6,99 €
Sammelband 40: Fünf actiongeladene Fälle und über 300 Seiten Spannung zum Sparpreis!
G-Man Jerry Cotton hat dem organisierten Verbrechen den Krieg erklärt! Von New York aus jagt der sympathische FBI-Agent Gangster und das organisierte Verbrechen, und schreckt dabei vor nichts zurück!
Damit ist er überaus erfolgreich: Mit über 3000 gelösten Fällen und einer Gesamtauflage von über 850 Millionen Exemplaren zählt er unbestritten zu den erfolgreichsten und bekanntesten internationalen Krimihelden überhaupt! Und er hat noch längst nicht vor, in Rente zu gehen!
In diesem Sammelband sind 5 Krimis um den "besten Mann beim FBI" enthalten:
2975: Die falsche Spur zum Mörder
2976: Den Tod in der Hand
2977: Das Schweigen der Toten
2978: Backstage Mörder
2979: Zeugenjagd bei unter Null
Jerry Cotton ist Kult - und das nicht nur wegen seines roten Jaguars E-Type.
Jetzt herunterladen und garantiert nicht langweilen!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 690
Veröffentlichungsjahr: 2022
Jerry Cotton
Jerry Cotton Sammelband 40
Cover
Impressum
Die falsche Spur zum Mörder
Jerry Cotton aktuell
Vorschau
Die falsche Spur zum Mörder
Maggie Carson wusste, wie gefährlich der Straßenstrich in North Philadelphia war. An der Ecke Kensington Avenue/Somerset Street wurde fast jede Woche ein Mädchen vergewaltigt oder ermordet, und hier wechselte mehr Heroin, Kokain und Meth den Besitzer als in New York oder East L.A. Kein Grund für sie, die Gegend zu wechseln. Mit Drogen hatte sie wenig am Hut, und selbst miese Freier waren zu ertragen, wenn man wusste, dass man irgendwann aussteigen würde. Es sei denn, man geriet an einen Verrückten und hatte plötzlich ein Messer am Hals.
Noch fehlten ihr ein paar Tausender, um diese miese Ecke endgültig verlassen zu können. Sie träumte von einer eigenen Boutique oder einer Kaffeebar, und beides kostete Geld. Mehr Geld, als auf ihrem Konto lag. Von der Summe, die sie ihrem Zuhälter schuldete, ganz zu schweigen. Ungefähr noch zwei Jahre würde sie brauchen, um genug Geld für die Anzahlung zu haben. Jeder Freier zählte, da durfte man nicht wählerisch sein.
Also stieg sie auch zu einem Typ, von dem sie nicht mal das Gesicht sah, in den Wagen. Wahrscheinlich einer dieser Mittelklasse-Heinis, die sich in ihren Büros und bei ihren Familien in den Vororten langweilten und sich bei Dealern und leichten Mädchen wie ihr einen Kick holten.
Die meisten dieser Typen standen auf junge Dinger wie sie. Sie war gerade achtzehn und hatte noch das Glück, zwei Jahre jünger auszusehen. Sie nahm keine Drogen, jedenfalls nicht dieses Meth, das einen wie ein Zombie aussehen ließ.
»Na, mein Lieber, wie willst du’s denn haben?«, begrüßte sie ihn mit dem üblichen Spruch. »Wie wär’s, wenn wir zwei Hübschen in das gemütliche Hotel um die Ecke gehen? Da hab ich ein Zimmer. Kostet dich einen Fünfziger mehr, aber dafür haben wir mehr Platz, und ich zeige dir ein paar Dinge, von denen du bisher nur geträumt hast. Das willst du doch.«
Sein Gesicht lag noch im Halbdunkel, aber seine heisere Stimme zeigte ihr, dass er scharf auf sie war. So klangen alle Männer, wenn sie es bitter nötig hatten.
»Für ein schmuddeliges Hotelzimmer bist du mir zu schade«, erklärte er. »Die Frau, die ich liebe, hat was Besseres verdient. Ich kenne da ein hübsches Plätzchen, gar nicht weit von hier, da sind wir ganz allein. Lass dich überraschen, okay?«
Solche Antworten mochte Maggie überhaupt nicht. Sie hatte keine Lust, in einer dunklen Ecke zu sterben. Das war zu vielen Kolleginnen passiert.
Sie wollte gerade protestieren, als sein Gesicht im trüben Licht einer Straßenlampe aufleuchtete und er tatsächlich wie ein harmloser Vorstädter aussah. »Ich weiß, was du denkst«, sagte er. »Du denkst, ich will dich in einen dunklen Park entführen und dir wehtun. Aber so ist es nicht. Ich liebe dich über alles, weißt du, und würde dir niemals wehtun.« Er lächelte beinahe schüchtern. »Ich hab uns ein Zimmer im Four Seasons reserviert. Ich hoffe, das ist in deinem Sinn.«
»Im Four Seasons?« Ein Verrückter, dachte sie. Einer dieser seltsamen Typen, die sich irgendwas vormachen und glauben, in dich verliebt zu sein. Die einen Wochenlohn oder mehr draufgehen lassen, nur um sich ein Stück vom Himmel zu kaufen. Mir soll’s recht sein, dachte sie, das gibt ordentlich Trinkgeld, von dem Moses nichts zu wissen brauchte. Moses war ihr Zuhälter.
»Natürlich bin ich damit einverstanden, Schätzchen. Wenn du mich in dem Aufzug an der Rezeption vorbeibringst.« Sie blickte auf ihren superknappen Minirock und kicherte.
»Mach dir keine Sorgen. Wir nehmen den Seiteneingang. Ich hab die Magnetkarte schon in der Tasche.« Er grinste. »Du hast doch ein wenig Zeit?«
»Solange du flüssig bist, bin ich für dich da. Du bezahlst doch bar, oder?«
Er zog ein Bündel Hunderter aus der Jackentasche und zeigte es ihr. »Ich nehme an, das reicht erst mal. Ich hab einen guten Job, weißt du? Bei einer Versicherung, die gehen nie bankrott. Die Frau, die ich heirate, wird niemals arbeiten müssen.« Wieder dieses schüchterne Lausbuben-Lächeln, wahrscheinlich eine Masche von ihm. »Wie gefällt dir das, Liebes?«
Der Kerl ging ihr gehörig auf den Sack. Diese Ich-bin-in-dich-verliebt-und-möchte-dich-heiraten-Masche gefiel ihr gar nicht. Aber sie spielte mit. Sie brauchte nur an das Geldbündel zu denken, um ihn unwiderstehlich zu finden.
»Na klar, Schätzchen, das finde ich ganz großartig. Gibst du mir schon mal einen von den Scheinen? Nur damit ich ein Gefühl dafür kriege.«
Er zog einen Hunderter aus der Tasche und reichte ihn ihr. Sie betrachtete den Schein mit mühsam verhohlener Gier, küsste Benjamin Franklin auf der Vorderseite und ließ ihn in ihrem Ausschnitt verschwinden. Er war auch der Grund dafür, dass sie nicht protestierte, als er ihr eine Hand aufs Knie legte und ihren Oberschenkel hinauffuhr. Gerade als sie etwas sagen wollte, zog er selbst seine Hand zurück.
Inzwischen hatten sie die Innenstadt erreicht. Sie näherten sich dem Logan Square, und sie sah bereits den Schriftzug des Four Seasons in der Ferne aufleuchten. Er meint es tatsächlich ernst, dachte sie, anscheinend hab ich heute das Glückslos gezogen. Wenn alles so läuft, wie ich mir das vorstelle, komme ich mit einem Tausender nach Hause, und fünfhundert davon gehören mir. Mindestens!
Der Fremde fuhr an dem Hotel vorbei und bog einen Block weiter in eine Seitengasse. Die Einfahrt zu einem Abstellplatz und so verlassen wie das schmuddelige Hotel, in das sie ihre Freier normalerweise entführte, nach einer Razzia.
Nur jede zweite Straßenlampe brannte, und das Eingangstor wurde zu beiden Seiten von einer hohen Mauer begrenzt, die reichlich Schatten verbreitete. Dort gab es überhaupt keine Lampe. Der perfekte Ort für einen Mord oder Schlimmeres.
Maggie erkannte, dass er ein falsches Spiel trieb. »Hey, was soll das? Zum Hotel geht’s da hinten.«
Sie funkelte ihn wütend an. Allein an seiner Körpersprache erkannte sie, dass sie sich in ernsthafter Gefahr befand. »Du hast gar nicht im Four Seasons reserviert, was? Du willst es mir hier im Dunkeln zum Nulltarif besorgen. Aber so haben wir nicht gewettet, Mister.«
Sie wollte die Beifahrertür öffnen und aus dem Wagen springen, doch kaum hatte sie den Griff berührt, hörte sie ein Klacken. Er hatte die Tür verriegelt. Sie griff nach der Pfefferspraydose in ihrem Handtäschchen, aber auch diesmal war er schneller und schlug ihr die Dose mit einer heftigen Handbewegung aus der Hand. Im selben Augenblick stieg er auf die Bremse und hielt in einer dunklen Ecke.
Sie ahnte, was ihr bevorstand, und geriet in Panik. Mit beiden Fäusten ging sie auf ihn los. Auch wütend auf sich selbst, weil sie den Braten nicht früher gerochen hatte, traf sie ihn zweimal im Gesicht, bis er die Oberhand gewann und sie mit einem gezielten Faustschlag außer Gefecht setzte. Das war’s dann wohl mit dem eigenen Laden, war ihr letzter Gedanke, bevor sie das Bewusstsein verlor.
Sie sah nicht mehr, wie er ausstieg, um den Wagen herumlief und sie aus dem Wagen zerrte. Und über ihre Lippen kam nur ein reflexartiges Stöhnen, als er sie verfluchte, ein Jagdmesser zog und es ihr mit voller Wucht ins Herz rammte. Wie eine lästige Stoffpuppe ließ er sie in den Abfall zwischen einigen Containern fallen.
Sein Job war damit noch nicht beendet. Ein grimmiges Lächeln spielte um seine Lippen, als er ihre Bluse aus dem Rock zog und ein handtellergroßes »A« in ihren Bauch schnitt. »Damit alle wissen, was du verbrochen hast.«
Er blickte noch eine Weile hasserfüllt auf sie hinab, wischte die Messerklinge an ihrem Minirock sauber und kehrte in seinen Wagen zurück. Zufrieden und auch erleichtert fuhr er davon. Niemand hatte ihn beobachtet.
***
»Nun sieh dir das an«, sagte Phil, der mit dem Kaffeebecher in beiden Händen vor dem Computer saß. »Eine Nachricht der Cops in Philadelphia. Sie schlagen vor, dass wir einen der Pilgerväter besuchen. Seltsamerweise wohnt er im East Village. Kein Verdächtiger, eher ein Sachverständiger, der uns bei der Suche nach einem Doppelmörder weiterhelfen könnte.«
»Einen Pilgervater?« Ich blickte ihn erstaunt an. »Du meinst die Siedler, die vor vierhundert Jahren in Massachusetts gelandet sind?« Ich musste lachen. »Ich dachte, die wären alle tot. Oder sind inzwischen neue gelandet?«
Phil verdrehte die Augen. »Ein Reenactor. Du weißt schon, diese Typen, die sich historische Klamotten anziehen und Szenen aus der Vergangenheit nachstellen. In Massachusetts gibt’s ein ganzes Dorf davon. Möglicherweise kommt der Täter aus dieser Szene.« Er stellte seinen Kaffeebecher auf den Tisch und rief eine andere Seite auf. »Charlie Hamilton.« Er notierte die Adresse des Mannes.
»Zwei Morde, sagst du?« Ich war neugierig geworden. »Und was hat der mit den Pilgervätern zu tun? Sag nicht, der Täter hätte einen Mord aus dem 17. Jahrhundert nachgestellt. Denn daran würde ich mich erinnern.«
Phil tippte erneut auf seinem Keyboard. »Es geht um zwei Morde, die nach demselben Muster begangen wurden – der erste in Philadelphia vor zwei Jahren und der zweite vor elf Monaten in Jersey City. Beides Prostituierte. Der Mörder hatte ihnen ein A in den Bauch geschnitten.«
»Die A-Morde, ich erinnere mich. Und weil du diesen Film mit Demi Moore gesehen hattest, wusstest du auch gleich, was das bedeutete. A wie Adultery, stimmt’s? Das eingebrannte A war die Strafe für Ehebruch bei den Pilgervätern. Habe ich recht?«
Er grinste schwach. »Ich sehe, du hast von mir gelernt. Obwohl uns der Buchstabe nicht weiterbrachte. Beide Frauen waren unverheiratet, und beide gingen auf den Strich. Wie können sie da Ehebruch begehen? Wir hatten damals viel um die Ohren und mussten den Fall abgeben, aber hier steht, dass sie den Mörder nie geschnappt haben. Und weil niemand die Frauen vermisste und kein weiterer Mord geschah, verliefen die Ermittlungen im Sande.« Er deutete auf seinen Monitor. »Bis die Cold Case Squad in Philadelphia den Fall wieder ausgrub und uns anscheinend einspannen will. Ich weiß nicht, ob der Chef darüber sehr begeistert ist. Und ob wir Zeit haben.«
Ich rief die gleiche Seite wie Phil auf und rief mir die beiden Fälle in Erinnerung. Der Name der Frau, die eine Streife vor zwei Jahren in einer dunklen Gasse in Philadelphia gefunden hatte, war Maggie Carson gewesen. Gerade mal achtzehn, in einem kleinen Nest in Pennsylvania aufgewachsen und in Philadelphia unter die Räder gekommen.
Sie hatte bestimmt keinen Ehebruch begangen, und der Himmel wusste, warum sie ein so grausames Ende gefunden hatte. Auf dem Grabstein der anderen stand Rose Grimson. Sechsundzwanzig, aber ein ähnliches Püppchengesicht wie Maggie und genauso blond. Sie hatte man in einer dunklen Ecke in Jersey City gefunden.
Beide Morde waren mit demselben Messer begangen worden, und alles wies auf einen Serientäter hin, der bisher aber nicht mehr in Erscheinung getreten war. Das hieß nicht, dass wir einen solchen Fall einfach aufgaben, nur war in letzter Zeit so viel passiert, dass wir ihn den Cops überlassen hatten. Erst jetzt hatten wir wieder Zeit.
Ähnlich dachte wohl auch unser Chef, denn unsere Kaffeebecher waren noch halb gefüllt, als er unser Büro betrat. »Sie haben von den A-Morden in Philadelphia und Jersey City gelesen? Die beiden Prostituierten?«
»Die haben wir gerade auf dem Schirm, Sir«, antwortete ich. »Philadelphia fragt an, ob wir uns einen gewissen Charlie Hamilton vornehmen könnten.«
»Den Reenactor, ich weiß. Anscheinend eine neue Spur. Wie wär’s, wenn Sie mal bei ihm vorbeischauen? In der Anfrage steht, er hätte einen Second-Hand-Shop im East Village.«
»Wir sind schon unterwegs, Sir.«
***
Der Shop lag in einer Seitenstraße der Second Avenue, ein unscheinbarer Laden im Untergeschoss einer Wäscherei und nur über eine steile Treppe zu erreichen. Ein Glöckchen klingelte, als wir den Raum betraten. Die vollen Kleiderständer und Regale ließen kaum Platz für Tresen und Kasse.
»Mister Hamilton?«, rief ich, als sich niemand blicken ließ. »Charlie Hamilton? FBI. Sind Sie zu Hause, Mister?«
Niemand würde seinen Laden unverschlossen lassen, auch dann nicht, wenn man sich nur in der benachbarten Pizzeria sein zweites Frühstück abholte. Selbst ein Second-Hand-Shop war nicht gegen Einbrecher gefeit.
Phil und ich wechselten einen fragenden Blick und riefen noch einmal, bekamen aber wieder keine Antwort.
Phil arbeitete sich durch einen Wust von gebrauchten Klamotten am Tresen vorbei und öffnete die Tür zum Nachbarzimmer. Ein spitzer Schrei ließ ihn zusammenfahren. Ich sah, wie sich ein halbnackter Mann durch die Hintertür aus dem Zimmer stahl und eine junge Frau alle Hände voll zu tun hatte, ihre altmodische Kleidung zu ordnen.
Die Kleidung einer Frau, die mit der Mayflower nach Amerika gekommen war. Ihre Haube saß schief, und sie wirkte so schuldbewusst wie ein Mädchen, das seine Eltern beim Sex mit einem Rüpel erwischt hatten.
»Sorry«, entschuldigte sich Phil bei ihr, »aber die Tür stand offen, und wir suchen nach einem Charlie Hamilton.«
»Das bin ich«, sagte sie. Sie lächelte verlegen. »Charlie steht für Charlene.«
»Dann haben Sie bei der Polizei in Philadelphia angerufen? Wegen der beiden Morde dort und Jersey City?« Phil zog seinen Dienstausweis und stellte uns beide vor.
»Ja, das stimmt.« Ihr stand das Blut im Gesicht, aber sicher nicht wegen Phil. »Sie müssen entschuldigen«, fühlte sie sich bemüßigt zu sagen, »ich hatte wohl vergessen abzuschließen und wollte bestimmt nicht …« Sie suchte nach den richtigen Worten. »Aber mein Freund und ich hatten uns zwei Wochen nicht gesehen, und wir waren wohl etwas, nun, ausgehungert.«
»Ihr Privatleben geht uns nichts an«, erwiderte ich, ohne mir ein leichtes Grinsen verkneifen zu können. »Bedienen Sie immer in diesem Kostüm?«
Sie erholte sich langsam von ihrem Schrecken. »Nur auf den Treffen unseres Clubs, ich bin Mitglied der East Village Pilgrims, und wenn ich im Laden stehe. Die Kunden mögen mich so.«
»Sie wollten uns etwas sagen?«
Sie nickte. »Ist vielleicht nicht wichtig, aber ich stieß vor ein paar Tagen im Internet auf einen Artikel über die Morde, dass die Polizei in Philadelphia den Fall wieder ausgegraben hat und behauptet, der Mörder müsste sich gut in amerikanischer Geschichte ausgekannt haben. Wegen des eingeritzten A, meine ich. Ich hatte Angst, dass sie einen Reenactor verdächtigen könnten, vielleicht sogar einen von uns.«
»Und?«
»Von uns war es bestimmt keiner«, sagte sie. »Auch kein anderer Reenactor. Einer, der sich in der Geschichte der Pilgerväter wirklich auskennt, hätte niemals einen so groben historischen Schnitzer wie der Mörder begangen.«
»Und der wäre?«
»Das A«, sagte sie. »Fast alle Ehebrecherinnen mussten ein AD aus Stoff auf ihrem Gewand tragen. Wenn sie das nicht taten, brannte man ihnen die Buchstaben auf die Stirn. Und zum Tode verurteilt wurden sie auch nicht, meist blieb es bei einigen Peitschenhieben. Sie sehen also, der Mörder hatte wenig Ahnung von Geschichte, sonst hätte er ihr AD in die Stirn geritzt oder gebrannt. Vielleicht hatte er den Film mit Demi Moore gesehen, die musste ein A auf der Brust tragen.«
»Und das ist alles, was Sie uns zu sagen haben?«, wunderte ich mich.
Sie blickte mich schuldbewusst an. »Ich wollte nur nicht, dass Sie in unserem Club ermitteln. Von uns hat bestimmt niemand was mit den Morden zu tun.« Sie zögerte etwas und fügte dann entschlossen hinzu: »Der Mann, mit dem ich vorhin, nun, zusammen war, ist auf Bewährung frei. Ein Diebstahl, eine Dummheit vor ein paar Monaten, die er längst bereut. Ich wollte nicht, dass er verdächtigt wird.«
»Trauen Sie ihm einen Mord zu?«
»Natürlich nicht. Er kann es gar nicht gewesen sein. Er war bei der Armee in Alabama, als die Morde geschahen. Das kann er beweisen. Aber Sie wissen ja, wie Polizisten sind.«
Phil notierte sich den Namen und die Adresse ihres Freundes und kapitulierte beinahe vor ihrem schüchternen Lächeln, doch einen Partner in der historischen Kleidung eines Pilgervaters konnte und wollte ich mir nicht vorstellen. »Auf Wiedersehen, Miss Hamilton, und vielen Dank für Ihre Aussage.«
***
Dixie Mallory dachte sich nichts dabei, als sie mit dem Quarterback des Football-Teams vor der Turnhalle stand und ihre blonde Mähne schüttelte. Als Chefin der Cheerleaders war es ihr streng verboten, sich mit einem der Spieler einzulassen, aber gegen einen Flirt hatte sicher niemand etwas einzuwenden. Sie mochte es, wenn die Jungen ihr zu Füßen lagen, besonders solche Angeber wie Johnny.
»Du weißt doch genau, dass wir nicht mit Spielern ausgehen dürfen«, sagte sie, nachdem er sie auf einen Cappuccino eingeladen hatte. »Wenn sie uns erwischen, werfen sie mich raus, und ich kann mir die Cheerleaderin des Jahres abschminken.«
Er grinste. »Du hast doch nur Angst, dass du dich in mich verlieben würdest. Einem heißen Typen wie mir könntest du nicht widerstehen, was?«
»An einem heißen Typ wie dir würde ich mir vielleicht die Finger verbrennen, aber mehr auch nicht. Außerdem bist du mir zu jung. Ich gehe lieber mit erfahrenen Männern aus.« Sie warf Johnny einen Handkuss zu. »Nichts für ungut, Mister Quarterback.«
Sie lief die Treppen zur Straße hinunter und sah Randy in seinem Wagen auf sie warten. Ihr derzeitiger Freund war ein Mechaniker aus Brooklyn, der eigentlich gar nicht zu ihr passte. Er war viel zu dumm und grob, aber ein toller Liebhaber, und sie wollte ihn zumindest für einige Monate behalten.
Er hielt sich für ihren festen Freund und träumte wohl schon davon, sie zum Traualtar zu führen.
»Hey, Dixie«, rief er durchs offene Wagenfenster. »Steig ein, wir fahren zu mir.« Er stieß die Beifahrertür auf und nahm sie gleich in Beschlag. »Ich hab den Nachmittag freigenommen, Dixie. Ich musste dich unbedingt sehen.« Er küsste sie auf den Mund, wohl auch, um dem Quarterback zu zeigen, wem sie gehörte. Erst dann drückte er aufs Gas.
»Bis morgen, Dixie«, rief ihnen der Junge nach. »Und vergiss mich nicht.«
Dixie hörte gar nicht hin. »Und was sage ich meinem Stiefvater?«, erwiderte sie zögernd. »Du weißt doch, wie wütend er werden kann, wenn ich zu spät komme. Ich kann froh sein, dass er mich zu den Cheerleadern lässt.«
»Dann hat das Training eben länger gedauert«, ließ sich Randy nicht beirren. Er benahm sich wieder mal sehr launisch und unbeherrscht und wechselte wie so oft unvermittelt das Thema. »Was wollte der Mistkerl von dir?«
»Was für ein Mistkerl?«
»Na, der Sonnyboy mit der altmodischen Kurzhaarfrisur und dem Football-T-Shirt. Du hast ihn angelächelt.«
»Darf ich das nicht?«
»Du hast mit ihm geflirtet.«
»Nichts Ernstes, Randy.«
Er hatte wohl wieder die blauen Pillen geschluckt, mit denen er sich in Stimmung brachte, manchmal aber auch die Kontrolle über sich verlor. »Gib’s zu, du hast was mit dem Kerl.«
»Du spinnst, Randy. Erstens darf ich mit einem Spieler nichts anfangen, und zweitens mag ich den Typ überhaupt nicht. Du bildest dir was ein.«
»Du hast mit ihm geschlafen.«
So aufgebracht hatte sie Randy noch nie erlebt. »Jetzt reicht’s mir aber. Lass mich aussteigen! Halt an!«
Er dachte nicht daran, wurde aber durch eine rote Ampel gezwungen, auf die Bremse zu treten. Sie nutzte den Augenblick und sprang aus dem Wagen. Fest entschlossen, sich einen anderen Freund zu suchen, rannte sie über die Straße. Bis zum U-Bahnhof 46th Street waren es nur zwei Blocks.
Sie hörte den Motor seines Wagens hinter sich aufheulen, blickte sich aber nicht um. Von plötzlicher Panik getrieben, rannte sie über einen leeren Spielplatz zur Parallelstraße und in eine dunkle Gasse, die direkt zum U-Bahnhof führte. Wenn sie Glück hatte, kam gleich eine Bahn, und sie war bereits nach Manhattan unterwegs, bevor Randy sie einholen konnte.
Sie wohnte am anderen Ufer des Hudson River in New Jersey und musste an der Penn Station in den Vorortzug nach Newark umsteigen. Nur durch ein Stipendium war sie auf das vornehme College in Queens gekommen.
Die Gasse zog sich zwischen zwei betagten Mietskasernen entlang und wurde auf beiden Seiten durch hohe Backsteinmauern begrenzt. Hier gab es keine Balkons, und niemand lehnte sich aus dem Fenster. Ein idealer Ort, um ihr eine Abreibung zu verpassen, beinahe wie im Kino. Warum war sie nicht auf der belebten 45th Street geblieben? Oder war Randy gar nicht hinter ihr her? Rief er gleich bei ihr auf dem Handy an und entschuldigte sich? Zuzutrauen war es dem Typen.
Als wartete sie auf das Klingeln ihres Handys, hielt sie an und lauschte. Hinter ihr waren keine Schritte zu hören. Also hatte sie sich alles nur eingebildet. Randy mochte sie. Er war verrückt nach ihr und dachte nicht daran, ihr wehzutun. Er war nur gereizt wegen dieser blauen Pillen. Irgendeine Droge, der sie tapfer widerstanden hatte. Sie behielt gern die Kontrolle.
Sie ging langsam weiter, hörte nicht, wie am anderen Ende der Gasse ein Wagen bremste, und sah auch nicht, wie eine Gestalt ausstieg und im dunklen Schatten der Mauern auf sie zukam. Sie war längst davon überzeugt, dass Randy weitergefahren war und ihr nicht etwa den Weg abschnitt.
Und als sie merkte, wie gründlich sie sich geirrt hatte, war es schon zu spät. Da sauste die Hand mit dem Messer schon auf sie zu und bohrte sich tief in ihr Herz. Auch sie hatte ein blutiges A auf dem Bauch, als die Gestalt mit dem Messer davonlief und in ihrem Wagen verschwand.
***
An diesem Abend kamen wir zum ersten Mal seit langer Zeit wieder zeitig aus dem Büro. Wir hatten herausgefunden, dass Charlies Freund zu den Tatzeiten tatsächlich auf einem Militärgelände in Alabama gewesen war, und gingen davon aus, dass der Mörder der beiden jungen Frauen davonkommen würde, denn auch ein nochmaliges Studium der Akten hatte keinen weiteren Hinweis ergeben.
Vielleicht hatte die Cold Case Squad in Philadelphia mehr Glück. Wir waren erst mal raus und würden am nächsten Morgen zu einer Task Force gegen mexikanische Druglords stoßen.
Dachten wir und wurden schon auf dem Heimweg eines Besseren belehrt. Der Chef war dran und leitete uns nach Queens um.
»Jetzt haben Sie Ihre Spur. Ein weiterer A-Mord.« Er gab uns die Adresse. »Lieutenant Sophie Schwartz wartet bereits auf Sie.«
»Das war’s dann wohl mit einem gemütlichen Abend vor dem Fernseher«, sagte ich, als ich aufgelegt hatte.
»Oder mit einer sündigen Nacht mit einer der heißesten Frauen der Welt.«
»Deine Stewardess ist im Lande?«
»Wie immer, wenn ich keine Zeit habe«, seufzte er. »Ich sollte mich in den Innendienst versetzen lassen.«
»Da würdest du nur versauern. Und deine Stewardess würde mit dem nächsten Flieger das Weite suchen.«
Trotz des starken Verkehrs, der in Manhattan am Abend besonders nervig war, brauchten wir nur eine halbe Stunde nach Queens. Allerdings musste ich das Blaulicht und stellenweise sogar die Sirene einschalten, um die Flut von gelben Taxis zu teilen.
Der Tatort war bereits mit Plastikband abgesichert, als wir neben einigen Streifenwagen hielten. Eine attraktive Frau mit kurzen blonden Haaren, leger gekleidet in Jeans, Kapuzenjacke und Laufschuhe, kam uns entgegen und begrüßte uns: »Lieutenant Sophie Schwartz. Und Sie sind die Herren vom FBI …«
»Special Agents Jerry Cotton und Phil Decker.« Der Ordnung halber zeigten wir unsere Ausweise. »Sie haben mit unserem Chef gesprochen?«
»Assistant Director High, ja«, erwiderte sie. Sie war um die vierzig und sehr erfahren, an Gewaltverbrechen gewöhnt und ohne Vorurteile gegenüber dem FBI. »Als ich die Tote sah, wusste ich gleich, dass wir Sie brauchen. Ich kann mich noch gut an die Berichte über die A-Morde erinnern.«
»Gute Arbeit, Lieutenant.«
»Die leiste ich immer, Agent Cotton, sonst würde ich heute noch eine Uniform tragen. Frauen haben es nicht leicht bei der Polizei, auch wenn ständig etwas anderes behauptet wird.«
Sie führte uns zur Leiche des Mädchens, die im gleißenden Licht einiger aufgestellter Scheinwerfer auf dem Boden lag. Die Crime Scene Unit war bereits vor Ort und erledigte ihre Arbeit. Ein junger Mann im Schutzanzug fotografierte. Der Medical Examiner, ein Mann mit Halbglatze und Nickelbrille, kniete neben der Leiche und erhob sich, als er die Polizistin und uns kommen sah. Er hieß Timothy Walker.
»Dixie Mallory«, nannte Sophie den Namen des toten Mädchens, »zwanzig Jahre. Laut ihrem Büchereiausweis geht sie auf das Benjamin Franklin College hier in Queens. Eine dieser elitären Schulen, liegt nur ein paar Blocks von hier. Sie wohnt allerdings drüben in New Jersey, bei ihren Eltern in Newark.« Sie deutete zum Ende der Gasse. »Anscheinend war sie auf dem Weg zur U-Bahn, als sie ihrem Mörder begegnete. Er muss sie abgepasst haben oder ihr heimlich gefolgt sein.«
»Wer informiert die Eltern?«
»Die Kollegen in Newark. Sie müssten bereits bei ihnen sein. Die Befragung wollen sie Ihnen überlassen. Ich hab den Kollegen gesagt, Sie würden morgen bei den Eltern vorbeischauen. Das war hoffentlich in Ihrem Sinn.«
»Sicher.«
Ich beugte mich zu der Leiche hinunter und war froh, dass ich noch nicht zu Abend gegessen hatte. Sie bot einen grauenvollen Anblick, obwohl die tödliche Wunde kaum geblutet hatte. Kein ungewöhnlicher Anblick für uns, da war das blutige A auf ihrem Bauch schon von anderem Kaliber. Der Mörder hatte diesmal tiefer geschnitten, und wir konnten es erst deutlich erkennen, als Walker die Wunde vorsichtig säuberte. Das Blut war geronnen und passte nicht zu ihrem gebräunten und beinahe perfekten Körper. Ihre Hose stand offen. Sauber waren nur ihre blonden Haare, die wie ein Fächer auf der Erde lagen und im Scheinwerferlicht glänzten.
»Todeszeitpunkt?«, fragte ich.
»Ungefähr vor drei Stunden«, antwortete Walker, »die genaue Zeit erfahren Sie morgen früh.« Er berührte die Wundränder mit seinem behandschuhten Zeigefinger. »Ein Jagdmesser, so viel kann ich schon sagen. Sehen Sie die kleinen Zacken? Das typische Muster eines Jagdmessers mit einer ungewöhnlich scharfen Klinge.«
»Kampfspuren?«
»Keine. Ich nehme an, der Angriff kam vollkommen überraschend für das Opfer. Das Messer hat sie genau ins Herz getroffen, und sie war sicher schon tot, als sie zu Boden fiel. Sie muss ihren Mörder gekannt haben.«
»Leider gibt es sonst keine Spuren«, ergänzte Sophie. »Es sei denn, Walker findet noch fremde DNA an ihrem Körper, was ich allerdings bezweifle.«
»Wie bei den anderen beiden Morden«, sagte ich, »da hat man auch nichts gefunden. Wir haben es zweifellos mit einem Serientäter zu tun.«
»Oder mit einer Serientäterin.«
»Die sind äußerst selten, wie Sie wissen. Und morden keine Mädchen.«
Sophie lächelte. »Stimmt, die gehen meist auf böse Buben los. Dieser hier«, sie blickte immer noch auf die Tote, »hat es eher auf junges Gemüse abgesehen. Gerade mal zwanzig, die Kleine, und die anderen beiden Opfer waren noch jünger, wenn ich mich recht erinnere. Achtzehn, nicht wahr?«
»Maggie Carson war achtzehn, Rose Grimson schon sechsundzwanzig, sah aber viel jünger aus.« Ich wandte mich an Walker. »Gibt es Anzeichen für eine Vergewaltigung oder so was?«
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Nichts dergleichen. Der Mörder hat sie umgebracht, das A in den Bauch geritzt und ist wieder verschwunden. Wenigstens die Mordwaffe hätte er hierlassen können.«
Ich wartete, bis sie die Leiche in einen Plastiksack gepackt hatten, und wandte mich dann an die Polizistin. »Gute Arbeit, Sophie. Tut mir fast leid, dass wir Ihnen den Fall wegnehmen müssen, aber er fällt in unseren Zuständigkeitsbereich. Was nicht heißen soll, dass Sie ganz draußen sind. Wir sind für jede Unterstützung dankbar. Wir melden uns, wenn wir Hilfe brauchen.«
Sophie schenkte uns ein Lächeln. »Sie sind der erste nette FBI-Agent, dem ich begegne, Agent Cotton. Rufen Sie mich an, wenn Sie mal Lust auf Irish Stew haben. Ich hab mal einen Preis für mein Stew bekommen.«
»Für irischen Eintopf?«
Ihr Lächeln wurde breiter. »Meine Haare sind gefärbt, Jerry. Ich darf doch Jerry sagen? Eigentlich sind sie rotblond. Meine Großmutter war Irin.«
»Wow!«, staunte Phil, als wir im Wagen saßen. »Bei dem Abendessen würde ich gern Mäuschen spielen.«
***
Die Eltern der toten Dixie wohnten in einem schlichten Einfamilienhaus im Süden der Stadt. Vor dem Parterre erstreckte sich eine überdachte Veranda. Eine Treppe führte zum Eingang.
George Mallory öffnete, noch bevor wir am nächsten Morgen geklopft hatten. Ein korrekt gekleideter Mann in Anzug und Krawatte mit streitlustigen Augen. »Die Herren vom FBI, nehme ich an«, empfing er uns nicht gerade freundlich, »die Polizisten gestern Abend haben schon gesagt, dass Sie uns befragen wollen.« Er ließ uns widerwillig eintreten. »Warum kommen Sie denn so früh?«
Ich blickte auf die Uhr. »Es ist neun Uhr, Mister Mallory.« Wir zeigten unsere Ausweise und stellten uns vor. »Tut mir leid, wenn Ihnen unser Besuch ungelegen kommt, aber wir müssen Ihnen einige Fragen stellen, wenn wir den Mörder Ihrer Tochter finden wollen. Das verstehen Sie doch sicher.«
Er brummte missmutig und führte uns in das eher altmodisch eingerichtete Wohnzimmer, in dem seine Frau am Esstisch saß und uns kaum wahrnahm. Sie hatte ihre Hände vors Gesicht geschlagen und weinte leise.
»Unser aufrichtiges Beileid«, sagte ich. »Ich kann mir vorstellen, wie sehr Sie unter dem schweren Verlust leiden. Es muss furchtbar für Sie sein.«
»Sie haben doch keine Ahnung«, erwiderte er immer noch gereizt. »Man hat uns das Liebste genommen, was wir besitzen. Dixie war unser Ein und Alles. Das steckt man nicht so einfach weg. Sehen Sie sich meine Frau an.«
Ich sah seine mürrische Handbewegung als Aufforderung an, am Esstisch Platz zu nehmen, und setzte mich auf den Stuhl gegenüber seiner Frau. Sie schniefte ein paar Mal und rieb sich die Tränen mit einem Taschentuch vom Gesicht. Ihre Augen waren rot vom vielen Weinen und schienen mich nicht wahrzunehmen.
Phil blieb stehen. »Dürfte ich mal Ihr Bad benutzen?«, fragte er höflich. Ein Vorwand, um sich ungestört und ohne Durchsuchungsbefehl umsehen zu können, auch wenn das Gericht einen Beweis dann nicht anerkennen würde.
»Vor der Haustür links«, antwortete Mallory. Er bot uns keinen Kaffee an und setzte sich ebenfalls. Statt auf meine Fragen zu warten, legte er selbst los: »Wie konnte das passieren? Ein junges Mädchen wird am helllichten Tag ermordet. Wo war die Polizei, als es geschah? Wofür geben wir eigentlich unsere Steuern aus, wenn die Polizei den ganzen Tag verschläft?«
Ich erklärte ihm, dass der Mord in einer dunklen Gasse passiert und die Polizei in dieser Gegend sehr wohl präsent war. Dass eine hübsche Frau eine solche Gasse besser mied, behielt ich für mich, das hätte ihn nur wütender gemacht.
»Wir glauben, dass sie das Opfer eines Serienmörders wurde und vielleicht nur das Pech hatte, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, aber vielleicht kannte sie ihren Mörder auch. Haben Sie eine Idee, wer es gewesen sein könnte?«
Er brauste sofort wieder auf. »Zuerst sieht die Polizei tatenlos zu, wie ein gemeiner Mörder meine Tochter absticht, und jetzt soll ich auch noch den Mörder finden?« Er schlug so heftig mit der Faust auf den Tisch, dass seine Frau zusammenzuckte. »Jeder da draußen kann es gewesen sein, Agent. Jeder Mann, der eine schöne von einer hässlichen Frau unterscheiden kann. Die sind doch wie die läufigen Köter um sie herumgetanzt. Alle Männer haben sich nach ihr umgedreht und sie mit ihren Augen ausgezogen. Manche dieser geilen Böcke hätten alles getan, um sie einmal in ihren Armen zu halten. Besonders die jungen Kerle auf dem College. Ich hab ihr tausend Mal gesagt, sie soll nicht zu den Cheerleaders gehen, mit ihrem kurzen Röckchen würde sie diese Typen nur aufgeilen. Aber nein, mir passiert schon nichts, hat sie behauptet.«
»Ihre Tochter wurde nicht vergewaltigt, Mister Mallory. Sie wurde das Opfer eines Serientäters, und denen geht es meist nur um Macht.« Ich zögerte einen Moment. »Gab es denn in letzter Zeit einen Mann, der sich auf auffällige Weise für Dixie interessiert hat? Der Täter, von dem wir ausgehen, geht sehr gezielt vor. Er sucht sich seine Opfer aus. Vor Ihrer Tochter wurden zwei andere Mädchen auf die gleiche Weise ermordet, und auch sie waren blond und sahen Dixie sehr ähnlich. Der Mörder muss Dixie also eine Weile beobachtet haben. Er musste wissen, wann sie nach Hause kam und wo er sie abpassen konnte.«
»Ich hab niemand gesehen«, antwortete er nach einigem Überlegen. »Wenn man von den jungen Kerlen absieht, die ständig an ihrem Rockzipfel hingen. Dabei wollte sie von diesen spätpubertären Jungen gar nichts wissen. Es machte ihr Spaß, sie an der Nase herumzuführen, weiter nichts.«
»Randy Landrup«, meldete sich die Mutter. Sie räusperte sich und wiederholte den Namen. »Sie ging mit einem gewissen Randy Landrup aus. Das hat sie mir vor einigen Tagen erzählt.«
»Randy Landrup?«, fuhr ihr Mann sie an. »Warum hast du mir nicht von ihm erzählt? Ein Junge vom College?«
»Ein Mechaniker. Er arbeitet in einer Werkstatt in Brooklyn. Mehr weiß ich leider auch nicht. Eigentlich wollte sie mir gar nicht von ihm erzählen, aber ich kam mal dazu, als er sie auf dem Handy anrief, und hab sie gefragt. Seinen Namen bräuchte ich nicht zu behalten, sagte sie. Aber ich glaube, sie hat mit Randy geschlafen.«
»Und das erfahre ich erst jetzt?« Ihrem Mann war das Blut in den Kopf gestiegen. »Wie lange ging das so?«
»Drei, vier Wochen … höchstens.«
Genug Zeit, um eine Frau und ihre Gewohnheiten kennenzulernen. Vielleicht war das seine Masche. Er kriegte die Frauen rum, schlief ein paar Mal mit ihnen und brachte sie erst dann um. Vielleicht war Randy unser Täter.
»Unsere Dixie war ein anständiges Mädchen«, tönte Mallory. Den Spruch hatte ich schon oft gehört, und in den wenigsten Fällen war er zutreffend gewesen. »Das mit diesem Randy hat sie doch nur gesagt, um dich zu ärgern.« Er blickte seine Frau an. »Was will sie denn mit einem Mechaniker? Sie sollte mal einen Studierten heiraten, in einigen Jahren, wenn sie erwachsener war. Sie war gerade mal zwanzig.«
»Und außer diesem Randy erwähnte sie keinen Mann?«, bohrte ich weiter. »Hatte sie denn ein Tagebuch?«
»Nein«, antwortete die Frau, »und wenn sie eins gehabt hätte, würde ich es Ihnen nicht geben. Es gibt nichts Persönlicheres als ein Tagebuch. Aber sie hatte keins, ehrlich nicht.« Sie hatte sich wieder einigermaßen erholt. »Und ich kann Ihnen auch keine weiteren Namen nennen. Wie jedes Mädchen hat sie für ihren Lehrer geschwärmt …«
»Unsinn!«, fauchte ihr Mann.
Ich überlegte eine Weile, bevor ich die nächste Frage stellte: »Ich sage es Ihnen nur ungern, aber vielleicht wissen Sie es ja auch schon. Der Mörder hat Ihrer Tochter und den anderen Opfern ein A in den Bauch geritzt, bei den Pilgervätern in einem Film das Zeichen für Ehebruch. Ich weiß, Dixie war ledig, aber könnte jemand einen Grund gehabt haben, ihr vorzuwerfen, sagen wir, fremdgegangen zu sein?«
»Wie kommen Sie denn darauf?« Mallory reagierte wie erwartet. »Das ist doch absurd. Vielleicht in der schmutzigen Fantasie dieses perversen Mörders, aber sonst? Wie kommen Sie darauf, unsere Tochter auf diese Weise durch den Schmutz zu ziehen? Ich werde mich bei Ihrer obersten Dienststelle beschweren, Agent Cotton.«
»Ich habe Ihnen nur eine Frage gestellt, Mister Mallory. Wo waren Sie eigentlich gestern Nachmittag? Wo haben Sie von Ihrem Tod erfahren?«
»Soll das heißen, ich brauche ein Alibi?« Er schnaubte wie ein wütender Büffel. »Sie glauben wirklich, ich hätte was mit dem Tod meiner eigenen Tochter zu tun?« Er sprang auf und deutete zur Tür. »Verschwinden Sie! Sofort! Ich will Sie hier nicht mehr sehen! Das geht zu weit, Agent Cotton!«
Ich war ohnehin mit meinen Fragen durch und folgte seiner Aufforderung. »Wir geben Ihnen Bescheid, sobald Sie Ihre Tochter sehen können.« Ich bemühte mich um einen ruhigen Tonfall. »Tut mir leid, dass wir stören mussten. Unser aufrichtiges Beileid.«
Ich verabschiedete mich, traf Phil vor der Haustür und war froh, als wir endlich im Wagen saßen. »Wenn ich nicht wüsste, dass der Mann gerade seine Tochter verloren hat«, nahm ich den wütenden Mallory in Schutz.
»Stieftochter«, verbesserte Phil. »Ich habe gerade mit Helen gesprochen. George und Susan Mallory haben erst vor zehn Jahren geheiratet. Sie brachte Dixie mit in die Ehe, und er hat sie vor ein paar Jahren adoptiert. Nur deshalb trägt sie seinen Namen. Und das ist noch nicht alles. In seinem Schreibtisch liegt ein ziemlich aufreizendes Foto seiner Tochter. Ich bin nur durch Zufall darauf gestoßen. Es war zwischen seinen Akten versteckt. Er arbeitet als Versicherungsagent.«
»Sieh an«, sagte ich und ließ den Motor an, »deshalb war er so wütend, als die Sprache auf ihre Freunde kam. Gut möglich, dass er in seine eigene Stieftochter verliebt war. Vielleicht sollten wir sein Alibi doch überprüfen.« Ich trat aufs Gas. »Aber zuerst sehen wir uns diesen Randy aus der Nähe an.
***
Wir kämpften uns durch den dichten Mittagsverkehr und gönnten uns einen Cheeseburger in einem Schnellrestaurant. Nach dem Kalender war längst Sommer, aber über der Stadt hingen dunkle Wolken, und es regnete leicht.
Frisch gestärkt fuhren wir zu der Adresse der Werkstatt, in der Randy Landrup arbeitete. Phil hatte sie dem Computer entlockt und gleichzeitig auch die Vergangenheit des jungen Mannes gecheckt. Er hatte ein halbes Jahr wegen Dealens gesessen, war aufgrund guter Führung entlassen worden und seitdem nicht mehr straffällig geworden. Zurzeit arbeitete er als Mechaniker bei Flatbush Bikes.
Wir parkten vor der Einfahrt und zogen sofort alle Blicke auf uns, oder besser gesagt, auf meinen Wagen. Zwei Mechaniker kamen sogar raus und sahen ihn sich ganz genau an. »Ein Jaguar E? Der klingt aber anders, Mann. Da steckt doch was anderes unter der Haube. Eine Dodge Viper?«
»Die Viper SRT-10«, erwiderte ich.
»500 PS?«
»510 PS«, verbesserte ich grinsend. »Wir suchen Randy Landrup. Der arbeitet doch hier. Können wir ihn mal sprechen?«
»Randy hat sich krankgemeldet«, sagte der Mechaniker, ein Mann um die dreißig. »Das tut er in letzter Zeit öfter. Wenn er so weitermacht, werde ich ihn wohl rausschmeißen müssen. Sagen Sie ihm das, wenn Sie ihn finden. Ich bin Joe, der Werkstattleiter.«
»Haben Sie seine Adresse?«
Er blickte mich forschend an. »Sie sind von der Polizei, hab ich recht?«
»FBI«, klärte ich ihn auf und zeigte ihm meinen Ausweis. »Die Adresse.«
Er gab sie mir, und wir fuhren zu einem sechsstöckigen Mietshaus in der Nähe des College, in dem Dixie eingeschrieben war. Die Gegend war nicht übel, und ich fragte mich, wie sich ein Mechaniker wie er eine Wohnung in diesem Viertel leisten konnte.
Zum Glück kam gerade ein älterer Herr durch die Tür, sodass wir ohne zu klingeln ins Haus kamen. Randy Landrup wohnte im fünften Stock, und der Aufzug war leider außer Betrieb.
»Komisch, dass so was nur uns passiert«, schimpfte Phil, »als ob jemand wüsste, dass ich ständig mein Training versäume. Warum kann dieser Typ nicht im Parterre wohnen?«
»Ein bisschen Sport tut dir ganz gut«, erwiderte ich grinsend, »besonders nach einem dicken Cheeseburger wie heute Mittag. Und macht Eindruck bei den Mädels, hoffe ich doch.«
Wir kämpften uns in den fünften Stock hinauf und blieben vor seiner Tür in dem langen Flur stehen. Trotz mehrmaligem Klingeln und Klopfen bekamen wir keine Antwort, und nicht das leiseste Geräusch wies darauf hin, dass er zu Hause war.
»Randy Landrup!«, rief ich sicherheitshalber. »Machen Sie auf! Wir sind vom FBI.«
Statt Randy öffnete eine Nachbarin ihre Tür, eine ältere Dame mit sorgfältig frisierten Haaren und in einem Kleid, das schon wieder in Mode war. »FBI?«, fragte sie. »Sie sind vom FBI?«
Wir hielten unsere Ausweise in das Licht, das aus ihrer Wohnung fiel, und stellten uns vor. »Haben Sie eine Ahnung, wo Mister Landrup sein könnte, Mistress …« Ich blickte auf das Namensschild an ihrer Tür. »Mistress Huebner?«
»Schon möglich.« Sie sprach mit einem harten Akzent. »Ich hab ihn schon ein paar Mal in seinem Wagen sitzen sehen. Immer an derselben Stelle. Ecke 50th Street und Skillman Avenue. Drei Blocks von hier. Eine Straße weiter wohnt mein Arzt, und ich komme da immer vorbei, wenn ich zur Untersuchung gehe. Warum sitzt einer stundenlang in seinem Wagen und glotzt in die Gegend?« Sie blickte mich neugierig an. »Hat er was verbrochen?«
»Nein, wir haben nur ein paar Fragen an ihn«, beruhigte ich sie. »Und diese junge Frau? War die mal hier?«
Phil hatte sich ein Foto der Toten auf sein Smartphone geholt und zeigte es ihr, Dixie im Cheerleader-Kostüm.
»Ja, die war ein paar Mal hier. Die beiden waren, wie soll ich sagen, sehr intim miteinander. Die Wände hier sind sehr dünn, wissen Sie, da hört man jedes Geräusch. Manchmal schrien sie um die Wette, die beiden.«
Wir bedankten uns grinsend und stiegen die lange Treppe zu unserem Wagen hinab. Ich verscheuchte einige neugierige Jungen und stieg ein.
»Warum sitzt man stundenlang in einem Wagen?«, fragte ich, obwohl wir beide schon die Antwort wussten.
»Weil ich was zu verkaufen habe und auf Kundschaft warte«, sagte Phil.
»Ganz recht. Und ich glaube nicht, dass es Plüschtiere oder Spielzeugautos sind. Sieht ganz so aus, als wäre unser Randy rückfällig geworden …«
***
Randy war nicht zu übersehen. Er saß in einem betagten Chevy an der Ecke, die seine Nachbarin genannt hatte, und blickte missmutig in die Gegend. Obwohl es für einen Sommertag ausgesprochen kühl war und immer noch leichter Nieselregen fiel, hatte er seinen Arm im offenen Fenster liegen. Wir beobachteten, wie er einige Pillen einwarf und mit Wasser aus einer kleinen Plastikflasche hinunterspülte.
»Das sind bestimmt keine Aspirin«, sagte Phil. »Ich möchte nicht wissen, was der noch alles in der Tasche hat.«
»Das Zeug schluckt er wahrscheinlich, um sich selbst ertragen zu können«, erwiderte ich. »Ich schätze mal, in seiner Akte werden bald ein paar neue Einträge dazukommen. Wie kommt eine Schönheit wie Dixie Mallory dazu, sich mit so einem Ekel einzulassen?«
»Mädels ticken anders, Jerry.«
»Ich weiß.«
Wir parkten in sicherer Entfernung, schräg gegenüber vor einem Drugstore. Durch das kleine Fernglas, das ich im Wagen liegen hatte, beobachtete ich, wie ein Mann in einem schwarzen Lexus hinter ihm hielt, den Motor laufen ließ und geduldig wartete, bis Randy ausstieg und ihm ein kleines Päckchen durchs Fahrerfenster reichte.
Die Ware und das Geld wechselten so rasch den Besitzer, dass man mit bloßem Auge kaum mitkam. Der Kunde trollte sich, und Randy kehrte in seinen Wagen zurück. Er warf eine weitere Pille ein und trank einen Schluck Wasser.
Höchste Zeit, dass wir etwas unternahmen. Der Mann im Lexus interessierte uns nicht, wir waren nicht bei der Drogenfahndung und hatten Wichtigeres zu tun, als einen Käufer einzusperren, der sich ein Tütchen Kokain oder sonst was gekauft hatte und noch vor dem Abendessen wieder auf freiem Fuß sein würde.
Randy Landrup stand auf einem anderen Blatt. Er hatte schon mal als Dealer gesessen und vielleicht so viele Drogen dabei, dass er länger hinter Gitter bleiben würde. Vor allem aber interessierte uns, ob er der gesuchte Serienkiller war. Dass er mit Drogen dealte und blutjung aussah, schloss eine zweite »Karriere« als Serienmörder nicht aus. Sein jungenhaftes Aussehen täuschte uns nicht. Er wäre nicht der erste jugendliche Serientäter, den wir festnahmen. Und nicht der erste Dealer, der mit einem Messer umgehen konnte.
»Gehen wir«, sagte ich.
Wir gingen betont lässig und benahmen uns wie zwei Bürohengste in der Mittagspause, doch irgendetwas musste ihn gewarnt haben, denn plötzlich ließ er den Motor seines Chevy aufheulen und raste überhastet davon. Wir konnten von Glück sagen, dass er abbog und uns nicht über den Haufen fuhr.
Fluchend rannten wir zu unserem Wagen zurück. Ich startete den Motor, schaltete Warnlicht und Sirene ein und trat in meiner Wut über unsere Nachlässigkeit so fest aufs Gaspedal, dass der Jaguar mit einem Riesensatz nach vorn schoss. Mit quietschenden Reifen bog ich in die Seitenstraße, in der Randy Landrup verschwunden war.
Sein Vorsprung betrug ungefähr einen halben Block. Sein Chevy war ein älteres Modell und konnte meinem Jaguar nicht das Wasser reichen. Das Blaulicht und die Sirene waren ein weiterer Vorteil. Dass er dennoch versuchte, uns zu entkommen, bewies lediglich, dass er entweder größenwahnsinnig war oder zu viele seiner Pillen geschluckt hatte.
Auf der Straße war wenig Verkehr, und ich hatte keine Schwierigkeit, den Chevy im Auge zu behalten. Mit röhrendem Motor raste ich an einem Lieferwagen und einem Kombi vorbei und sah die erschrockenen Gesichter der Fahrer im Rückspiegel. Vor einem Laden stand eine Frau mit Kinderwagen und blickte uns mit offenem Mund nach. Ihr Baby weinte bestimmt, so wie ich den Motor aufheulen ließ. Phil hielt sich mit beiden Händen am Armaturenbrett fest und fluchte leise.
Auf einer Kreuzung musste ich abbremsen und wurde beinahe von einem jungen Mann auf einem Fahrrad gerammt. Die Musik in seinen riesigen Kopfhörern hatte wohl selbst das Röhren meines Motors übertönt.
Ich raste haarscharf an ihm vorbei und wurde durch einen Lieferwagen aufgehalten, der gerade aus einer Einfahrt kam, holte den Chevy aber bald wieder ein und rückte ihm dicht auf die Pelle. Jetzt war er nur noch wenige Längen vor mir, und ich konnte bereits sehen, wie er sich nervös nach mir umdrehte.
Phil entspannte sich bereits und dachte wohl, jetzt würde Randy aufgeben, aber der Junge gehörte zur störrischen Sorte und dachte wohl, er säße in einem Rennwagen, als er mit einem gekonnten Powerslide in die nächste Querstraße abbog und nach Süden raste. Fahren konnte er, das musste ihm der Neid lassen. Vielleicht hatte er seinen alten Chevy aber auch in der Werkstatt frisiert, um Mädels wie Dixie beeindrucken zu können.
»Halt dich fest!«, rief ich Phil zu, während ich bereits das Gaspedal durchdrückte und die 510 PS meines Wagens voll zum Einsatz brachte. Ich wollte mich weder vor Phil noch vor dem Chef blamieren, wenn ich ihm beichtete, dass mir ein Jüngling in einer Rostlaube davongefahren war. »Jetzt schnappen wir uns den Kerl.«
Ich war jetzt dicht hinter ihm und wartete eigentlich darauf, dass er aufgab und endlich an den Straßenrand fuhr, aber er hatte noch immer nicht genug und hoffte wahrscheinlich darauf, im dichten Verkehr auf der Roosevelt Avenue entkommen zu können. Wir waren noch zwei Blocks davon entfernt, und ich wollte mir gar nicht ausmalen, was dort alles passieren konnte. Wenn er einen Fußgänger über den Haufen fuhr, würde ich mir ewig Vorwürfe machen, das war mal sicher. Und er würde sich eine Anklage wegen Totschlags einhandeln.
Doch es krachte schon einen Block vor der Roosevelt Avenue. Randys Chevy raste durch eine Pfütze und kam ins Schleudern, schlitterte quer über die Straße und krachte mit dem linken Kotflügel in einen parkenden UPS-Lieferwagen. Dem Fahrer, der gerade ausgestiegen war, fielen vor Schreck die Pakete aus den Händen.
Der Aufprall war so laut, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn beide Wagen gleich darauf explodiert wären, aber so was passiert nur im Kino, und alles, was wir sahen, war der schwarze Rauch, der unter der Motorhaube des ramponierten Chevy hervorquoll.
»Das war’s dann wohl«, rief Phil und griff bereits nach seiner Pistole, als ich den Jaguar an den Straßenrand fuhr.
***
Eine Schrecksekunde saß Randy wie gelähmt hinterm Steuer, dann stieß er die Tür auf und rannte davon, genau in dem Augenblick, als wir mit gezogenen Pistolen die Straße überquerten.
Gerade noch rechtzeitig, um zu beobachten, wie Randy durch eine Öffnung in einem Bauzaun auf eine Großbaustelle flüchtete. Hinter dem Zaun ragte der Rohbau eines siebenstöckigen Hauses empor.
Wir folgten ihm auf die Baustelle und sahen, wie er über eine Leiter in den ersten Stock des Rohbaus kletterte.
»He, was soll das?«, rief ihm ein Arbeiter nach. »Kommen Sie da runter! Das ist viel zu gefährlich.« Und ein anderer, anscheinend der Polier, rief ihm nach: »Hier ist der Zutritt verboten!«
Ich fragte mich, warum Randy nach oben flüchtete, wo es keinen Ausweg mehr gab, und rief Phil zu: »Der will uns reinlegen. Der klettert bestimmt auf der anderen Seite wieder runter. Bleib du hier unten. Ich klettere ihm nach. Wenn er weiter nach oben steigt, versuche ich ihn festzunageln.«
Phil war schon unterwegs, und ich rannte quer über die Baustelle zu der Leiter. Im Laufen rief ich: »FBI! Machen Sie Platz! Wir sind hinter dem Mann her, der gerade in den Rohbau geklettert ist. Aus dem Weg!«
Die Arbeiter gehorchten, auch ohne dass ich ihnen meinen Ausweis zeigte, und gingen teilweise in Deckung, weil sie einen Schusswechsel befürchteten. Dabei war Randy gar nicht bewaffnet. Zumindest hatte ich keine Schusswaffe bei ihm gesehen. Aber das musste nichts heißen. Nervösen Typen wie ihm war alles zuzutrauen.
Ich kletterte über die Leiter in den ersten Stock hinauf. »Randy Landrup!«, rief ich. »Wir sind vom FBI und wollen mit Ihnen reden. Zeigen Sie sich, Randy! So machen Sie doch alles nur noch schlimmer. Kommen Sie da raus! Wir tun Ihnen nichts, Randy.«
Statt einer Antwort hörte ich hastige Schritte über mir. Ich rannte weiter, durch die kahlen Räume und die Öffnungen, die man für die Türen vorgesehen hatte, zur Treppe, die in mehreren Abschnitten nach oben führte. Noch gab es kein Geländer, und vor mir lagen nur die kahlen Betonstufen.
Mit Laufschuhen, wie sie Randy Landrup trug, wäre ich sicher schneller vorangekommen, aber auch so klappte es einigermaßen.
»Randy! Bleiben Sie stehen!«, versuchte ich es noch einmal. »Das ist doch viel zu gefährlich. Geben Sie auf, Randy, dann reden wir miteinander.«
Doch Randy dachte nicht daran, sich zu ergeben, und rannte weiter nach oben. Er hatte wahrscheinlich so große Angst, wieder im Gefängnis zu landen, dass er sein Leben riskierte.
Als ich im vierten Stock kurz Luft holte, waren die Schritte über mir verstummt, und mich beschlich plötzlich ein ungutes Gefühl. Ich fuhr herum und sah gerade noch einen Schatten hinter einem der Betonpfeiler hervorkommen, dann verspürte ich einen heftigen Stoß. Ich taumelte zurück und musste hilflos mit ansehen, wie Randy mit hochrotem Gesicht an mir vorbeirannte und die Treppe nach unten hastete.
Gerade noch rechtzeitig erlangte ich mein Gleichgewicht wieder. Ich folgte dem Flüchtigen nach unten, rannte im zweiten Stock an zwei Arbeitern vorbei, die zwischen den Betonpfeilern standen, und verfluchte meine Unachtsamkeit. Besonders bei jungen und vor allem süchtigen Tätern musste man auf alles gefasst sein, auch auf das Unerwartete.
Ein wütender Schrei und eine ganze Litanei von Flüchen zeigte mir, dass Phil auf dem Posten gewesen war. Als ich unten ankam, stand Randy in Handschellen neben Phil und blickte mich so hasserfüllt an, dass er sich wahrscheinlich auf mich gestürzt hätte, wenn er ohne Fesseln gewesen wäre. Seine Augen funkelten vor Wut.
Wir führten ihn zum Bauzaun und drückten ihn auf einen Betonklotz. Phil hatte ihn bereits nach Waffen abgetastet und ein Klappmesser gefunden.
»Ein Streifenwagen ist schon unterwegs. Ich nehme an, in seinem Chevy finden wir mehr als ein Päckchen Rauschgift. Was glauben Sie, Randy? Wie viel Stoff haben Sie dabei?«
»Ich hab gar nichts dabei«, log er. »Und wenn Sie was finden, hat’s mir irgendjemand untergeschoben. Sie haben kein Recht, mich festzunehmen. Ich hab nichts getan. Ich bin unschuldig.«
»Na klar, und ich bin ein Scheich aus Saudi-Arabien. Wir haben gesehen, wie Sie dem Mann im schwarzen Lexus was verkauft haben, und ich gehe jede Wette ein, dass wir Ihre Fingerabdrücke auf den Plastiktütchen in den Überresten des Chevy finden.«
»Aber darum geht’s gar nicht«, sagte ich zu ihm. Ich blickte ihn prüfend an. »Kennen Sie eine Dixie Mallory?«
»Logisch, meine Freundin.«
»Die hier?« Phil zeigte ihm das Foto der Toten auf seinem Smartphone.
»Woher haben Sie das?«
»Wir stellen hier die Fragen«, wies ich ihn zurecht. »Wann haben Sie Dixie zuletzt gesehen? Gestern Mittag?«
Er nickte. »So gegen vier. Ich hab sie am College abgeholt und an der U-Bahn-Station an der 46th Street abgesetzt. Ich hatte mir extra zwei Stunden freigenommen.« Er wurde immer nervöser. »Warum fragen Sie das?«
»Sie haben sich freigenommen, nur um sie abzuholen und an der nächsten U-Bahn-Station abzusetzen? Sie sind nicht zu Ihnen nach Hause gefahren? Das können Sie Ihrer Großmutter erzählen. Sie haben Streit bekommen, nicht wahr? Die Wahrheit, Randy!«
Er merkte wohl, dass wir mehr wussten, als es den Anschein hatte, und gab klein bei. »Okay, okay«, stieß er hervor, »wir haben uns gestritten. Ich war eifersüchtig, weil sie mit dem Quarterback geflirtet hatte, und wir haben uns in die Haare bekommen.«
»Und das war alles?«
Er wurde wütend. »Na, sie ist an einer roten Ampel ausgestiegen und weggelaufen. Seit wann interessiert sich das FBI für solchen Kinderkram?«
Ich ignorierte seine Fragen noch immer. »Und was haben Sie dann gemacht? Sie haben sie doch nicht laufen lassen und sind weitergefahren? Dazu waren Sie doch viel zu wütend. Stimmt doch, Randy?«
»Klar bin ich weitergefahren. Was sollte ich denn sonst tun? Den Wagen mitten auf der Straße stehen lassen?«
»Sie sind ihr nachgelaufen, Randy. Dass Sie ein Mädchen so behandelt, wollten Sie nicht auf sich sitzen lassen.«
»Das stimmt nicht! Ich bin weitergefahren. Klar war ich wütend. Ich war so wütend, dass ich ein Taxi gerammt habe. Nichts Schlimmes, aber ich musste dem Typen fünfzig Dollar geben, sonst hätte er die Polizei geholt.«
»Das werden wir nachprüfen.«
»Meinetwegen. Der Taxifahrer trug einen Turban, und sein Nummernschild war 5K99, das weiß ich noch.«
Er klang aufrichtig, und es tat mir beinahe leid, als ich ihm sagen musste: »Ihre Freundin ist tot, Randy. Dixie wurde ermordet. In einer dunklen Gasse in der Nähe des U-Bahnhofs. Hat Sie denn niemand angerufen?«
Er schüttelte beinahe abwesend den Kopf. »Dixie ist tot? Ermordet?«
»Leider«, antwortete ich. »Wie haben Sie sich kennengelernt? Das hatte doch nichts mit Drogen zu tun, oder?«
»Dixie nahm keine Drogen. Die trank nicht mal Alkohol. Ich hab sie in einer Kaffeebar getroffen. Sie trank dieses Latte-Zeugs. Das war so ungefähr vor zwei Monaten. Ich hab sie geliebt, verdammt.« Er begann zu weinen, anscheinend gegen seinen Willen, denn er wischte sich die Tränen sofort aus den Augen.
»Waren Sie mal in Philadelphia?«
»Philadelphia? Was soll ich denn da?«
»Oder in Jersey City?«
»Nie im Leben. Was soll das?«
Ich war mir inzwischen beinahe sicher, dass er unschuldig war, und fand durch einen schnellen Blick auf Phil heraus, dass er genauso dachte.
»Haben Sie irgendeine Idee, wer sie ermordet haben könnte?«, fragte ich.
Randy überlegte eine Weile. »Keine Ahnung. Vielleicht einer dieser Typen auf ihrem College. Die waren doch alle geil auf sie und konnten es vielleicht nicht ertragen, dass sie mit einem anderen ausging. Sogar die Lehrer. Sie hätten sehen sollen, wie die um sie herumtanzten. Wie läufige Hunde. Einmal hab ich gesehen, wie einer dieser alten Böcke beinahe aus dem Fenster gefallen wäre, als er ihr nachstarrte. Ein Typ mit dunkler Brille.«
Der Streifenwagen näherte sich, und ich sagte: »Okay, Randy. Ihre Flucht und den Faustschlag will ich mal vergessen, aber über die Drogen in Ihrem Chevy können wir nicht hinwegsehen. Die Suppe müssen Sie auslöffeln. An Ihrer Stelle würde ich in Zukunft die Hände vom Dealen lassen, sonst landen Sie irgendwann für immer im Knast. Haben Sie mich verstanden?«
»Sicher«, erwiderte er kleinlaut.
Was nicht hieß, dass ich die Hand für ihn ins Feuer gelegt hätte. Ich war mir sogar ziemlich sicher, dass er weiterhin dealen würde. Diese Typen lernten es nie. Er konnte froh sein, wenn er dem harten Zeug nicht selbst verfiel.
»Der war’s nicht«, sagte Phil, nachdem ihn die Polizei einkassiert hatte und wir zum Wagen zurückkehrten.
***
Wir gingen daran zu überprüfen, ob er tatsächlich mit einem Taxi zusammengestoßen war. Sein Chevy war so zerbeult, dass man keine Spuren feststellen konnte, aber Phil bekam den Taxifahrer erstaunlich schnell ans Handy und erfuhr, dass Randy ihn tatsächlich gerammt hatte.
Damit schied er als Täter aus. Seine Eifersucht auf die jungen Männer und die Lehrer auf dem College brachte uns auch nicht weiter. Uns blieb nichts weiter übrig, als weiter im Umfeld der Toten herumzustochern und einen Mann zu finden, der alle drei Ermordeten gekannt hatte.
Wenn es um einen Serienkiller ging, der an weit auseinanderliegenden Orten mordete, legten sich unsere Profiler meist auf einen Mörder fest, der viel unterwegs war, einen Vertreter, Trucker, Busfahrer oder irgendwas in dieser Art. Aber so ein Mann war weit und breit nicht zu entdecken.
Das hörten wir auch von den Kollegen, die noch einmal das Umfeld der Toten in Philadelphia und Jersey City untersuchten. Es sah ganz danach aus, als würde der Mörder auch diesmal wieder davonkommen.
Wir saßen bereits im Wagen und überlegten gerade, ob wir uns ein Sandwich holen sollten, als mein Handy klingelte.
»Sophie«, meldete sich die Polizistin, die uns zu der toten Dixie nach Queens gerufen hatte. »Schon gegessen? In dem irischen Pub, in dem ich gerade sitze, gibt’s erstklassiges Irish Stew, und ich esse ungern allein. Bringen Sie Phil mit. Wenn Sie brav sind, lade ich Sie ein.« Sie gab mir die Adresse des Lokals.
Der Pub lag nur zwei Blocks von uns entfernt. »Wir sind in fünf Minuten bei Ihnen, Sophie«, erwiderte ich. »Gutes Timing. Bestellen Sie schon mal.«
Sophie saß an einem runden Tisch an der rückwärtigen Wand und winkte uns zu, als wir das Lokal betraten. Sie trug dasselbe Outfit wie letztes Mal, nur ihre Haare waren besser frisiert.
»So wie ich Sie einschätze, essen Sie doch sonst nur Steaks, Cheeseburger und fette Sandwiches. Typisch Mann.«
Ich grinste. »Sie haben das Zeug zur Profilerin, Sophie, wussten Sie das? So genau hat uns noch keine Frau durchschaut. Falls Sie beim FBI anfangen wollen, rufen Sie mich an.«
»Ich werd’s mir überlegen.«
Das Irish Stew schmeckte köstlich, und der Kaffee war mehr als nur Ersatz für Helens erstklassiges Gebräu.
»Und?«, fragte Sophie kauend. »Haben Sie schon was rausgekriegt? Sind Sie dem Mörder auf der Spur?«
»So schnell schießt nicht mal das FBI«, antwortete ich. »Wir dachten, ihr Freund hätte vielleicht was damit zu tun, aber das war leider eine Sackgasse. Außer dass wir ihn wegen Dealens dranbekommen haben. Keine Ahnung, wie der Loser an Dixie kam.«
Sie fischte ein Stück Fleisch aus ihrem Eintopf heraus. »Es soll Engel geben, die auf böse Buben stehen. Vielleicht fand sie es aufregend mit ihm, oder sie wusste nichts von seiner Dealerei.« Sie zuckte die Achseln. »Oder sie wollte die braven College-Boys eifersüchtig machen. Das Benjamin Franklin College ist ein elitärer Laden.«
»Ist auch egal. Mit dem Mord hat er jedenfalls nichts zu tun. Mal sehen, was die Kollegen in Philadelphia und Jersey City herausbekommen haben. Vielleicht gibt’s da eine Querverbindung.«
Sophie verspeiste den letzten Bissen und kaute nachdenklich. »Es gäbe noch eine andere Möglichkeit«, sagte sie nach einer Weile. Sie wischte sich den Mund mit der Serviette ab. »Waren die beiden ersten Opfer dieses Serienkillers nicht Prostituierte?«