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Jerry Cotton ist Kult - und das nicht nur wegen seines roten Jaguars E-Type.
Fünf actiongeladene Fälle und über 300 Seiten Spannung zum Sparpreis!
G-Man Jerry Cotton hat dem organisierten Verbrechen den Krieg erklärt! Von New York aus jagt der sympathische FBI-Agent Gangster und das organisierte Verbrechen, und schreckt dabei vor nichts zurück!
Damit ist er überaus erfolgreich: Mit über 3000 gelösten Fällen und einer Gesamtauflage von über 850 Millionen Exemplaren zählt er unbestritten zu den erfolgreichsten und bekanntesten internationalen Krimihelden überhaupt! Und er hat noch längst nicht vor, in Rente zu gehen!
In diesem Sammelband sind 5 Krimis um den "besten Mann beim FBI" enthalten:
Jerry Cotton 2985 - Die italienische Methode
Jerry Cotton 2986 - Blutspur
Jerry Cotton 2987 - Tod am Polarkreis
Jerry Cotton 2988 - Rendezvous der Mörder
Jerry Cotton 2989 - Unklare Fronten
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Seitenzahl: 648
Veröffentlichungsjahr: 2023
BASTEI LÜBBE AG
Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben
Für die Originalausgaben:
Copyright © 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Köln
Covermotiv: © shutterstock: stockcreations | PanicAttack
ISBN: 978-3-7517-4701-1
www.bastei.de
www.sinclair.de
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Jerry Cotton 2985
Die italienische Methode
Jerry Cotton aktuell
Jerry Cotton 2986
Blutspur
Jerry Cotton aktuell
Jerry Cotton 2987
Tod am Polarkreis
Jerry Cotton aktuell
Jerry Cotton 2988
Rendezvous der Mörder
Jerry Cotton aktuell
Jerry Cotton 2989
Unklare Fronten
Jerry Cotton aktuell
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Contents
Die italienische Methode
Luigi Pernone wusste, dass sie ihn töten würden. Erst recht, als einer der drei Männer ihm einen stinkenden Jutesack über den Kopf zog.
»Ich habe nichts verraten!« Seine Stimme zitterte. »Ich schwöre es bei der Heiligen Jungfrau Maria! Bitte, ihr müsst mir glauben!«
Die Killer schwiegen. Stattdessen luden sie ihre Waffen durch. Breitbeinig standen sie vor dem Gefangenen, die Läufe der großkalibrigen Revolver auf ihn gerichtet. »Arrivederci, Bastardo!« , hörte der Gefesselte einen von ihnen sagen. Dann drückten die Killer ab.
Kate Thornton zog den dicken Wollschal fester um ihren Hals. Es war eiskalt, minus fünf Grad. Wie jeden Morgen ging sie die wenigen Blocks zu Fuß von ihrem Zweizimmerapartment die Mulberry Street entlang. Diese verlief direkt durch das alte Zentrum von Little Italy in Downtown Manhattan. Die noble Boutique, in der sie als Verkäuferin arbeitete, lag unten an der Kreuzung Hester Street.
Jedes Mal, wenn sie an dem Seitengässchen vorbeikam, das im Volksmund Bandit’s Roost genannt wurde, beschleunigte sie unwillkürlich ihre Schritte. Geradeso als erwarte sie, überfallen zu werden. Natürlich war dies ausgemachter Unsinn, aber dennoch kam sie gegen ihr Unbehagen nicht an.
Kate warf auch heute einen scheuen Blick in die Gasse – und blieb schlagartig stehen! Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Tatsächlich! Da hing jemand über einem Holzfass. Leblos und mit ausgebreiteten Armen.
Kate wusste im ersten Moment nicht, wie sie sich verhalten sollte. Schließlich überwand sie ihre Furcht und ging entschlossen in die Gasse hinein. Vielleicht war die Person verletzt und brauchte ihre Hilfe.
Je näher sie dem Fass kam, umso mehr beschleunigte sich ihr Herzschlag. Jetzt erkannte sie, dass es sich nicht um einen Menschen handelte, der auf der alten Tonne lag, sondern lediglich um einen grauen Herrenwintermantel.
Die Ärmel hingen links und rechts am Fass herunter. Erleichtert atmete die Verkäuferin auf. Doch dann entdeckte sie am Kragen des Mantels getrocknete rote Flecken. Genauso an der Knopfleiste.
Blut!
Vorsichtig hob die Frau den Wintermantel an, um genauer nachzusehen. Das Grauen schnürte ihr die Kehle zu! Mit schreckgeweiteten Augen starrte sie auf steif gefrorene menschliche Gliedmaßen, die aus dem Fass herausragten: einen schwarz beschuhten Fuß und eine Hand mit seltsam verkrümmten Fingern!
***
Als Phil an der üblichen Ecke in meinen Jaguar stieg, begrüßte ich ihn müde. Vergangene Nacht hatte ich nicht besonders gut geschlafen, weiß der Henker, warum. Das büßte ich nun.
Mein Partner blickte mich schräg von der Seite an. »Du hast Ringe unter den Augen wie ein tausendjähriger Baum.«
Statt einer Antwort räusperte ich mich lediglich, während ich den Jaguar in den dichten Verkehr einreihte. Es gab bessere Morgen als diesen, so viel stand fest. Auch Phil bemerkte das schnell und verzichtete darauf, mich weiter aufzuziehen.
»Wohin fahren wir?«, fragte er stattdessen.
»Little Italy. Dort wurde eine Leiche gefunden. In einer Tonne.«
»In einer Tonne?«
»Eigentlich in einem Olivenölfass.«
»Little Italy, Fass – Mafia?«, folgerte Phil erstaunlich schnell für diese Zeit.
Ich zuckte die Schultern. Phil schwieg, bis wir in die Mulberry Street einbogen, die im Süden von Chinatown begrenzt wurde. Auf der Höhe von Bandit’s Roost sahen wir die weißblauen Streifenwagen der Kollegen des New York Police Department.
Den wenig schmeichelhaften Namen verdankte die Seitengasse den zahlreichen Polizeiaktionen, die hier in den 1880er- und 1890er-Jahren stattgefunden hatten.
Ich parkte den Jaguar in der zweiten Reihe und wir stiegen aus. Meine dick gefütterte Winterjacke schützte mich zwar vor dem eisigen Wind. Aber zu allem Übel hatte ich die Handschuhe vergessen, sodass sich meine Finger schon nach kurzer Zeit anfühlten, als würden sie in einem Eisfach liegen.
Die Cops hatten die Gasse weiträumig abgesperrt. Detective Dan Pryer winkte uns heran. Wir kannten uns, nickten ihm zur Begrüßung wortlos zu und stellten uns neben ihn. Pryer war ein schlaksiger Mann mittleren Alters. Er bedeutete den Spezialisten von der Spurensicherung auf die Seite zu treten, damit wir einen freien Blick auf das Fass werfen konnten. Und wirklich – so etwas hatten wir noch nie gesehen.
Die Männerleiche war regelrecht in die Tonne hineingestopft worden! Der Körper lag unnatürlich zusammengekrümmt im Innern des Fasses. Der Kopf, über den ein blutgetränkter Jutesack gezogen war, klemmte zwischen den Knien.
Der rechte Fuß und die linke Hand ragten ein paar Zentimeter aus der Öffnung heraus. Auf dem Boden lag ein grauer Herrenwintermantel.
»Die Jungs werden immer einfallsreicher«, beendete Detective Pryer seine Ausführungen.
»Sieht aus wie eine Abrechnung in Mafiakreisen«, sagte ich. Das war mehr eine Feststellung als eine Frage.
»Davon gehen auch wir aus, Jerry. Damit fällt der Mord in eure Zuständigkeit.«
Der Tote aus der Tonne hieß Luigi Pernone. Vor acht Tagen war er aus Palermo in die Staaten eingereist. Das stellten wir bei einer Identitätsprüfung durch die Einwanderungsbehörde fest.
Die gerichtsmedizinische Untersuchung der Kollegen der Scientific Research Division ergab, dass Pernone von zwölf Kugeln aus drei verschiedenen Waffen getötet wurde. Sie steckten in seinem Kopf und in seinem Oberkörper. Bei den Projektilen handelte sich um das Kaliber 9 Millimeter Luger sowie um 357er und 44er-Magnum.
Damit stand fest, dass der Sizilianer von drei Schützen erschossen worden war. Den Zeitpunkt seines Todes kreiste der Coroner auf die Nacht von vorgestern ein.
***
Bei der morgendlichen Dienstbesprechung klang Mr High in Bezug auf den Tonnenmord , wie wir ihn intern bezeichneten, ziemlich besorgt. Zu dritt saßen wir in seinem Büro: Phil, Steve Dillaggio und ich. In den Tassen vor uns auf dem Besprechungstisch dampfte Kaffee, den Helen frisch gekocht hatte.
»Wir müssen verhindern, dass zwischen den Mafiaclans in Little Italy wieder ein Krieg ausbricht!« Mr High sah jeden von uns fest an. »In letzter Zeit ist im Viertel Ruhe eingekehrt. Und das soll auch so bleiben!« Der Assistant Director ging mit auf dem Rücken verschränkten Armen unruhig in seinem Büro auf und ab.
»Tatsächlich sieht der Mord an Pernone wie eine Vergeltung aus diesen Kreisen aus. Wie ein Auftragsmord! Finden Sie also schnell heraus, was und vor allem wer dahintersteckt. Nur so können wir entsprechend reagieren, um weitere Gewalt zu verhindern, bevor sie vollends eskaliert!«
Wir nickten. Fast zeitgleich griffen wir nach unseren Tassen und tranken Helens köstlichen Kaffee. Ich spürte, wie die Müdigkeit langsam von mir wich.
Mr High fixierte mich. »Ich stelle Ihnen und Phil Steve zur Seite. Aufgrund seiner Abstammung besitzt er gute Kontakte zur italoamerikanischen Gemeinde in New York, die wir jetzt nutzen müssen. Der Fall ist ernst. Ich befürchte, dass sich in Little Italy etwas zusammenbraut. Ein neuer Mafiakrieg ist das Letzte, was uns noch gefehlt hat!«
»Wir kennen die Familien, die sich in den einzelnen Boroughs breitgemacht haben, Sir«, sagte Steve. »Wir fangen in Little Italy an. Die beiden bedeutendsten Clans dort sind die Corsisis und die Gentilis. Sie teilen sich die Geschäfte und damit auch die Macht.«
»Einverstanden, Steve.« Der Assistant Director warf mir einen fragenden Blick zu, weil ich bisher stumm geblieben war. Allerdings hatte ich Steves Ausführungen nichts hinzuzufügen. »Ich wünsche Ihnen viel Erfolg. Seien Sie vorsichtig!« Mit diesen Worten entließ uns Mr High.
Anschließend setzten Phil, Steve und ich uns zusammen, um unser weiteres Vorgehen zu besprechen. Phil beschäftigte sich mit dem Tatort und dem Fass, das weitere Erkenntnisse versprach. Steve und ich wollten herausfinden, wo sich Pernone vor seiner Ermordung als Letztes aufgehalten hatte.
Während Steve seine italienischen Informanten abtelefonierte, ging ich den Obduktionsbericht noch einmal durch.
»Der Sizilianer ist vorgestern Abend im La Rustica Sicilia aufgetaucht, einem Lokal in Little Italy«, sagte Steve schließlich zu mir. »Der Besitzer heißt Silvio Mantina. Das Restaurant gilt gemeinhin auch als Treffpunkt des Corsisi-Clans.«
»Den Laden sollten wir uns mal ansehen. Vielleicht kann uns dort einer sagen, ob sich Pernone vor seinem Tod mit jemandem getroffen hat.«
Kurz darauf saßen wir in meinem Jaguar. Von der Federal Plaza fuhren wir den Broadway hoch, bogen in die Walker Street ein, dann in die Lafayette bis fast runter nach Downtown und schließlich in die Grand Street nach Little Italy.
Für New Yorker Verhältnisse eigentlich ein Katzensprung. Aber dichtes Schneetreiben behinderte den Verkehr, sodass wir nur im Schritttempo vorankamen.
***
Das La Rustica Sicilia lag etwas abseits in einer Nebenstraße. Ich parkte meinen Jaguar direkt vor der Tür. Als wir ausstiegen, wirbelte ein schneidender Wind Schneeflocken in unsere Gesichter, zerrte an den Wintermänteln. Wir beeilten uns, in das Restaurant zu kommen, das rund um die Uhr geöffnet hatte.
Das La Rustica war ein gemütliches Lokal, mit einer langen Theke und Barhockern auf der einen und sauber eingedeckten Esstischen auf der anderen Seite. Neben der Bar war der Durchgang zur Küche. Außer uns war niemand anwesend.
Als wir uns den Schnee von den Mänteln klopften, tauchte ein untersetzter, magerer Kellner mit Bistroschürze und Fliege auf. »Wünschen die Herren ein verspätetes Frühstück oder einfach nur einen Latte Macchiato an der Bar?«, fragte er galant.
»Weder noch«, erwiderte ich. »Wir möchten mit dem Besitzer, Mister Mantina, sprechen.«
Der Kellner sah uns abwechselnd an. »In welcher Angelegenheit?«
»Das sagen wir ihm besser persönlich«, antwortete Steve und hielt ihm den Dienstausweis unter die Nase.
Der Angestellte bedeutete uns an der Bar Platz zu nehmen und verschwand in der Küche. Kurz darauf erschien Silvio Mantina mit Gefolge. Er war ein mittelgroßer sehniger Mann mit einem spitzen Vogelgesicht und Halbglatze. Seine tief in den Höhlen liegenden Augen musterten uns misstrauisch.
Neben ihm bauten sich zwei grobschlächtige Typen auf. Sie sahen uns an, als würden wir ihnen gleich zum Fraß vorgeworfen. Der Kellner hatte sich verdrückt.
»Was kann ich als gesetzestreuer Bürger für das FBI tun, Agents?« Mantinas Worte klangen nicht nur aalglatt, sondern auch eine Spur zu freundlich.
Steve und ich erhoben uns von den Barhockern, um auf Augenhöhe mit ihm zu sein. Neben den beiden Bodyguards wirkten wir jedoch wie Spargel.
Ich zog ein Foto aus der Manteltasche, das aus den Überwachungskameras der Einwanderungsbehörde stammte. Es zeigte Luigi Pernone bei seiner Einreise in die Staaten. »Kennen Sie diesen Mann, Mister Mantina?«
Der Restaurantchef nahm mir das Bild aus der Hand und tat so, als sehe er es sich interessiert an. Gleich darauf gab er es mir wieder zurück. »Nein«, sagte er. Mehr nicht. Für ihn schien damit die Unterhaltung beendet zu sein.
»Bei dem Mann handelt es sich um Luigi Pernone«, erklärte Steve. »Er hat vorgestern hier gegessen. Dafür gibt es Zeugen. Können Sie sich jetzt vielleicht an ihn erinnern?«
Mantina ließ sich nicht aus der Reserve locken. Seine beiden Gorillas tänzelten auf den Schuhsohlen herum, als könnten sie es kaum erwarten, endlich von der Leine gelassen zu werden. »Das besagt gar nichts, Agents«, antwortete der Restaurantbesitzer gereizt. »Glauben Sie, ich kann mir das Gesicht jedes Gastes merken?«
»So groß ist der Laden hier nicht. Ich denke schon, dass Sie das können!« Ich warf einen schnellen Seitenblick auf die beiden Bodyguards. »Pernone ist kurz nach seinem Besuch in Ihrem Restaurant ermordet worden!«
Mantina senkte den Kopf, schloss für einen Moment die Augen. »Das ist ja schrecklich.« Seine Stimme klang so salbungsvoll wie die eines Priesters bei einer Beerdigung. »Aber was hat das mit mir zu tun?«
Langsam platzte mir der Kragen. Der Typ verschaukelte uns. »Hören Sie mir genau zu, Mister Mantina! Wir ermitteln in einem Mordfall! Ihr Lokal gilt als Treffpunkt der Corsisi-Familie, und deshalb hätten wir gerne gewusst, ob und, wenn ja, mit wem sich Pernone hier getroffen hat!«
Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, wie Steve seine Hand an die SIG Sauer legte, als erwarte er das Schlimmste. Auch ich spannte meine Muskeln an, denn die Blicke der beiden Hünen neben Mantina sprachen Bände. Die Spannung lag fast greifbar in der Luft. Ein falsches Wort, ein Funke genügte und die aufgestaute Atmosphäre würde explodieren.
Der Restaurantbesitzer versuchte, seinen Ärger hinunterzuschlucken. »Nun gut, es kann sein, dass dieser Mister Pernone oder wie er hieß zum Essen hier war. Ich erinnere mich jedoch nicht daran, ob er sich mit jemandem getroffen hat.«
»Dann aß er alleine an einem Tisch?«, hakte ich nach.
»Du hast doch gehört, was Mister Mantina gesagt hat!« Der links von mir stehende Bodyguard hatte kaum sein letztes Wort ausgespuckt, als mir Steve mit einer Entgegnung zuvorkam. »Hör zu, Freundchen, wir sind keine Pizzalieferanten, sondern FBI-Agents! Also einen anderen Ton gefälligst!«
»Sonst?« Die Bizepse des Hünen spielten unter den Ärmeln seines schwarzen Sakkos. Und auch sein Kollege gab nun ein Lebenszeichen von sich, indem er seine Handknöchel knacken ließ.
Wir starrten uns alle an. Das war der Moment, in dem die Situation außer Kontrolle zu geraten schien. Doch Mantina war klug genug, dies nicht zuzulassen.
Mit einer Handbewegung scheuchte er seine beiden Männer fort. Mit einem dümmlichen Grinsen zogen sie sich an einen der Tische zurück.
»Entschuldigen Sie, Agents, aber meine Mitarbeiter lassen ab und zu etwas an Höflichkeit vermissen«, schlug Mantina einen versöhnlicheren Ton an. »Jetzt kann ich mich auch wieder an Mister Pernone erinnern. Er saß tatsächlich alleine am Tisch und hat gespeist. Nach dem Essen ist er gegangen. Ebenfalls alleine.«
»Wie lange hielt sich Pernone hier auf?«, hakte ich nach.
»Ungefähr zwei Stunden. Er kam um 19 Uhr und verließ das La Rustica gegen 21 Uhr.«
»Unglaublich, wie Ihr Gedächtnis plötzlich wieder funktioniert«, bemerkte Steve spitz und warf einen Blick auf die beiden Gorillas, die uns nicht aus den Augen ließen.
Mantina lächelte selbstgefällig und zuckte mit den Schultern.
»Sie sind also ganz sicher, dass Pernone an diesem Abend niemanden in Ihrem Lokal getroffen hat? Vielleicht ein Mitglied der Corsisi-Familie?«, versuchte ich es ein letztes Mal.
»Ganz sicher, Agents. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Mein Koch wartet auf meine Anweisungen für das heutige Tagesmenü. Gerne können Sie noch etwas trinken. Geht aufs Haus.« Mantina sah uns nachsichtig an. Seine verschlagenen Augen erinnerten an die einer Hyäne.
Ich atmete tief durch. »Wenn wir weitere Fragen haben, kommen wir wieder!«, kündigte ich ihm an. Dann verließen Steve und ich das Restaurant. Auch er unterdrückte nur mühsam seine Wut über das Theater, das wir gerade erlebt hatten.
Doch gegen Mantina gab es nicht die geringste Handhabe, ihn der Falschaussage zu überführen. Allerdings schien nun unstrittig, dass sich Pernone hier mit jemandem getroffen hatte.
Dafür kamen eigentlich nur Mitglieder des Corsisi-Clans in Frage, die das Lokal als Treffpunkt nutzten. Wenigstens in diesem Punkt waren wir jetzt schlauer.
***
Unterdessen war Phil nicht untätig geblieben. Er hatte sich eingehend mit dem Fass beschäftigt, in dem Kate Thornton die Leiche Pernones entdeckt hatte. Inzwischen wusste er so ziemlich alles über Olivenöl, genauso wie über die richtige Lagerung, den Vertrieb, die Export- und Importländer.
Die wichtigste Spur blieb jedoch das Fass selbst. Denn auf seiner Unterseite wies es eine Schablonenbeschriftung mit den Buchstaben B & O 235 auf. Diese wiederum führten zum Eigentümer und Vertreiber: Alberto Zanolli, Lebensmittelgroßhändler in Rockaway Beach in Queens.
Phil versuchte, den Mann an die Strippe zu bekommen. Doch schon zum zweiten Mal vertröstete ihn eine Mitarbeiterin damit, dass sie Zanolli nicht erreichen könnte.
»Hören Sie, Miss«, sagte Phil etwas lauter in den Telefonhörer als beabsichtigt. »Entweder Sie stellen mich jetzt sofort zu Ihrem Chef durch oder er bekommt persönlich Besuch vom FBI!«
»Es tut mir leid, aber Mister Zanolli ist immer noch nicht aufgetaucht. Das entspricht ganz und gar nicht seinem üblichen Verhalten. Normalerweise meldet er sich ab, wenn er wegbleibt.«
»Wie lange ist er denn schon abkömmlich?«
Die Frau am Ende der Leitung blieb einige Augenblicke stumm, so als überlegte sie. »Seit ungefähr eineinhalb Tagen«, antwortete sie dann.
»Das ist für einen Geschäftsmann nicht gerade ungewöhnlich.«
»Sie kennen Mister Zanolli nicht! Was das angeht, ist er absolut pedantisch. Er teilt uns jede Verspätung mit, selbst wenn es nur wenige Minuten sind. Pünktlichkeit ist bei ihm nicht nur eine Tugend, sondern geradezu ein Muss. Dasselbe erwartet er jedoch auch von all seinen Mitarbeitern.« Die Frau machte eine kurze Pause, bevor sie fortfuhr.
»Ich arbeite seit zweiundzwanzig Jahren für die Zanolli Food Sale und noch nie ist der Boss länger als zwei Stunden vom Büro ferngeblieben, ohne sich abzumelden. Wenn Sie mich fragen, dann ist etwas passiert! Wir alle machen uns große Sorgen.«
»Ist Mister Zanolli verheiratet? Hat er Familie? Eine Freundin?«, fragte Phil nach.
»Nein, Sir. Er lebt alleine und ist glücklicher Single, wie er immer behauptet.«
»Hat er private oder finanzielle Probleme? Konkurrenten, die ihm was Böses wollen? Persönliche Feinde?«
»Dazu kann ich nichts sagen, Agent.«
Phil versprach einen Streifenwagen an Zanollis Privatadresse vorbeizuschicken, der nach dem Rechten sehen sollte. Er verabschiedete sich, verständigte das Patrol Services Bureau des NYPD und brachte sein Anliegen vor. Dann beschäftigte er sich wieder mit den Fässern. Wohin wurden sie überall ausgeliefert? Wer waren die potenziellen Kunden oder Vertreiber?
Soeben wollte Phil noch einmal die Nummer der Großhandelsmitarbeiterin wählen, um sie danach zu fragen, als das Telefon klingelte. Es war die Zentrale, die ihm ausrichten ließ, dass die Streife an Zanollis Privatadresse am Rockaway Beach niemanden angetroffen hatte.
Nachbarn hatten ihn das letzte Mal vor eineinhalb Tagen gesehen, als er gerade seine Wohnung verließ. Diese Zeitangabe deckte sich also mit seinem mutmaßlichen Verschwinden.
Phil rief erneut bei Zanolli Food Sales an und bekam die Mitarbeiterin von vorhin an die Strippe. Er verschwieg ihr, dass ihr Chef nicht zu Hause war, um sie nicht weiter zu beunruhigen. Stattdessen fragte er sie danach, wohin die Fässer überall ausgeliefert wurden. Leider konnte sie dazu keine Auskunft geben.
Der Einzige außer Zanolli, der das wusste, war der Vertriebsleiter. Doch dieser befand sich gerade auf einer mehrwöchigen Europareise und war telefonisch schlecht zu erreichen. Phil bat sie, es trotzdem zu versuchen, denn die Information war äußerst wichtig. Die Frau versprach, sofort damit zu beginnen und sich wieder zu melden.
Kaum hatte Phil aufgelegt, da klingelte sein Handy. Es war Jerry, der ihn über das Gespräch mit Silvio Mantina informierte. Jetzt wollten sich Jerry und Steve in Little Italy noch etwas umsehen.
Kaum war das Gespräch beendet, klingelte Phils Telefon erneut. Er kam sich langsam vor wie in der Telefonzentrale, aber vielleicht war es ja Zanollis Mitarbeiterin? Das Display zeigte allerdings einen unbekannten Anrufer.
»FBI New York, Special Agent Phil Decker!«, meldete er sich.
»Sie suchen nach Alberto Zanolli?«, fragte eine jugendlich klingende Männerstimme ohne Umschweife. »Ich weiß, wo Sie ihn finden!«
»Ach ja? Wer sind Sie überhaupt?«
»Nicht am Telefon, Decker. Ich habe meine berechtigten Gründe.«
»Und wo, glauben Sie, befindet sich Mister Zanolli?«, versuchte es Phil anders herum.
Der Anrufer lachte auf. »Hinter seinem Verschwinden steckt weitaus mehr, als Sie vermuten, Decker. Um Ihnen alles zu erklären, muss ich Sie persönlich treffen. Aber alleine! Es ist wichtig!«
»Warum alleine?«
»Wenn Sie mit dem ganzen Schnüffeltrupp hier auftauchen, dann werden Sie mich mit einem Zementblock an den Füßen im Hudson River wiederfinden! Ich muss vorsichtig sein!«
Phil überlegte nicht lange. »Wo und wann?«
»In einer halben Stunde im Starbucks, 291 Broadway.« Der Laden lag in unmittelbarer Nähe des Field Office, sodass er sogar zu Fuß dorthin gehen konnte.
»Wie erkenne ich Sie?«, fragte Phil.
»Keine Sorge, Decker, ich weiß, wie Sie aussehen!«
Der anonyme Anrufer legte auf. Phil klingelte bei Zeerookah durch, um ihn von seinem Abstecher zu informieren. Aber der war in einer Besprechung mit Mr High. So hinterließ Phil lediglich bei Helen eine kurze Nachricht. Dann machte er sich auf den Weg.
Phil ging zu Fuß die wenigen Yards von der Rückseite des Field Office den Broadway Richtung City Hall hinunter. Noch immer war es bitterkalt. Ununterbrochen fiel der Schnee.
Schon nach ein paar Minuten sah er das weißgrüne Logo. Auch auf dem Broadway staute sich der Verkehr. Den musste er überqueren, weil das Café auf der anderen Straßenseite lag.
Als Phil die gegenüberliegende Straßenseite erreichte, war er mit den Gedanken bereits bei dem unbekannten Anrufer. Von dem Treffen erhoffte er sich, bezüglich Alberto Zanolli und damit vielleicht auch beim Tonnenmord einen Schritt weiterzukommen.
Der Agent schickte sich an, den Coffee Shop zu betreten. Unversehens tauchte neben ihm eine dunkel gekleidete Gestalt auf. Ihr Gesicht war im Schatten einer Schneekapuze verborgen.
Phil hatte nicht die geringste Chance, auf den Angriff zu reagieren, weil er völlig unerwartet kam. In dem Moment, in dem er den harten Schalldämpfer durch den Mantel spürte, den die Gestalt in seine Seite rammte, hörte er auch schon das dumpfe Plopp.
Unsäglicher Schmerz stieg in ihm auf, trübte all seine Sinne. Seine Beine knickten wie Streichhölzer weg. Bevor er auf dem vereisten Bürgersteig aufschlug, registrierte er noch, wie der Schütze in der Menschenmenge verschwand, aus der er gekommen war.
***
Das Schneetreiben hatte noch zugenommen. Die Straßenverhältnisse waren geradezu katastrophal. Stoßstange an Stoßstange stand die Blechlawine. Die Staus zogen sich durch ganz Manhattan. Und wir steckten mittendrin.
Leider hatten auch unsere weiteren Nachforschungen in Little Italy nichts mehr gebracht. Überall waren wir nur auf eine Mauer des Schweigens gestoßen.
Plötzlich meldete sich Mr High über Funk, was mehr als ungewöhnlich war.
»Jerry, Steve! Wo sind Sie?« Seine Stimme klang besorgt. So hörten wir ihn selten.
»Wir stecken im Stau in der Grand Street, Sir«, antwortete ich mit einem mulmigen Gefühl im Magen.
»Versuchen Sie so schnell wie möglich 291 Broadway zu erreichen! Auf Phil ist geschossen worden! Der Notarzt ist bereits unterwegs! Mehr wissen wir momentan nicht!«
Der Assistant Director unterbrach die Verbindung, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Steve war bleich geworden. Ich sah sicher nicht besser aus. Sofort schaltete ich Warnlicht und Sirene ein und hoffte auf ein Verkehrswunder.
Wir kamen nur langsam voran. Schließlich konnten sich die vor uns stehenden Fahrzeuge nicht einfach in Luft auflösen. Da wo es ging, fuhr ich über den Bürgersteig, um mich weiter vorne wieder auf die Straße einzureihen. Die Passanten und Autofahrer, die unsere Einsatzlichter sahen, blieben stehen oder versuchten jede noch so kleine Lücke zu vergrößern.
Als wir schließlich das Starbucks am Broadway erreichten, vor dem Phil niedergeschossen worden war, hatten die Kollegen des NYPD den Tatort bereits weitläufig abgesperrt. Von meinem Partner jedoch keine Spur.
Zeery, der die Leitung der Ermittlungen übernommen hatte, erklärte uns, dass Phil ins Bellevue Hospital eingeliefert worden war. Über seinen Gesundheitszustand wusste er nichts.
Ein Blick auf die Blutlache auf dem vereisten Bürgersteig ließ jedoch nichts Gutes vermuten. Mein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Steve räusperte sich betroffen neben mir.
Zeery wandte sich schließlich mit unbewegtem Gesicht von uns ab. Er unterstützte die Cops bei den zahlreichen Zeugenbefragungen am Tatort. Der Täter musste so schnell wie möglich ausfindig gemacht werden. Und ich hatte nur noch einen Wunsch: so schnell wie möglich Phil zu sehen!
Steve und ich stiegen wieder in den Jaguar und versuchten erneut, uns durch den dichten Verkehr zu drängen. Die Einsatzlichter blinkten. Wir fuhren die Park Avenue hoch, bogen in die 23rd Street ein und dann in die First Avenue. Endlich erreichten wir das Bellevue Hospital.
Am Empfang zückten wir unsere Dienstausweise und fragten nach Phil. Die Schwester hinter der Rezeption nannte uns das betreffende Krankenzimmer. Als wir am Ende des Korridors durch die Flügeltür mit den Milchglasscheiben traten, begegnete uns der Notarzt, der Phil erstversorgt hatte.
Seine Worte beruhigten uns ungemein: Mein Partner hatte großes Glück gehabt. Obwohl der unbekannte Schütze einen aufgesetzten Schuss an Phils rechter Körperhälfte abgegeben hatte, traf die Kugel die Handschellen, die jeder Agent am Gürtel trug.
Der vernickelte Stahl verhinderte, dass das Projektil direkt in Phils Seite eindrang. Es wurde von ihm abgelenkt, sodass die Kugel lediglich eine tiefe Fleischwunde verursachte, die heftig geblutet hatte, aber nicht weiter gefährlich war, zumal er sofort ärztlich versorgt worden war. Lediglich der starke Schmerz hatte Phil die Besinnung verlieren lassen.
Steve und ich bedankten uns bei dem Doc und gingen zu dem angegebenen Zimmer. Dort trafen wir auf unseren Kollegen Les Bedell, der sich aus Sicherheitsgründen in dem Raum postiert hatte.
Mein Partner empfing uns mit einem schiefen Lächeln. Mir fiel eine Zentnerlast vom Herzen, als ich ihn so sah. Eine Schwester hatte gerade letzte Hand an seinen Verband angelegt, nickte uns kurz zu und verließ dann das Zimmer.
Bevor ich etwas sagen konnte, krächzte Phil: »Was für ein Personalaufwand wegen einer solchen Lappalie!« Doch sein Grinsen misslang. Stattdessen verzog er vor Schmerzen das Gesicht.
Ich drückte ihm kurz die Hand. »Schön, dass du noch Witze reißen kannst! Wir haben uns große Sorgen gemacht!«
»Spaß beiseite! Der Schütze hat mich vollkommen überrascht. Ich hatte keine Chance mich zu wehren.« Phil erzählte in kurzen Worten, wie er von einem unbekannten Anrufer zu dem Coffee Shop gelockt worden war, mit der Aussicht auf eine wichtige Information im Tonnenmord . »Blind wie ein Anfänger bin ich in eine Falle getappt«, schloss er deprimiert seinen Bericht.
»Das kann jedem von uns passieren!« Ich blickte Steve und Les an, die bestätigend nickten. »Mach dir keine Vorwürfe. Aber das nächste Mal, wenn du ein Single-Date hast, rufst du vorher besser mich an, damit ich dich an die Hand nehmen kann.«
»Ich werde daran denken, Jerry.« Mein Partner versuchte wieder zu grinsen, was ihm nur halb gelang. »Morgen bin ich hier wieder raus.«
»Das glaubst aber auch bloß du! Sei froh, dass du mal ein paar Tage ausspannen kannst. Mit so einer netten Betreuung wie Les an der Seite!«
Phil hielt uns dann noch wegen der Tonnenbeschriftung auf dem Laufenden. Und darüber, dass Alberto Zanolli, der die Fässer vertrieb, spurlos verschwunden war. Dies war immerhin die erste konkrete Spur.
Steve und ich blieben noch ein paar Minuten, dann verabschiedeten wir uns von Phil und Les. Für uns ging es jetzt nicht nur darum, den Tonnenmord aufzuklären, sondern den Mann zu fassen, der meinen Partner töten wollte!
***
»Dieser gottverdammte Hurensohn! Dieser Dilettant! Wie konnte das geschehen!« Der Mann im schwarzen Anzug, der hinter einem gigantischen Eichenholzschreibtisch saß, schien sich nicht mehr zu beruhigen. Soeben hatte er erfahren, dass Special Agent Phil Decker das Attentat überlebt hatte.
»Wer hat diesen hirnlosen Cretino engagiert, der ihn umlegen sollte?« Speichel flockte von seinen Lippen und flog auf das karierte Sakko seines Gegenübers. Der ungewöhnlich dünne Mann, der vor ihm saß, zog wie zum Schutz den Kopf zwischen die schmalen Schultern und blickte eingeschüchtert zu Boden. Selbst als er antwortete, behielt er diese Körperhaltung bei.
»Ich war das«, sagte er leise und schuldbewusst. Er hatte Angst vor einem erneuten Wutausbruch seines Bosses.
»Ist dir klar, was diese Flasche angerichtet hat?«, fragte dieser scharf. Der Dünne zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. »Ich wollte ein Exempel statuieren!«, fuhr der Boss im gleichen Ton fort. »Denen zeigen, wer hier der Chef im Ring ist! Ohne dass sie auch nur ahnen, wer ihnen wirklich in die Suppe spuckt. Aber dank diesem Cretino , dem du den Job übertragen hast, ist der Agent noch so munter wie ein Fisch im Wasser! Wo ist dieser Bastard?«
»Er ist draußen, Boss …«
»Dann hol ihn auf der Stelle herein, verflucht noch mal!«
Der Dünne erhob sich, ging zur Tür und öffnete sie. Mit einem Wink bedeutete er einem etwa zwanzigjährigen Mann hereinzukommen, der im Flur gewartet hatte. Der Junge, der mit einem dunkelblauen Blazer und einer Jeans bekleidet war, schlich herein und blieb vor dem Schreibtisch stehen.
»Wie heißt du?«, wollte der Boss wissen.
»Angelo de Patti«, antwortete der Junge. In seiner Stimme schwang Furcht mit.
»Wie lange arbeitest du bereits für uns?«
»Drei Monate …«
Der Boss bedachte den Dünnen, der sich wieder auf die andere Seite seines Schreibtisches gesetzt hatte, mit einem Blick, in dem unverhohlene Wut flackerte. »Drei Monate«, wiederholte er.
»Ja, und ich …«
»Halt dein gottverdammtes Maul, bis ich dir erlaube, es zu öffnen!« Ein weiterer Speichelregen ging auf die Schreibtischplatte nieder, so sehr regte sich der Boss auf. Es dauerte Sekunden, bis er sich gefasst hatte, obwohl unbändiger Ärger in seinem Inneren tobte. »Du bekamst den Auftrag, Decker in die Hölle zu schicken!«
Angelo de Patti kam sich wie ein Kaninchen kurz vor dem Biss der Schlange vor. Er nickte nur, wagte es aber nicht, den Mann hinter dem Schreibtisch anzuschauen. Auch der Dünne starrte zu Boden, wünschte sich unsichtbar zu sein.
»Wie hast du das angestellt?« Die pechschwarzen Augen des Bosses bohrten sich wie Pfeile in die Pupillen des Jungen, dessen Herz bis hoch im Hals schlug.
Dann berichtete de Patti, was geschehen war.
»Warum hast du ihn nicht umgenietet, wie befohlen, sondern nur leicht verletzt?« Der Tonfall war nun ruhig und beherrscht. Aber das trog. Von dem Dünnen hingegen war nur ein Räuspern zu hören. Er wusste, was nun kam.
»Ich dachte, ich hätte alles richtig gemacht, Boss! Die Knarre an seinen Leib gedrückt und …«
»Gar nichts hast du, verdammter Cretino ! Du hast jämmerlich versagt!« Der Mann hinter dem Schreibtisch sprang so schnell auf, dass de Patti und der Dünne unwillkürlich zusammenfuhren.
»Glaubst du denn, du spielst in einem gottverdammten Mafiafilm mit? Oder alles wäre nur irgendein Spaß? Ein Experimentierfeld für dahergelaufene Vollidioten wie dich, die gerade mal drei Monate in meinen Diensten stehen?«
»Bitte! Ich kann das erklären …«, jammerte der Junge.
»Warum hast du keinen anderen geschickt?«, wandte sich der Boss nun vorwurfsvoll an den Dünnen.
»Ich dachte, der Job wäre ein guter Einstieg für Angelo …«
»Ein guter Einstieg für Angelo«, wiederholte der Boss hämisch. Kraftvoll schlug er mit der rechten Faust zu. Der Schlag kam so unerwartet, dass der Dünne keine Chance hatte, ihm auszuweichen. Er traf ihn mitten im Gesicht. Mit einem lauten Knacken brach seine Nase und er stöhnte auf vor Schmerzen. »Herrgott, was für elende Versager habe ich nur um mich herum, che pasticcio !«
Der Dünne wagte es nicht, das Blut abzuwischen, das aus seiner Nase tropfte, geschweige denn aufzublicken. So bekam er auch nicht mit, wie der Boss seine Pistole hinten aus dem Gürtel zog und sie auf Angelo de Patti richtete.
Die Augen des Jungen wurden groß wie Murmeln. Jetzt war es Todesangst, die in ihnen funkelte.
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, drückte der Mann im Armani-Anzug einfach ab. Die Waffe bellte auf. Einmal, zweimal, dreimal.
Wie vom Blitz getroffen kippte de Patti gegen die Wand, rutschte daran herunter. Noch bevor er auf dem Teppichboden aufschlug, war er bereits tot.
Der Boss sah ekelerfüllt auf die Leiche des Jungen hinab. Dann wandte er sich um. Der Dünne war kreidebleich.
»Schaff ihn weg! Und sorge dafür, dass er niemals gefunden wird! Sonst gnade dir Gott!«
***
Die Dons der beiden mächtigsten Mafia-Familien in Little Italy hießen Italo Corsisi und Roberto Gentili. Schon vor Jahren hatten sie die Geschäftsfelder untereinander aufgeteilt, die jedoch weit über die Bezirksgrenzen hinausgingen.
Die Corsisis beherrschten die illegale Prostitution und das Glücksspiel, die Gentilis den Drogenhandel sowie das transatlantische Importgeschäft von Olivenöl, Käse und Wein.
Obwohl wir das sehr genau wussten, war es uns bislang nicht gelungen, einen entscheidenden Schlag gegen die Clans durchzuführen. Es war bei der Verhaftung von unbedeutenden Mitläufern wie Kleindealern, Glücksspielern und Zuhältern geblieben.
Die Capos hingegen konnten wir weder wegen der Förderung illegaler Prostitution noch des Drogenhandels überführen. Auch mit ihren Büchern, die sie sich von halbseidenen, aber cleveren Steuerberatern führen ließen, war offiziell alles in Ordnung. Aber jeder machte irgendwann einmal einen Fehler.
So glaubten wir auch nicht an einen Zufall, wenn Luigi Pernone kurz vor seinem Tod ausgerechnet in einem Lokal gesehen wurde, das als Treffpunkt der Corsisi-Familie galt. Jetzt kam noch ein weiteres Puzzleteil hinzu.
Einer von Steves weitläufigen Bekannten hatte ihm gesteckt, dass Pernone vor seiner Ermordung mit dem Lebensmittelgroßhändler Alberto Zanolli Kontakt aufgenommen hätte. Warum, entzog sich allerdings seiner Kenntnis.
Natürlich war diese Information von großem Interesse für uns. Schließlich lag Pernones Leiche in einem Olivenfass, das aus Zanollis Firma stammte. So stellte sich die Frage, ob der Großhändler in den Mord involviert war. Und was hatte der Mann aus Palermo überhaupt mit dem New Yorker Lebensmittelhändler zu tun?
Ich saß mit Steve in meinem Jaguar. Wir fuhren erneut nach Little Italy, hofften dort etwas über den Verbleib Zanollis zu erfahren. Der Großhändler entwickelte sich langsam zu einer Schlüsselfigur. Mr High hatte eine Fahndung nach ihm rausgegeben.
Phil war inzwischen aus dem Krankenhaus nach Hause entlassen worden. Ab morgen wollte er schon wieder hinter dem Schreibtisch im Field Office sitzen. Die ärztliche Anweisung, sich auszuruhen, schlug er in den Wind.
Längst ging es nicht mehr nur um reine Dienstpflicht, sondern durch das Attentat auf ihn hatte der Fall eine höchstpersönliche Komponente bekommen.
Steve dirigierte mich zu einer abgelegenen Bar in der Nähe der Old Saint Patricks Cathedral mit dem sinnigen Namen Casanova Girls Bar . Mit der Backsteinfassade glich sie eher einer Hinterhof-Absteige als einem einigermaßen seriösen Etablissement.
»Wo du dich überall herumtreibst«, bemerkte ich spöttisch, als wir aus meinem Jaguar stiegen und die Mantelkragen gegen den eiskalten Wind hochstellten. Zum Glück hatte es aufgehört zu schneien. Allerdings lag noch immer eine weiße Schneedecke auf dem Big Apple.
»Mit meinem Gehalt kann ich mir nichts Besseres leisten, Jerry!«, gab Steve zurück. Er öffnete die schwere Eingangstür und wir marschierten hinein. Im Gegensatz zum äußeren Eindruck war die Inneneinrichtung stillvoll und keineswegs heruntergekommen. Das überraschte mich doch ein wenig. Wir setzten uns auf die Hocker ganz am Ende der Bartheke.
Das Licht war auf ein Minimum heruntergedimmt und schuf so jene verruchte Atmosphäre, die wohl überall auf dem Globus in solchen Bars herrschte.
Zwei große Strahler beleuchteten eine Drehscheibe mit einer Tanzstange, an der eine halbnackte vollbusige Blondine die tollsten akrobatischen Verrenkungen machte.
Wir beachteten weder sie noch die anderen leicht bekleideten Damen, die im diffusen Hintergrund an Tischen saßen. Sie musterten uns neugierig, lächelten und winkten. Ich sah jedoch nur die Dollars in ihren Augen funkeln.
Kaum hatten wir einen Drink bestellt, tauchte Steves Informant auf, setzte sich ohne Begrüßung neben uns und ließ sich gleich einen Cosmopolitan mixen. Er hieß Sal Pesci.
»Geht natürlich auf eure Rechnung, Jungs«, sagte er mit einer unangenehmen Fistelstimme und grinste dabei. Pesci war etwa fünfzig, glatzköpfig und nur knapp über fünf Fuß groß.
»Also, warum hast du uns hierherherbestellt?«, fragte Steve ohne Umschweife.
Der Angloitaliener trank erst mal genüsslich seinen Drink aus und bestellte sich gleich den nächsten. Erst dann bequemte er sich zu einer Antwort. »Ihr sucht Zanolli, oder nicht?«
»Das weißt du doch, also mach’s nicht so spannend!« Steve sah den Kleinen verärgert an. Wir hatten beide keine Lust auf ein Quiz in einem Stripschuppen.
»Ist ja gut, reg dich nicht gleich auf, Steve. Bekomme ich noch einen Drink?«
Ich wollte protestieren, aber Steve nickte nur, winkte den Barkeeper heran und deutete auf das leere Glas. Gleich darauf nuckelte Sal Pesci am dritten Cosmopolitan. Ich hätte schon längst die Geduld verloren, ließ meinen Kollegen aber gewähren. Schließlich kannte er die Macken seiner Informanten weitaus besser als ich.
Pesci schien nun seine Betriebstemperatur erreicht zu haben. »Also, zu Zanolli kann ich euch leider nichts sagen …«
»Was soll …«, begehrte Steve ungeduldig auf, doch der Kleine machte eine abwehrende Geste, fuhr gleich darauf fort: »Dafür kenne ich jemanden, der etwas über Luigi Pernone weiß!«
»Gut«, stellte ich lapidar fest. »Wer ist das und wo finden wir diese Person?«
Pesci grinste erneut, zeigte auf sein Glas, zuckte die Achseln. Langsam riss mir der Geduldsfaden. »Hör zu, Freundchen«, knirschte ich überhaupt nicht mehr freundlich. »Wenn du uns verschaukeln willst …«
Steve legte mir beschwichtigend seine rechte Hand auf die Schulter und sah Sal dabei scharf an. »Der neue Drink kommt, wenn du uns den Namen nennst!«
»Okay, Jungs!« Pesci verstummte und winkte eines der Mädchen heran, das mit den anderen Stripperinnen an einem der Tische hinter der Tanzstange hockte. Ich musste schon sagen, die Frau war atemberaubend! Dunkelhaarig, etwa so groß wie ich, perfekt gebaut und mit einem Lächeln, das Eis schneller schmelzen ließ als in der Mikrowelle.
»Mein Name ist Mirella«, gurrte sie. Ihre rauchige Stimme beschleunigte meinen Herzschlag. Die pechschwarzen, etwas schräg stehenden Augen musterten mich unverblümt. Auch meinem Kollegen schenkte sie ein paar Sekunden Sonnenschein. Es gibt eben Frauen, die ein Aussehen und eine Ausstrahlung haben, die so selten sind wie Steaks in einem Vegetarier-Restaurant.
»Das seid ihr baff, Jungs, was?« Sal Pesci freute sich wie ein kleines Kind, als er sah, dass Mirella ihre Wirkung auch bei uns nicht verfehlte. Bevor ich der Dunkelhaarigen jedoch eine Frage stellen konnte, sagte sie: »Sal hat mir erzählt, dass ihr auf der Suche nach Alberto Zanelli seid! Darüber weiß ich leider nichts. Aber etwas über den Tonnenmord , wie ihn die Presse bezeichnet.«
Steve schien allerdings nicht richtig zuzuhören. Als sich Mirella neben ihn setzte, starrte er sie immer noch an. »Mirella. Mirella … Madonia?«
Die Frau sah ihn jetzt überrascht an. »Woher weißt du meinen Nachnamen?«
»Ich kenne deine Eltern«, antwortete Steve. »Dein Vater Eddie und deine Mutter Carmela waren mit meinem Onkel Tony Dillaggio befreundet. Sie waren immer dabei, wenn sich unsere Familien bei uns getroffen haben.«
Mirellas professionelles Lächeln, das wie eingemeißelt in ihrem hübschen Gesicht lag, verwandelte sich im Nu in ein ehrliches Strahlen. »Tony Dillaggio! Natürlich. Ich erinnere mich. Er war ein guter, warmherziger Mann, der in Little Italy viel für die Gemeinde getan hat. Wir alle haben ihn sehr gemocht, bis er vor zehn Jahren an Krebs gestorben ist.«
Wir schwiegen. Dann fuhr Mirella vertraulich fort: »Jetzt ist mir auch klar, woher ich dich kenne, Steve. Ich dachte gleich: Der blonde Kerl mit dem athletischen Körper war schon mal in meinem Visier!« Sie zeigte wieder dieses umwerfende Lächeln, das selbst einen Blinden aus der Bahn werfen konnte.
Während sich Steve in diesem Kompliment badete und mir einen schnellen Seitenblick zuwarf, wollte ich das vertrauliche Familientreffen in die dienstliche Richtung lenken.
»Was wissen Sie über den Tonnenmord ?«, fragte ich deshalb. Sal hatte sich von uns abgewandt und trank seinen vierten Cosmopolitan. Ich wusste gar nicht, wohin er den Alkohol wegsteckte.
Mirella wandte sich mir zu, sah mir direkt in die Seele. »Du bist genauso süß wie dein blonder Kollege. Aber gut, kommen wir zum Geschäftlichen. Ich weiß all das über den Tonnenmord , was in den Nachrichten gemeldet wird. Und noch ein bisschen mehr.«
»Und was ist das, Mirella?«, fragte Steve.
»So ein Mord spricht sich herum. Vor allem hier in Little Italy. In Schuppen wie diesem ohnehin. Hierher kommen nicht nur kleine Nichtsnutze, um sich an unseren Körpern zu ergötzen, sondern auch wichtige Männer und ihr Gefolge. Männer, die mächtig sind, die etwas zu sagen haben. Die ab und zu Andeutungen machen, um mit ihrem Wissen vor uns anzugeben. Sich profilieren wollen, damit wir nicht mehr auf ihr Alter schauen, sondern auf ihre Position. Sie gehen davon aus, dass Macht sexy ist. Na ja, vielleicht ist sie das auch …«
»Und was noch?«, hakte ich ungeduldig nach. So langsam wollte ich mal ein paar Fakten hören.
»Der Tonnenmord ist kein gewöhnlicher Mord. Er ist etwas Besonderes. Eine misura di rappresaglia !«
Fragend sah ich Steve an.
»Eine Art Vergeltungsmaßnahme«, klärte er mich auf.
»Also – der Mord an Luigi Pernone war wohl eine Vergeltungsmaßnahme. Dabei geht es um einen Big Deal. Um ein Millionengeschäft.«
»Weißt du Näheres darüber?«, kam mir Steve zuvor.
Mirella schüttelte den Kopf.
Ich schaute die Stripperin fest an. Doch dieses Mal nicht mit dem Blick eines Mannes, sondern dem eines Agents. »Und über den oder die Mörder von Pernone?«
»Auch nichts. Glaub mir, Jerry. Aber die Sache ist ganz oben angesiedelt, wenn du verstehst, was ich meine.«
Ich spielte den Dummen und verneinte.
Mirella druckste herum. Dann beugte sie sich schnell zu mir herüber und flüsterte mir ein Wort ins linke Ohr: »Capo.«
Damit meinte sie einen Don, den Kopf einer Mafia-Familie. Aber wen? Den Anführer des Corsisi- oder des Gentili-Clans? Ich fragte sie danach. Doch das war wohl eine Frage zu viel.
Abrupt erhob sich Mirella vom Barhocker, sah mich nicht einmal mehr an. Steve hingegen gab sie einen Kuss auf die Wange, schwebte dann mit laszivem Gang an ihren Mädchentisch zurück.
»Sie weiß noch etwas, Steve. Wir könnten sie mitnehmen und verhören.«
Mein Kollege schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, Jerry. So werden wir nichts aus ihr herausbekommen. Lass es mich auf meine Art machen! Unsere Familien kennen sich.«
Steve hatte recht. Vielleicht kamen wir auf der persönlichen Ebene weiter. Dann rief er Pesci herbei. »Wem gehört diese Bar hier – Gentili oder Corsisi?«
Sal leckte sich nervös über die Lippen. »Keinem von ihnen. Sie ist sozusagen Niemandsland, den jedes Mitglied der beiden Familien aufsuchen kann. Dahingehend gab es auch nie Probleme. Diese neutrale Zone wird von allen Seiten respektiert.«
»Und für wen arbeitet Mirella?«, fragte ich.
Sal holte tief Luft, bevor er antwortete. »Offiziell ist sie freiberufliche Stripperin. Früher war sie Italo Corsisis Edelnutte. Man sagt aber auch, dass Roberto Gentili mit ihr ausgegangen ist.«
So kamen wir also nicht weiter. Immer noch wussten wir nicht, wen Mirella mit Capo meinte. Wir bezahlten Sal Pescis Drinks, die sich auf sechs Cosmopolitan vermehrt hatten. Dann verabschiedeten wir uns von ihm und verließen den Stripclub. Wir würden uns die schöne Mirella später noch einmal vorknöpfen.
***
Die Freude war bei allen Kollegen überschwänglich, als wir Phil wieder hinter seinem Schreibtisch sahen. Zwar verzog er ab und zu noch sein Gesicht, wenn er eine ruckartige Bewegung machte, aber der Streifschuss verheilte gut. Er stellte keine große gesundheitliche Beeinträchtigung mehr dar.
Steve und ich informierten ihn und Zeery, der in unsere Ermittlungen mit einbezogen wurde, über das Gespräch mit Mirella Madonia. Und dass wir noch einmal mit ihr sprechen wollten. Besser gesagt Steve.
Phil war inzwischen dabei, die Spur der Fässer weiterzuverfolgen. Die Mitarbeiterin von Zanolli Food Sales in Rockaway Beach hatte ihren Vertriebsleiter erreicht, der noch immer auf einer Europareise war. Dennoch hatte er ihr weiterhelfen können, sodass sie für uns eine Liste zusammengestellt hatte, wo die Fässer des Lebensmittelgroßhändlers überall hingeliefert wurden.
Interessant dabei war, dass die meisten in Geschäften in Little Italy standen. Diese Betriebe gehörten allesamt dem Gentili-Clan. Darüber berichtete uns Phil, nicht ohne Stolz.
Wir alle saßen im Besprechungsraum. Mr High nahm an unserer kleinen Konferenz nicht teil, weil er einen wichtigen Auswärtstermin hatte. Steve als sein Stellvertreter hatte ohnehin die Leitung der Ermittlungen übernommen. Er holte tief Luft, bevor er anfing.
»Phils Recherchen ergänzen eine Information, die mir Sal Pesci vorhin zukommen ließ. Wahrscheinlich hat er sich erst nach dem sechsten Cosmopolitan daran erinnert.«
Ich grinste.
»Die Zanolli Food Sales gehört zum Geschäftsimperium der Gentili-Familie. Oder anders ausgedrückt: Alberto Zanolli steht auf der Gehaltsliste von Roberto Gentili!«
Das war eine wirkliche Überraschung! Pernones Leiche wurde in einem der Olivenfässer gefunden, die Zanolli vertrieb und die hauptsächlich in Geschäften von Gentili standen, für den der Großhändler wiederum arbeitete. War damit der Capo dieser Familie auch der Auftraggeber des Mordes an dem Sizilianer?
Diese These diskutierten wir durch. Sie klang nicht abwegig. Nur in einem entscheidenden Punkt stieß sie auf Zweifel: Warum sollte Gentili Pernone auf die Seite schaffen lassen und ihn dann so offensichtlich in einem der Fässer verschwinden lassen? Ihm musste doch klar sein, dass das FBI früher oder später diese Spur finden würde. Oder hatte er ganz einfach Amateure für diesen Job engagiert, denen die Tragweite ihres Handelns nicht bewusst gewesen war?
»Phil und Zeery werden Gentili mal auf den Zahn fühlen«, sagte Steve abschließend. »Ich und Jerry werden uns noch einmal mit Mirella unterhalten. Wir werden ihr klarmachen, wenn sie uns etwas verschweigt, können wir sie wegen Behinderung der Ermittlungsarbeiten oder gar wegen Mitwisserschaft an einem Mord festsetzen. Familienbande hin oder her.«
***
Phil verzog schmerzlich das Gesicht, als er sich beim Aussteigen an der Tür des Dienst-Buicks die Seite anstieß. Zusammen mit Zeery war er nach Bergen Beach ins südöstliche Brooklyn gefahren, um Roberto Gentili einen Besuch abzustatten. Der Don residierte nicht etwa in Little Italy, sondern hatte sich in diesem schicken Wohnbezirk sein Domizil errichtet.
Seine Villa lag etwas zurückgesetzt in einem parkähnlichen Grundstück nahe dem kleinen Jachthafen des East Mill Basin, in dem einige wenige Boote dümpelten. Phil drückte auf die Klingel am schmiedeeisernen Tor, über dem eine Überwachungskamera angebracht war.
Gleich darauf meldete sich eine unfreundliche Stimme.
»Was wollen Sie?«
»Wir möchten mit Mister Gentili sprechen«, antwortete Phil.
»Mister Gentili hat keine Zeit. Verschwinden Sie!«
Phil zückte seinen Dienstausweis und hielt ihn vor die Kamera. »Special Agent Phil Decker, FBI New York. Ich glaube schon, dass Mister Gentili Zeit für uns hat! Vielleicht aber ist es ihm auch lieber, wenn wir ihn gleich ins Field Office bestellen? Was meinen Sie?«
Eine geraume Weile geschah nichts, dann öffnete sich quietschend das elektronische Tor. Phil und Zeery fuhren an einem Rondell vorbei, dessen Mitte ein rundes verschneites Rosenbeet einnahm, und hielten direkt vor der Eingangstür neben der breiten Doppelgarage.
Ein schwarz gekleideter, bulliger Mann erschien auf der Türschwelle. Er schaute den Agents böse entgegen, die aus dem Buick stiegen. Offensichtlich passten ihm unangemeldete Besuche nicht.
»Mister Gentili hat fünf Minuten für Sie«, stellte er sofort klar.
»Na, wie schön«, meinte Zeery sarkastisch. Phil blickte demonstrativ auf seine Armbanduhr. »Hoffentlich überziehen wir nicht!«, bemerkte er trocken. Der Bullige knurrte etwas Unverständliches und führte sie ins Haus.
Gentili erwartete sie in seinem riesigen Arbeitszimmer. Hier gab es außer vollgestopften Bücherregalen eine schwarze Ledersitzgruppe und einen mächtigen Schreibtisch, hinter dem der Mafiaboss in einem hochlehnigen Ledersessel saß.
Gentili war etwa fünfundsechzig Jahre alt, hatte eine Halbglatze und ein auffallend großes Muttermal auf der Nasenspitze. Seine feingliedrigen Hände waren ineinander verschränkt. Emotionslos sah er die beiden Agents an. Der Schwarzgekleidete stellte sich hinter seinen Boss.
Phil und Zeery wiesen sich noch einmal aus und setzten sich nach Aufforderung auf die Ledercouch vor dem Schreibtisch.
»Wir ermitteln im Mordfall Luigi Pernone«, begann Phil. »Kannten Sie ihn?«
»Nein«, antwortete Gentili einsilbig, aber etwas vorschnell.
»Wie Sie wissen, wurde seine Leiche in einem Olivenölfass gefunden, das Alberto Zanolli vertreibt. In ihren Geschäften in Little Italy stehen ebenfalls solche Fässer.«
Gentili zog scheinbar überrascht die Augenbrauen in die Höhe. »Na und? Ich wusste gar nicht, dass das ein Verbrechen ist. Wollen Sie mich deswegen etwa festnehmen?« Gentili grinste höhnisch. Sein Bodyguard lachte wie auf ein Kommando laut und gekünstelt.
»Nein, das ist es nicht, Mister Gentili«, entgegnete Phil gereizt. Er blickte dem Mafiaboss fest in die Augen. »Aber Zanolli steht auf Ihrer Gehaltsliste! Seltsamerweise ist er fast zeitgleich mit dem Mord verschwunden. Ist das nicht ein unglaublicher Zufall?«
»Gewiss, Agent, macht das einen solchen Eindruck. Aber ich habe weder mit Pernones Tod noch mit Zanollis Verschwinden etwas zu tun! Wollen Sie mich etwa damit in Zusammenhang bringen? Verdächtigen Sie mich?«
Zeery blickte wie magisch angezogen auf das Muttermal auf der Nasenspitze des Mafioso. »Es geht nicht nur um einen Mord, Mister Gentili, sondern auch um ein Attentat auf einen FBI-Agent!«
»Wie meinen Sie das?«
»Vor einigen Tagen hat ein Unbekannter auf mich geschossen und mich verletzt!«, übernahm nun wieder Phil das Wort. »Ich brauche Ihnen wohl nicht zu erklären, was es heißt, auf einen Bundesbeamten einen Mordversuch zu verüben!«
In Roberto Gentilis Gesicht arbeitete es. Alles an ihm war mit einem Schlag gespannte Aufmerksamkeit. »Auch in diesem Punkt kann ich Ihnen nicht weiterhelfen, Agents! Ich werde mich umhören. Vielleicht erfahre ich ja etwas über die möglichen Hintermänner. Mehr kann ich nicht für Sie tun.«
Der Bodyguard trat nun an die Couch heran und blickte auf Phil und Zeery hinab. »Die fünf Minuten sind um!«
Die beiden Agents erhoben sich, ließen den Schwarzgekleideten aber links liegen, als existiere er überhaupt nicht. Phil beugte sich tief über die Schreibtischplatte zu dem Don hinunter. »Sollten unsere Ermittlungen ergeben, dass Sie lügen, dann haben Sie ein großes Problem!«
Der Bodyguard wollte Phil von hinten an die Schultern fassen, doch Zeery trat entschlossen dazwischen. »Lass es gut sein, Freundchen!«
Nun traten vier weitere Männer in das Arbeitszimmer. Gentilis Schläger ließen sich in ihrem eigenen Rattennest nicht einschüchtern, genauso wenig ihr Boss.
»Ich werde an Ihre Worte denken, Decker. Und nun fahren Sie in Ihr warmes, gemütliches Büro zurück. Denn hier draußen kann die Luft manchmal richtig lausig werden! Kalt und bleihaltig!«
Phil atmete tief durch, warf einen Blick auf die aufgereihte Schlägertruppe. Tatsächlich hatten sie nichts in der Hand.
Er und Zeery wollten den Raum verlassen. Nur widerwillig machten Gentilis Männer ihnen Platz. Auf der Türschwelle drehte sich Phil noch einmal um. »Wir sehen uns bestimmt bald wieder, Mister Gentili!« Er fasste sich an seine rechte Hüfte. »Sie wissen gar nicht, wie oft am Tag ich an Sie denke!«
Dann folgte er Zeery hinaus. In seinem Rücken spürte er den brennenden Blick Roberto Gentilis.
***
Mein Jaguar pflügte durch die hell erleuchteten Straßen Manhattans. Und das im wahrsten Sinne des Wortes: Schon vor Stunden hatte es erneut angefangen, heftig zu schneien.
An diesem Freitagabend ließen es die städtischen Winterdienste schleifen. Oder aber sie waren einfach überlastet. Die Straßen hier draußen jedenfalls waren schneebedeckt und glatt. Wieder kamen wir nur langsam voran.
Steve hatte mit Mirella Madonia Kontakt aufgenommen, sie um ein Treffen gebeten. Sie willigte ein, wenn er sie alleine aufsuchte. Aber nicht in der Casanova Girls Bar , sondern in ihrem kleinen Apartment. Dabei deutete sie an, von Männern beschattet zu werden. Offensichtlich hatte sie Angst und wollte nicht noch einmal öffentlich mit FBI-Agents gesehen werden.
Natürlich begleitete ich Steve. Allerdings würde ich nicht in Mirellas Wohnung auftauchen, sondern meinem Kollegen unbemerkt Rückendeckung geben. Sollte die Stripperin tatsächlich beobachtet werden, dann bedeutete dies nicht nur unmittelbare Gefahr für sie.
Mirellas Apartment lag in der Colden Avenue in der East Bronx, neben einer Autowaschanlage. Die Fassade des achtstöckigen Gebäudes war heruntergekommen. Neben der Tür war ein verwittertes Schild mit der Aufschrift Prayer Fellowship angebracht. Wahrscheinlich lebten hier irgendwelche religiösen Fanatiker.
Ich parkte den Jaguar um die Straßenecke, damit er nicht gleich jedem auffiel. Zu Fuß liefen wir die wenigen Schritte zum Gebäude zurück. Es war kalt, aber nicht so eisig wie in den vergangenen Tagen.
Ich hatte mich extra dick angezogen, weil ich mich wohl einige Zeit im Freien aufhalten würde. Wir gingen das offene Treppenhaus hoch. Im dritten Stock wohnte die Stripperin. Während ich mich um die Flurecke verzog, klingelte Steve. Mirella öffnete sofort und ließ ihn herein.
Fröstelnd zog ich die Schultern hoch. Im Flur schien sich die Kälte zu stauen. Mir kam es so vor, als würden hier Minusgrade herrschen.
Warum sich eine Frau mit Mirellas Aussehen nicht einfach einen reichen Typen angelte, war mir schleierhaft. Zumindest würde sie dann aus diesem Loch herauskommen.
Ich erinnerte mich an Sal Pescis Worte. Demnach war sie einst die Geliebte von Italo Corsisi gewesen und hatte vermutlich auch etwas mit Roberto Gentili. War die schöne Stripperin bei beiden in Ungnade gefallen? Musste sie deshalb ihr Leben hier verbringen?
Gerade wollte ich mir meine Handschuhe überziehen, als ich Schritte von mindestens zwei Personen vernahm. Normalerweise nichts Ungewöhnliches in einem achtstöckigen Appartementgebäude – in diesem Fall aber schon! Denn diejenigen, die die Geräusche verursachten, waren darauf bedacht, so leise wie möglich aufzutreten. Hatte Mirella mit ihrer Annahme recht, verfolgt zu werden?
Aus dem Gürtelholster fischte ich die SIG, verharrte regungslos an der Gangecke. Wenn ich mich etwas weiter nach vorn lehnte, hatte ich einen guten Blick auf die Treppe.
Dann sah ich sie! Es waren zwei Männer. Ihre Schatten wanderten überdimensional über die kahle Flurwand. Äußerst vorsichtig bewegten sie sich nach oben, schlichen leise an der Ecke vorbei, hinter der ich stand. Vor Mirellas Tür blieben sie stehen. Damit war klar, warum sie hier waren.
Ich trat aus meiner Deckung hervor, die Waffe auf die nächtlichen Besucher gerichtet. Erst jetzt erkannte ich, dass sie maskiert waren. Über ihre Köpfe hatten sie schwarze Skimasken gezogen. Hinter den Sehschlitzen funkelten harte Augen.
»So spät noch unterwegs?«, fragte ich laut.
Die beiden Typen fuhren erschrocken zu mir herum. Ihre Hände wollten unter den Klamotten verschwinden. Doch ein Blick auf meine SIG ließ sie innehalten. Aber nur für einen Moment. Gleich darauf wusste ich auch, weshalb.
»Leg die Knarre weg!« Die Worte klangen in meinem Rücken auf. Jetzt saß ich in der Klemme. Allerdings wurde mir eine Entscheidung abgenommen …
Drei Dinge geschahen gleichzeitig. Mirellas Tür wurde mit einem Ruck aufgerissen. Steve erschien im Türrahmen. Ohne zu zögern schoss er den ersten Maskierten nieder, der bereits zu ihm herumgewirbelt war und auf ihn anlegte. Der zweite Maskierte drückte ebenfalls ab und der Schuss galt mir.
Allerdings hatte ich mich nur eine Zehntelsekunde vorher zu Boden geworfen, um der Kugel des dritten Mannes hinter mir zu entgehen. Das rettete mir das Leben. So schossen die beiden Maskierten aneinander vorbei und hatten Glück, sich nicht gegenseitig zu treffen.
Was in meinem Rücken passierte, konnte ich allerdings nicht sehen, hörte aber einen weiteren Schuss und einen Aufschrei. Es war nicht Steve.
Der übrig gebliebene Maskierte sah seine Felle davonschwimmen. Zwei seiner Komplizen waren außer Gefecht gesetzt und Steve und ich wohlauf. Er warf sich herum, jagte mit ausladenden Schritten die Treppe nach unten. Ich rannte so schnell ich konnte hinterher, ohne auf den Ruf meines Kollegen zu achten.
Ich wollte den Kerl unter allen Umständen kriegen! Mehrere Stufen auf einmal nehmend erreichte ich den letzten Treppenabsatz. Ich musste zugeben, dass der Flüchtende verdammt schnell war. Keine Spur mehr von ihm. Ich fragte mich, wo er geblieben war.
Vorsichtig lugte ich an der Häuserfassade entlang. Tatsächlich, da rannte er! Nur wenige Yards von mir entfernt. Ich spurtete wieder los, holte langsam auf. Der Maskierte bog vor mir in eine Hofeinfahrt, die sich als Sackgasse herausstellte.
Warum er sich selbst in diese Misere hineinmanövrierte, wurde mir Sekunden später klar. Er hatte mich in eine Falle gelockt!
Die nächtlichen Besucher waren nicht zu dritt, sondern zu viert! Der Letzte von ihnen wartete bereits um die Ecke neben einem alten schwarzen Dodge auf mich, mit einer Uzi im Anschlag, die sofort loshämmerte, als ich in Schussweite kam. Jetzt drehte sich auch der Flüchtende um und nahm mich ebenfalls unter Feuer.
Für mich gab es keine ausreichende Deckung, lediglich die kahlen Backsteinwände der Hofeinfahrt. Ich kam mir vor wie ein Hase auf einem baumlosen Feld. Über und neben mir surrten die Kugeln wie wilde Hummeln herum. Ich musste einsehen, dass ich gegen die Feuerkraft der Maschinenpistole keine Chance hatte.
»Waffe weg!«, befahl der Maskierte, den ich verfolgt hatte. Der Lauf seiner Waffe und der der Uzi waren auf mich gerichtet. Ich konnte nicht anders, als der Aufforderung nachzukommen, wenn ich nicht wollte, dass sie mich an Ort und Stelle erschossen.
Langsam legte ich die SIG auf den schneebedeckten Boden. Keine Menschenseele weit und breit. Den Schusswechsel schien niemand mitbekommen zu haben. Oder aber zufällige Zeugen der Verfolgungsjagd verdrückten sich vor Angst.
Die beiden Maskierten nahmen mich jetzt in die Zange, ließen mich keine Sekunde aus den Augen.
»Was ist mit den anderen?«, fragte der mit der Uzi seinen Komplizen. Der Angesprochene schüttelte den Kopf und zeigte mit dem Daumen der linken Hand nach unten.
Der MP-Schütze fluchte laut. Wütend fuchtelte er mit dem Lauf vor meinem Gesicht herum. Ich sah, wie er den Finger um den Abzug krümmte, und war darauf gefasst, mich von dieser Welt zu verabschieden. Aber er drückte nicht ab, sondern schien es sich noch einmal anders überlegt zu haben.
Einen Moment hatte ich nicht auf den zweiten Maskierten geachtet, der inzwischen hinter mich getreten war. Plötzlich spürte ich einen harten Schlag auf meinen Hinterkopf, und alles um mich herum explodierte in einem gleißenden Sternenmeer.
***
Steve hatte sich über die beiden auf dem Flur liegenden Maskierten gebeugt. Sie waren tot. Hinter sich hörte er Mirella aufschreien, als sie die erschossenen Männer sah. Was sollte er tun? Jerry folgen, um ihn bei der Verfolgung zu unterstützen? Doch dann musste er die Stripperin schutzlos zurücklassen. Was aber, wenn sich noch einer von diesen Typen hier aufhielt?
Steve war überzeugt, dass Jerry mit einem flüchtenden Täter alleine fertig wurde. Deshalb entschied er sich, so lange bei Mirella zu bleiben, bis Hilfe kam. Mit seinem Handy informierte er die Zentrale und forderte Verstärkung und einen Notarzt an.
Als Phil und Zeery sowie zwei Streifenwagen des NYPD schließlich anrückten, war schon einige Zeit vergangen. Steve übergab Mirella in Zeerys Obhut, während er mit Phil nach Jerry suchte.
Als sie und weitere eintreffende Cops die unmittelbare Gegend absuchten, fanden sie jede Menge Patronenhülsen. Es war also zu einer weiteren Schießerei gekommen. Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder verfolgte Jerry den Maskierten noch immer oder aber er war in einer Lage, in der er seine Kollegen nicht mehr kontaktieren konnte.
Phil und die Cops hatten zwischenzeitlich bei den Anwohnern der Colden Avenue nachgefragt. Überall stießen sie auf eisiges Schweigen. Nur eine alleinerziehende, etwa dreißigjährige Frau brachte den Mut auf, über die Schießerei zu sprechen.
»Ihr Kollege wurde in der Hofeinfahrt gegenüber von einem anderen Vermummten mit einer Maschinenpistole erwartet und dann niedergeschlagen«, berichtete die junge Mutter aufgeregt.
»Was geschah dann?«, fragte Phil mit einem unguten Gefühl in der Magengegend.
»Die beiden Maskierten haben ihn in ihren Wagen verfrachtet und sind losgefahren!«
»Konnten Sie sich das Kennzeichen merken?«
Die Frau schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein, Sir. Ich konnte es von hier oben aus gar nicht erkennen. Aber es war ein alter schwarzer Dodge. Er fuhr die Colden Avenue zur Kreuzung Morris Park Avenue hinunter.«
Phil bedankte sich, notierte sich die Adresse der Zeugin und informierte Mr High über den Stand der Dinge. Sofort leitete der Assistant Director eine Großfahndung nach dem Fluchtfahrzeug ein. Jerry befand sich in höchster Gefahr!
***
In Little Italy wurde Sal Pesci nur Baco , die Made, genannt. Er war hier geboren und hatte während seines fünfzigjährigen Lebens nicht eine feste Arbeit gehabt. Er hatte es fertiggebracht, sich an keine der herrschenden Mafiafamilien zu binden. Schon zu oft hatten sich hier die Machtverhältnisse geändert.
Um nicht ganz vor die Hunde zu gehen, nahm er in den letzten Jahren kleinere Zuträgerjobs von den Gentilis und den Corsisis an. Die waren allerdings so unbedeutend, dass keine Gefahr bestand, jeweils der Gegenseite etwas Wichtiges zu verraten. Raushalten aus Familienangelegenheiten der Mafia war sein Credo.
Doch seit jenem Tag, an dem er die FBI-Agents in der Casanova Girls Bar mit Mirella zusammengebracht hatte, war es anders geworden. Es war mehr ein Gefühl, so als ob überall, wo er hinkam, sich die Leute von ihm abwandten. Nicht offenkundig, aber doch so, dass er es bemerkte. Vielleicht bemerken sollte!
Es war kurz vor Mitternacht. Sal Pesci passierte gerade Tony’s Little Gift Shop in der Mulberry Street, in der sein schäbiges Zimmer lag, als er von zwei Männern angesprochen wurde.
»Hey, Baco , schon Zeit fürs Bett?«, fragte einer von ihnen, ein großer, grobschlächtiger Kerl. Sal meinte ihn schon einmal gesehen zu haben. Es fiel ihm aber nicht ein, wo.
»Nicht noch Lust auf einen Drink?«, wollte der andere wissen, auf dessen Wange sich eine gezackte Messernarbe abzeichnete.
»Wer seid ihr, Jungs?« Pesci sah von einem zum anderen.
»Ich bin Vitto«, sagte der Narbige. »Und das ist mein Cousin Carlo. Tu nicht so, als ob du uns nicht kennst, Baco! Kannst du dich nicht mehr an die Pferdewetten vor drei Jahren erinnern? Wir lernten uns auf der Rennbahn in Midtown East kennen, auf der wir alle auf den falschen Gaul setzten. Wir haben dreitausend Dollar verloren. Und du fünfzig!«
Vitto lachte auf. Es klang wie das kurze, abgehackte Bellen eines Rottweilers.
Sal fiel es schwer, sich daran zu erinnern, aber irgendetwas klingelte in seinem Hinterstübchen. In den vergangenen drei Jahren hatte er zu viele Cosmopolitan gekippt. Aber irgendwie wollte er den Jungs glauben, nach all der gefühlten Ablehnung der letzten Tage. Warum nicht noch ein paar Drinks mit alten Freunden nehmen?
»Ja, jetzt fällt es mir wieder ein«, entgegnete der kleine, dünne Glatzkopf mit der Fistelstimme. Die Typen nahmen ihn in die Mitte. Um diese Zeit war in dieser Gegend keine Menschenseele mehr unterwegs.
Als sie einen Hofeingang passierten, zerrten die beiden Männer Sal gewaltsam hinein. Vitto legte ihm die behandschuhte Rechte auf den Mund, während Carlo ihm einen harten Nierenschlag verpasste.
Sal ging ächzend zu Boden. Der Schmerz fraß ihn auf wie ein wildes Tier. Alles vor seinen Augen drehte sich.
»Du verdammter Fellone! Verräter, elender!« Carlo trat ihm mit seinen schweren Winterschuhen wuchtig in die Seite. »Mit dem FBI zu quatschen, du gottverdammter Bastardo! «