf geachtet hat, Miss Tremaine keinen großen Schaden zuzufügen«, sagte ich. »Wir sollten uns nachher den Tatort ansehen. Ich denke, dass er sich dort irgendwo versteckt und auf die beiden gewartet hat. Vielleicht gibt es dort irgendwelche Spuren.«
»Ich kümmere mich darum«, sagte Phil und informierte Mr High über sein Handy darüber, damit dieser die entsprechenden Maßnahmen anordnen konnte.
Bevor wir zu Mrs Whitepeak gehen konnten, wurde die Haustür geöffnet und ein Mann im Anzug stürmte ins Haus. Er war ziemlich aufgeregt und sprang die Treppenstufen herauf.
Ich ging auf ihn zu. »Mister Whitepeak?«
Er schaute mich mit kalten Augen an. »Ja, der bin ich. Und wer sind Sie? NYPD? FBI?«
Ich deutete zuerst auf den Detective und dann auf Phil. »Das ist Detective Backford vom NYPD und das mein Kollege Agent Phil Decker vom FBI New York. Ich bin Jerry Cotton. Meinem Partner Agent Decker und mir wurde der Entführungsfall übertragen.«
»Dann will ich in Ihrem Interesse hoffen, dass Sie die Besten sind, die das FBI New York zu bieten hat«, schnaubte er. »Denn ich will Resultate. Nämlich dass meine Tochter unversehrt zurück nach Hause kommt und die Entführer gefasst werden!«
»Das ist auch unser Ziel«, bestätigte ich und schaute mich um. »Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«
»Natürlich«, antwortete er und ging voran. »Folgen Sie mir!«
***
Er führte uns durch einen langen Flur, der in einem großen Büro mündete. Dessen Einrichtung war, genau wie der Eingangsbereich, in hellen Farben gehalten. Darüber hinaus war es modern eingerichtet. Mir fiel zuerst der große Schreibtisch auf, dessen Tischplatte aus Glas bestand. Sie ruhte auf schwarzen Granitsteinen und wurde offenbar von der Seite beleuchtet, da sich ihre Farbe änderte, als Mister Whitepeak hinter dem Schreibtisch Platz nahm.
Die an den rechten und linken Wänden befindlichen Schränke waren weiß mit mittelgrauen Akzenten. Und die verschiedenen Sitzgelegenheiten alle schwarz, inklusive der Sessel und der großen Couch. Das Besondere an dem schätzungsweise fünfzig Quadratmeter großen Büro war die gläserne Rückwand, hinter der sich ein kleiner Wald befand. Klein deshalb, weil es sich zumeist um Bonsai-Bäume handelte.
Mister Whitepeak unterbrach meine Musterung des Raumes.
»Haben Sie schon irgendwelche Hinweise auf die Täter? Straßensperren errichtet? Leute befragt?«, legte er los.
»Gemäß der Aussage des Kindermädchens handelt es sich wahrscheinlich um einen Mann. Ob er Komplizen hatte, wissen wir nicht. Leider hat sie ihn nicht gesehen, weshalb wir aktuell noch im Dunkeln tappen«, antwortete ich. »Gab es eine Lösegeldforderung?«
Whitepeak schüttelte den Kopf. »Nein, bisher nichts dergleichen. Und genau das bereitet mir Kopfzerbrechen. Wenn ich wüsste, dass sie es nur auf mein Geld abgesehen haben, wäre mir wohler.«
»Das kann ich gut verstehen«, sagte ich. »Wir werden den Tatort untersuchen, die entsprechenden Maßnahmen wurden bereits in die Wege geleitet. Mit etwas Glück gab es in der Nähe Kameras, die die Entführer oder ihren Wagen erfasst haben. Eine Fangschaltung für Ihre Telefone wird ebenfalls eingerichtet, damit wir einen eventuell erfolgenden Anruf der Entführer zurückverfolgen können. Parallel sollten wir uns darauf konzentrieren, zu überlegen, wer ein Motiv für eine solche Tat haben könnte. In manchen Fällen handelt es sich bei den Entführern um Personen, mit denen die Opfer bereits Kontakt hatten. Daher meine Frage an Sie: Gibt es jemanden, der eine Rechnung mit Ihnen offen hat und zu einer solchen Tat fähig wäre?«
Whitepeak beugte sich nach vorn und lehnte sich auf den Schreibtisch. »Agent, ich bin ein erfolgreicher Geschäftsmann und seit Jahren in der Politik tätig. Natürlich tritt man dabei dem einen oder anderen auf die Füße. Das ist Teil des Lebens in solchen Positionen. Wo es Gewinner gibt, existieren auch Verlierer. Im Laufe der Jahre sind eine Menge Leute auf der Strecke geblieben.«
»Das habe ich mir gedacht«, sagte ich. »Es wäre gut, wenn Sie eine komplette Liste solcher Personen erstellen würden. Aber konzentrieren wir uns zunächst auf diejenigen, denen Sie zutrauen, Ihre Tochter zu entführen, um Ihnen zu schaden. Fallen Ihnen dazu irgendwelche Namen ein?«
»Eine gute Frage«, erwiderte Whitepeak und überlegte. »Ich wüsste da ein paar Leute, die es auf mich abgesehen haben. Aber ich glaube kaum, dass jemand von denen zu so einer Tat fähig ist. Ich meine, immerhin muss der Entführer ja damit rechnen, gefasst zu werden und ins Gefängnis zu gehen. Welcher vernünftige Mensch würde so etwas riskieren?«
»Jemand, der verzweifelt ist. Finanziell enorm unter Druck steht. Oder aufgrund eines tiefen Rachegefühls nicht mehr klar denken kann«, beantwortete Phil die Frage. »Es gibt viele Motive. Und da kriminelle Handlungen in der Regel nicht auf Vernunft beruhen, kommen vor allem solche Leute in Frage, die durch irgendein Ereignis aus der Bahn geworfen wurden.«
Whitepeak kehrte einen Moment lang in sich und schaute mich dann an. »Natürlich bekomme ich ab und zu Drohbriefe, aus den verschiedensten Gründen. Weil ein Bürger mit dem Bau einer Straße neben seinem Grundstück nicht einverstanden ist und erbittert dagegen ankämpft. Oder jemand, der mit einer Entscheidung des Stadtrats nicht einverstanden ist und mir die Schuld gibt. Es gibt viele solche Vorfälle. Die meisten sind mir nicht einmal bekannt, weil mein Sekretär, Ronan Dodge, sie ausfiltert. Ich kann ihm Bescheid geben, dass er die Unterlagen dem FBI zur Verfügung stellt.«
»Das wäre gut«, sagte ich. »Wir können jemanden zu ihm ins Büro schicken, der die Briefe abholt, damit sie von unseren Spezialisten untersucht werden können.«
Wir regelten das telefonisch und wandten uns dann wieder Whitepeak zu.
»Fallen Ihnen noch irgendwelche Personen ein, die für eine solche Tat in Frage kommen könnten? Jemand, der Sie persönlich attackiert hat vielleicht?«, fragte ich weiter.
Er nickte. »Ja, jetzt kommt mir ein Name in den Sinn. Frank Carter, ein Lobbyist der Tabakindustrie. Wir sind vor ein paar Wochen heftig aneinandergeraten. Es ging um ein neues Nichtrauchergesetz. Er hat das wohl persönlich genommen und mir offen gedroht. Bis zu dem Zeitpunkt hatte ich ihm nie viel Aufmerksamkeit geschenkt und ihn eher als ausgeglichenen Typen betrachtet. Aber das war schon ziemlich krank.«
»Das ist ein guter Hinweis«, sagte ich. »Wir werden uns Mister Carter vornehmen und sehen, ob er ein Alibi hat. Fällt Ihnen sonst noch jemand ein?«
Er dachte eine Weile nach und schüttelte dann den Kopf. »Nein, nicht wirklich. Außerdem möchte ich gerne nach meiner Frau sehen. Sie braucht mich jetzt. Und ich will sicherstellen, dass es Samuel, meinem Sohn, gut geht.«
»Natürlich, Sir«, sagte ich.
Wir standen auf und verließen zusammen Whitepeaks Büro, um zu dem Zimmer zu gehen, in dem sich Mrs Whitepeak aufhielt.
Mr Whitepeak klopfte an und trat zuerst ein.
»Bitte warten Sie einen Augenblick, ich will kurz mit meiner Frau allein sein«, sagte er und schloss die Tür.
Detective Backford, Phil und ich warteten.
»Ich glaube, Sie brauchen mich dann nicht mehr«, sagte Detective Backford und verabschiedete sich.
»Vielen Dank für Ihre Unterstützung«, sagte ich zu ihm.
Er verschwand in Richtung der Haustür.
Als wir allein waren, schaute mich Phil mit ernstem Gesicht an. »Dass die Kleine zur Dialyse muss, verkompliziert die Sache enorm.«
»Ja, das setzt uns ziemlich unter Druck«, sagte ich. »Es stellt sich die Frage, ob die Entführer darüber Bescheid wissen. Wenn ja, können sie es als Druckmittel benutzen und darauf Rücksicht nehmen, wenn sie sicherstellen wollen, dass Sarah weiterlebt. Wenn sie davon keine Ahnung haben oder es ihnen egal ist, sieht die Sache ziemlich düster aus.«
»Wir sollten mit Mister High reden, dass er uns ein paar Agents zur Unterstützung zuteilt, damit wir mit unseren Ermittlungen schneller vorankommen. Ich möchte nicht erleben, dass wir die Kleine zu spät finden, weil wir nicht alles Erdenkliche unternommen haben oder nicht schnell genug waren.«
»Wir reden zuerst mit Mistress Whitepeak, dann informieren wir Mister High«, sagte ich.
Phil nickte zustimmend.
Dann öffnete sich die Tür und Mr Whitepeak zeigte sich. »Kommen Sie herein.«
Wir betraten das Zimmer, das wie der Rest des Hauses, den wir bereits kannten, in hellen Farben gehalten war.
Mrs Whitepeak saß auf einem Ledersofa und hatte ihre schlanken Beine übereinandergeschlagen. Sie war eine wunderschöne Frau mit aristokratischen Gesichtszügen, strohblonden Haaren und einer weiblichen Figur, die durch ihr enges Kleid gut zur Geltung kam.
»Das sind die Agents Cotton und Decker, die uns helfen werden, unsere Tochter wieder nach Hause zu bringen«, stellte Mr Whitepeak uns vor.
»Madam«, begrüßte ich sie.
Sie nickte, stand auf und kam auf mich zu. Ihr Gang war elegant, wie jede ihrer Bewegungen. Man merkte sofort, dass sie aus reichem Hause stammte und eine entsprechende Erziehung genossen hatte.
»Guten Tag, meine Herren. Man hat mir versichert, dass Sie das Beste sind, was das FBI New York zu bieten hat«, sagte sie statt einer Begrüßung.
»Wir haben bereits eine ganze Menge von Fällen erfolgreich gelöst«, erwiderte ich.
»Auch Entführungsfälle?«, fragte sie und schaute ein wenig skeptisch drein.
»Ja, auch Entführungsfälle«, antwortete ich.
»Und wie sind die ausgegangen?«, fragte sie weiter.
»In vielen Fällen haben wir die Entführten wohlbehalten zu ihren Familien zurückbringen können«, antwortete ich und ergriff das Wort, bevor sie weitere Fragen stellen konnte. »Und das streben wir auch hier an. Mistress Whitepeak, ich weiß, dass Sie sich im Moment in einer angespannten Situation befinden, aber es ist von größter Wichtigkeit, dass Sie uns ein paar Fragen beantworten. Wollen wir Platz nehmen?«
»Gerne«, sagte sie und deutete auf ein paar Sessel.
Wir setzten uns, sie und ihr Mann nahmen ebenfalls Platz.
»Mistress Whitepeak, wir wissen, dass Ihre Tochter morgen zur Dialyse muss und die Zeit entsprechend drängt. Daher werden wir allen Spuren nachgehen, die zur Lösung des Falles führen könnten. Und wir werden von vielen Kollegen unterstützt werden. Was wir benötigen, sind Anhaltspunkte, mögliche Tatverdächtige. Gibt es Personen, die Ihrer Meinung nach als Entführer in Frage kommen?«
»Ach, wissen Sie, ich bin nicht gerade der zurückhaltende Typ Mensch. Wenn ich etwas über jemanden denke, dann sage ich das auch. Das kommt natürlich bei vielen nicht gut an.«
»Ja, das kann ich mir denken. Kommen Ihnen bestimmte Personen in den Sinn, die zum Ausdruck gebracht haben, sich an Ihnen rächen oder es Ihnen heimzahlen zu wollen? Oder solche, die es zwar nicht artikuliert haben, denen Sie es aber zutrauen?«, führte ich die Befragung fort.
»Zutrauen?«, wiederholte sie. »Ich weiß nicht, wem ich so etwas zutrauen würde.«
Ihre Mundwinkel fingen an zu zittern. Ich konnte sehen, wie sehr sie sich bemühte, die Gefühle in ihrem Innern unter Kontrolle zu halten.
»Vielleicht einem«, sagte sie schließlich. »Jim Laurel, ein Journalist, oder eigentlich mehr ein abscheulicher Tintenkleckser. Er hat mich und meine Tochter vor etwa einem Jahr so sehr bedrängt, dass ich eine Klage gegen ihn angestrengt habe. Abgesehen von einer verschwindend geringen Geldstrafe hat er seitdem mindestens zweihundert Fuß Abstand zu uns zu halten. Ich glaube, dass die Klage seiner beruflichen Karriere nicht gerade gut getan hat. Ja, das wäre jemand, dem ich so eine gemeine und hinterhältige Tat zutrauen würde.«
»Ja, genau das ist die Art Person, die in Frage kommt«, bestätigte ich. »Fällt Ihnen sonst noch jemand ein?«
Sie überlegte weiter. »Nein, sonst eigentlich nicht, obwohl – da war eine Sache, die ich bisher nicht so ernst genommen hatte, aber unter den gegebenen Umständen mag es schon relevant sein. Vor zwei oder drei Monaten habe ich den Sohn einer Bekannten und Freund von Samuel, Milton Wright, beim Kiffen erwischt. Hier, in meinem Haus. Ich habe natürlich sofort seine Mutter informiert, denn so etwas darf man auf keinen Fall durchgehen lassen. Das hat ganz schön Staub aufgewirbelt. Als ich ihn eine Woche später gesehen habe, war er ziemlich sauer und meinte, ich würde schon sehen, was ich davon hätte. Der war richtig böse. Ich glaube, seine Mutter hat ihm seine Kreditkarte für zwei Wochen weggenommen.«
»Milton Wright werden wir auch überprüfen«, sagte ich ihr zu. »Fällt Ihnen sonst noch jemand ein?«
Sie überlegte eine ganze Weile, verzog dann aber das Gesicht. »Nein, sorry, das sind die, die mir in den Sinn kommen. Tut mir leid, ich habe im Moment auch Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren, die ganze Sache nimmt mich ziemlich mit.«
»Das ist verständlich«, sagte ich.
Mr Whitepeak nahm seine Frau in die Arme. »Es wird alles wieder gut, Schatz, wir bekommen unsere kleine Sarah gesund und munter wieder.«
Phil reichte Mr Whitepeak seine Karte. »Zögern Sie bitte nicht, uns zu kontaktieren, wenn Ihnen noch etwas einfällt. Wir werden uns jetzt auf den Weg machen. Mister High hat veranlasst, dass ein paar Agents zu Ihrer Sicherheit abgestellt werden.«
»Danke, Agent Decker«, sagte Mr Whitepeak. »Wir wissen Ihre Mühe zu schätzen.«
Wir verabschiedeten uns. Als wir gerade die Tür öffnen und den Raum verlassen wollten, trat ein Junge ein, musterte uns argwöhnisch und rannte dann auf Mr und Mrs Whitepeak zu. Offenbar handelte es sich um ihren Sohn Samuel.
***
Phil und ich gingen zurück zum Jaguar.
»Schlimme Sache«, bemerkte Phil. »Wenn es Kinder trifft, ist das immer heftig.«
»Das ist wahr«, sagte ich. »Aber wir dürfen uns nicht zu sehr emotional in die Sache verwickeln lassen. Sarah Whitepeak und ihre Familie zählen darauf, dass wir den Fall völlig nüchtern und analytisch angehen.«
Phil nickte. »Ich rufe Mister High an, um herauszufinden, ob die Crime Scene Unit schon am Tatort eingetroffen ist und was sie herausgefunden haben.«
Er benutzte die Freisprecheinrichtung seines Handys, sodass ich am Gespräch teilnehmen konnte.
»Sir, Jerry und Phil hier«, sagte er, nachdem sich Mr High gemeldet hatte. »Wir haben die Befragung im Haus der Whitepeaks abgeschlossen und wollten uns jetzt auf den Weg machen. Gibt es schon irgendwelche Informationen von der Crime Scene Unit?«
»Nein, bisher noch nicht«, antwortete Mr High. »Am besten schauen Sie persönlich vorbei, wie weit die Kollegen sind. Gibt es schon irgendwelche Anhaltspunkte? Oder Verdächtige?«
»Mister und Mistress Whitepeak haben einige Personen genannt, die ein Motiv hätten«, erwiderte Phil. »Da wäre zum einen Frank Carter, ein Lobbyist der Tabakindustrie, mit dem Mister Whitepeak Ärger hatte. Abgesehen von den Leuten, die ihm Drohbriefe geschrieben haben, ist das der Einzige, den er genannt hat. Wir wollen Mister Carter gleich aufsuchen. Mistress Whitepeak hat den Journalisten Jim Laurel und einen Freund ihres Sohnes, Milton Wright, erwähnt. Es wäre gut, wenn sich ein paar andere Agents Jim Laurel vornehmen könnten. Dadurch könnten wir Zeit sparen.«
»Ich werde das Nötige veranlassen«, sagte Mr High zu. »Melden Sie sich bitte sofort, wenn es irgendwelche Neuigkeiten gibt. Die Telefonüberwachung steht übrigens. Wenn sich die Entführer telefonisch melden, bekommen wir das mit.«
»Danke, Sir«, sagte Phil und verabschiedete sich.
»Gut, dann auf zum Tatort und dann zu Frank Carter«, sagte ich und startete den Motor.
Unser erstes Ziel war nicht weit entfernt, nicht einmal eine halbe Meile. Schon von weitem sahen wir die Mitarbeiter der Crime Scene Unit ihrer Arbeit nachgehen. Und Dr. Drakenhart, die es sich offenbar nicht hatte nehmen lassen, den Tatort persönlich unter die Lupe zu nehmen.
Als Phil und ich den Wagen verlassen hatten, kam sie direkt auf uns zu.
»Hallo, Jerry, Phil, schön euch zu sehen«, begrüßte sie uns.
»Hallo, Janice«, erwiderte ich den Gruß.
Phil nickte. »Leider sind die Umstände mal wieder kein Grund zur Freude.«
»Ja, das Los der Pathologen und Polizisten – wenn man sie aus beruflichen Gründen sieht, ist der Anlass meist kein angenehmer. Schlimme Sache, das mit dem kleinen Mädchen. Ich hoffe, ihr fasst die Typen, die dahinterstecken, und bringt das Mädchen wohlbehalten zu seinen Eltern zurück.«
»Das hoffen wir auch«, sagte ich. »Wobei die Zeit drängt. Die Kleine muss morgen zur Dialyse, sonst hat sie nicht mehr lange zu leben.«
»Verdammt, das wusste ich nicht«, fluchte Dr. Drakenhart.
»Wir haben es auch gerade erst erfahren«, sagte ich. »Habt ihr schon etwas gefunden, das auf den Täter hindeutet? Irgendwelche verwertbaren Hinweise?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, bisher leider nicht. Aber wir haben gerade erst mit unseren Untersuchungen angefangen. Ich gebe euch sofort Bescheid, wenn wir etwas haben. Kann aber noch eine Stunde oder so dauern. Wir suchen die ganze Gegend ab.«
»So lange können wir nicht warten«, sagte ich. »Wir machen uns auf den Weg zu einem Verdächtigen und sind erreichbar.«
»Gut, ich melde mich dann«, sagte sie uns zu und wandte sich wieder ihrem Team zu.
»Dann auf zu Mister Carter«, sagte Phil. »Ich freue mich schon darauf, mir den Kerl vorzunehmen.«
»Ja«, stimmte ich ihm zu. »Ich mich auch.«
Phil kontaktierte die Firma, bei der Carter angestellt war. Zuerst wollte man uns dort nichts über seinen Aufenthaltsort verraten. Also ließ sich Phil mit dem Vorgesetzten eines Vorgesetzten verbinden und legte dem die Situation dar. Schließlich erhielten wir die gewünschte Information.
»Na also, geht doch«, meinte Phil, als das Gespräch beendet war. »Man muss nur mit den richtigen Leuten reden.«
»Wo befindet sich Carter?«, fragte ich ihn.
»Im Empire State Building«, antwortete Phil. »Er soll da mit dem für Werbung und Verkauf zuständigen Mitarbeiter der amerikanischen Modefirma Swingstyle verabredet sein. Da er heute noch nicht in der Firma war, sondern angeblich direkt zum Termin gefahren ist, kann ihm keiner der anderen Mitarbeiter ein Alibi geben.«
»Dann sollten wir uns den Herrn mal vornehmen«, sagte ich und fuhr los.
Ich setzte das Rotlicht aufs Dach und fuhr so schnell wie möglich, setzte teilweise auch die Sirene ein. So konnten wir die Fahrzeit erheblich verringern.
Unterwegs recherchierte Phil. »Frank Carter, vierunddreißig Jahre alt und Single. Lebt in Manhattan, in einer recht guten Wohngegend. Arbeitet seit drei Jahren als Lobbyist für die Tabakindustrie. Neigt wohl zu Gewalt. Vor sieben Jahren gab es eine Anzeige wegen körperlicher Gewalt von einer Ex-Freundin, die sie dann aber zurückgezogen hat. Und vor vier Jahren war er in eine Schlägerei in einer Bar verwickelt. Auch da gab es keine Anzeige. Offenbar hatte er sich mit einem anderen Gast der Bar über etwas gestritten, die Sache eskalierte und der Inhaber der Bar hat die Cops gerufen. Seine Auseinandersetzung mit Bürgermeister Whitepeak hat für ein paar Schlagzeilen gesorgt. Die beiden haben sich öffentlich ziemlich angegriffen, das Ganze wurde auch persönlich. Carter bezeichnete den Bürgermeister als einen ›langweiligen Politiker, der nicht genug Mumm hätte, um zu rauchen und zu trinken‹. Whitepeak hat Carter als altmodischen Macho hingestellt, der nach dem Motto ›Wessen Brot ich esse, dessen Lied ich singe‹ agiere und nur deshalb die Interessen der Tabakindustrie vertrete, weil sie ihn dafür fürstlich bezahlen würde. Irgendwann ebbte der Streit ab und die Medien wandten sich anderen Themen zu. Es gab aber auch Gerüchte, dass Carter Probleme mit seinem Job hätte, weil er in New York zu wenig Ergebnisse erzielt hätte – zumindest stand das in der Zeitung, schwer zu sagen, wie hoch der Wahrheitsgehalt der Nachricht einzustufen ist.«
»Auf jeden Fall hätte er ein Motiv, sich an Whitepeak zu rächen«, folgerte ich. »Bin gespannt, was er zu erzählen hat.«
Während der Fahrt kontaktierte Phil Carter. Er gab an, sich noch im Empire State Building aufzuhalten, und erklärte sich – nach einigen Versuchen, Phil hinzuhalten – bereit, sich unmittelbar nach unserer Ankunft beim Empire State Building mit uns zu treffen.
***
Als wir das majestätische Gebäude im Herzen Manhattans erreicht hatten, parkte ich den Jaguar und wir stiegen aus. Phil rief Carter an, um ihn über unsere Ankunft zu unterrichten. Er schlug vor, dass wir uns in einem kleinen Café in der Nähe des Gebäudes treffen sollten.
Ich schaute auf die Uhr. »Seit der Entführung sind jetzt ziemlich genau zwei Stunden vergangen. Er hatte also potenziell genug Zeit, die kleine Sarah irgendwo auf dem Weg in ein Versteck zu bringen und dann hierherzukommen.«
»Oder er hat sie betäubt und sie liegt jetzt irgendwo hier in der Nähe in einem Transporter oder Kofferraum«, meinte Phil.
»Ja, wäre auch möglich«, stimmte ich ihm zu.
Wir gingen zu dem kleinen Café, das sich in einem Nachbargebäude befand, und warteten in der Nähe des Eingangs.
»Hat er gesagt, in welchem Stockwerk er sich befand?«, fragte ich Phil.
»Nein, hat er nicht«, antwortete mein Partner. »Hoffen wir, dass es nicht zu weit oben war, denn sonst kann es eine ganze Weile dauern, bis er hier ist.«
Ich schaute erneut auf die Uhr. Unerbittlich bewegte sich der Sekundenzeiger vorwärts. Noch hatten wir eine Menge Zeit, um die Entführer der kleinen Sarah Whitepeak zu finden. Aber wenn wir jetzt Zeit vergeudeten, konnte es sein, dass sie uns am Ende fehlte.
Ein paar Minuten später deutete Phil mit einem Kopfnicken in Richtung eines Mannes, der geradewegs auf uns zukam. Das Gesicht mit den weichen Zügen und rötlichen Haaren passte zu dem Foto, das wir auf dem Bordcomputer gesehen hatten. Er war recht groß, fast zwei Meter, eher schlank, bewegte sich aber kraftvoll. Meiner Einschätzung nach brachte er die körperlichen Voraussetzungen für die Tat mit.
»Mister Carter?«, sagte Phil und ging auf ihm zu.
Carter blieb abrupt stehen. »Ja, der bin ich. Sind Sie die beiden FBI-Agents, die mich sehen wollte?«
»Die sind wir«, antwortete Phil und deutete auf mich. »Das ist mein Partner Agent Cotton und ich bin Agent Decker – wir hatten telefoniert.«
Carter reichte Phil die Hand und versuchte ein freundliches Gesicht zu machen. »Ja, das sind Sie? Gut, wenn man zu der Stimme auch das Gesicht kennt.«
Auch ich schüttelte ihm die Hand. »Wollen wir uns kurz hinsetzen?«
Er nickte. Wir betraten das Café und suchten uns einen abgelegenen Platz, an dem wir uns relativ ungestört unterhalten konnten.
»Sie hatten am Telefon nicht gesagt, warum Sie mich sprechen wollten«, begann Carter das Gespräch.
»Das ist richtig«, erwiderte Phil. »Es handelt sich auch nicht um ein Thema, das man am Telefon besprechen sollte. Es geht um Bürgermeister Whitepeak.«
Mit einem Schlag verschwand das Lächeln aus Carters Gesicht. »Whitepeak? Was soll das? Hetzt er jetzt etwa das FBI auf mich, um mich einzuschüchtern? Dieser hinterlistige Kerl.«
»Das ist nicht der Fall«, unterbrach ich ihn. »Wir ermitteln im Fall eines Verbrechens, das die Familie Whitepeak betrifft. Und da Sie in der Vergangenheit erhebliche Differenzen mit Mister Whitepeak hatten, sind wir hier, um mit Ihnen zu reden.«
»Verbrechen?«, fragte Carter argwöhnisch und musterte erst mich und dann Phil genau. »Was ist passiert? Hat jemand den Typen abgeknallt? Suchen Sie einen Schuldigen? Denken Sie etwa, dass ich etwas damit zu tun hätte?«
»Bürgermeister Whitepeak erfreut sich bester Gesundheit«, sagte ich und blieb ruhig, während ich jede Bewegung von Carter genau verfolgte.
»Und was wollen Sie dann von mir?«, fragte der aufgeregt.
Ich merkte, dass er etwas zu verbergen hatte. Diese innere Unruhe, die nervösen Bewegungen seiner Hände und dann der ausweichende Blick. Aber das musste nichts mit dem Fall zu tun haben.
»Whitepeaks Tochter Sarah ist heute entführt worden«, sagte Phil. »Daher befragen wir alle Personen, mit denen der Bürgermeister oder seine Familie Schwierigkeiten hatten – was Sie mit einschließt. Haben Sie etwas mit der Sache zu tun?«
Carter schreckte zurück und fiel fast vom Stuhl. »Was? Sie glauben, dass ich seine Tochter entführt hätte? Damit habe ich nichts zu tun, absolut nichts. Ich kann Whitepeak nicht ausstehen und er hat mir meinen Job ziemlich schwer gemacht. Aber so tief würde ich nicht sinken. Ich bin außerdem nicht so blöd, mein Leben und meine Freiheit wegen einer blöden Racheaktion aufs Spiel zu setzen.«
Seiner äußeren Erscheinung nach sagte er die Wahrheit.
»Dann können Sie uns sicher sagen, wo Sie sich in den letzten Stunden aufgehalten haben«, sagte Phil ernst.
»Natürlich kann ich das«, antwortete Carter.
»Und?«, drängte ihn Phil zu einer Antwort.
»Ich war in meinem Apartment und habe es gegen zehn verlassen. Dann habe ich mir in einem Laden um die Ecke mein Frühstück besorgt und bin anschließend zu meinem Termin im Empire State Building gefahren, der um elf Uhr war. Und da war ich bis jetzt, die ganze Zeit. Dafür habe ich auch Zeugen – außer für den kurzen Moment, den ich auf der Toilette verbracht habe.«
»Zeugen, die Ihr Alibi bestätigen können, sind gut«, sagte Phil. »Wir werden das nachprüfen. Wer genau hat Sie denn gesehen?«
Er machte die gewünschten Angaben, die wir anschließend prüften. Dabei stellte sich heraus, dass das Alibi stichhaltig war. Frank Carter war nicht unser Mann.
»Hoffentlich haben unsere Kollegen mehr Erfolg«, sagte ich zu Phil.
»Ja, das hoffe ich auch«, erwiderte er.
***
Joe Brandenburg und Les Bedell wurden von Mr High persönlich über den Entführungsfall informiert, da sie sich im Gebäude des Field Office befanden, als Phil vorgeschlagen hatte, weitere Agents mit den Ermittlungen zu betrauen.
»Jerry und Phil leiten die Ermittlungen, und ich möchte, dass Sie sie dabei unterstützen«, sagte Mr High den beiden Agents, die sich in seinem Büro befanden, nachdem er ihnen die zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Details des Falles mitgeteilt hatte.
»Natürlich, Sir«, bestätigte Les.
Joe nickte. »Und wo sollen wir ansetzen?«
Mr High schaute ihn an. »Jerry und Phil überprüfen das Alibi des Lobbyisten Frank Carter. Sie sollen sich diesen Journalisten, Jim Laurel, vornehmen.«
»Wird erledigt«, sagte Les.
Die beiden Agents verabschiedeten sich von Mr High und verließen sein Büro.
»Jim Laurel«, sagte Les. »Journalisten von seiner Sorte, die alles für eine Story tun würden, kann ich nicht ausstehen. Die sollten sich mal auf die Ideale ihres Berufsstandes besinnen.«
»Ja, die sind teilweise schlimmer als Paparazzi«, stimmte Joe zu. »Aber egal, wir müssen schnell herausfinden, ob dieser Laurel etwas mit der Entführung zu tun hat. Gehen wir in unser Büro und schauen, was für ein Typ Mensch er ist und wo wir ihn erreichen können.«
Sie gingen in ihr Büro und Les schaltete seinen Computer ein. Dann setzte er sich und suchte in verschiedenen Datenbanken nach Informationen über Jim Laurel, inklusive der des National Crime Information Center, in der alle jemals gespeicherten Kriminalakten erfasst waren.
»Der ist nicht nur Mistress Whitepeak auf die Füße getreten«, meinte Les. »Insgesamt drei Verurteilungen in den letzten fünf Jahren. Hinzu kommt, dass es mit seinen Finanzen nicht gut aussieht. Eine schöne Lösegeldsumme käme ihm da gerade recht.«
»Wobei bisher keine Lösegeldforderung gestellt wurde«, meinte Joe.
»Das kommt bestimmt noch«, erwiderte Les.
»Sonst noch ein paar nützliche Informationen über diesen Laurel?«, fragte Joe und schaute auf den Monitor.
»Nur allgemeine Daten«, antwortete Les. »Jim Laurel ist vierunddreißig, geschieden, zahlt Unterhalt für zwei Kinder beziehungsweise müsste das eigentlich tun, ist damit aber erheblich im Rückstand. Sein Haus wurde vor zwei Jahren zwangsversteigert. Kann mir vorstellen, dass er auf so wohlhabende Leute wie die Whitepeaks ziemlich sauer ist. Das wäre ein zusätzliches Motiv.«
»Ja, das passt alles zusammen«, meinte Joe und fuhr sich mit der Hand durch das dunkelblonde Haar. »Jetzt müssen wir aber noch herausfinden, ob er tatsächlich etwas mit der Entführung zu tun hat. Schließlich ist ein Verdacht nur ein Verdacht und ein Motiv nur ein Motiv. Hast du eine Nummer, unter der wir ihn erreichen können?«
Les schaute nach. »Ja, eine private und eine von der Zeitung, bei der er arbeitet. Ich versuch’s zuerst mal bei seinem Brötchengeber.«
Er nahm den Hörer des Bürotelefons ab und wählte die Nummer. Laurel war nicht anwesend. Eine Sekretärin mit netter Stimme gab Les darüber Auskunft, dass er sich wegen Artikelrecherchen im Yankee Stadium aufhielte.
»Eine Frage noch«, sagte Les, bevor er das Gespräch beendete. »War Mister Laurel heute schon im Büro?«
»Soviel ich weiß, nicht«, antwortete die Sekretärin. »Zumindest habe ich ihn nicht gesehen. Ist das wichtig? Falls ja, kann ich mal kurz rumfragen.«
»Das wäre nett«, erwiderte Les und wartete.
Die Sekretärin war gut zwei Minuten später wieder in der Leitung. »Nein, hier hat ihn keiner gesehen. Wahrscheinlich ist er direkt von zu Hause zum Stadion gefahren. Er wohnt in der Bronx, da macht das auch Sinn.«
»Ja, das stimmt«, sagte Les, bedankte sich für die Auskunft und legte den Hörer wieder auf.
»Die im Büro können ihm zumindest kein Alibi geben«, sagte er zu Joe. »Gut, dann rufe ich ihn jetzt an.«
Les wählte eine der Nummern, die er von der Sekretärin bekommen hatte.
Jim Laurel meldete sich nach zweimaligem Klingeln. »Hallo, wer ist da?«
»Agent Les Bedell, FBI New York«, antwortete Les. »Spreche ich mit Jim Laurel?«
»Ja, der bin ich«, kam die zögerliche Antwort.
»Mister Laurel, im Rahmen aktueller Ermittlungen haben wir ein paar Fragen an Sie. Befinden Sie sich noch im Yankee Stadium?«, fragte Les.
»Woher wissen Sie das?«, kam statt einer Antwort eine Gegenfrage.
»Das ist unser Job«, erwiderte Les.
»Ja, ich bin hier noch einige Zeit beschäftigt«, sagte Laurel.
»Gut, dann kommen wir vorbei«, sagte Les. »Bleiben Sie bitte vor Ort, damit wir uns nicht verpassen!«
»In Ordnung«, sagte Laurel. »Worum geht es denn?«
»Das würden wir lieber unter vier Augen mit Ihnen besprechen«, antwortete Les und legte auf.
»Gut, dann auf zum Yankee Stadium«, sagte er zu Joe.
Die beiden machten sich auf den Weg.
Die Fahrt zur südlichen Bronx, wo sich das Stadion befand, verlief ohne Zwischenfälle.
»Irgendwie gefiel mir das alte Stadion besser«, meinte Joe, als die beiden vor dem anderthalb Milliarden Dollar teuren Bauwerk standen.
»Ja, da haben wir einige hervorragende Spiele erlebt«, erwiderte Les. »Aber irgendwann war der Neubau nötig, Gebäude halten halt nicht ewig. Und jetzt haben wir in New York eine weitere Superlative – die teuerste Sportstätte der Welt.«
»Was sich nicht gerade vorteilhaft auf die Eintrittspreise ausgewirkt hat«, sagte Joe mürrisch.
»So ist das Leben«, philosophierte Les. »Ich rufe Laurel an, um herauszufinden, wo er steckt.«
Er nahm sein Handy und wählte die Nummer, unter der er Laurel bereits zuvor erreicht hatte. Doch der reagierte nicht. Stattdessen sprang seine Mailbox an.
»Er geht nicht dran«, sagte Les zu Joe.
Joe drehte seinen breitschultrigen Körper in Richtung des Stadions. »Dann wollen wir mal sehen, ob er einfach nicht schnell genug reagiert hat oder nicht antworten wollte. Reden wir mit dem Sicherheitsdienst des Stadions. Die werden ihn schon für uns finden.
Die beiden waren gerade losgegangen, als das Handy von Les klingelte.
Es war Laurel. »Hallo, tut mir leid, es war gerade ziemlich laut hier und ich hatte das Klingeln fast überhört. Sind Sie schon im Stadion?«
»Direkt davor«, antwortete Les.
»Dann treffen wir uns doch im Café im Erdgeschoss, direkt neben dem Hotdog-Stand«, schlug Laurel vor.
»Gut, wir sind gleich da«, sagte Les, legte auf und wandte sich an seinen Partner. »Hatte das Klingeln überhört.«
»Besser für ihn«, meinte Joe.
Die beiden betraten das Stadion. Mit ihren Dienstausweisen hatten sie keine Probleme, von den Sicherheitsleuten, die auch um diese Zeit schon vor Ort waren, hereingelassen zu werden.
»Da ist er«, sagte Les, kurz bevor die beiden den vereinbarten Treffpunkt erreicht hatten.
Laurel wartete bereits auf sie.
Er war ein relativ kleiner, drahtiger Typ und wirkte neben den beiden FBI-Agents, insbesondere neben Joe Brandenburg, noch eine Idee kleiner. Während er von seiner Statur her keinen gefährlichen Eindruck machte, sprachen seine Augen eine ganz andere Sprache. Sie hatten einen ziemlich verschlagenen Ausdruck.
Nach einer kurzen, formellen Begrüßung ergriff Laurel das Wort. »So, hier bin ich, was kann ich für Sie tun? Sie wollten ja am Telefon nicht sagen, worum es ging. Hoffentlich handelt es sich nicht um ein Geheimnis, das die nationale Sicherheit betrifft.«
Beim letzten Satz lächelte er auf eine merkwürdige Art. Wahrscheinlich betrachtete er das als humorvollen Einstieg ins Gespräch.
»Nein, es geht nicht um die nationale Sicherheit«, sagte Joe ernst. »Wir ermitteln in einem Entführungsfall, der die Familie Whitepeak betrifft. Und ich sage es ganz direkt: Sie sind einer der Verdächtigen.«
Laurel zuckte zusammen, Furcht zeigte sich in seinem Gesicht. »Was? Ich? Entführung? Mit so was habe ich nichts zu tun. Dabei handelt es sich wahrscheinlich um ein Komplott von Dan Whitepeak. Der hat mich sowieso auf dem Kieker. Wahrscheinlich ist die Entführung nur vorgetäuscht und Teil eines Planes, um mir eins auszuwischen. Aber damit wird er bei mir keinen Erfolg haben. Ich kenne meine Rechte!«
»Schön, das zu hören«, meinte Joe ruhig.
Durch solche emotionalen Ausbrüche ließ er sich nicht aus der Ruhe bringen. Da hatte er in seiner Zeit als Captain beim NYPD und später als Agent beim FBI weitaus heftigere Situationen erlebt.
»Lassen Sie uns die Sache wie Profis und ohne unnötige Emotion angehen«, sagte Les. »Sie, Mister Laurel, beantworten einfach unsere Fragen und dann sehen wir weiter.«
Der Journalist machte einen ziemlich unruhigen Eindruck. Er verlagerte sein Gewicht abwechselnd auf das linke und das rechte Bein und fasste sich mit der Hand wiederholt an die Nase. »In Ordnung, so machen wir es. Wobei ich mir das Recht vorbehalte, meinen Anwalt hinzuzuziehen.«
»Natürlich, das ist Ihr gutes Recht«, sagte Joe gelassen.
»Wer ist denn eigentlich entführt worden? Mistress Whitepeak? Oder eines der Kinder?«, fragte Laurel.
»Kommen wir zunächst auf Ihr Alibi zu sprechen«, sagte Les und ignorierte die Frage von Laurel. »Wo haben Sie sich in den letzten drei Stunden aufgehalten?«
»Drei Stunden«, wiederholte Laurel und machte einen nachdenklichen Eindruck. Offenbar fiel es ihm nicht leicht, zu rekonstruieren, was er in der Zeit gemacht hatte. Oder er überlegte sich eine gute Story, um die Wahrheit nicht erzählen zu müssen.
»Ich war hier, bin vor zweieinhalb Stunden hier angekommen und habe mich im Stadion umgesehen. Dann habe ich vor einer halben Stunde meinen Termin mit einem der Trainer wahrgenommen«, antwortete er schließlich.
»Wer hat gesehen, dass Sie vor zweieinhalb Stunden das Gelände des Stadions betreten haben?«, fragte Joe.
Laurels Gesicht zuckte verdächtig. »Irgendeiner der Sicherheitsleute, nehme ich an, weiß aber nicht mehr genau, wer es war. Auf so etwas achte ich nicht genau, wenn ich auf dem Weg zu einer Story bin. Wird eine ziemlich große Sache, hat Pulitzer-Preis-Niveau, wenn Sie wissen, was ich meine. Das wird meiner Karriere einen Kick geben und mich auf einen Schlag im ganzen Land bekannt machen.«
»Gut, dann werden wir Ihre Angaben prüfen«, sagte Les.
»Ja, machen Sie das«, sagte Laurel, verabschiedete sich und wollte gerade losgehen, als sich ihm Joe in den Weg stellte.
»Moment mal, Sie kommen natürlich mit«, sagte er.
»Oh, ist das tatsächlich nötig?«, fragte Laurel. »Ich stehe etwas unter Zeitdruck und muss los, zum nächsten Termin. Eine der Spielerfrauen will aus dem Nähkästchen plaudern. Das darf ich mir natürlich nicht entgehen lassen.«
»Sie werden uns begleiten«, sagte Joe ernst.
»Ja, natürlich, wie Sie meinen«, erwiderte der Journalist eingeschüchtert.
Die drei gingen zum Eingangsbereich, wo sich mehrere Sicherheitsleute aufhielten.
»Sind Sie hier ins Stadion gelangt?«, fragte Les Laurel.
Der nickte unsicher. »Ich glaube schon. Gibt es denn noch einen anderen Eingang?«
»Um diese Zeit haben wir die anderen Eingänge geschlossen, um Personal zu sparen«, bemerkte einer der Sicherheitsleute. »Sie werden nur bei Veranstaltungen geöffnet.«
»Danke für die Information«, sagte Joe an den Mann gewandt. »Können Sie uns sagen, wann Mister Laurel das Stadion betreten hat?«
»Sicher kann ich das«, antwortete der Sicherheitsmann und schaute etwas an einem Computer nach. »Vor genau dreiunddreißig Minuten.«
»Vor dreiunddreißig Minuten? Nicht vor zweieinhalb Stunden?«, fragte Les nach.
Der Sicherheitsmann deutete auf den Computerbildschirm. »Hier, schauen Sie doch selbst nach, wenn Sie mir nicht glauben. Vor dreiunddreißig Minuten hat der Herr das Stadion betreten, nicht früher.«
Joe und Les schauten Laurel mit ernsten Blicken an.
»Ich kann das erklären!«, versuchte der, sich herauszureden.
Allerdings hatte er auf die Schnelle keine gute Erklärung parat.
»Das sollten Sie, sonst nehmen wir Sie gleich mit zum FBI Field Office – zum Verhör«, sagte Joe ernst.
Laurel schnappte nach Luft und stammelte schließlich: »Ich will meinen Anwalt sprechen. Ich sage nichts mehr ohne meinen Anwalt.«
»Kein Problem«, sagte Joe. »Dann werden wir Sie jetzt verhaften und mitnehmen. Ihren Anwalt können Sie während der Fahrt kontaktieren. Les, informierst du ihn über seine Rechte?«
»Ist mir ein Vergnügen«, sagte Les und zitierte den vorgeschriebenen Text.
»Ja, ja, ich kenne meine Rechte«, stammelte Laurel und verhielt sich wie ein wildes Tier, das nach einem Ausweg aus einer Falle sucht. »Aber Sie verstehen das nicht, ich war es nicht, und ich habe auch nichts mit der Entführung zu tun.«
»Und deshalb haben Sie uns über Ihren Aufenthalt in den letzten zweieinhalb Stunden belogen?«, fragte Les und holte Handschellen heraus. »Das können wir beim FBI klären.«
All sein Jammern bewahrte Jim Laurel nicht davor, dass ihm Handschellen angelegt wurden und er von den beiden Agents abgeführt wurde.
»Okay, Sie haben gewonnen, ich erzähle Ihnen die Wahrheit«, sagte er, als die drei den Dienstwagen erreicht hatten. »Es ist mir allerdings etwas peinlich, und es wäre ziemlich unangenehm für mich, wenn man bei meiner Zeitung etwas darüber erfahren würde. Können Sie mir zusagen, die Sache vertraulich zu behandeln?«
Joe schüttelte den Kopf. »Nein, das können wir nicht, insbesondere dann nicht, wenn die Informationen für die aktuelle Ermittlung relevant sind. Wenn Sie allerdings nichts damit zu tun haben, ist das eine andere Sache. Also, reden Sie schon und verschwenden Sie nicht unsere Zeit!«
Laurel schluckte und holte tief Luft. »Die Wahrheit ist, dass ich bis vor einer knappen Stunde in einem Club war. Einem besonderen Club.«
»Können Sie das etwas näher ausführen?«, fragte Les.
Wieder schluckte Laurel. »Wissen Sie, ich habe gewisse Bedürfnisse und habe die nicht immer ganz unter Kontrolle. Mein Psychiater meint, dass ich wohl noch ein paar Jahre brauchen werde, um das kontrollieren zu können, und dass ich in dieser Beziehung eine Schwäche hätte, die auf meine Kindheit zurückzuführen sei.«
»Reden Sie nicht um den heißen Brei herum«, sagte Les. »Wo waren Sie?«
»In einem Swingerclub, hier in der Nähe«, antwortete Laurel schließlich.
»Ein Swingerclub also«, wiederholte Joe. »Und warum haben Sie das nicht gesagt?«
Er druckste herum. »Ehrlich gesagt ist mir das peinlich. Hinzu kommt, dass mein Arbeitgeber nichts davon erfahren darf, weil ich sonst vielleicht gefeuert werde. Sie werden meinem Chef doch nichts davon erzählen, oder?«
»Zuerst prüfen wir Ihr Alibi, dann sehen wir weiter«, antwortete Les und öffnete die Tür des Dienstwagens. »Steigen Sie ein, wir fahren eben beim Club vorbei!«
Laurel leistete widerstandslos Folge. Nachdem die beiden Agents ebenfalls eingestiegen waren, fragte Les, der am Steuer saß: »Und wo genau müssen wir jetzt hin?«
»Zum Chez Monique, etwa eine halbe Meile von hier«, antwortete Laurel und deutete nach vorne. »In diese Richtung.«
Die Fahrt dauerte knapp zehn Minuten, dann standen die drei vor dem Club Chez Monique.
»Dann wollen wir mal sehen, ob hier jemand Ihre Aussage bestätigen und Ihnen ein Alibi verschaffen kann«, sagte Joe.
»Bestimmt!«, erwiderte Laurel.
Die drei betraten das Gebäude und gelangten durch einen Flur an den Empfang des Saunaclubs. Dort saß eine übermäßig geschminkte Blondine, an der nicht viel echt aussah. Die Lippen waren aufgespritzt und die Brüste mit Sicherheit vergrößert worden, wobei in beiden Fällen mehr nicht wirklich besser war. Ihre Haaransätze waren dunkelbraun, was zeigte, dass ihre Haarpracht gefärbt war. Und aufgrund einer dicken Make-up-Schicht war es unmöglich, ihre wirkliche Gesichtshaut zu sehen. Die Haut der Arme und des Oberkörpers war braungebrannt, wirkte aber etwas ledrig, wahrscheinlich hatte sie es mit den Besuchen im Solarium übertrieben.
Als die drei Herren eintraten, hörte sie auf Kaugummi zu kauen und musterte die Besucher.
»Hallo, Mister, haben Sie ein paar Freunde mitgebracht? Sie haben Glück, gerade sind ein paar nette Damen vorbeigekommen, die unsere Dienste genießen wollen. Da kommen Sie gerade richtig«, begrüßte sie Laurel lächelnd.
»Sie kennen diesen Mann?«, fragte Joe, der auf Laurel deutete.
Die Blondine nickte. »Na klar, der ist einer unserer Stammgäste.«
»War er heute schon hier?«, fragte Joe weiter.
Sie nickte. »Ja, war er. Und ich hätte nicht erwartet, ihn so schnell wiederzusehen. Aber manche Menschen haben halt stärkere Bedürfnisse als andere.«
»Von wann bis wann war er heute hier?«, fragte Joe weiter.
Sie schaute in ein Buch. »Das habe ich natürlich notiert. Hier steht es ja, nein da, das war er. Von zwölf bis zwei. Ja, wir machen erst um zwölf auf, daher kam er wohl nicht früher.«
»Und das würden Sie auch vor Gericht bestätigen?«, fragte Les, der die Glaubwürdigkeit der Zeugin prüfen wollte.
»Wieso vor Gericht? Wer sind Sie denn? Ich dachte, Sie wären Freunde«, erwiderte sie überrascht.
Les zeigte seinen Dienstausweis. »Wir sind vom FBI New York und überprüfen das Alibi dieses Herrn.«
»Oh, so wie im Fernsehen«, sagte sie freudestrahlend.
Les verdrehte die Augen. »Würden Sie vor Gericht bestätigen, dass dieser Mann heute von zwölf bis zwei hier war?«
Sie sprang vom Stuhl und stellte sich kerzengerade hin. »Jawohl, das kann ich bestätigen.«
»Damit haben Sie dann wohl Ihr Alibi«, sagte Joe zu Laurel.
Der stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. »Ja, in der Tat.«
Les verzog das Gesicht. »Warum nicht gleich so? Mit Ehrlichkeit kommt man weiter!«
»Sie haben ja recht«, meinte Laurel. »Und, na ja, das müssen Sie meinem Chef doch nicht auf die Nase binden, oder?«
»Das überlassen wir Ihnen«, sagte Joe und wandte sich dann an Les. »Komm, wir gehen.«
»Und ich? Wie komme ich jetzt zurück zum Stadion?«, fragte Laurel.
Joe drehte sich um und fixierte ihn mit festem Blick. »Wie wäre es, wenn Sie einen kleinen Spaziergang machen würden und darüber nachdenken, was Sie an Ihrem Leben verbessern können?«
»Ja, ja, in Ordnung, machen Sie’s gut!«, erwiderte Laurel und verschwand.
»Ob er daraus etwas gelernt hat?«, fragte Les seinen Partner.
»Hoffentlich, dass einen zu viel Unehrlichkeit in Schwierigkeiten bringt«, antwortete Joe. »Aber ob er diese Erkenntnis dann auch in die Praxis umsetzt, das hängt ganz allein von ihm selbst ab.«
»Ja, und wir wissen jetzt, dass er nichts mit der Entführung zu tun hatte«, sagte Les. »Informieren wir Mister High.«
***
Nachdem wir Carter als Verdächtigen ausgeschlossen hatten, machten wir uns auf den Weg zum Haus der Familie Wright, das sich eine knappe Meile entfernt von dem der Whitepeaks befand. Wir wollten herausfinden, ob Milton Wright, den Mrs Whitepeak beim Drogenkonsum erwischt hatte, hinter der Entführung steckte.
»Glaubst du wirklich, dass ein Junge wie Milton Wright etwas mit der Entführung zu tun hat?«, fragte mich Phil.
»Ich will die Spur auf jeden Fall nicht unbeachtet lassen«, antwortete ich. »Was hast du über den Jungen?«
Phil recherchierte mit dem Bordcomputer, während ich den Wagen nach Staten Island fuhr.
Phil schaute verwundert drein. »Ist Samuel Whitepeak nicht erst vierzehn?«
Ich nickte. »Ja, warum?«
»Dieser Milton Wright ist schon sechzehn, also gut zwei Jahre älter«, erwiderte Phil.
»Vielleicht ist Milton mal sitzengeblieben. Oder Samuel hat ein oder zwei Klassen übersprungen«, überlegte ich laut. »Einem Sechzehnjährigen würde ich eine Entführung eher zutrauen als einem Vierzehnjährigen.«
»Es wird noch besser. Gemäß dem, was hier steht, ist dieser Milton Wright kein Musterschüler, eher ein Schläger. Er wurde schon zweimal wegen tätlichen Angriffs angezeigt. In beiden Fällen wurde die Anzeige zurückgezogen. Hier steht nicht, warum, aber wenn seine Eltern genauso reich sind wie die Whitepeaks, kann ich mir vorstellen, dass sie das entsprechend geregelt haben – mit Geld.«
»Ob das dem Jungen hilft zu lernen, mit anderen Menschen klarzukommen, bezweifle ich sehr. In dem Fall wird der Segen des Geldes eher zum Fluch«, sagte ich. »Statt für seine Taten Verantwortung zu übernehmen, wird er von seinen Eltern freigekauft – wenn es sich wirklich so abgespielt hat.«
»Das können wir sie fragen, wenn wir da sind. Als ich gerade mit Mistress Wright gesprochen habe, war Milton nicht zu Hause. Einen Mister Wright gibt es wohl nicht, zumindest nicht in New York, die Eltern leben getrennt. Vielleicht kompensiert der Junge den fehlenden Elternteil mit Gewalt.«
»Vielleicht«, sagte ich. »Wobei das nicht der Grund für seine Gewaltbereitschaft sein muss. Andere Kinder in einer ähnlichen Situation gehen auch nicht diesen Weg. Das ist also keine Entschuldigung. Hast du sonst noch was Interessantes?«