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Sammelband 28: Fünf actiongeladene Fälle und über 300 Seiten Spannung zum Sparpreis!
G-Man Jerry Cotton hat dem organisierten Verbrechen den Krieg erklärt! Von New York aus jagt der sympathische FBI-Agent Gangster und das organisierte Verbrechen, und schreckt dabei vor nichts zurück!
Damit ist er überaus erfolgreich: Mit über 3000 gelösten Fällen und einer Gesamtauflage von über 850 Millionen Exemplaren zählt er unbestritten zu den erfolgreichsten und bekanntesten internationalen Krimihelden überhaupt! Und er hat noch längst nicht vor, in Rente zu gehen!
In diesem Sammelband sind 5 Krimis um den "besten Mann beim FBI" enthalten:
2915: Wer tot ist kann nicht sterben
2916: Das Marlin-Projekt
2917: Heiße Ware und kaltes Blei
2918: Der Blackout-Plan
2919: Mit 3 Millionen hat man ausgesorgt
Jerry Cotton ist Kult - und das nicht nur wegen seines roten Jaguars E-Type.
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Seitenzahl: 667
Veröffentlichungsjahr: 2021
Jerry Cotton
Jerry Cotton Sammelband 28 - Krimi-Serie
Cover
Impressum
Wer tot ist, kann nicht sterben
Jerry Cotton aktuell
Vorschau
Wer tot ist, kann nicht sterben
Der Wind peitschte durch die Häuserschluchten und kündigte den großen Wirbelsturm an, der in New York erwartet wurde. Die nächtliche Straße war fast menschenleer. Doch das kümmerte Roter Panther vom Stamm der Arikara wenig. Seine Gedanken konzentrierten sich auf den dunklen Schatten, der ihn verfolgte.
Er war gerade am Eingang zu einer U-Bahn-Station angelangt, als er sich wieder umdrehte. Eine dunkle Gestalt trat auf ihn zu und rammte ihm ein Messer in den Bauch. Noch ehe Roter Panther etwas unternehmen konnte, zog die Gestalt das Messer wieder heraus und rammte es ein zweites Mal in seinen Bauch.
Roter Panther taumelte, stolperte die Stufen zur U-Bahn hinunter und versuchte mit seiner linken Hand, die er auf die Wunden presste, die Blutung zu stoppen. Doch ohne Erfolg: Nach wenigen Metern wurde ihm schwindelig und er sackte zusammen, blieb auf den kalten Steinen liegen und verblutete.
»Oh Mann, es sieht aus wie nach einem Bombenangriff«, meinte Phil, als wir durch die Straßen von New York in Richtung Federal Plaza fuhren.
Ich nickte. Phil hatte recht. Der Wirbelsturm hatte furchtbar gewütet. Bäume waren entwurzelt worden, Fenster zersprungen, Autos standen kreuz und quer herum, und noch immer standen einige Bereiche von Lower Manhattan unter Wasser. Und das, was wir hier in Manhattan sahen, war nur ein kleiner Ausschnitt der Verwüstung, die der Jahrhundertsturm an der gesamten Ostküste hinterlassen hatte.
»Da werden eine Menge Versicherungsgesellschaften tief in die Tasche greifen müssen«, sagte ich ernst.
»Oder pleitegehen«, erwiderte Phil mit einem sarkastischen Ton in der Stimme. »Gut, dass wir vorbereitet waren – sonst hätte der Sturm noch viel mehr Schaden verursacht und mehr Opfer gefordert.«
Insgesamt bewegten sich die Menschen heute, einen Tag nach dem Sturm, recht hektisch und unkoordiniert. Das Naturereignis hatte ihre normale Routine ganz schön durcheinandergewirbelt.
Phil schaltete das Radio ein. Die Folgen des Wirbelsturms waren nach wie vor Thema Nummer eins. Immer wieder wurden neue Leichen gefunden. Viele Menschen hatten die Warnungen ignoriert oder die Heftigkeit des Sturms unterschätzt und das mit dem Leben bezahlen müssen.
Als Phils Handy klingelte, drehte er das Radio leiser und ging dran.
»Guten Morgen, Phil«, hörte ich über die Freisprecheinrichtung von Phils Handy.
»Guten Morgen, Sir«, erwiderte mein Partner.
Auch ich begrüßte unseren Chef.
»Uns wurde ein Mordfall gemeldet, der in unseren Zuständigkeitsbereich fällt«, kam Mr High direkt auf den Grund seines Anrufs zu sprechen. »Ein junger Mann aus North Dakota, offenbar indianischer Abstammung, wurde bei Aufräumarbeiten in einem überfluteten U-Bahn-Schacht in Lower Manhattan gefunden. Der Mann scheint schon einige Tage tot zu sein. Was ich sonst noch an Informationen habe, sende ich Ihnen zu.«
»Gut, wir fahren direkt dorthin«, sagte ich.
»In Ordnung. Melden Sie sich anschließend zu einer Besprechung in meinem Büro«, sagte Mr High und beendete das Gespräch.
»Ein Indianer, der in New York umgebracht wird – hört sich eher nach einem Fall für Zeery an«, meinte Phil.
»Mister High wird seine Gründe haben, warum er uns mit der Sache betraut«, sagte ich. »Weißt du schon, wo genau der Mann gefunden wurde?«
Phil schaute im Bordcomputer nach. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis er die Daten erhielt, die Mr High uns zugesagt hatte.
Phil nickte und deutete mit seiner Hand nach rechts. »Ja, ist nicht weit von hier. Wir müssen die nächste Straße rechts abbiegen, dann noch knapp vier Blocks.«
Ich setzte den Blinker und bog ab. Es dauerte nicht lange, bis wir unser Ziel erreicht hatten. Der Zugang zur U-Bahn-Station war abgesperrt. Es war aber keine Polizeiabsperrung. Wahrscheinlich war die Station aufgrund der Überflutung ohnehin geschlossen. Ich sah einen Cop, der vor dem Eingang stand, und ein paar Arbeiter mit Schutzhelmen.
»Guten Morgen, wir sind vom FBI. Da unten soll sich ein Tatort befinden«, sagte Phil zu dem Cop, zeigte mit der einen Hand die Treppe nach unten und hielt in der anderen seine Dienstmarke.
Der Cop musterte die Marke kurz und erwiderte dann: »Ja, im unteren Bereich, der teilweise unter Wasser steht. Dort fingen heute Morgen die Aufräumarbeiten an. Der Bereich wurde leergepumpt und dann hat man die Leiche gefunden. Ein Detective ist vor Ort und kann Ihnen sicherlich mehr erzählen.«
Wir bedankten uns bei dem Officer und stiegen die Stufen hinunter. Je tiefer wir kamen, desto unangenehmer roch es. Der Sturm hatte nicht nur Wasser, sondern auch alle möglichen anderen Dinge in den U-Bahn-Schacht befördert, von denen einige bereits vermoderten.
»Wird einige Zeit dauern, das wieder in Ordnung zu bringen«, meinte Phil, als wir den Bahnsteig erreicht hatten.
Hier befanden sich gut ein Dutzend Personen, die meisten arbeiteten daran, das Wasser, das sich immer noch in den tiefer gelegenen Gleisbereichen befand, abzupumpen. Dann waren noch drei Personen von der Crime Scene Unit – inklusive Dr. Janice Drakenhart – anwesend und ein Mann, bei dem es sich wahrscheinlich um den Detective vom NYPD handelte, an den der Officer uns verwiesen hatte.
Als der Detective uns erblickte, kam er direkt auf uns zu und sagte freundlich: »Guten Morgen, Sie müssen die FBI-Agents sein, die mir angekündigt wurden, Cotton und Decker.«
»Genau die sind wir«, erwiderte ich und schüttelte ihm die Hand zur Begrüßung.
Phil tat es mir gleich.
»Ich bin Detective Windman«, stellte er sich vor. »Als ich die Daten des Ermordeten weitergegeben hatte, sagte man mir kurz darauf, dass das FBI übernehmen würde – das Opfer stammt wohl nicht von hier.«
»Nein, er ist aus North Dakota«, sagte Phil. »Aber viel mehr wissen wir auch nicht. Wie ist er gestorben? Ertränkt worden?«
Dr. Drakenhart, die ein paar Meter weiter gestanden hatte, begrüßte uns und antwortete anstelle des Detectives. »Nein, der Körper weist zwei Stichverletzungen im Bauchbereich auf. Und keine Abwehrverletzungen. Entweder kannte er den Täter und hat ihn deshalb nah an sich herangelassen oder er war so schnell, dass das Opfer ihn nicht rechtzeitig bemerkt hat, um sich zu wehren.«
»Stichverletzungen?«, fragte Phil. »Von einem Messer?«
»Wahrscheinlich«, antwortete Dr. Drakenhart. »Aber das muss ich im Labor genau bestimmen.«
Phil nickte, sagte aber nichts weiter. Ich wusste, wie sein kriminalistischer Verstand arbeitete. Ein Messer ist eine für Indianer typische Waffe. Vielleicht war der Täter ebenfalls Indianer.
»Und der Zeitpunkt des Todes? Wie sieht es damit aus?«, war meine Frage.
Sie bewegte den Kopf hin und her. »Der Körper hat einige Zeit im Wasser gelegen und ist völlig ausgekühlt. Aufgrund des Stadiums der Zersetzung würde ich sagen, dass er vor knapp einer Woche ermordet wurde, also etwa, als uns die ersten Ausläufer des Wirbelsturms erreicht haben.«
»Können wir ihn uns ansehen?«, fragte ich.
Dr. Drakenhart nickte. »Klar, wir haben unsere Untersuchungen abgeschlossen – viel hat der Tatort ohnehin nicht hergegeben. Ist aber kein schöner Anblick.«
»Das sind Wasserleichen niemals«, sagte ich und folgte ihr mit den anderen zum Opfer.
Die Leiche des Mannes war blass und aufgedunsen, das Gesicht entsprechend entstellt. Man sah sofort, dass er mehrere Tage im Wasser gelegen haben musste.
»Wir konnten ihn anhand seines Führerscheins identifizieren«, bemerkte Detective Windman.
»Hatte er sonst etwas dabei, was von Interesse sein könnte?«, wollte Phil wissen.
»Eine Rechnung von einem Hotel hier in Manhattan und seine Brieftasche mit rund zweihundert Dollar Bargeld und seiner Kreditkarte. Ein Messer hatte er auch dabei – sieht aber sauber aus, ist also wahrscheinlich nicht die Tatwaffe«, antwortete der Detective.
»Das Messer wird untersucht, aber so wie es aussieht, hat der Detective recht«, fügte Dr. Drakenhart hinzu. »Wahrscheinlich ist es sein eigenes Messer. Wir werden auch die Blutspuren untersuchen, um herauszufinden, ob es nur sein Blut ist oder auch welches vom Täter. Aber wie schon gesagt – es ist unwahrscheinlich, dass der Mörder verletzt wurde.«
»Wie sieht es mit den Überwachungskameras aus?«, fragte ich. »Hier unten befinden sich ja einige.«
»Meine Leute werden die Aufzeichnungen wenn möglich sichern, aber soweit mir bisher bekannt ist, sieht es nicht gut aus«, antwortete Dr. Drakenhart. »Es gab mehrere Stromausfälle, und es sieht so aus, als hätten die Notstromaggregate nicht funktioniert.«
»Gebt uns bitte so schnell wie möglich Bescheid«, sagte Phil. »Wenn der Mord hier unten stattfand, haben wir vielleicht Glück und bekommen eine Aufnahme des Täters. Das würde unsere Ermittlungen erleichtern.«
Dr. Drakenhart lächelte. »Natürlich, Phil, wir geben uns Mühe. Allerdings hat der Sturm eine Menge Leichen hinterlassen. Bei den meisten handelt es sich zwar nicht um Mordopfer, aber das bedeutet nicht zwangsweise, dass wir keine Untersuchungen anstellen müssen. Doch ich werde den Fall hier vorziehen, sofern ich keine anderen Anordnungen von oben erhalte.«
»Das wissen wir zu schätzen«, sagte Phil und lächelte charmant.
»Dann übernehmen Sie jetzt?«, fragte Detective Windman.
»Ja, danke für Ihre Kooperation«, sagte ich.
***
Der Detective verabschiedete sich. Phil und ich schauten uns noch ein wenig in der Gegend um, fanden aber nichts, das für unsere Ermittlungen von Interesse war. Dann gingen wir zum Wagen zurück. Dort angekommen stiegen wir ein und fuhren los, in Richtung Field Office.
Phil aktivierte den Bordcomputer und nutzte die Fahrzeit, um weitere Recherchen anzustellen. »Roter Panther, Indianer vom Stamm der Arikara. Er lebte im Reservat Fort Berthold in North Dakota. Fünfundzwanzig Jahre alt, nicht verheiratet. Es sind keine kriminellen Delikte eingetragen.«
»Arikara?«, fragte ich. »Scheint kein großer Stamm zu sein, zumindest habe ich noch nie davon gehört.«
»Einen Augenblick«, meinte Phil und tippte auf der Tastatur. »Ja, ist nur ein kleiner Stamm. Die drei Stämme im Reservat, aus dem Roter Panther stammt, kommen zusammen nur auf etwa neuntausend Personen. Ist also kein Wunder, dass du nie von denen gehört hast – ich übrigens auch nicht.«
Phil holte sich weitere Informationen über das Reservat und die dort lebenden Indianer, während ich mich aufs Fahren konzentrierte. Es dauerte nicht lange, bis wir unser Ziel erreicht hatten. Ich parkte den Jaguar in der Tiefgarage, dann gingen wir auf direktem Weg zum Büro von Mr High, um ihm Bericht zu erstatten.
Überraschenderweise war Helen nicht an ihrem Platz.
»Na so was«, bemerkte Phil besorgt. »Sie wird doch nicht etwa krank sein?«
»Keine Bange, ich bin kerngesund«, ertönte Helens Stimme.
Sie kam gerade an und hatte zwei große braune Einkaufstüten aus Papier dabei.
»Sollen wir dir zur Hand gehen?«, fragte Phil.
»Vielen Dank, aber es geht schon«, sagte sie. »Die Einkäufe haben heute länger gedauert, das Lebensmittelgeschäft, in dem ich eingekauft habe, war überfüllt. Offenbar holen die Menschen jetzt die Einkäufe der letzten Tage nach.«
»Ja, während des Sturms hatten sie nicht viel Gelegenheit, sich darum zu kümmern«, bemerkte Phil. »Zum Glück haben die meisten die Sicherheitshinweise befolgt und sind zu Hause geblieben.«
»Mister High ist gleich hier«, sagte Helen. »Er hat mich darüber informiert, dass er eine kurze Konferenz hat. Geht offenbar um die Unterstützung des FBI bei den Aufräumarbeiten. Vor allem um Schutz gegen Plünderer und andere, die die aktuellen Turbulenzen ausnutzen wollen.«
Phil schaute Helen zu, wie sie Kaffee aufsetzte. »Kein Problem, dann warten wir hier.«
Sie lächelte ihn an, sagte aber kein Wort.
Gerade als der Kaffee fertig war, erschien Mr High mit einem Aktenkoffer in der Hand. Er begrüßte uns und bat uns dann in sein Büro.
»Ziemlich viel los im Moment«, sagte er. »Der Wirbelsturm hat auch uns eine Menge Arbeit hinterlassen. Wie sieht es in dem Mordfall aus, den ich Ihnen übertragen habe?«
»Wir waren am Tatort und haben erste Recherchen angestellt. Wie es aussieht, war es kein Raubmord. Zumindest hatte das Opfer sein Geld noch bei sich«, antwortete ich. »Aber eine Frage, Sir: Warum übernimmt nicht Zeery den Fall? Wäre er nicht dafür prädestiniert?«
»Grundsätzlich schon«, antwortete Mr High. »Aber er ist gerade in einem Undercover-Einsatz und hat bereits viel Arbeit in die Sache gesteckt, weshalb ich ihn nur ungern abziehen würde. Falls sein Fall kurzfristig abgeschlossen wird, können Sie natürlich auf seine Unterstützung zählen.«
»Die können wir vielleicht brauchen – je nachdem, wie sich die Sache entwickelt«, meinte Phil.
»Wo wollen Sie ansetzen?«, fragte Mr High als Nächstes.
»Bei dem Hotel, in dem Roter Panther abgestiegen ist«, antwortete ich. »Vielleicht finden wir dort eine Spur. Dann werden wir seine Familie in North Dakota kontaktieren. Sie können uns vielleicht sagen, was er in der Stadt wollte und mit wem er sich getroffen hat.«
Mr High nickte zustimmend. »Gut, aber gehen Sie besonnen vor. Ein Fall, in dem es um den Tod eines Native American geht, kann sich leicht zu einer brisanten Angelegenheit entwickeln.«
Wir besprachen noch ein paar Details und verabschiedeten uns dann von Mr High.
»Dann auf zum Hotel«, sagte Phil mit einer guten Portion Enthusiasmus. Draußen zu ermitteln war ihm immer lieber als irgendwelche Recherchen im Büro.
Wir gingen zur Tiefgarage, stiegen in den Jaguar und fuhren los.
***
Das Mirage Hotel, in dem Roter Panther abgestiegen war, befand sich in der Bronx, in der Eastchester Road. Auch wenn der Name ein schönes Gebäude vermuten ließ, handelte es sich eher um eine kostengünstige Absteige, die die drei Sterne, die in der Nähe des Eingangs zu sehen waren, wohl nur knapp verdient hatte. Die Teppiche waren abgelaufen und die Möbel nicht mehr zeitgemäß. Immerhin war es sauber und wahrscheinlich auch preiswert.
»Entweder war Roter Panther ein sparsamer Typ oder er hatte nicht viel Geld«, bemerkte Phil. »Sonst hätte er sich bestimmt eine bessere Bleibe gesucht.«
»Ja, besonders ansprechend sind die Räumlichkeiten nicht«, stimmte ich ihm zu. »Bin gespannt, ob man uns hier weiterhelfen kann.«
Als wir uns der kleinen Rezeption näherten, kam ein Mann von Ende vierzig, mit wenigen, ungekämmten Haaren auf dem Kopf, auf uns zu und begrüßte uns freundlich. »Guten Tag, meine Herren, was kann ich für Sie tun? Möchten Sie ein Zimmer? Oder zwei?«
»Weder noch«, entgegnete Phil und zeigte seine Dienstmarke vor. »Wir wollen nur ein paar Antworten.«
Der Mann zeigte sich eingeschüchtert und machte einen Schritt zurück. »Wenn hier etwas passiert ist, habe ich nichts damit zu tun. Ich bin sauber, garantiert!«
»Dann zeigen Sie sich kooperativ und wir sind bald wieder weg«, sagte Phil und legte ein Foto von Roter Panther auf die Rezeption. »Kennen Sie diesen Mann?«
»Hat er was ausgefressen?«, fragte der Rezeptionist. »Ich hatte gleich ein komisches Gefühl bei ihm. Solche wie er sehen wir hier nicht allzu oft.«
»Solche wie er? Was meinen Sie damit?«, fragte ich.
»Na ja, Rothäute. Die bleiben meist unter sich. Leben wohl auch lieber in Zelten, denke ich. Also kommen sie auch nicht so oft in Hotels«, antwortete der Rezeptionist.
Irgendwie wurde mir der Mann immer unsympathischer. Aber ich entschied mich, vorerst nicht auf seine rassistische Äußerung einzugehen.
»Zurück zu meiner Frage«, sagte ich kühl. »Sie kennen ihn also?«
Der Rezeptionist nickte. »Ja, der hat hier ein paar Tage gewohnt. Ist dann plötzlich, ohne sich abzumelden, nicht mehr aufgetaucht. Hat noch zwei Tage zu bezahlen, glaube ich. Wahrscheinlich wollte er die Zeche prellen und hat sich aus dem Staub gemacht. Sind Sie deshalb hier? Ist das seine Masche?«
»Nein«, sagte ich ernst und schaute unseren Gesprächspartner ernst an. »Wir sind hier, weil ihn jemand getötet hat.«
Der Rezeptionist zuckte zusammen und machte wieder einen Schritt zurück, wobei er gegen den hinter ihm befindlichen Schrank stieß. »Hey, Mann, damit habe ich nichts zu tun. Und das, was ich gerade gesagt habe, das habe ich echt nicht so gemeint.«
»Das hoffe ich – in Ihrem Interesse«, sagte ich. »Von wann bis wann hat er hier gewohnt?«
Wenige Augenblicke später hatte ich ein Gästebuch vor mir liegen.
»Hier können Sie sehen, wann er eingecheckt hat«, erklärte der Rezeptionist und deutete auf den entsprechenden Eintrag. »Das letzte Mal habe ich ihn gesehen – mal überlegen – das war vor sechs Tagen, ja genau.«
»Wir müssen sein Zimmer sehen – können Sie uns den Schlüssel geben?«, fragte Phil.
»Klar«, kam die Antwort. »Aber das ist inzwischen gereinigt und wieder vermietet worden.«
»Na toll«, sagte Phil und verzog das Gesicht. »Das freut mich ungemein. Wir wollen es trotzdem sehen.«
»Na klar, wie Sie wollen«, sagte der Rezeptionist und rief: »Julia, kannst du mal kommen?«
Eine Frau von Mitte vierzig, deren Haar nur wenig mehr gepflegt war als das des Rezeptionisten, kam auf uns zu. »Verdammt, Harry, warum schreist du denn so? Was ist denn los?«
Als sie uns sah, wurde ihr Gesichtsausdruck sofort freundlicher. »Ah, neue Gäste.«
»Nein, die Herren sind vom FBI«, sagte der Rezeptionist. »Sie wollen sich Zimmer siebzehn anschauen.«
»Zimmer siebzehn – kein Problem. Meine Herren, folgen Sie mir«, sagte sie in leicht burschikosem Tonfall und ging los.
»Na dann«, sagte Phil und setzte sich in Bewegung.
Wir folgten der Frau die Treppe hinauf zum ersten Stock. Dort blieb sie vor Zimmer Nummer siebzehn stehen, holte einen großen Schlüsselbund heraus und öffnete die Tür. »Ich hoffe, die neuen Gäste sind gerade nicht da.«
Ihre Hoffnung erfüllte sich allerdings nicht. Als sie die Tür geöffnet hatte, hörten wir einen Protestruf aus dem Zimmer.
»Hey, was ist denn los?«, erklang die Stimme eines jungen Mannes.
Julia trat ungeniert ein und antwortete: »Hier sind ein paar Herren vom FBI, die sich das Zimmer ansehen möchten. Ziehen Sie sich bitte was an.«
Ich sah, wie der Mann völlig unbekleidet aus dem Bett sprang und sich eine Jeans schnappte. Im Bett bewegte sich etwas. Als ich genauer hinschaute, sah ich das halb verdeckte Gesicht einer jungen Frau.
»Wir warten draußen«, sagte ich.
Weder Phil noch ich hatten vor, die Privatsphäre der beiden jungen Leute zu stören. Aber da das bereits durch das vorschnelle Eintreten der Mitarbeiterin des Hotels geschehen war, warteten wir vor dem Zimmer, bis sich die beiden Gäste angezogen hatten.
»Die sind jetzt so weit, Sie können reinkommen«, sagte Julia.
Wir traten ein und schauten in die peinlich berührten Gesichter der beiden jungen Menschen.
»Sorry, unser Erscheinen hat nichts mit Ihnen zu tun«, sagte ich mit ruhiger Stimme. »Wir ermitteln bezüglich des vorigen Bewohners dieses Zimmers und wollten uns kurz umschauen. Haben Sie etwas bemerkt, das er zurückgelassen hat?«
Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Nein, nichts.«
»Der Indianer hatte auch nur einen Koffer, und den habe ich an mich genommen«, sagte die Mitarbeiterin des Hotels.
»Gut, den schauen wir uns an, wenn wir mit dem Zimmer fertig sind«, sagte ich.
Dann durchsuchte ich mit Phil Bereiche des Zimmers, wo man etwas verstecken könnte, unter Schubladen, unter der Matratze etc. Aber dort befand sich nichts.
Als wir auch sonst nichts fanden, das mit Roter Panther zu tun hatte, beendeten wir unsere Durchsuchung.
»Entschuldigen Sie bitte die Störung«, sagte ich zu den beiden jungen Leuten und verließ mit Phil das Zimmer. Die Mitarbeiterin des Hotels folgte uns.
»Und wo haben Sie den Koffer?«, fragte Phil.
Sie machte ein unschuldiges Gesicht. »Den habe ich im Büro abgestellt. Ist aber nichts Wertvolles drin – wollte nur sehen, ob man etwas davon zu Geld machen kann, um die offene Rechnung zu begleichen.«
»Dann lassen Sie uns bitte ins Büro gehen«, sagte Phil.
»Immer mir nach«, sagte sie und ging los, wobei sie beim Gehen ihre Hüften auffällig wackeln ließ.
Phil verzog das Gesicht, sagte aber nichts.
***
Der Weg führte uns über die Treppe zurück ins Erdgeschoss, vorbei an der Rezeption in das danebenliegende Büro. Dort öffnete sie einen Schrank und holte einen mittelgroßen, braunen Koffer heraus, den sie auf den Schreibtisch legte und öffnete. »Wie gesagt, ist nichts Wertvolles drin.«
»Wenn Sie uns bitte kurz allein lassen würden«, sagte ich und wartete, bis Julia das Zimmer verlassen hatte.
Dann zog ich mir Kunststoffhandschuhe über und durchsuchte den Koffer. Er enthielt vor allem Kleidungsstücke, die für uns weniger interessant waren. Außergewöhnlich, wenn auch für unseren Fall vermutlich nicht relevant, war ein indianischer Tomahawk.
»Passt zu unserem Opfer«, bemerkte Phil.
»Ganz schön schwer, das Ding«, sagte ich. »In geschickten Händen eine ziemlich effektive Waffe.«
»Und sonst?«, fragte Phil. »Irgendetwas, das darauf hindeutet, was Roter Panther in New York wollte?«
Ich schaute weiter. »Ein paar Zeitschriften und ein Stadtplan von Big Apple, aber nein, kein konkreter Hinweis.«
»Ist auf dem Stadtplan etwas verzeichnet?«, fragte Phil.
Ich öffnete den Plan. »Nein, sieht nicht so aus.«
»Tja, das war dann wohl nichts«, meinte Phil. »Wir sollten mit ein paar Mitarbeitern des Hotels und den Gästen sprechen. Vielleicht hat sich Roter Panther mit dem einen oder anderen unterhalten.«
»Gute Idee«, sagte ich und machte den Koffer zu. »Den nehmen wir mit – wir lassen ihn später seinen Verwandten zukommen.«
Mit dem Koffer verließen wir das Zimmer. Wieder im Rezeptionsbereich, trafen uns die Blicke des Rezeptionisten und Julias.
»Wir würden gern mit ein paar Leuten reden, die sich mit Roter Panther unterhalten haben – Mitarbeiter oder Gäste«, sagte ich. »Haben Sie eine Ahnung, mit wem er gesprochen haben könnte?«
»Wir haben jeden Morgen von sieben bis zehn Frühstück«, erwiderte der Rezeptionist. »Da habe ich ihn mal gesehen. Aber mit wem er gesprochen hat – keine Ahnung.«
»Mit mir hat er sich nicht unterhalten, ich kann Ihnen also nichts erzählen«, sagte Julia und wirkte etwas abweisend. »Aber das junge Ding von Zimmer sechzehn, ich glaube, ich habe die beiden mal beim Frühstück zusammen gesehen. Ja, genau, die haben sich unterhalten. Bei der würde ich’s mal versuchen.«
»Danke für den Hinweis«, sagte ich. »Wissen Sie, ob die Dame gerade anwesend ist?«
»Ich glaube, ja«, meinte der Rezeptionist. »Zumindest habe ich nicht mitbekommen, dass sie heute das Hotel verlassen hat.«
»Dann werden wir ihr kurz einen Besuch abstatten«, sagte Phil. »Wie heißt sie?«
»Laura Jenkins«, antwortete der Rezeptionist.
Wir ließen die beiden allein und machten uns wieder auf den Weg in den ersten Stock. Das Zimmer mit der Nummer sechzehn befand sich direkt neben dem, in dem Roter Panther gewohnt hatte. Phil klopfte an. Kurz darauf erschien eine junge Frau im Jogginganzug in der Tür. Sie hatte ein blasses, zartes Gesicht und war eher zierlich gebaut. Die Brille, die sie auf der Nase trug, ließ sie recht intelligent wirken.
»Guten Tag, Miss Jenkins«, sagte Phil freundlich. »Wir sind vom FBI New York und würden Ihnen gern ein paar Fragen über Roter Panther stellen. Hätten Sie einen Augenblick Zeit?«
Sie musterte kurz die Dienstmarke, die Phil ihr zeigte, und erwiderte dann: »Klar, kommen Sie rein.«
Die Einrichtung ihres Hotelzimmers entsprach genau der von Zimmer siebzehn. Nur sah es bei ihr ordentlicher aus. Auf einem Tisch am Fenster lagen eine Menge Papiere, an denen sie wahrscheinlich vor unserem Erscheinen gearbeitet hatte. Ich bemerkte auch eine Reihe von Büchern, den Titeln nach behandelten diese eher philosophische Themen.
Sie setzte sich auf das Bett, wir nahmen auf Stühlen Platz.
»Man hat uns gesagt, dass Sie sich mit Roter Panther unterhalten hätten«, leitete Phil die Befragung ein.
Sie wurde schlagartig rot im Gesicht, versuchte aber cool zu bleiben. »Ja, wir haben uns unterhalten, meist beim Frühstück. Er war ja auch ein netter Kerl. Wobei er etwas plötzlich abgereist ist. Ich hätte zumindest erwartet, dass er sich verabschiedet – denn Manieren hatte er. Aber wieso interessiert sich das FBI dafür? Suchen Sie etwa nach ihm? Er hat doch nichts angestellt, oder?«
»Soweit wir wissen, nicht«, antwortete ich ernst. »Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass er ermordet wurde.«
Sie wurde mit einem Mal kreidebleich. Dann schossen ihr Tränen in die Augen und liefen ihre zarten Wangen herunter.
»Was? Er ist tot?«, fragte sie ungläubig.
Ich sagte nichts und gab ihr einen Augenblick, die Nachricht zu verkraften.
»In welcher Beziehung standen Sie zu ihm?«, fragte ich dann.
Sie nahm ein Taschentuch, trocknete sich das Gesicht und putzte sich dann die Nase. »Wir haben uns hier kennengelernt, im Hotel. Ein paar Mal haben wir uns unterhalten – er ist … war ein netter, freundlicher Mann und sah gut aus. Wir sind uns auch etwas näher gekommen. Doch vor ein paar Tagen ist er dann einfach so verschwunden, an dem Tag, als das mit dem Sturm losging. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht und gedacht, dass ihm etwas passiert sein könnte. Aber an Mord hatte ich dabei nicht gedacht.«
Ich nickte. »Das verstehe ich. Wir ermitteln gerade in dem Fall und sind für jeden Hinweis dankbar, der mit ihm zu tun hat. Hat er Ihnen gesagt, was er in New York gemacht hat?«
»Er hat viel über die Kultur der Indianer, seiner Väter, wie er sie nannte, geredet. Das fand ich interessant. Die ganze geistige und philosophische Seite der Indianertradition. Er geriet darüber immer ins Schwärmen. Hier in New York wollte er ein paar Leute besuchen, hat aber nicht gesagt, wen. Ich habe ihn auch nicht gefragt. Aber er war ein wirklich faszinierender Mann, hatte etwas von dieser unglaublichen Naturverbundenheit der Native Americans und war gleichzeitig sehr intelligent«, antwortete Miss Jenkins.
»Wissen Sie, mit wem er sich sonst noch unterhalten hat? Hier im Hotel?«, wollte Phil wissen.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, bis wir angefangen haben, uns zu unterhalten, saß er meist allein. Und auch danach habe ich nichts dergleichen mitbekommen. Er war eben ziemlich außergewöhnlich, nicht so wie die meisten anderen Menschen. Ich kenne das, da fällt es einem oft schwer, jemanden zu finden, der auf der gleichen Wellenlänge liegt wie man selbst.«
Wieder wurden ihre Augen feucht.
»Hat er Ihnen vielleicht etwas gegeben? Ein Geschenk? Oder mal gesagt, wo er tagsüber hin wollte?«, fragte ich.
Sie deutete an die Decke. »Diesen Traumfänger hat er mir geschenkt – er sollte böse Geister fernhalten. Sonst nichts. Und wie gesagt, er hat mehrere Leute besucht. Nachts war er dann immer wieder hier, wir haben … zwei schöne Nächte miteinander verbracht, viel geredet und na ja, was sich dann eben so ergibt. Aber tagsüber war er immer unterwegs.«
»Hat er erwähnt, dass er in Schwierigkeiten steckte? Oder dass ihm jemand Ärger machte?«, fragte Phil.
»Nein, nichts dergleichen«, antwortete sie. »Unsere Gespräche bewegten sich wirklich auf einer spirituellen Ebene, da war für Kontroversen und dergleichen kein Platz.«
Phil überreichte ihr seine Visitenkarte. »Falls Ihnen noch etwas einfällt, das Ihnen wichtig erscheint, zögern Sie bitte nicht, uns anzurufen. Wir sind für jeden Hinweis dankbar.«
»Ja, mache ich. Danke«, sagte sie.
Wir verabschiedeten uns und sprachen anschließend mit einigen anderen Gästen und mit zwei Mitarbeitern des Hotels. Doch bei all diesen Gesprächen war die Ausbeute noch geringer als bei unserer Unterhaltung mit Miss Jenkins.
***
Bevor wir weitere Schritte unternahmen, begaben wir uns in ein kleines italienisches Restaurant und gönnten uns ein Mittagessen. Die Bedienung war flott, das Essen war gut und wir tranken anschließend noch einen Espresso, bei dem wir unser weiteres Vorgehen besprachen.
»Ich denke, wenn wir wüssten, was Roter Panther in New York wollte, würden wir mehr über das Motiv des Täters wissen«, meinte Phil. »Einen Raubmord haben wir ja bereits ausgeschlossen. Natürlich könnte es eine Meinungsverschiedenheit gegeben haben, die anschließend zu einer Messerstecherei eskaliert ist. Aber das halte ich für unwahrscheinlich«, sagte Phil.
»Ganz meine Meinung«, pflichtete ich Phil bei. »Wir sollten ein paar unserer Informanten aus der Gegend aufsuchen – vielleicht haben die etwas gehört. Anschließend fahren wir ins Büro zurück, erstatten Mister High Bericht und informieren Roter Panthers Angehörige.«
Phil stimmte meiner Vorgehensweise zu, und nachdem wir gezahlt hatten, verließen wir das Restaurant, um mit den Ermittlungen fortzufahren.
Wir waren mehrere Stunden in New York, vor allem in der Bronx, unterwegs, doch die Ergebnisse, die wir dabei erzielten, waren gleich null. Niemand hatte von Roter Panther gehört, geschweige denn von dem Grund, der ihn nach New York geführt hatte. Daher beschlossen wir die Ermittlungen für diesen Tag zu beenden und ins Büro zurückzufahren.
Mr High hörte sich unseren Bericht an und nahm zur Kenntnis, dass wir nicht sehr viel herausgefunden hatten. Anschließend gingen wir in unser Büro, um mit den Verwandten des Opfers zu reden.
»Du hattest gesagt, dass er nicht verheiratet war«, sagte ich zu Phil. »Wer sind dann die nächsten Verwandten? Eltern? Geschwister?«
»Ich schau mal nach, was der Computer hergibt«, sagte Phil und machte sich an die Arbeit.
Während er arbeitete, begann ich damit, den Bericht über den Mordfall zu schreiben – zumindest was unsere bisherigen Ermittlungen anging.
»Sieht nicht gut aus«, meinte Phil ein paar Minuten später.
»Konntest du nichts finden?«, fragte ich ungläubig.
»Doch, schon, aber wie es scheint, sind alle Verwandten von Roter Panther tot. Die Eltern waren schon bei seiner Geburt recht alt und sind vor drei beziehungsweise vier Jahren gestorben – eines natürlichen Todes. Er hatte einen Bruder, der vor sechs Jahren bei einem Autounfall ums Leben kam. Und das war’s. Keine lebenden Verwandten.«
»Dann sollten wir im Reservat nachfragen«, schlug ich vor. »Irgendjemand dort sollte über seinen Tod informiert werden und kann uns vielleicht sagen, was er in New York wollte.«
»Ich kontaktiere besser das dortige FBI Field Office«, meinte Phil. »Wer weiß, möglicherweise wissen die etwas, das uns weiterhilft. Außerdem sind sie näher am Reservat und haben so bessere Kontakte.«
»Nichts dagegen einzuwenden«, sagte ich.
Phil suchte die entsprechende Nummer raus und erledigte das mit einem Anruf. Der Agent, mit dem er sprach, sagte ihm zu, sich am nächsten Tag bei ihm zu melden.
»Dann können wir jetzt eigentlich Feierabend machen«, meinte Phil, nachdem er auf die Uhr geschaut hatte. »Fast pünktlich.«
»Ja, warum nicht«, erwiderte ich. »Da wir ohnehin keine heiße Spur haben, können wir die Ermittlungen auch morgen fortsetzen.«
Wir nahmen unsere Sachen, verließen das Büro und gingen in Richtung Tiefgarage. Eine halbe Stunde später setzte ich Phil an der üblichen Ecke ab und fuhr dann zu meinem Apartment.
***
Als ich am nächsten Morgen erwachte, fühlte ich mich frisch und ausgeruht. Es hatte gut getan, pünktlich ins Bett zu kommen und richtig auszuschlafen.
Ich nahm ein Bad und frühstückte. Danach verließ ich mein Apartment und fuhr mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss, zur Eingangshalle. Der Doorman saß wie üblich in seiner verglasten Kabine und wachte über die Sicherheit des Gebäudes. Ich begrüßte ihn und wir wechselten ein paar Worte. Dann holte ich meine Post und machte mich auf den Weg zur Tiefgarage.
Der Jaguar stand auf seinem üblichen Platz und strahlte Eleganz und Stärke aus. Ich musterte die Karosserie von allen Seiten, stieg dann ein und drehte den Zündschlüssel herum. Sofort sprang der kraftvolle Motor an. Ich fuhr los. Bis zum Treffpunkt, an dem ich Phil abholte, war es nicht weit. Und wie üblich wartete mein Partner dort bereits auf mich.
»Hast du es schon gehört?«, fragte er aufgeregt, als er eingestiegen war.
»Was gehört?«, fragte ich.
»Gerade ist in einem Hotel die Leiche eines Indianers gefunden worden – die Nachricht kam eben im Fernsehen – habe es drüben im Coffeeshop gesehen«, antwortete Phil.
»Und du meinst, es hätte etwas mit unserem Fall zu tun?«, erwiderte ich fragend. »Bei den mehr als achtzigtausend Indianern, die in New York leben, muss das nicht unbedingt sein.«
»Ich weiß nur, dass er erstochen wurde«, sagte Phil und aktivierte den Bordcomputer. »Mal nachsehen, ob schon ein Bericht vorliegt.«
Es dauerte nicht lange, dann hatte Phil, was er suchte. »Habe ich mir doch gedacht. Der Tote heißt Schneller Bär und stammt nicht aus New York, sondern aus North Dakota. Und seine Leiche weist Stichverletzungen auf.«
»Du hast mich überzeugt«, sagte ich. »Fahren wir hin.«
Phil nannte mir das Hotel, in dem der Mord geschehen war, und ich fuhr los. Er informierte unterdessen Mr High darüber, dass wir später im Büro eintreffen würden.
Die Fahrt dauerte verkehrsbedingt eine gute Stunde. Dann erreichten wir das Eastside Inn, ein kleines Motel im Osten der Bronx, das noch schlimmer aussah als das Mirage Hotel, in dem Roter Panther abgestiegen war.
Als wir den kleinen Empfangsbereich betraten, trafen wir dort zwei Cops an.
»Wir sind die Agents Cotton und Decker vom FBI New York«, stellte Phil uns vor. »Können Sie uns sagen, wer für den Mordfall hier im Hotel zuständig ist? Wir würden gerne mit ihm reden.«
Bevor einer der Cops antworten konnte, kam Dr. Drakenhart die Treppe herunter und sah uns.
»Jerry, Phil, guten Morgen. Übernehmt ihr den Fall auch?«, fragte sie.
»Guten Morgen, Janice«, erwiderte ich. »Bisher noch nicht offiziell. Phils Instinkt hat uns hierhergeführt. Er vermutet, dass der Mord mit dem an Roter Panther zusammenhängt.«
»Gut möglich«, bestätigte Dr. Drakenhart. »Das Opfer hier ist auch Indianer und ebenfalls erstochen worden. Die Untersuchungen laufen noch. Aufgrund der Lebertemperatur kann ich aber sagen, dass der Mord gestern Abend gegen sechs stattgefunden haben muss – plus/minus eine halbe Stunde.«
»Interessant«, sagte ich. »Wer ist aktuell mit dem Fall betraut?«
»Detective Herringson, der befragt gerade ein paar Hotelgäste, gleich hier nebenan«, antwortete Dr. Drakenhart und deutete auf eine Tür.
»Dann werden wir uns erst einmal mit ihm kurzschließen«, sagte ich.
»Gut, die Crime Scene Unit wird noch mindestens eine halbe Stunde brauchen«, sagte Dr. Drakenhart und ging weiter.
Wir betraten das Zimmer, in dem sich der zuständige Detective aufhalten sollte. Es handelte sich bei ihm um einen ansehnlichen Typ von Anfang vierzig, der gut der Bruder von Richard Gere hätte sein können. Da er saß, konnte ich seine Größe nur ungefähr schätzen, aber klein war er nicht.
Er saß einer jungen Frau gegenüber und war offenbar dabei, sie zu befragen.
»Decker und Cotton vom FBI«, stellte ich uns kurz vor. »Wir wollten Sie sprechen. Aber bringen Sie diese Befragung vorher ruhig zu Ende.«
»Gut, Sie können gerne hierbleiben«, sagte er und stellte der Frau noch ein paar Fragen.
Dann bedankte er sich bei ihr und bat sie, uns allein zu lassen.
»Sie interessieren sich für den Mordfall?«, fragte er direkt. »Habe mir schon so was gedacht. Das FBI hat doch auch den Mord an dem Indianer drüben im Westen der Bronx übernommen, nicht wahr?«
Ich nickte. »Ja, das waren wir. Und wir vermuten, dass es zwischen den beiden Morden einen Zusammenhang gibt.«
»Gut möglich«, sagte Detective Herringson und stand auf. »Ich weiß über den anderen Mord nicht viel. Tauschen wir uns aus, dann wissen wir alle mehr.«
Wir erzählten dem Detective, was wir bereits herausgefunden hatten, und er sagte uns, was bei seinen Befragungen herausgekommen war. Gemäß dem, was die Mitarbeiter und Gäste des Hotels ausgesagt hatten, war Schneller Bär ein Mann gewesen, der wenig geredet und es vorgezogen hatte, allein zu sein. Keiner hatte etwas von dem Mord mitbekommen und es war auch niemand aufgefallen, der als Täter in Frage kam. Da es keine Überwachungskameras gab, existierten keine Anhaltspunkte.
»Es sind noch ein paar Leute zu befragen, wollen wir das zusammen erledigen und dann klären, wer letztlich für den Fall zuständig ist?«, fragte Detective Herringson.
Ich nickte. »Ja, warum nicht. Wenn Dr. Drakenharts Team mit den Untersuchungen fertig ist, wissen wir mehr. Falls sich der Verdacht erhärtet, dass es sich um den gleichen Täter handelt wie bei Roter Panther, übernehmen wir. Bis dahin weitere Befragungen durchzuführen spart uns Zeit.«
Entsprechend setzten wir die Befragungen fort, bis Dr. Drakenhart an die Tür klopfte.
»Wir sind fertig«, sagte sie. »Die Leiche ist freigegeben. Ihr könnt euch oben umsehen. Nachdem ich mir die Verletzungen angesehen habe, bin ich mir ziemlich sicher, dass es sich um die gleiche Art von Tatwaffe handelt.«
»Gut, gehen wir nach oben«, sagte Phil und stand als Erster auf.
Wir gingen zu dem Hotelzimmer, in dem sich die Leiche von Schneller Bär befand. Es war nichts Besonderes, aber aufgeräumt und sauber – bis auf den regungslosen Körper, der nicht weit von der Tür entfernt auf dem Rücken lag, in einer Lache aus getrocknetem Blut.
Wir durchsuchten die Schränke und fanden einen großen Rucksack. Er enthielt vor allem Kleidung und ein paar Schriftstücke, die zeigten, dass Schneller Bär genau wie Roter Panther aus Fort Berthold stammte.
»Damit ist die Sache klar, der Fall geht ans FBI«, sagte Detective Herringson. »Na dann, viel Erfolg!«
»Danke für Ihre Kooperation«, sagte ich.
Dann verabschiedeten wir uns von dem Detective, der das Zimmer verließ.
»Zwei tote Indianer aus dem gleichen Reservat, beide auf die gleiche Weise in New York ermordet – das bedeutet nichts Gutes.«
»Nein, wirklich nicht«, stimmte ich Phil zu.
***
Auf der Fahrt vom Hotel zum FBI Field Office kontaktierten wir Mr High und gaben ihm eine kurze Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse.
»Das hört sich nicht gut an«, sagte er. »Kommen Sie bitte gleich in mein Büro.«
»Wird erledigt, Sir«, sagte Phil und beendet das Gespräch.
»Er hörte sich nachdenklich an«, sagte ich.
»Ja, vielleicht weiß er mehr als wir«, vermutete Phil.
»Dann wird er es uns bestimmt sagen, wenn wir ihn gleich sehen«, sagte ich.
Kurz bevor wir beim Field Office ankamen, erreichte uns ein Anruf von Dr. Drakenhart.
»Der Untersuchungsbericht ist noch nicht ganz fertig«, fing sie an. »Aber eines kann ich schon jetzt mit Sicherheit sagen: Beide Opfer sind erstochen worden. Wahrscheinlich mit einem Bowie-Messer. Gemäß den Untersuchungen hat es eine Klingenlänge von sieben Zoll.«
»Bowie-Messer?«, stieß Phil aus. »Das war doch im Wilden Westen berühmt.«
»Und wird sicherlich noch heute von Indianern benutzt«, sagte ich. »Danke, Janice, das hilft uns weiter.«
»Gern geschehen«, erwiderte sie. »Ich denke, dass ich den endgültigen Bericht bis heute Nachmittag fertig habe, ich schicke ihn euch dann sofort vorbei.«
»Super, bis dann«, sagte Phil und beendete das Gespräch.
»Vielleicht war es ein anderer Indianer«, meinte Phil. »Die Stämme haben sich damals schon bekriegt. Vielleicht irgendeine Fehde, die bis heute andauert. Immerhin gehörten sowohl Roter Panther als auch Schneller Bär zum Stamm der Arikara.«
»Gut möglich«, sagte ich. »Ist aber nur eine von mehreren Möglichkeiten.«
Ich fuhr den Jaguar in die Tiefgarage des Gebäudes, dann stiegen wir aus und gingen los.
Als wir vor Mr Highs Büro ankamen, bat uns Helen, sofort einzutreten.
»Scheint dringend zu sein«, sagte sie noch kurz.
Als wir das Büro betraten, saß Mr High an seinem Schreibtisch und legte gerade den Telefonhörer auf.
»Nehmen Sie bitte Platz«, sagte er und wartete, bis wir uns gesetzt hatten. »Wie es scheint, wird der Fall immer komplexer.«
»Sieht so aus«, bestätigte Phil.
»Auf jeden Fall haben wir jetzt zwei Leichen und noch keinen Hinweis auf den Mörder«, sagte ich. »Abgesehen von der Tatsache, dass beide Opfer mit einem Messer getötet wurden – wahrscheinlich einem Bowie-Messer, das gerne von Indianern verwendet wird. Der Täter stammt also entweder aus demselben Umfeld wie die Opfer oder jemand versucht, es so aussehen zu lassen.«
Mr High machte ein ernstes Gesicht. »Es ist nicht das erste Mal, dass in New York ein Indianer ermordet wird. Aber jetzt sind es schon zwei innerhalb weniger Tage. Hinzu kommt, dass gerade auf höchster Regierungsebene Gespräche mit Indianerführern laufen. Es geht dabei um Hilfsgelder und Landrechte, Werte in Millionenhöhe. Washington will nicht, dass die Morde die Gespräche negativ beeinflussen oder gar zum Scheitern bringen.«
»Für die Indianer ist das sicher Öl aufs Feuer«, meinte Phil. »Vor allem, wenn herauskommen sollte, dass der Täter ein Weißer ist.«
»Wobei das noch nicht klar ist«, wandte Mr High ein. »Wir wissen zum jetzigen Zeitpunkt nichts über den Täter, außer dass er ein Bowie-Messer verwendet hat und dass es der gleiche Täter ist.«
»Das ist richtig, Sir«, antwortete ich.
»Daher sollten wir auch keine voreiligen Schlüsse ziehen«, sagte er. »Wichtig ist, dass Sie unparteiisch und absolut vorbehaltlos mit den Ermittlungen fortfahren – was für Sie kein Problem sein sollte. Glauben Sie, dass Sie hier in New York weiterermitteln sollten oder würden Sie es vorziehen, direkt in Fort Berthold Ermittlungen anzustellen?«
»Aktuell führen die Spuren ins Reservat«, sagte ich. »Zumindest um das Motiv hinter den Morden in Erfahrung zu bringen. Der Täter selbst hält sich möglicherweise noch in New York auf. Aber Ihre Frage hat doch sicher einen Grund, nicht wahr?«
Er nickte bedächtig. »Sie haben recht. Normalerweise würden wir ein paar Agents aus North Dakota mit der Sache betrauen. Assistant Director Homer hat allerdings ausdrücklich darum gebeten, dass Sie in das Reservat reisen, um dort die Ermittlungen fortzusetzen.«
»Aha?«, stieß Phil überrascht aus. »Das hört sich interessant an.«
Mr High fuhr fort. »Als Leiter der Field Operation Section East hat Assistant Director Homer sich mit seinem für North Dakota zuständigen Kollegen kurzgeschlossen. Oder besser gesagt: Sein Amtskollege hat sich mit ihm in Verbindung gesetzt und darum gebeten, dass Sie beide die Ermittlungen im Reservat leiten. Er hat als Grund die Tatsache angegeben, dass die Agents vor Ort ziemliche Probleme haben, die Indianer zur Kooperation zu bewegen. Außenstehende wie Sie könnten mehr Glück haben. Darüber hinaus – aber das bleibt unter uns – existieren Gerüchte, dass einige Agents aus der Gegend in etwas verstrickt sein könnten und die Neigung haben könnten, etwas unter den Teppich zu kehren. Ich glaube nicht, dass an der Gerüchten etwas dran ist, aber Assistant Director Homers Kollege will wohl auf Nummer sicher gehen, indem er externe Ermittler hinzuzieht.«
»Ein geschickter Schachzug – politisch wie strategisch«, sagte ich. »Und wir haben volle Befugnis, was den Fall anbelangt?«
Mr High nickte. »Ja, absolut.«
»Das ist gut«, sagte ich. »Es würde nicht viel Sinn machen, wenn wir als unabhängige Ermittler tätig sein sollen und trotzdem den dortigen Vorgesetzten unterstellt sind.«
»Wobei Sie Ihre Aktionen natürlich mit dem FBI vor Ort koordinieren werden – beispielsweise wenn Sie Unterstützung benötigen. Ich will aber direkt von Ihnen auf dem neuesten Stand gehalten werden.«
»Kein Problem«, meinte Phil. »Wann soll’s losgehen?«
»Sobald Sie so weit sind«, antwortete Mr High. »Wenn Sie fliegen können, lasse ich einen Flug für Sie buchen.«
»Dann sollten wir gleich morgen aufbrechen«, sagte ich. »Bis dahin können wir uns hier noch etwas umhören und Recherchen über das Reservat anstellen – es schadet nicht, gut vorbereitet zu sein.«
»Gut, dann bereiten Sie sich vor – ich lasse die Reise organisieren«, sagte Mr High.
Nachdem wir uns von ihm verabschiedet hatten, gingen wir in unser Büro, um dort Recherchen anzustellen. Zwar hatten wir schon mit Indianern zu tun gehabt, aber Indianer ist nicht gleich Indianer. Daher informierten wir uns genau über die Stämme der Arikara, Hidatsa und Mandan, die in Fort Berthold lebten, ihre Geschichte, Sitten und Ethnik. Um als Gast willkommen zu sein, war es sinnvoll zu wissen, was der Gastgeber als gutes und was er als schlechtes Verhalten betrachtete.
Insgesamt befanden sich rund neuntausend Indianer in dem Reservat in North Dakota. Man bezeichnete den Zusammenschluss der Arikara, Hidatsa und Mandan als die Drei verbundenen Stämme. Sie hatten sich bereits vor langer Zeit, als ihre Reihen durch Epidemien und gewaltsame Auseinandersetzungen gelichtet worden waren, zusammengeschlossen. Sie alle waren sowohl Jäger als auch Bauern gewesen, die beispielsweise Mais und Bohnen angebaut hatten. Während nach wie vor Ackerbau betrieben wurde, kam der Jagd heute keine Bedeutung mehr zu.
»Nachdem der Bison quasi ausgerottet worden war, hat eine wichtige Lebensgrundlage der Indianer gefehlt«, meinte Phil, als er die Informationen durcharbeitete. »Davon waren auch die Drei verbundenen Stämme betroffen. Muss ganz schön hart gewesen sein.«
»Ja, sicher. Und das ist nur ein Bruchteil dessen, was den Indianern in den letzten dreihundert Jahren angetan wurde«, sagte ich. »Aber wir sollten uns auf das konzentrieren, was uns dabei helfen kann, mit den in Fort Berthold ansässigen Indianern klarzukommen und den Mörder von Roter Panther und Schneller Bär zu finden.«
»Hast ja recht«, meinte Phil. »Also, weiter im Text.«
Wir arbeiteten bis halb sieben und fühlten uns dann gut vorbereitet. Anschließend brachte ich Phil nach Hause und fuhr zu meinem Apartment auf der Upper West Side.
***
Die Tickets für unseren Flug hatten wir bereits am Vortag im Büro erhalten. Wir flogen vom John F. Kennedy Airport nach Minneapolis. In Minneapolis angekommen, hatten wir gerade eine Stunde Zeit, um in die kleine Maschine nach Bismarck, der Hauptstadt von North Dakota, umzusteigen. Dort gingen wir zur Autovermietung, bei der ich schon einen Wagen hatte reservieren lassen.
»Mal sehen, ob die hier auch britische Automarken führen«, scherzte Phil.
»Ich habe extra um einen Geländewagen gebeten«, sagte ich. »Wer weiß, was uns hier an Straßen erwartet.«
»Ja, sicher ist sicher«, stimmte Phil zu. »Kugelsicher wäre noch besser, aber das führen die hier wahrscheinlich nicht.«
»Hoffen wir, dass die Gewalt, die in New York begonnen hat, hier nicht eskaliert«, sagte ich.
Wir fuhren los und besorgten uns unterwegs ein wenig Proviant. Bis zum Reservat mussten wir knapp 100 Meilen Richtung Norden. Vorbei an Wiesen, Wäldern, Feldern und kleinen Städten kamen wir unserem Ziel näher. Gegen sieben Uhr erreichten wir schließlich eine kleine Siedlung in Fort Berthold.
»Viel ist hier ja nicht los«, meinte Phil.
»Ja, bei dem großen Gelände verteilen sich neuntausend Menschen recht gut«, sagte ich. »Hoffen wir, dass unser Kontaktmann hier auf uns wartet.«
Wir stiegen aus und schauten uns um. Ein paar Häuser und Scheunen, Geländewagen und nur wenige Menschen, die ihre indianische Abstammung nicht verleugnen konnten. Sie musterten uns ebenso interessiert wie wir sie.
Ich sah eine junge Frau in einem der Häuser verschwinden. Kurz darauf kam ein Mann von Mitte vierzig mit kurzen, schwarzen Haaren und dunklen Augen auf uns zu. Im Gesicht hatte er zwei lange Narben, die aussahen, als hätte er sie sich bei einem Kampf zugezogen. Sein Gang war elastisch und er war kräftig gebaut.
»Sie müssen die beiden FBI-Agents aus New York sein«, sagte er. »Ich bin Alte Rinde, einer der Polizisten hier im Reservat.«
Er reichte uns die Hand zur Begrüßung, eine Geste, die wir erwiderten.
»Special Agent Jerry Cotton«, stellte ich mich vor.
»Phil Decker«, sagte Phil.
Ich sah, wie Alte Rinde uns kurz musterte, insbesondere die Stelle, an der wir die Waffen trugen. »Wollen Sie mit ins Haus kommen? Dort können wir uns unterhalten.«
»Gerne«, erwiderte ich.
»Ihre Sachen können Sie im Wagen lassen, die holen wir später«, sagte Alte Rinde, drehte sich um und ging los.
Phil und ich folgten ihm in das Haus, aus dem er gekommen war. Es war recht einfach eingerichtet. Es gab eine Küche und natürlich einen Flachbildfernseher. Passend zu den Bewohnern waren die Fotos von Indianern und einige Dinge wie der Tomahawk über dem Kamin und der Federschmuck an der Wand.
»Nehmen Sie doch Platz«, sagte Alte Rinde und deutete auf eine Couch. »Möchten Sie etwas trinken?«
»Gerne«, antwortete ich. »Wie wäre es mit Kaffee?«
»Kein Problem«, sagte er. »Ich sage eben meiner Frau Bescheid.«
Er ging nach nebenan, sagte etwas, das ich nicht verstand, kehrte dann zurück und setzte sich.
»So, jetzt sind Sie also da«, sagte er und schaute uns an.
»Ja, sind wir, und wir freuen uns, Ihre Gastfreundschaft in Anspruch nehmen zu können – auch wenn die Umstände alles andere als erfreulich sind«, erwiderte ich.
Sein Gesicht verfinsterte sich und er nickte. »Roter Panther und Schneller Bär – Coahoma und Kuruk, wie wir sie nannten. Ich kannte beide recht gut. Tapfere junge Männer. So voller Leben. Und jetzt sind sie tot. Es ist tragisch. Ganz besonders, da Roter Panther der letzte seiner Blutlinie war. Damit ist eine weitere Familie der Arikara ausgestorben. Und alles, was bleibt, sind Erinnerungen, die auch bald verloren sein werden, wie Tränen im Regen.«
Der Tod der beiden Männer ging Alte Rinde offenbar ziemlich nah. Ich zollte diesem Umstand den angemessenen Respekt und schwieg.
»Aber Sie sind sicher nicht hier, um an ihrer Trauerfeier teilzunehmen, nicht wahr?«, fragte Alte Rinde.
»Das hängt von unseren Ermittlungen ab«, sagte ich. »Und damit, wann die Leichen freigegeben werden. Ich nehme an, dass die beiden hier bestattet werden sollen.«
Der Indianerpolizist nickte. »Ja, wir werden ihnen nach alter indianischer Tradition die letzte Ehre erweisen.«
»Wenn es unser Job erlaubt und es nicht als Entehrung der beiden verstanden wird, würden wir gerne teilnehmen«, sagte ich.
»Ich werde das beim Stammesrat vorbringen«, sagte Alte Rinde.
»Unabhängig davon müssen wir natürlich unsere Arbeit machen und herausfinden, wer das den beiden angetan hat und warum«, fuhr ich fort. »Wissen Sie, warum die beiden in New York waren?«
»Von Schneller Bär weiß ich es«, antwortete Alte Rinde. »Er hat Roter Panther gesucht. Wir hatten länger nichts von ihm gehört und – die beiden waren Blutsbrüder. Schneller Bär hatte das Gefühl, dass Roter Panther etwas zugestoßen sein könnte. Daher hat er sich auf den Weg gemacht.«
»Und Roter Panther?«, fragte Phil interessiert.
Alte Rinde schaute ihm direkt in die Augen. »Das weiß ich nicht. Ich habe auch vor seiner Abreise nicht mit ihm gesprochen. Vielleicht weiß der Rat der Ältesten, warum er die weite Reise auf sich genommen hat.«
»Dann sollten wir diesen Rat befragen«, schlug Phil vor.
Alte Rinde nickte bedächtig. »Eine gute Idee. Ich werde beim Rat vorsprechen und darum bitten, dass man Sie empfängt.«
»Das wäre sehr nett«, sagte ich. »Haben Sie eine Idee, wann der Rat Zeit für uns hat?«
»Der Rat trifft sich gewöhnlich einmal im Monat«, antwortete unser Gesprächspartner.
»Einmal im Monat?«, stieß Phil aus. »Und wann wäre dann das nächste Treffen?«
»In drei Wochen etwa«, antwortete Alte Rinde.
Phil wollte gerade etwas einwenden, doch ich kam ihm zuvor. »Wäre es möglich, dass der Rat eine Sondersitzung abhält? Wir sind an der schnellen Aufklärung des Falles interessiert und der Rat sicher auch. Solange wir nicht wissen, wer der Täter ist und was seine Motive sind, schweben möglicherweise noch andere Mitglieder der Drei verbundenen Stämme in Lebensgefahr.«
»Sie haben recht«, erwiderte Alte Rinde. »Und deshalb werde ich die Mitglieder des Rates noch heute aufsuchen. Wie sie entscheiden, werde ich Sie dann wissen lassen, sobald man es mir mitgeteilt hat.«
»In Ordnung«, sagte ich.
Phil musste sich augenscheinlich zurückhalten. Zu warten entsprach nicht seinem Naturell. Aber wir waren hier nicht in New York. Im Reservat galten andere Regeln.
»Meine Frau hat ein Zimmer mit zwei Betten für Sie hergerichtet«, sagte Alte Rinde. »Es ist nichts Besonderes, aber dafür haben Sie es nicht weit.«
»Das ist sehr nett«, sagte ich.
Alte Rinde stand auf. »Es wird gleich dunkel. Sie können hierbleiben und morgen mit den Ermittlungen beginnen. Ich werde mich gleich noch auf den Weg machen und die Ratsmitglieder kontaktieren.«
»Gut, dann sind wir morgen ausgeruht und können mit unseren Ermittlungen beginnen«, sagte ich.
Unser Gesprächspartner stand auf und rief etwas. Kurz darauf kam eine gut aussehende Frau von etwa vierzig Jahren ins Zimmer. Sie hatte lange, schwarze Haare und ein typisch indianisches Aussehen.
»Das ist meine Frau, Weiße Feder«, sagte Alte Rinde, wobei Stolz in seiner Stimme mitschwang. »Sie wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen. Dann können Sie die Sachen aus Ihrem Wagen, die Sie brauchen, reinholen. Anschließend gibt es Essen.«
»Hört sich gut an«, sagte ich.
***
Die Frau begrüßte uns und führte uns dann durch einen kurzen Flur in ein Zimmer, das etwa zwanzig Quadratmeter maß. Es gab zwei Betten, einen Schrank, einen Tisch und ein paar Stühle. Die Einrichtung war nicht besonders modern, machte aber den Eindruck, aus massivem Holz zu sein – passend zu der Gegend, in der wir uns befanden.
Nachdem wir unsere Koffer aus dem Wagen geholt hatten, gingen wir zum Essen. Alte Rinde saß bereits an einem großen Tisch, während seine Frau noch am Kochen war. Mit dabei waren auch zwei junge Männer und eine junge Frau.
»Das sind unsere Kinder«, sagte Alte Rinde stolz. »Schlauer Fuchs, Gütiger Wolf und Schöner Regenbogen.«
Die drei musterten uns skeptisch. Offenbar wussten sie nicht, was sie von unserer Anwesenheit zu halten hatten. Wir begrüßten sie und nahmen dann Platz.
Die Frau des Hauses servierte kurz darauf das Essen. Ich konnte nicht alles genau identifizieren. Auf jeden Fall war ein Braten dabei und Gemüse.
»Die Hirschkuh habe ich selbst erlegt«, bemerkte Alte Rinde. »Den größten Teil dessen, was wir zum Leben benötigen, erzeugen wir selbst. Die Wälder sind voller Tiere und die Äcker liefern uns Gemüse und Getreide. Guten Appetit.«
»Guten Appetit«, sagten Phil und ich und langten zu.
Phil zeigte sich erst etwas zaghaft, ließ dann aber seinem Hunger freien Lauf. Damit schien er die Sympathie der Anwesenden zu gewinnen.
»Schmeckt echt toll«, sagte er und nahm sich noch ein Stück Wild. »Und die Würze – genial.«
»Ja, ich experimentiere ein wenig, aktuell mit indischen Gewürzen«, sagte Weiße Feder und lächelte.
»Sie sind auch Polizist, wie unser Vater?«, fragte Schöner Regenbogen. Sie war eine bildschöne junge Frau von vielleicht neunzehn Jahren.
»Ja, wir sind vom FBI«, antwortete ich.
»FBI, ich hatte auch schon daran gedacht, mich dort zu bewerben«, sagte Schlauer Fuchs. »Aber die Anforderungen sollen sehr hoch sein. Außerdem befürchte ich, dass es Probleme mit den anderen Agents geben wird – wegen meiner Herkunft.«
Ich schaute ihn an. »Das ist nie ganz auszuschließen, aber recht selten. Einer unserer besten Freunde und ein Top-Agent ist Cherokee, und ich glaube, es gibt keinen Agent in ganz New York, der ihn nicht gut leiden kann.«
Phil nickte. »Ja, das stimmt. Darüber hinaus gilt Zeerookah als der bestgekleidete G-man in ganz New York und ist für viele, was Geschmack angeht, ein Vorbild.«
Damit war das Eis endgültig gebrochen. Wir unterhielten uns noch eine gute Stunde, dann verabschiedete sich Alte Rinde, um die Mitglieder des Rates aufzusuchen.
Phil und ich gingen in unser Zimmer. Ich hatte mir ein Buch mitgenommen, um in Ruhe etwas zu lesen. Phil hatte einen Tablet-PC dabei, auf dem er sich Filme anschauen wollte.
»Sympathische Familie«, sagte er.
»Ja, definitiv«, erwiderte ich. »Gemäß dem, was sie erzählt haben, haben sie sich hier im Reservat ganz schön was aufgebaut. Es ist schön, dass die Indianer inzwischen in Ruhe und Frieden leben können.«
»Bleibt zu hoffen, dass wir mit der Aufklärung des Falles etwas dazu beitragen können, dass es so bleibt«, meinte Phil und schaltete seinen Computer an.
Als wir später schlafen gingen, war es absolut ruhig. Eine Stille, wie ich sie aus New York nicht gewohnt war.
***
Am nächsten Morgen wurde ich früh wach. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass es noch nicht einmal fünf war. Trotzdem fühlte ich mich frisch und ausgeschlafen. Ich zog mich leise an und verließ das Zimmer. Phil hatte mich zwar bemerkt, dann aber seine Augen wieder geschlossen und sich umgedreht.
Ich ging nach draußen und schaute mich um. Die Sonne war gerade aufgegangen und die Luft war frisch.
Ich machte einen kleinen Spaziergang, um die Gegend zu erkunden. Es gab neben der großen Straße viele kleine Wege. Und natürlich viel Natur.
Als ich zum Haus zurückkam, sah ich Alte Rinde, der anscheinend auf mich wartete.
»Guten Morgen«, sagte er. »Schön hier, nicht wahr?«
»Ja, wirklich«, erwiderte ich. »Erinnert mich an die Gegend, in der ich aufgewachsen bin.«
»Sie stammen nicht aus New York?«, fragte er.
»Nein, aus Harpers Village, einem Dorf in Connecticut«, antwortete ich.
»Dann kennen Sie ja den Unterschied zwischen dem Leben auf dem Land und dem in der Stadt«, sagte er. »Ich habe mal zwei Jahre in Boston gelebt, dort studiert. Es ist schön dort. Aber anders als hier. Und als ich vor der Wahl stand, in der Stadt zu bleiben oder wieder hierher zurückzukommen, habe ich mich für meine Heimat entschieden. Und ich habe die Entscheidung nie bereut.«
Ich nickte verstehend und wechselte das Thema. »Hatten Sie gestern Erfolg?«
Er wusste genau, was ich meinte. »Ja, wir können den Ältestenrat heute Vormittag aufsuchen. Ihnen liegt es auch am Herzen, dass die Angelegenheit schnell aufgeklärt wird.«
»Das dachte ich mir«, sagte ich.
Alte Rinde lächelte kurz und verzog dann das Gesicht. »Wobei ich Sie warnen muss. Im Rat sitzen viele alte Männer, die wirklich schlechte Zeiten mitgemacht haben. Männer, die von den Weißen betrogen wurden und entsprechend misstrauisch sind. Erwarten Sie nicht, dass es einfach für Sie wird.«
»Das tue ich nicht«, entgegnete ich. »Können wir uns das Haus von Roter Panther und das von Schneller Bär ansehen, bevor wir dem Rat gegenübertreten? Vielleicht finden wir dort ein paar Hinweise.«
»Dazu benötigen wir die Genehmigung des Rates«, sagte Alte Rinde. »Der Rat sieht es nicht gern, wenn sich Außenstehende zu sehr in die Angelegenheiten der Indianer einmischen.«
»Und was ist mit Ihnen? Benötigen Sie auch deren Genehmigung, um sich in den Häusern umzusehen?«, war meine nächste Frage.
Er lächelte. »Wenn ich es für Sie tue, schon. Um dem Rat den nötigen Respekt zu erweisen, ist es besser, wenn wir vorher fragen.«
»Wenn Sie das für richtig erachten, werden wir das tun«, sagte ich.
»Wie wäre es mit Frühstück?«, fragte er mich.
Ich schaute auf die Uhr. »Ist eigentlich noch etwas früh, aber warum nicht.«
Wieder lächelte er. »Sie sollten hier nicht zu sehr nach Ihrer Uhr gehen. Vertrauen Sie mehr auf Ihr Gefühl.«
»Danke für den Ratschlag, ich werde das beherzigen«, sagte ich.
Wir gingen ins Haus. Weiße Feder war schon auf den Beinen und bereitete das Frühstück vor. Als sie mich sah, begrüßte sie mich freundlich.
»Haben Sie gut geschlafen?«, fragte sie.
»Ja, außerordentlich gut«, antwortete ich.
Nachdem ich Platz genommen hatte, kamen die drei Kinder und setzten sich ebenfalls. Phil war der Letzte, der sich am Frühstückstisch einfand.
»Guten Morgen – oh, bin ich zu spät?«, sagte er.
»Nein, kein Problem, wir sehen das nicht so eng«, sagte Weiße Feder. »Möchten Sie Kaffee?«
»Ja, gerne«, sagte er und langte zu.
Nach dem Essen schaute ich Alte Rinde an. »Haben Sie einen Vorschlag, wie wir die Zeit bis zum Treffen des Ältestenrates nutzen können?«
»Ich könnte Ihnen ein wenig vom Reservat zeigen, und wenn wir schon mal dabei sind, können wir mit ein paar Leuten reden«, antwortete er.
»Eine gute Idee«, sagte ich. »Wir sind in einer Viertelstunde bereit.«
Wir machten uns frisch, packten zusammen, was wir brauchten, und verließen dann das Haus. Alte Rinde stand bereits vor einem älteren Pick-up.
»Wir können meinen Wagen nehmen«, sagte er.
»Gerne«, erwiderte ich und stieg ein.
»Am besten zeige ich Ihnen die Gegend, in der die beiden gewohnt haben. Vielleicht haben wir dann auch Gelegenheit, den einen oder anderen zu befragen«, sagte Alte Rinde, nachdem er eingestiegen war.
Er startete den lauten Motor und fuhr los.
Die Straße, die er benutzte, war eher ein Feldweg und nicht asphaltiert. Entsprechend unruhig fuhr der Wagen, dessen Stoßdämpfer bestimmt schon bessere Zeiten gesehen hatten. Wir fuhren an einem Friedhof vorbei, von dem uns Alte Rinde erklärte, dass dort indianische Scouts der US-Army begraben waren.
Nach etwa einer halben Stunde erreichten wir einen kleinen Hof. Nichts Besonderes, aber es gab hier eine Menge Platz. In einer Scheune entdeckte ich einen Traktor. Auf einer Weide grasten friedlich ein paar Pferde. Sonst waren keine Tiere zu sehen. Von Menschen keine Spur.