Jerry Cotton Sammelband 46 - Jerry Cotton - E-Book

Jerry Cotton Sammelband 46 E-Book

Jerry Cotton

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Beschreibung

Jerry Cotton ist Kult - und das nicht nur wegen seines roten Jaguars E-Type.

Fünf actiongeladene Fälle und über 300 Seiten Spannung zum Sparpreis!
G-Man Jerry Cotton hat dem organisierten Verbrechen den Krieg erklärt! Von New York aus jagt der sympathische FBI-Agent Gangster und das organisierte Verbrechen, und schreckt dabei vor nichts zurück!
Damit ist er überaus erfolgreich: Mit über 3000 gelösten Fällen und einer Gesamtauflage von über 850 Millionen Exemplaren zählt er unbestritten zu den erfolgreichsten und bekanntesten internationalen Krimihelden überhaupt! Und er hat noch längst nicht vor, in Rente zu gehen!

In diesem Sammelband sind 5 Krimis um den "besten Mann beim FBI" enthalten:
Jerry Cotton 3005 - Der Tod stellt viele Fragen
Jerry Cotton 3006 - Mosaik des Grauens
Jerry Cotton 3007 - Das Netz der schwarzen Witwe
Jerry Cotton 3008 - Mordgeflüster
Jerry Cotton 3009 - Intrigen unter Freunden

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Seitenzahl: 671

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Jerry Cotton
Jerry Cotton Sammelband 46

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2014 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text und Data Mining bleiben vorbehalten.

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2023 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Covermotiv: © shutterstock: stockcreations | OSTILL is Franck Camhi

ISBN: 978-3-7517-4705-9

https://www.bastei.de

https://www.sinclair.de

https://www.luebbe.de

https://www.lesejury.de

Jerry Cotton Sammelband 46

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Jerry Cotton 3005

Der Tod stellt viele Fragen

Jerry Cotton 3006

Mosaik des Grauens

Jerry Cotton 3007

Das Netz der schwarzen Witwe

Jerry Cotton 3008

Mordgeflüster

Jerry Cotton 3009

Intrigen unter Freunden

Guide

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Contents

Der Tod stellt viele Fragen

Als Jake Brennan sein Hotel verließ, hatte er nur noch eine halbe Minute zu leben.

Der Himmel über der irischen Hauptstadt Dublin war grau und regenverhangen. Brennan bemerkte den auf der anderen Straßenseite lauernden Heckenschützen nicht. Wie auch? Der Mann lag in perfekter Tarnung. Und er hatte den Kopf des zukünftigen Opfers schon im Fokus seines Zielfernrohrs.

Der Schütze überließ nichts dem Zufall. Er schoss auf Brennans Kopf. Da würde ihm auch eine kugelsichere Weste nicht helfen. Und Brennans Bodyguards konnten gegen eine Kugel aus einer Hochgeschwindigkeitswaffe ebenfalls nichts ausrichten.

Das Geschoss traf genau ins linke Auge. Während auf der Abbey Street das Chaos ausbrach, montierte der Attentäter seine Waffe auseinander und verschwand unbemerkt.

Jake Brennans gewaltsamer Tod war Thema Nummer eins bei CNN und sämtlichen anderen Nachrichtenkanälen. Auch Phil und ich hatten während der morgendlichen Fahrt zum FBI-Hauptquartier über dieses Tagesereignis gesprochen.

Deshalb verwunderte es mich nicht, dass gleich nach unserem Eintreffen das Telefon in meinem Büro klingelte. Dorothy Taylor war am Apparat.

»Inspektor Cotton, Sie sollen sofort zusammen mit Inspektor Decker zu Mr High kommen.«

»Wird gemacht, Dorothy«, antwortete ich der Sekretärin des Leiters der Field Operation Section East. Offenbar hatte sie Phil auch schon angerufen. Jedenfalls kam er ebenfalls aus seinem Büro, als ich auf den Flur trat.

»Wollen wir wetten, dass der Chef uns wegen des Anschlags auf Brennan sprechen will, Jerry?«

»Da würde ich nicht dagegenhalten«, gab ich zurück.

Wir betraten das Vorzimmer von Mr High. Dorothy Taylor trug an diesem Morgen ein anthrazitfarbenes Geschäftskostüm und schenkte uns ein freundliches, aber distanziertes Lächeln.

»Sie können gleich zum Chef durchgehen. Aber nehmen Sie sich einen Kaffee mit, die Besprechung wird vielleicht länger dauern.«

»Sehr fürsorglich von Ihnen, Dorothy«, scherzte Phil, worauf die junge Farbige nicht einging. Wir versorgten uns jedenfalls an der modernen Espressomaschine mit Kaffee und betraten dann das Büro von Mr High.

Der Chef nickte uns zu und deutete mit seiner schmalen Hand auf die Besprechungsecke. Nachdem wir Platz genommen hatten, kam er sofort zur Sache.

»Ich muss Ihnen wohl nicht erläutern, wer Jake Brennan gewesen ist.«

Ich schüttelte den Kopf. »Das ist wirklich nicht notwendig, Sir. Jedes Kind in Amerika wird schon einmal von dem Ninti -Vorstandsvorsitzenden gehört haben.«

»Allein schon, weil in fast jeder Familie regelmäßig bei Ninti bestellt wird«, ergänzte Phil. »Es gibt nichts, was dieser Online-Versender nicht im Angebot hat. Ich gebe zu, dass ich dort auch Kunde bin, obwohl Jake Brennan eine umstrittene Persönlichkeit war.«

»Das kann man wohl sagen«, bestätigte Mr High. »Laut Wall Street Journal soll Brennan der fünftmächtigste Mann unseres Landes gewesen sein. Er hat sein Unternehmen von einem kleinen Garagenbetrieb zu einem Weltkonzern gemacht. In gewisser Weise verkörperte Brennan den amerikanischen Traum. Sie können also die Dimensionen erahnen, die der Mordanschlag auf Brennan hat.«

»Zumal er auch noch im Ausland stattfand«, stellte ich fest. »Aber mir sind bisher nur die TV-Berichte bekannt. Dort hieß es, dass Brennan gestern Abend in Dublin gegen 21 Uhr Ortszeit beim Verlassen seines Hotels getötet wurde. Und zwar mit einem einzigen Schuss in den Kopf. Seine Leibwächter konnten ihn nicht schützen. Die Fahndung nach einem oder mehreren Verdächtigen soll bisher ergebnislos verlaufen sein.«

Mr High nickte. »Gerade weil Brennan einer der bekanntesten und auch verhasstesten Amerikaner war, will die irische Regierung das FBI in die Ermittlungen einbinden. Der Justizminister Irlands hat seinen Amtskollegen in Washington angerufen und um Unterstützung gebeten. Auf diese Weise kam das FBI ins Spiel. Und ich möchte Ihnen diese Aufgabe übertragen, Jerry und Phil. Fliegen Sie gemeinsam mit Ihrem Scientific Research Team nach Dublin und unterstützen Sie die irische Polizei bei der Aufklärung des Verbrechens.«

»Was wollte Brennan eigentlich in der irischen Hauptstadt?«, fragte Phil.

»Dort befindet sich die europäische Zentrale von Ninti . Dieser Konzern ist ja inzwischen in über 50 Ländern der Erde aktiv. Oftmals nutzt Brennan Gesetzeslücken oder konstruiert windige Steuersparmodelle, um den Profit zu maximieren. Außerdem legt er sich oftmals mit lokalen Gewerkschaften an, weil er im Ruf steht, miserable Löhne zu zahlen. Nicht nur in den Staaten, sondern auch in anderen Ländern hat es bereits öfter Mordkomplotte gegen ihn gegeben. Er war für ganz unterschiedliche Gruppen eine Zielscheibe des Hasses.«

»Mit anderen Worten: Wir können uns über einen Mangel an Verdächtigen nicht beklagen«, stöhnte Phil.

»Ich bin sicher, dass Sie auch diese Aufgabe mit Bravour meistern werden«, sagte der Chef mit einem feinen Lächeln.

***

Ich übernahm es, unser Team von dem Einsatz zu verständigen. Dr. Gerold M. Willson, Dr. Mai-Lin Cha und ihre Kollegen arbeiteten schließlich normalerweise in Quantico, wo sich ihre Laboratorien befanden. Von dort aus mussten sie erst zum Dulles International Airport von Washington fahren.

Ich rief Dr. Willson an, der so etwas wie der inoffizielle Leiter des Teams war. Er wollte die Information sofort weiterleiten. Phil und ich verabredeten uns mit dem Team in der Abflughalle. Dorothy Taylor hatte die Reiseabteilung dazu gebracht, noch für denselben Abend Flüge für uns zu buchen.

Phil und ich begrüßten die Spezialisten, die inzwischen auch über das Ziel unserer Mission informiert worden waren.

Natürlich verfolgten wir weiterhin die Nachrichten, aber FBI-Ermittlungen stützen sich nicht auf Medienberichte. Wir wollten so schnell wie möglich mit den einheimischen Beamten sprechen, in deren Händen die bisherigen Ermittlungen lagen.

Doch wenn man den TV-Stationen auch nur halbwegs glauben durfte, war die Lage verfahren. Angeblich gab es noch keinen einzigen Verdächtigen, obwohl die Tat mitten in einer belebten Innenstadtgegend der irischen Hauptstadt geschehen war. Es lag auch kein Bekennerschreiben einer politischen Gruppe vor, aber das musste nichts bedeuten.

»Entweder ist die irische Polizei besonders unfähig oder der Täter ist verflixt clever«, seufzte Dr. Willson, nachdem wir den Sicherheitscheck überstanden hatten und im Flugzeug Platz nahmen. Unsere Waffen durften wir aufgrund einer Ausnahmegenehmigung der irischen Regierung bei dem Auslandseinsatz mitführen. Allerdings wurden sie während des Fluges in einem Tresor eingeschlossen.

»Ich denke nicht, dass die irischen Kollegen inkompetent sind«, sagte ich. »Das Opfer war ein Mann, dem schon öfter nach dem Leben getrachtet wurde. Ich habe einmal gelesen, dass die Sicherheitsmaßnahmen am Ninti -Hauptsitz Chicago umfassend sind. Brennan wurde bewacht wie die britischen Kronjuwelen. In Chicago konnte man also nicht gut an ihn herankommen. Womöglich hat der Attentäter seine Chance genutzt, als Brennan ins Ausland flog.«

»Solange wir nicht mehr Informationen als die Journalisten haben, können wir auch nicht tiefschürfend ermitteln«, stellte Mai-Lin ernsthaft fest. Willson reagierte auf die Bemerkung der hochbegabten Mathematikerin mit einem breiten Grinsen.

»Ich wünschte, ich hätte so viel auf dem Kasten wie Sie.«

Die zierliche Asiatin schaute den Mediziner und Forensiker verständnislos an.

»Ich halte Ihren Intelligenzquotienten für mehr als ausreichend. Das FBI würde Sie andernfalls nicht mit Ihren verantwortungsvollen Aufgaben betrauen.«

Der Texaner fiel in sich zusammen wie ein Hefekuchen, der nicht aufgeht.

»Diese Drachenlady versteht wirklich nicht den kleinsten Spaß«, murmelte er halblaut vor sich hin. Aber es stimmte natürlich, dass wir uns zunächst den Tatort anschauen und mit der örtlichen Polizei sprechen mussten.

Phil blickte von seinem Laptop auf, mit dem er kurz vor dem Abflug noch gearbeitet hatte.

»In den sozialen Netzwerken ist der Teufel los, Jerry. Es kursieren schon die irrsinnigsten Verschwörungstheorien darüber, wer für Jake Brennans Tod verantwortlich ist. Teilweise beschuldigen sich radikale Gruppen gegenseitig. Außerdem finde ich es erschreckend, wie hämisch sein Ende teilweise kommentiert wird. Man kann ja über die Firmenpolitik von Ninti geteilter Meinung sein. Aber durch einen eiskalten Mord wird man daran gewiss auch nichts ändern.«

Das war auch meine Meinung. Aber die heftigen Reaktionen zeigten uns, dass wir diesen Fall wirklich so schnell wie möglich aufklären mussten. Vorher würde keine Ruhe einkehren.

***

Nach siebenstündigem Flug landete unsere Maschine morgens auf dem Dublin Airport. Als wir die Sicherheitsschleuse hinter uns gebracht hatten, kam eine junge uniformierte Polizistin auf uns zu. Sie war blond, sommersprossig und hatte ein sympathisches Lächeln.

»Willkommen in der Republik Irland! Glauben Sie bitte nicht, Sie würden hier nur von einer einfachen Garda empfangen. Detective Rafferty musste noch einen Anruf entgegennehmen und wird gleich zu uns stoßen. Mein Name ist übrigens Eileen Fain.«

Ich gab ihr die Hand.

»Ich bin Inspektor Jerry Cotton, Officer Fain.«

Ihr süßes Lächeln wurde noch breiter.

»Garda, bitte, nicht Officer. In Irland ist ein Polizist ein Garda, Mehrzahl Gardai. Das ist ein gälisches Wort.«

Sie drehte sich wie eine Tänzerin um die eigene Achse, und wirklich prangte das Wort Garda unübersehbar auf ihrem Uniformrücken. Bevor wir noch weiter über Besonderheiten der irischen Ordnungskräfte sprechen konnten, kam ein Mann in einem Tweedanzug herangehetzt. Er war rothaarig und wirkte auf den ersten Blick sehr jung, doch die Falten um seine Augen passten nicht zu diesem Eindruck.

»Ich bin Detective Sean Rafferty. Entschuldigen Sie bitte die Verspätung.«

Nachdem sich jeder von uns selbst vorgestellt hatte, wurden wir zunächst zu unserem Hotel gebracht. Doch dort stellten wir nur unser Gepäck ab, denn wir waren ja nicht zum Vergnügen nach Irland gereist.

Wenig später saßen wir schon im Garda Headquarter, wo wir Chief Superintendent Richard Hoover vorgestellt wurden. Er war ein schwerer Mann von Mitte fünfzig und wischte sich pausenlos den Schweiß von der Stirnglatze.

»Wir sind wirklich froh, dass Sie uns beistehen, Inspektor Cotton. Ich bekomme enormen Druck von der Regierung. Manche Oppositionspolitiker meinen, dass uns Iren der Mord überhaupt nichts anginge. Der Killer sei angeblich ein Amerikaner, und das Opfer ja ohnehin. Die Tat hätte also nur rein zufällig auf unserem Staatsgebiet stattgefunden.«

»Wer so etwas behauptet, hat entweder eine blühende Fantasie oder hält Beweise zurück«, stellte ich fest. »Wir haben noch überhaupt keine Theorie. Falls wir Hinweise auf einen amerikanischen Täter finden, sieht die Sache schon anders aus. Wir müssen die Fakten sichten, um ermitteln zu können.«

Der Chief Superintendent nickte gedankenverloren und versprach, uns die Presse und die Politiker so gut wie möglich vom Hals zu halten. Detective Rafferty ließ Tee servieren und bat uns in einen Besprechungsraum, wo er einen Beamer in Gang setzte.

Zunächst war ein Foto von einem Gebäude im viktorianischen Stil zu sehen.

»Sie sehen hier das Fenway Hotel im Herzen von Dublin«, erklärte Rafferty. »Jake Brennan stieg immer dort ab, wenn er unser Land besuchte. Für ihn wurde dann stets die Excelsior Suite gebucht. Der Vorstandsvorsitzende hat sich mehrmals im Jahr persönlich über die Geschäfte der europäischen Niederlassungen informiert.«

»Wir haben es also mit einem Verhaltensmuster zu tun«, warf ich ein. »Der Attentäter konnte davon ausgehen, dass er Brennan im Fenway Hotel antreffen würde. Ist eigentlich schon geklärt, ob es sich um einen oder mehrere Täter handelt?«

»Darauf komme ich später zu sprechen, Inspektor Cotton. Auf jeden Fall verließ Jake Brennan um 21.02 Uhr vorgestern Abend zusammen mit seinen beiden Bodyguards Rick Connor und Anthony Vanetti das Hotel. Der Abstand zu seinem wartenden Rolls Royce betrug nur wenige Meter. Doch bevor Brennan in den Wagen steigen konnte, fiel der Schuss. Seine Leibwächter schirmten den Getroffenen sofort ab, aber der Täter feuerte nicht noch einmal. Brennan war sofort tot, aber davon werden Sie schon gehört haben.«

»Was ist mit den beiden Bodyguards? Haben Sie deren Biografien schon durchleuchtet?«, fragte ich.

»Nein, dazu sind wir noch nicht gekommen. Außerdem sind sowohl Connor als auch Vanetti amerikanische Staatsbürger.«

»Ich werde die Biografien der Männer durchleuchten«, bot Mai-Lin sofort an. »Insbesondere werde ich dabei ihr Umfeld berücksichtigen.«

Der Ire nickte unserer Informatikerin dankbar zu. Ich stellte weitere Fragen.

»Konnte jemand das Mündungsfeuer sehen? Gab es Zeugen, denen der Schütze aufgefallen ist? Konnte schon ermittelt werden, von wo aus gefeuert wurde?«

Der irische Kollege blickte in seine Aufzeichnungen.

»Meine Leute befragen noch zahlreiche mögliche Zeugen, die zu dem Zeitpunkt unterwegs waren. Aber leider gibt es auch zahlreiche Wichtigtuer, die zum Tatzeitpunkt überhaupt nicht in der Nähe des Tatortes waren. Solche Menschen stehlen uns wertvolle Zeit.«

»Das Problem kennen wir«, meinte Phil verständnisvoll. »Also hat niemand gesehen, von wo aus geschossen wurde?«

»Das nicht, aber wir haben die Position des Schützen trotzdem ermitteln können. Sie wollen sich gewiss später selbst vor Ort ein Bild machen. Einstweilen zeige ich Ihnen dieses Foto.«

Rafferty drückte eine Taste des Beamers, und das Hotelfoto wurde gegen die Aufnahme eines Bürogebäudes ausgetauscht.

»Dieses Haus wird Lancaster Building genannt. Es wurde im Art-déco-Stil errichtet und wird momentan von Grund auf saniert, wie Sie an den Verschalungen und Gerüsten erkennen können. Es sind auch zahlreiche Plastikplanen gespannt, damit sich der Staubflug bei Arbeiten mit schwerem Gerät in Grenzen hält.«

»Ein idealer Standort für einen Heckenschützen«, stellte Phil trocken fest. »Wird das Gebäude zurzeit benutzt?«

»Nein, das ist nicht möglich. Es gibt dort noch nicht einmal Strom und Wasser. Aber das Lancaster Building wird natürlich bewacht, sobald die Bauarbeiter Feierabend machen. Den Wächter hat der Attentäter niedergeschlagen. Der Mann liegt im Krankenhaus, ist aber nicht lebensbedrohlich verletzt. Wir werden ihn vernehmen, sobald der Arzt grünes Licht gibt.«

»Könnte er mit dem Täter unter einer Decke stecken?«, fragte ich. »Hat er sich vielleicht nur zur Tarnung ausknocken lassen?«

»Jedenfalls hat der Wachposten kein Vorstrafenregister, aber wir überprüfen ihn natürlich«, gab Rafferty zurück. »Seine Kopfverletzung ist allerdings zu schwer, um nur vorgetäuscht zu sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich jemand von seinem Komplizen derartig hart schlagen lässt. Der Wächter wurde offenbar von hinten überrumpelt, und eine Waffe hatte er auch nicht.«

Ich massierte mir nachdenklich die Schläfen. Ein einziger unbewaffneter Wachposten für ein sechsstöckiges Gebäude in einer so zentralen City-Lage? Es war, als ob der irische Kollege meine Gedanken gelesen hätte.

»Es mag Ihnen leichtsinnig vorkommen, dass die Baufirma für so wenig Sicherheit gesorgt hat, Inspektor Cotton. Aber Dublin ist nicht Washington oder New York City. Zwar haben auch wir mit einer steigenden Kriminalität zu kämpfen, aber an Ihre amerikanischen Deliktzahlen kommen wir noch lange nicht heran. Außerdem hatten wir Jake Brennan angeboten, Polizeikräfte zu seinem Schutz abzustellen. Aber er hat sich lieber auf seine eigenen Leibwächter verlassen. Offenbar hielt er nicht viel von unseren Fähigkeiten.«

»Oder er wollte sich nicht in die Karten schauen lassen«, schlug ich vor. »Es ist ja ein offenes Geheimnis, dass Brennans Geschäftspraktiken fragwürdig waren. Und wenn er wirklich gegen Gesetze verstoßen hat, dann konnte er keine Polizisten gebrauchen, die ihm auf die Finger sehen.«

***

Nach dieser kurzen Vorbesprechung fuhren wir zum Tatort. Eileen Fain hatte sich hinter das Lenkrad des BMW X5 geklemmt, in dem Phil und ich saßen. Das Scientific Research Team wurde von Brennan in einem Volvo XC 70 kutschiert. Beide Autos gehörten zum Standard-Fuhrpark der irischen Polizei, wie wir nun erfuhren. Da in Irland Linksverkehr herrscht, war ich nicht unglücklich darüber, nicht selbst fahren zu müssen. Außerdem kannte ich mich in der Stadt nicht aus.

»Sind Sie in Dublin aufgewachsen, Garda Fain?«, fragte ich. Die Polizistin schüttelte den Kopf.

»Ich stamme aus der Provinz, aus Cork. Dublin hat sich in den letzten Jahren rasant entwickelt, inzwischen haben hier viele internationale Unternehmen ihren Sitz. Ninti ist nur ein Beispiel dafür. Aber es gibt auch immer noch die Elendsviertel und die alte irische Unterwelt mit ihren Verbrechertraditionen.«

»Auf mich wirkt die Stadt mit ihren vielen historischen Gebäuden sehr nostalgisch«, meinte Phil.

»Das war aber nicht der Grund, weswegen Jake Brennan seine Europa-Zentrale hier errichtet hat, Inspektor Decker. Ich bin zwar nur eine kleine Garda, aber ich erkenne einen Ganoven, wenn ich ihn sehe. Und Brennan war einer.«

Ich schaute zu der jungen Frau hinüber.

»Sie haben Jake Brennan persönlich kennengelernt?«

»Ja, ein einziges Mal. Das hat mir aber vollkommen ausgereicht. Wir wurden zu einem Einsatz gerufen, weil ein Mitarbeiter im Ninti -Hauptgebäude durchdrehte und mit Selbstmord drohte. Brennan war an dem Tag zufällig gerade aus den Staaten herübergekommen. Er wollte sich den Verzweifelten ›vorknöpfen‹, wie er es nannte. Dabei war schon unser Psychologe an ihm dran. Ich versuchte also, Brennan zurückzuhalten. Da machte er mir deutlich, dass er von Frauen in Uniform überhaupt nichts hielt. Und er würde sich von mir nichts sagen lassen.«

»Wenn das Brennans allgemeine Einstellung war, dann ist er womöglich einmal an den falschen Widersacher geraten«, sagte Phil. »Wir sind uns ja wohl einig darüber, dass viele Menschen Brennan gehasst haben.«

»Ja, aber nicht jeder seiner Feinde ist in der Lage, ihn mit einem einzigen Schuss zu erledigen«, stellte ich fest. »Für mich trägt diese Tat die Handschrift eines Profis.«

In der Abbey Street herrschte auch noch fast zwei Tage nach dem Attentat heller Aufruhr. Die irischen Kollegen hatten sowohl den Gehsteig vor dem Hotel als auch das gegenüberliegende Bürogebäude abgesperrt.

Hinter den Trassierbändern drängten sich die Schaulustigen, obwohl es schon lange nichts mehr zu sehen gab. Natürlich wurde der Tatort auch von der internationalen Presse belagert. Wir sahen mehrere Reporter in Mikrofone sprechen, während die Kameralinsen auf sie gerichtet waren.

Die sterblichen Überreste des Opfers befanden sich bereits im gerichtsmedizinischen Institut. Die Kugel war sichergestellt worden und wurde bereits kriminaltechnisch untersucht, wie ich nun erfuhr.

Doch unsere Spezialisten wollten sich einen eigenen Eindruck verschaffen. Eileen Fain und Sean Rafferty lotsten uns durch die Absperrung in das Bürogebäude, das im Prinzip eine riesige Baustelle war. Auf jedem Stockwerk standen und lagen Arbeitsgeräte und Material herum. Die Fensterrahmen waren schon herausgeschlagen worden, die Löcher wurden nur notdürftig durch im Wind flatternde Planen abgedeckt.

»Hier gibt es ideale Versteckmöglichkeiten für einen Schützen«, stellte ich fest. Detective Brennan nickte.

»Wir haben vermutlich die Stelle entdeckt, von der aus gefeuert wurde. Folgen Sie mir bitte.«

Er führte uns hoch ins vierte Stockwerk. Dort war ein kleines Areal von etwa drei Quadratyard extra abgesperrt worden. Mit neongelber Farbe waren zwei Fundorte eingekreist worden. Ich deutete auf die Stelle.

»Was haben Sie dort entdeckt?«

Der Detective zog zwei Fotos aus seiner Mappe. Auf dem einen Bild war eine Patronenhülse zu sehen. Und auf dem anderen ein dreiblättriges Kleeblatt.

***

Fortesque wurde sofort hellhörig, als es um die Patronenhülse ging. Unser Experte für ballistische Untersuchungen bat darum, das Beweisstück möglichst bald selbst untersuchen zu dürfen.

Rafferty sicherte es ihm zu. Ich selbst konzentrierte mich zunächst auf das Kleeblatt. Doch bevor ich etwas sagen konnte, setzte der Detective zu einer Erklärung an.

»Wie Sie wissen werden, ist das Kleeblatt ein nationales Symbol unseres Landes. Daher vermute ich, dass der Attentäter das Kleeblatt nicht versehentlich neben der Patronenhülse zurückgelassen hat. Für mich ist das eine klare politische Botschaft.«

»Und wie könnte diese lauten?«

»Brennan war ein Amerikaner, Inspektor Cotton. In Irland sind nicht alle Menschen begeistert davon, dass internationale Konzerne immer mehr an Boden gewinnen. Und ein Online-Versender wie Ninti ist nicht überall beliebt, das werden Sie wissen. Die Geschäftsmethoden von Brennan waren seit Jahren umstritten.«

»Sie meinen also, ein Fanatiker könnte Brennan auf dem Gewissen haben?«, hakte ich nach. Der Ire nickte eifrig.

»Ich habe sogar schon eine bestimmte Person im Visier. Der Mann heißt Paddy O’Neal und betreibt seit Monaten in den sozialen Netzwerken eine Hetzkampagne gegen Ninti . Und dabei hatte er sich besonders auf Brennan eingeschossen.«

»Und Sie meinen, jetzt geht er nicht mehr mit Worten, sondern mit Kugeln gegen Brennan vor?«

»Ja, Inspektor Cotton. O’Neal ist ein Nationalist, er will keine amerikanischen Firmen auf irischem Boden haben. Außerdem ist er ein begeisterter Sportschütze, hat sogar schon ein paar Wettbewerbe gewonnen. Es wäre ihm also zuzutrauen, mit einer guten Waffe auf diese Distanz einen Menschen zu töten.«

Der Detective trat an die leere Fensterhöhle, vor der ein Stück Plastikplane im Wind flatterte. Ich kniff ein Auge zu und stellte mir vor, über Kimme und Korn den Hoteleingang anzuvisieren. Rafferty hatte recht: Ein Scharfschütze konnte auf noch viel größere Entfernungen einen präzisen Schuss ins Ziel bringen.

Ich verteilte zunächst die Aufgaben. Willson und Fortesque sollten die einheimischen Spezialisten bei der Sichtung möglicher DNA-Spuren und anderer Tatort-Überreste unterstützen, außerdem musste auch die Patronenhülse untersucht werden.

Mai-Lin hatte sich schon bereit erklärt, gemeinsam mit der Wirtschaftswissenschaftlerin Concita Mendez gründlich die Geldströme und Finanzbeziehungen von Ninti Europa unter die Lupe zu nehmen. Wo es um viel Geld ging, war ein Menschenleben nicht viel wert. Außerdem konnten gutbetuchte Auftraggeber problemlos einen hochkarätigen Profikiller anheuern.

»Ich habe übrigens in der Zwischenzeit die beiden Bodyguards überprüft«, berichtete die Informatikerin. »Beide stehen seit Jahren in Brennans Diensten. Ihre Finanzen sind unauffällig, und keiner von ihnen hat Verbindungen zum organisierten Verbrechen, soweit sich das beurteilen lässt. Wir müssen sie nicht gänzlich von der Liste unserer Verdächtigen streichen, sollten sie aber nach hinten rutschen lassen.«

Ich nickte Mai-Lin zu und bedankte mich. Momentan hatten wir einen anderen Hauptverdächtigen, den ich mir gerne persönlich vorknöpfen wollte.

***

Paddy O’Neal war mehrfach vorbestraft, unter anderem wegen Körperverletzung und Beamtenbeleidigung. Die Gardai hatten daher eine Strafakte angelegt. Offenbar war der Nationalist ein Mann mit festen Gewohnheiten. Zumindest diese Eigenschaft hatte er mit seinem möglichen Opfer Brennan gemeinsam.

»Ich habe gerade mit der zuständigen Revierwache telefoniert«, sagte Detective Rafferty, als wir ins Headquarter zurückgekehrt waren. »Angeblich können wir O’Neal um diese Tageszeit in einer Snooker Hall finden.«

Wir machten uns sofort auf den Weg. Phil und ich wurden von Detective Rafferty und Garda Fain begleitet, während unser Team bereits an den jeweiligen Aufgaben zu arbeiten begann.

Der Verdächtige lebte in Ballyfermot, einer öden Vorstadt zwischen Bahngleisen und dem Grand Canal. Die Häuser machten einen heruntergekommenen Eindruck. Hier war vom irischen Wirtschaftsaufschwung der vergangenen Jahre nichts zu bemerken. Die Snooker Hall befand sich in der Kylemore Road.

»Was macht der Verdächtige eigentlich beruflich?«, fragte ich den Detective, während wir vom Parkplatz zu unserem Zielort gingen.

»O’Neal hat mal als Anstreicher gearbeitet, ist aber schon länger ohne Job.«

»Sonst könnte er wohl nicht um die Mittagszeit Billard spielen«, meinte Phil.

In der Spielhalle wurde laut geredet und gelacht. Doch als wir den großen rechteckigen Raum betraten, herrschte plötzlich Totenstille.

Sechs oder sieben Männer hatten sich um die Tische gruppiert. Viele von ihnen hielten Queues in den Händen. Die Kerle trugen T-Shirts oder Polohemden. Ihre Schädel waren kurzgeschoren, die Arme tätowiert. Obwohl kein Wort gesagt wurde, konnte man die aggressive Stimmung beinahe mit Händen greifen. Misstrauische und hasserfüllte Blicke trafen uns.

»Was wollt ihr verdammten Bullen denn hier?«, knurrte ein Glatzkopf mit dunklen Pupillen. Das war O’Neal, so hatte der irische Kollege ihn uns beschrieben. Er warf einen verächtlichen Blick auf Eileen Fains Uniform. Detective Rafferty präsentierte seinen Dienstausweis, und wir ließen unsere FBI-Marken aufblitzen.

»Wir wollen mit Ihnen plaudern, O’Neal«, sagte der Detective. »Und ich glaube nicht, dass wir Sie von einem wichtigen Vorstellungsgespräch abhalten. Also werden Sie jetzt etwas Zeit für uns erübrigen müssen. Mein Name ist übrigens Sean Rafferty, das ist Garda Eileen Fain. Und die Gentlemen sind die Inspektoren Jerry Cotton und Phil Decker vom FBI.«

»Yankees?«, sagte O’Neal verächtlich und schaute mir direkt ins Gesicht. »Meinetwegen rede ich mit Ihnen und mit der Tussi, Rafferty. Ihr seid ja wenigstens Iren. Aber die Amerikaner sollen aus unserer Snooker Hall und am besten aus unserem Land verschwinden.«

Der Kerl wollte provozieren, aber darauf ging ich nicht ein. Bevor Rafferty etwas erwidern konnte, trat ich einen Schritt auf O’Neal zu. Er konnte mich nicht beeindrucken, mit solchen Maulhelden habe ich schon oft genug zu tun gehabt.

»Sie werden unsere Anwesenheit ertragen müssen, solange der Mord an Jake Brennan nicht aufgeklärt ist. Wie ich höre, haben Sie im Internet kräftig Stimmung gegen das Unternehmen Ninti und gegen Jake Brennan persönlich gemacht.«

Ich konnte spüren, wie sehr der Nationalist die Situation genoss. Alle Augen waren jetzt nämlich auf ihn gerichtet. Typen wie er müssen immer im Mittelpunkt stehen. Und er tat alles, damit es auch so blieb.

»Stimmt genau, FBI-Schnüffler. Ich finde es widerlich, dass Ninti sich auf irischem Boden breitmacht. Ich würde sagen, Jake Brennan hat bekommen, was er verdiente.«

Zustimmendes Gemurmel ertönte. Mir war ohnehin klar, dass O’Neal auf die Unterstützung durch seine Kumpane zählen konnte. Aber dadurch ließen wir uns nicht beirren oder einschüchtern. Trotzdem behielt ich die Lage im Auge. Mir war nämlich nicht entgangen, dass sich mehrere der Kerle seitwärts bewegten.

Wenn wir nicht aufpassten, würden sie uns einkreisen. Und sie waren zahlenmäßig auf jeden Fall überlegen.

»Wo waren Sie am 1. September gegen 21 Uhr abends, O’Neal?«

Der Verdächtige zögerte einen Moment, bevor er meine Frage beantwortete. Er kniff die Augen zusammen und grinste mich breit an.

»Da habe ich Jake Brennan abgeknallt.«

O’Neals Freunde hielten den Atem an. Ihre Blicke verrieten mir, dass diese Aussage auch für sie eine Neuigkeit war. Aber ihre Reaktion ließ an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig.

Ich fand es widerlich, dass zwei von ihnen dem Verdächtigen nun anerkennend auf die Schulter klopften. Glaubte der Mörder wirklich, sich inmitten seiner Fans sicher fühlen zu können?

Rafferty ergriff nun das Wort.

»Okay, O’Neal. Wenn das so ist, dann sollten wir dieses Gespräch im Garda Headquarter fortsetzen.«

»Dafür müsst ihr erst einmal lebend hier herauskommen, Bulle«, rief ein Kerl im blauen Polohemd drohend und holte mit seinem Billardqueue aus.

Aber ich hatte schon vorausgesehen, dass es Ärger geben würde. Ich zog meine Glock 22 und ließ den Provokateur in die Mündung starren. Er war nur eine Armeslänge von mir entfernt.

»An Ihrer Stelle würde ich das Queue fallen lassen. Und zwar sofort!«

Der Mann musste meine Entschlossenheit gespürt haben. Auf jeden Fall erbleichte er und trat instinktiv einen Schritt zurück. Klappernd ging das Queue zu Boden. Auch Phil hatte seine Pistole gezogen und hielt damit ebenfalls den Mob in Schach.

Rafferty holte ein Funkgerät aus der Tasche.

»Ihr habt die Wahl, Männer. Entweder lasst ihr uns mit O’Neal abziehen. Dann könnt ihr weiter Snooker spielen. Oder ich habe in fünf Minuten die Armed Support Unit hier. Und dann wird es für euch ungemütlich. Eine Nacht in der Arrestzelle ist euch in dem Fall sicher. Vielleicht auch noch eine Anklage wegen Beihilfe zum Mord oder Vertuschung einer Straftat.«

Die Freunde des Verdächtigen fluchten leise, unternahmen aber einstweilen nichts. Sie versuchten keine weitere Attacke. Phil und ich blieben trotzdem wachsam, während Rafferty O’Neals Taschen durchsuchte und den Inhalt sicherstellte. Eileen Fain legte dem Nationalisten Handschellen an. Darauf schien er nur gewartet zu haben.

»Es lebe das freie Irland!«, rief O’Neal, als wir ihn nach draußen führten. Seine Kumpane applaudierten, aber das konnten sie meinetwegen tun. Typen wie er müssen immer das letzte Wort haben.

***

Während O’Neal zunächst erkennungsdienstlich behandelt wurde, machten Phil und ich gemeinsam mit den irischen Kollegen in der Headquarter-Kantine Mittagspause. Eigentlich hätten wir uns über den schnellen Erfolg und die unblutige Verhaftung freuen sollen. Aber die Sache gefiel mir trotzdem nicht. Man musste mir meine nachdenkliche Stimmung offenbar angesehen haben.

Phil schaute von seinem Teller auf. »Ich kenne dich, Jerry. Dir geht irgendetwas gegen den Strich, nicht wahr?«

Ich nickte. »Wenn O’Neal bei seinem Geständnis bleibt, dann ist alles in Ordnung. Nach einem Motiv müssen wir bei ihm nicht lange suchen. Seine hasserfüllten Blog-Einträge in den sozialen Medien sprechen für sich. Aber es wäre gut, wenn wir ihm den Mord auch aufgrund von Indizien nachweisen könnten.«

»Wieso das denn?«, fragte Eileen Fain verständnislos und fuhr sich durch ihr kurzgeschnittenes Haar. »Ich dachte immer, ein Geständnis des Verdächtigen wäre das Beste, was einem Ermittler passieren kann.«

Sie war offensichtlich sehr stolz auf den Verhaftungserfolg und wollte sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen.

»Normalerweise ist das auch so«, gab ich zurück. »Aber im Fall von Paddy O’Neal bin ich misstrauisch. Wenn er den Mord wirklich begangen hat, wird er auch die Tatwaffe noch irgendwo versteckt haben. Präzisionsgewehre sind teuer, die wirft man nicht einfach weg. Außerdem kann man bei einem politischen Extremisten wie O’Neal weitere geplante Morde nicht ausschließen, und dafür braucht er natürlich auch eine Waffe.«

Die junge Garda zuckte die Schultern und widmete sich wieder ihrem Irish Stew. Eileen Fain war gewiss enttäuscht, weil ich über den schnellen Fahndungserfolg nicht so begeistert war.

Nach dem Essen kam Fortesque zu uns.

»Ich habe das Vergnügen, Ihnen die ersten Ergebnisse der ballistischen Untersuchung präsentieren zu können. Die sichergestellte Patronenhülse weist das Kaliber 7,65 mm auf. Es handelt sich um Standardmunition, wie sie beispielsweise beim Scharfschützengewehr M40A3 benutzt wird.«

»Das ist eine Waffe des US Marine Corps«, stellte Phil fest. »Dieses Gewehr würde auf einen Amerikaner als Täter hindeuten.«

»Nicht unbedingt«, widersprach Dr. Fortesque. »Vergessen Sie nicht, dass Irland Mitglied der NATO ist. Es gibt also Verbindungen zwischen irischem und US-Militär. Außerdem werden selbst Kriegswaffen in der heutigen Zeit problemlos über viele Landesgrenzen geschmuggelt.«

»Das stimmt«, gab Phil zu. »Außerdem müssen wir bei O’Neal davon ausgehen, dass er Verbindungen zum organisierten Verbrechen hat. Dadurch ist es einfach, an solche Waffen zu kommen. Der Kerl macht mir doch einen sehr halbseidenen Eindruck.«

»Es wird Zeit für ein erstes Verhör mit O’Neal«, stellte ich fest. »FGF, Sie knien sich weiter in die Spurensicherung?«

»Selbstverständlich, Jerry. Verlassen Sie sich ganz auf mich. Es gibt da einige DNA-Reste, die den irischen Kollegen Probleme bereiten. Ich will sehen, ob ich hilfreich sein kann.«

Der Verdächtige wurde in einen Befragungsraum geschafft. Das Verhör wurde von Sean Rafferty geführt. Phil und ich waren dabei und durften Fragen stellen. Aber wir hatten uns natürlich zuvor mit dem irischen Kollegen abgesprochen.

Der Detective belehrte den Nationalisten über seine Rechte, aber O’Neal winkte gelangweilt ab.

»Ich kenne das alles, habe schließlich schon mehrfach gesessen. Was wollt ihr Clowns überhaupt noch von mir? Ich habe doch schon gestanden, reicht euch das nicht?«

Rafferty ließ sich von O’Neals anmaßender und unverschämter Art nicht beirren.

»Erzählen Sie uns doch etwas über die Tatwaffe.«

Der Verdächtige zuckte die Schultern.

»Wozu? Die Kugel traf ihr Ziel, das reicht doch wohl.«

»Wohin genau haben Sie geschossen, O’Neal?«

Der Verbrecher nagte an seiner Unterlippe. Er ließ sich mit der Antwort erstaunlich lange Zeit. Und den Grund dafür kannte ich nur allzu gut.

In den Medien war von einem Kopfschuss die Rede gewesen. Aber Details über die Kugel oder die Eintrittswunde hatten die irischen Kollegen bisher nicht veröffentlicht. Und das aus gutem Grund: Nur der Täter, der Notarzt sowie wenige Zeugen und Polizisten konnten mit Bestimmtheit sagen, wo die Kugel eingeschlagen war.

»Müssen Sie so lange überlegen?«, warf ich ein. »Und das, obwohl Sie nur einen Schuss abgefeuert haben?«

»Klappe, FBI-Schnüffler! Ich habe Brennan das Ding in die Stirn gehauen, kapiert? Sein Schädel platzte wie eine überreife Tomate.«

Rafferty schlug eine Mappe auf und zeigte einige Fotos von Brennans sterblichen Überresten.

»Das ist aber seltsam, O’Neal. Schauen Sie genau hin. Die Stirn ist unversehrt, weil das Geschoss durch das linke Auge ins Gehirn drang. Sie sollen ja ein guter Schütze sein. Aber gerade deshalb hätten Sie das auch merken müssen.«

»Ich war nervös«, behauptete der Verdächtige. »Ich habe aufs Geratewohl draufgehalten.«

Aber er war nun schon bedeutend kleinlauter geworden. Sein Kartenhaus aus Lügen begann bereits zu wanken. Phil sprang auf.

»Wissen Sie, was ich glaube? Ich denke, Sie wollten vor Ihren Freunden in der Snooker Hall angeben. Die Kerle teilen gewiss alle Ihre politischen Ansichten. Für Ihresgleichen sind Sie doch ein Held, wenn Sie den Vorstandsvorsitzenden eines US-Konzerns killen. Hinter Gittern würde man Sie als Märtyrer feiern.«

O’Neal grinste frech.

»Ich habe es getan. Beweisen Sie mir das Gegenteil.«

»Und was ist mit dem Kleeblatt?«, hakte Rafferty nach.

»Was für ein Kleeblatt?«, fragte der Verdächtige zurück. Im nächsten Moment sah man ihm an, dass er sich am liebsten auf die Zunge gebissen hätte. Nun wussten wir, dass O’Neal Jake Brennan ganz gewiss nicht erschossen hatte.

Auch das Kleeblatt war bisher gegenüber den Medien nicht erwähnt worden. O’Neal hatte sich nun endgültig als Wichtigtuer und Windbeutel entpuppt.

***

Doch der Beschuldigte blieb stur bei seiner Version. Er behauptete steif und fest, Jake Brennan aus Protest gegen die Ninti -Expansion in Irland erschossen zu haben. Wir beendeten das Verhör einstweilen, um nicht weitere Zeit zu verschwenden. Wir waren nun in der absurden Lage, seine Unschuld beweisen zu müssen.

Der Verdächtige würde bis zum Haftprüfungstermin in Arrest bleiben. Rafferty wollte einen Durchsuchungsbeschluss für O’Neals Apartment beantragen. Ich nahm den Detective beiseite.

»Es kann sicher nichts schaden, einen Typ wie O’Neal genauer zu durchleuchten. Aber wenn wir uns zu sehr mit ihm befassen, erkaltet die Spur des wahren Täters.«

Der Ire seufzte.

»Das fürchte ich auch, Inspektor Cotton. Aber momentan ist dieser Unglücksrabe unser einziger Verdächtiger. Die Zeugenaussagen sind widersprüchlich und wertlos. Den Schuss haben viele Menschen gehört, wobei die meisten von ihnen an eine Fehlzündung eines Automotors glaubten. Jedenfalls hat niemand den Täter nach dem Schuss fortlaufen sehen. Das ist allerdings auch kein Wunder, denn man kann die Baustelle auf vielen Wegen verlassen.«

»Was ist mit dem Wachmann?«

»Er ist inzwischen vernehmungsfähig, Inspektor Cotton. Garda Fain ist ins Hospital gefahren, um mit ihm zu reden. Oder wollen Sie selbst …?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Nein, das kann die junge Kollegin gut allein erledigen.«

Wir wollten Sean Rafferty und Eileen Fain nicht das Gefühl geben, zu Handlangern des FBI degradiert zu werden, die nicht eigenständig handeln dürfen. Außerdem machten sie ihre Arbeit sehr gut.

Ich fuhr fort: »Bisher haben wir angenommen, das Kleeblatt wäre als Nationalsymbol Irlands neben der Patronenhülse zurückgelassen worden. Aber mir ist eingefallen, dass in den Staaten das Kleeblatt auch als Erkennungszeichen von Gefängnis-Gangs dient.«

Phil schnippte mit den Fingern.

»Ja, genau! Wieso bin ich selbst nicht darauf gekommen? Solche Banden bilden regelrechte Bruderschaften, aus denen die Mitglieder nur durch ihren eigenen Tod wieder herauskommen. Womöglich hat sich Jake Brennan mit einer solchen Gang angelegt, ohne es zu wissen.«

»Er selbst kann jedenfalls kein Mitglied gewesen sein«, stellte ich fest. »Dafür muss man nämlich in einer amerikanischen Strafanstalt gesessen haben, und das trifft auf Jake Brennan nicht zu. Mai-Lin hat schon dementsprechend recherchiert. Bis auf ein paar Geschwindigkeitsübertretungen als junger Mann hat sich Brennan nie etwas zuschulden kommen lassen. Oder er wurde zumindest niemals verurteilt.«

»Wir müssen den Kreis der Verdächtigen erweitern«, schlug Phil vor. »Hatte Brennan eventuell hier in Irland eine Geliebte? Eifersucht ist immer ein starkes Motiv. Oder möglicherweise Rache, wenn er die Frau abserviert hat.«

»Darüber ist mir noch nichts bekannt«, räumte Rafferty ein. »Aber wir können das Hotelpersonal gezielt danach fragen.«

»Das wäre gut«, meinte ich. »Ansonsten sollten wir die wichtigsten Ninti -Mitarbeiter hier in Irland unter die Lupe nehmen. Aber dafür benötigen wir wieder unsere geniale Informatikerin.«

Wir gingen zu dem Arbeitsraum, in dem sich Mai-Lin und Concita Mendez während unseres Aufenthalts eingerichtet hatten. Die beiden Frauen blickten von ihren Computern auf. Sie waren eifrig mit dem Hintergrund-Check des Mordopfers beschäftigt.

»Jake Brennans Firmenkonstruktionen sind wirklich ein Fall für sich«, begann die Latina aus Puerto Rico. »Ich kann gar nicht sagen, ob Ninti dem amerikanischen oder dem irischen Staat mehr Steuern vorenthält. Er …«

Ich unterbrach die Wirtschaftswissenschaftlerin mit einer Handbewegung.

»Das ist interessant, aber momentan geht es uns um den Mordverdächtigen. Da gibt es möglicherweise neue Erkenntnisse.«

Ich erzählte den Kolleginnen von der möglichen Verbindung des unbekannten Mörders zu Gefängnis-Gangs. Mai-Lin tippte mit einem Bleistift gegen ihr Kinn.

»Ich verstehe Sie richtig, dass ich einen Datenabgleich zwischen US-Strafanstalten und den elektronischen Personalakten von Ninti Europa vornehmen soll?«

»Ja, wobei Sie sich auf die Mitarbeiter in Dublin beschränken können. Natürlich ist die Aufgabe trotzdem gewaltig genug. Dabei müssen Sie natürlich auch Querverbindungen berücksichtigen.«

»Die Schwierigkeit besteht in der eindeutigen Zuordnung von Strafgefangenen zu diesen Gefängnis-Gangs«, dozierte die Informatikerin. »Die Variablen sind unklar, denn das Anstaltspersonal wird nicht immer erkennen, ob ein Häftling wirklich zu einer Bande gehört. Also muss ich in meine Berechnungen einen Zufallsquotienten einbauen, der …«

Dr. Mai-Lin Cha fuhr noch einige Minuten lang fort, ohne dass wir ihr inhaltlich folgen konnten. Wir waren es von ihr gewöhnt, dass sie sich in ihren komplexen Gedankengebilden verlor. Aber da ihre Finger währenddessen schon über die Tastatur flitzten, hatte sie ihre Aufgabe offenbar verstanden. Sie würde sich melden, sobald sie eine Neuigkeit hatte.

Während sich Concita Mendez weiter mit dem möglichen wirtschaftskriminellen Hintergrund des Mordes befasste, kehrte Eileen Fain aus dem Krankenhaus zurück. Auch die irische Polizistin hatte Neuigkeiten.

»Der Wachmann machte einen glaubhaften Eindruck auf mich«, berichtete sie. »Er sagte aus, dass der Täter sich ihm lautlos genähert haben muss. Der Zeuge war früher selbst ein Garda und musste wegen eines Hüftleidens aus dem Dienst ausscheiden. Ich habe auch schon seinen Hintergrund gecheckt. Er hat keine Schulden, führt ein unauffälliges Leben. Nichts deutet darauf hin, dass er sich mit Kriminellen eingelassen hat.«

Ich nickte.

»Der Zeuge ist niedergeschlagen, aber nicht getötet worden. Der Täter hatte es also nur auf Jake Brennan abgesehen. Er hat genau gewusst, was er tat. Ein Profi neigt nicht zu übertriebener Gewaltanwendung. Vermutlich wurde das Hotel von dem Attentäter vorher ausspioniert. Er hat sich auf den Besuch von Brennan in Irland vorbereitet.«

»Dass Brennan hierherkommen wollte, ist kein Geheimnis«, ergänzte der Detective. »Diese Tatsache stand schon Wochen vorher auf der Homepage von Ninti Irland. Der Vorstandsvorsitzende wollte sein Personal vor Ort möglichst oft höchstpersönlich unter die Lupe nehmen. Das habe ich überprüft.«

Während der folgenden Stunden konzentrierten wir uns auf die Befragung des Hotelpersonals sowie der Gäste, die noch nicht abgereist waren. Die Arbeit war nervenaufreibend und brachte keine konkreten Ergebnisse. Währenddessen fand der Haftprüfungstermin von Paddy O’Neal statt.

Wie wir später erfuhren, beleidigte der Krawallbruder bei dieser Gelegenheit den Richter und blieb bei seiner Selbstbezichtigung als Brennan-Killer.

O’Neal legte es offenbar auf Biegen und Brechen darauf an, von seinesgleichen als Held gefeiert zu werden. Er war süchtig nach der zweifelhaften Popularität, die er dadurch bei seinen Anhängern gewann. Dafür nahm er es sogar in Kauf, unschuldig als Mörder hinter Gittern zu landen.

***

Am nächsten Morgen wurden Phil und ich von Eileen Fain zum Headquarter chauffiert. Die Stimmung war getrübt, denn wir hatten das Gefühl, mit den Ermittlungen schon nach kurzer Zeit in einer Sackgasse zu stecken.

Währenddessen standen die Medien Kopf. Am Vorabend hatte ich in meinem Hotelzimmer noch kurz durch die TV-Programme gezappt. Wie ich befürchtet hatte, waren einige von O’Neals Billardfreunden direkt zu den Zeitungen oder Fernsehstationen gerannt oder hatten in sozialen Netzwerken über seine Verhaftung berichtet. Einer von ihnen hatte hinter unserem Rücken sogar Fotos mit der Handykamera gemacht. Sie zeigten, wie O’Neal von uns in das Polizeifahrzeug verfrachtet wurde.

Die Öffentlichkeit schoss sich nun auf den Nationalisten als Täter ein. Mehrere selbsternannte Experten wurden interviewt, wie ich später hörte. Jeder von ihnen hielt sich für schlauer als das FBI und erläuterte, warum nur O’Neal und kein anderer geschossen haben konnte. Darüber hätte man nur lachen können, wenn die Jagd nach dem Täter nicht so ernst gewesen wäre.

Die junge Irin warf mir während der Fahrt einen Seitenblick zu. Ihre Stimme hörte sich skeptisch an.

»Wir stecken ziemlich fest, oder? Ich dachte immer, das FBI würde jeden Fall im Handumdrehen lösen.«

»Wir kochen auch nur mit Wasser, Garda Fain. Und es kommt zum Glück nicht so oft vor, dass wir uns mit einem falschen Geständnis herumärgern müssen.«

»Dann schließen Sie O’Neal also kategorisch als Täter aus?«

»Gestern Abend wurde sein Apartment noch durchsucht, wie Sie wissen. Wenn dabei die Tatwaffe gefunden wurde oder es andere Hinweise gibt, dann sieht die Sache schon anders aus.«

Aber das war nicht geschehen, wie sich später herausstellte. Es fanden sich auch keine Lagepläne oder Fotos des Lancaster Building . Nichts deutete auf eine Tatvorbereitung durch den Nationalisten hin.

Das SR-Team konnte hingegen schon mit Neuigkeiten aufwarten. Mai-Lin hatte vermutlich die halbe Nacht an ihrem komplizierten Datenabgleich gearbeitet. Und nun präsentierte sie uns das Ergebnis. Trotz der zurückhaltenden Art der zierlichen Asiatin konnte ich ihren Stolz deutlich spüren. Und der war auch berechtigt, wie ich fand.

»Es ist mir gelungen, eine verdächtige Person zu identifizieren. Der Mann heißt Kenneth Malloy. Er hat eine Haftstrafe in Louisiana abgesessen, wegen bewaffneten Raubüberfalls. Aufgrund guter Führung wurde er vorzeitig entlassen. Malloy gehörte zwar zu einer Gefängnis-Gang, war aber kein brutaler Schläger. Er hat seine Haftzeit benutzt, um sich weiterzubilden. Malloy absolvierte sogar im Fernstudium einige Semester Informatik.«

»Dann ist er ja fast ein Kollege von Ihnen«, scherzte Phil. Die Asiatin schüttelte den Kopf.

»Nein, das nicht. Er hat nämlich seinen Abschluss nicht gemacht beziehungsweise seine Qualifikation gefälscht. So konnte er problemlos dorthin gelangen, wo er sich jetzt befindet.«

Ich horchte auf.

»Wie meinen Sie das?«

»Malloy hat scheinbar alles getan, um sein altes Leben hinter sich zu lassen. Er hat sich sogar einer Gesichtsoperation unterzogen. Aber mit meiner neuesten Gesichtserkennungssoftware konnte ich ihn trotzdem identifizieren. Die biometrischen Daten sind nämlich nur zu einem kleinen Teil veränderbar.«

Mai-Lin drückte auf eine Taste. Auf ihrem Computerbildschirm erschien die Personalakte eines gewissen Tom Lewis. Die Informatikerin deutete auf das Bild.

»So sieht Kenneth Malloy heute aus. Er nennt sich Tom Lewis und ist mit einem falschen US-Pass in die Republik Irland eingereist. Er arbeitet seit sechs Monaten als Logistik-Supervisor für Ninti Europa. Und zwar hier in Dublin.«

»Und dieser Mann war früher in einer amerikanischen Gefängnis-Gang?«, fragte Eileen Fain verblüfft. Ich schüttelte den Kopf und stellte die Dinge richtig.

»Nein, er gehört immer noch zu dieser Bande. Die Mitgliedschaft endet erst mit dem Tod. Dieser Mann hat sich eine fast perfekte Tarnung zugelegt, um seine Herkunft zu verleugnen. Ich bin gespannt, ob Tom Lewis eine gute Erklärung für uns parat hat.«

***

Natürlich mussten wir den Zugriff sorgfältig vorbereiten. Wir brachten in Erfahrung, dass Lewis in einem Großraumbüro mit zwanzig Kolleginnen und Kollegen arbeitete. Bei einem Gewaltkriminellen wie ihm mussten wir damit rechnen, dass er eine Schusswaffe bei sich hatte.

Zwar verfügte die Ninti -Zentrale über Metalldetektoren, aber wer mit einem falschen Pass nach Irland einreisen konnte, würde auch diese Sperre umgehen können. Hinzu kamen die technischen Kenntnisse, die sich der Verdächtige angeeignet hatte. Es war einfach zu riskant, ihn am Arbeitsplatz aufzusuchen.

»Wir müssen verhindern, dass Lewis ein Blutbad anrichtet oder Geiseln nimmt«, stellte Rafferty fest. Ich war ganz seiner Meinung.

»Um das Risiko zu minimieren, sollten wir den Verdächtigen auf dem Weg vom Personalausgang zum Parkplatz festnehmen«, sagte ich. Mein Vorschlag wurde angenommen. Gemeinsam mit Phil, Sean Rafferty und Eileen Fain schaute ich mir einen Grundriss des Ninti -Firmengebäudes an.

Die Dubliner Filiale befand sich in einem Gewerbepark in Sandymount. Von dort aus war es nicht weit zum Hafen, auch die Bahnstation Lansdowne Road befand sich in nächster Nähe. Das waren lauter Fluchtmöglichkeiten, die wir verhindern mussten.

Tom Lewis, wie wir Kenneth Malloy momentan nannten, kam mit dem Auto zur Arbeit. Er fuhr einen Toyota Corolla, das hatte die junge irische Kollegin inzwischen herausgefunden. Eine Streifenwagenbesatzung bestätigte uns, dass sein Wagen momentan auf einem der großen Firmenparkplätze stand.

»Wir müssen verhindern, dass Lewis in sein Auto steigt«, meinte Phil. »Sobald er den Personalausgang am Südende des Gebäudes verlässt, nehmen wir ihn in die Zange. Wir bilden zwei Teams. Und natürlich sollten wir seinen Toyota zuparken. Nur für den Fall, dass er es doch bis zum Wagen schafft.«

»Ja, das ist gut«, pflichtete der Detective Phil bei. »Wir können außerdem noch uniformierte Einheiten in Reserve halten. Sie sollten allerdings vom Firmengebäude aus nicht gesehen werden können. Lewis hat sein Büro im fünften Stockwerk, das haben wir auch schon herausgefunden. Er darf einfach keinen Verdacht schöpfen. Deshalb sollte Garda Fain jetzt auch nach Hause gehen und sich umziehen.«

Die junge Frau nickte und machte sich schnell davon. Nicht nur sie fieberte dem Zugriff entgegen. Es war ein gutes Gefühl, eine konkrete Aktion zu planen.

Währenddessen blieb auch unser Scientific Research Team aktiv. Fortesque und Willson konzentrierten sich auf die DNA-Spuren, an denen sich ihre irischen Kollegen die Zähne ausgebissen hatten.

Ich setzte Concita Mendez und Mai-Lin auf die Finanzen von Tom Lewis an. Bei der Beweislage war es kein Problem, dafür einen richterlichen Beschluss zu bekommen. Der Verdächtige hielt sich schließlich unter falschem Namen in der Republik Irland auf, das konnten wir ihm schon nachweisen. Deswegen würde sich Tom Lewis auf jeden Fall vor Gericht verantworten müssen. Und der Mord?

Dazu wollte ich ihn befragen, sobald ich ihm im Verhörraum gegenübersaß.

Wir hatten auch in Erfahrung bringen können, dass Lewis’ Arbeitstag meist gegen 18 Uhr endete. Wir brachten uns schon eine Stunde vorher in Position.

Der Ninti -Wachdienst wurde von Rafferty informiert. Er meinte, dass man den Securitys trauen könnte. Sie waren von dem Detective zur Verschwiegenheit verpflichtet worden.

Wir hatten nämlich den Toyota Corolla mit einem Van zugeparkt, wie wir es besprochen hatten. Wären die Wächter nicht eingeweiht gewesen, hätten sie den Lieferwagen womöglich abschleppen lassen. Und das mussten wir natürlich verhindern.

Wir warteten in zwei nicht gekennzeichneten Zivil-Volvos. Phil und Rafferty saßen in dem einen Auto, Eileen Fain und ich in dem anderen Wagen. Die junge Irin trug nun legere Kleidung, Jeans, Sweatshirt und Jeansjacke. Wir hatten das Funkgerät leise gestellt.

»Ob Tom Lewis noch weitere Komplizen hat?«

Eileen hatte diese Frage gestellt. Ich zuckte die Schultern.

»Das werden die weiteren Ermittlungen zeigen. Wir müssen zunächst sein Alibi für die Tatzeit prüfen. Aber bisher trägt der Mord für mich die typische Handschrift eines Einzeltäters.«

»Ich stelle es mir aufregend vor, für das FBI zu arbeiten«, seufzte die junge Irin und lehnte sich auf dem Fahrersitz zurück. »Kommt Ihnen unsere kleine Insel nicht furchtbar provinziell vor, Inspektor Cotton?«

»Nein, und ich finde, Sie machen hier einen guten Job.«

Eileen Fain blinzelte mich an. »Sie sind sehr freundlich und charmant. Von Ihnen würde ich mich glatt zu einem Guinness einladen lassen.«

Ich musste grinsen. »Darüber können wir gerne nachdenken, wenn der Mörder überführt ist und in seiner Zelle sitzt.«

Das Gespräch schlief ein, denn wir konzentrierten uns nun ganz auf den Personalausgang. Da es bei Ninti gleitende Arbeitszeit gab, kamen ständig Angestellte aus dem Personaleingang oder wollten hinein.

***

Schließlich war es 18.17 Uhr. Ich war das Warten gewöhnt, aber Eileen wurde immer unruhiger. Sie rutschte auf dem Sitz hin und her. Die Anspannung war ihr deutlich anzumerken.

»Was tun wir, wenn der verflixte Kerl ausgerechnet heute Überstunden macht? Wir können doch nicht ewig …«

Sie brach ab, denn nun öffnete sich erneut die Tür am Südende des großen Glas-und-Stahl-Komplexes. Tom Lewis trat heraus. Ich erkannte ihn deutlich, denn wir hatten uns sein aktuelles Foto von der Ninti -Homepage auf unsere Smartphones geladen.

Er trug einen grauen Anzug und wirkte entspannt. Er schien keinen Verdacht zu schöpfen oder etwas von unserer geplanten Aktion zu ahnen. Trotzdem gefiel mir die Situation überhaupt nicht.

Der Verdächtige hatte nämlich seinen Arm um die Schultern einer jungen Frau gelegt.

Ich griff zum Mikrofon des Funkgeräts, hatte sofort eine Verbindung zu Rafferty.

»Wer ist die Frau?«

»Ich weiß es nicht, Inspektor Cotton. Vermutlich eine Arbeitskollegin. Was sollen wir jetzt tun?«

»Wir warten ab, ob das Paar gemeinsam ins Auto steigt. Jedenfalls sollten wir nicht in Aktion treten, solange die Zivilistin im Zugriffsbereich des Verdächtigen ist.«

Unsere beiden Fahrzeuge standen am Ost- und West-Ende des weitläufigen Parkplatzes. Eileen und ich rutschten in den Sitzen hinunter, als Tom Lewis mit seiner Begleiterin nur eine Autolänge von uns entfernt vorbeiging. Doch er schien nur Augen für seine brünette Freundin zu haben. Das Paar schien sich sehr gut miteinander zu verstehen. Die Körpersprache war eindeutig, sie benahmen sich wie Verliebte und nicht wie Arbeitskollegen.

Wenig später blieben sie stehen und schauten einander in die Augen.

»Ja, los«, drängte Eileen halblaut. »Gib ihr einen Kuss, und dann verabschiede dich.«

Es war, als ob der Verdächtige die junge Garda gehört hätte. Jedenfalls umarmte Lewis die Brünette, küsste sie und winkte zum Abschied. Sie stieg in einen blauen Vauxhall und fuhr los.

Eileen stieß vor Erleichterung die Luft aus den Lungen. Ich griff erneut zum Funkgerät und gab Rafferty Bescheid.

»Tom Lewis geht jetzt zu seinem Wagen, zu dem Toyota. Gleich wird er merken, dass wir ihn zugeparkt haben. Zugriff!«

Der Detective bestätigte.

Eileen und ich stiegen aus dem Volvo und gingen hinter dem Verdächtigen her. Noch hatte er uns nicht bemerkt. Phil und der irische Detective hatten ebenfalls ihr Fahrzeug verlassen und kamen von vorn auf Tom Lewis zu.

Nun bemerkte er offenbar, dass etwas nicht stimmte. Jedenfalls blieb er wie angewurzelt stehen. Rafferty holte seinen Dienstausweis hervor.

»Tom Lewis? Wir sind von der Garda und vom FBI.«

Rafferty konnte nicht weitersprechen. Denn der Verdächtige warf sich nun zur Seite und griff gleichzeitig in seine Jacke. Er verschwand aus meinem Gesichtsfeld. Gleich darauf ertönte ein Schuss.

Eileen und ich tauchten hinter einen geparkten Ford ab, ich zog meine Dienstwaffe. Auch Phil hatte seine Pistole bereits in der Hand und feuerte auf Lewis, um ihn in Deckung zu zwingen.

Eileen Fain und Rafferty waren nicht bewaffnet. Wir hatten inzwischen erfahren, dass nur einige Sondereinheiten der Garda Schusswaffen trugen. Wir hatten gehofft, den Verdächtigen auch ohne großen Waffeneinsatz einfach überrumpeln zu können. Wir hatten uns auf das Überraschungsmoment verlassen.

Aber Lewis wollte sich offenbar den Weg freischießen. So leicht würde er sich nicht ergeben. Zum Glück befanden sich gerade nicht viele Menschen auf dem Parkplatz. Ich bewegte mich seitwärts, nun konnte ich den Verdächtigen wieder sehen. Aber von ihm war nur ein Teil seines Kopfes zu erkennen, denn er kauerte hinter dem Heck eines geparkten Fahrzeugs.

»Geben Sie auf, Kenneth Malloy!«, rief ich. »Hier ist das FBI. Sie haben keine Chance!«

Der Kerl zuckte zusammen, als ich seinen richtigen Namen nannte. Nun musste ihm klar sein, dass sein Spiel verloren war. Aber noch glaubte er offenbar, uns entkommen zu können.

Plötzlich schnellte Lewis hinter dem Fahrzeugheck hervor und rannte geduckt los. Ich schoss auf seine Beine, verfehlte ihn aber. Dieser Mann machte rücksichtslos von der Schusswaffe Gebrauch, wir mussten ihn stoppen. Zu groß war die Gefahr, dass durch einen Querschläger ein Zivilist getroffen werden konnte.

Ausgerechnet in diesem Moment bog ein BMW auf den Parkplatz ein. Entweder hatte der Fahrer nicht mitbekommen, dass hier geschossen wurde, oder er schätzte die Situation falsch ein. Jedenfalls mussten wir mit ansehen, wie Lewis die Fahrertür des Autos aufriss. Der BMW war zum Stehen gekommen, weil es an der Zufahrt eine Schranke gab. Nun landete der BMW-Fahrer auf dem Asphalt. Er rollte sich zur Seite und hob abwehrend die Hände, während Lewis sich in das Auto warf und die Tür zuknallte.

Er legte den Rückwärtsgang ein, kurbelte an der Lenkung und brauste davon. Immerhin hatte er keine Geisel genommen, obwohl er in diesem Moment die Chance dazu gehabt hätte. Das war aber auch das einzig Gute, was ich der Situation abgewinnen konnte.

Wir nahmen in den beiden Volvos sofort die Verfolgung auf, wobei wir die Kunststoff-Schranken an den Zufahrten durchbrachen. Die Fahrzeuge verfügten über rot-blaue Blinklichter hinter dem Kühlergrill. Die hatten wir eingeschaltet, und ich betätigte nun auch die Sirene. Die irische Polizistin griff zum Mikrofon des Funkgeräts.

»Garda Eileen Fain befindet sich am Standort Ninti -Firmengelände und erbittet Unterstützung durch die Armed Support Unit. Wir verfolgen gemeinsam mit FBI-Inspektoren einen Verdächtigen in einem schwarzen BMW mit irischen Nummernschildern. Der Verdächtige ist männlich, weiß und trägt einen grauen Anzug. Er ist bewaffnet und gefährlich. Der BMW fährt auf der Marrion Road Richtung Norden.«

Die junge Kollegin saß am Steuer des Volvo. Ich hielt meine Pistole schussbereit, denn Lewis schien zu allem entschlossen zu sein. Wir konnten den Abstand zu dem Fluchtfahrzeug verkürzen. Eileen Fain trat das Gaspedal durch. Im Rückspiegel sah ich, dass Phil und Rafferty direkt hinter uns waren.

Wir fuhren inzwischen auf der Northumberland Road. Der Verbrecher überholte rücksichtslos, hatte schon einige leichte Blechschäden verursacht. Plötzlich bog er mit radierenden Reifen scharf nach rechts ab.

»Der will zum Hafen!«, rief Eileen. »Vielleicht hat er ein Boot, mit dem er sich absetzen kann.«

Jedenfalls konnte Lewis den starken BMW-Motor in diesen engen Straßen nicht voll ausfahren. Die junge Kollegin schaffte es, noch näher an den Flüchtenden heranzukommen. Hinter dem Gaswerk hatten wir ihn beinahe eingeholt. Aber dann beschleunigte Lewis noch einmal unerwartet.

Die Gegend war plötzlich menschenleer, vor uns befand sich ein riesiger Containerplatz. Offenbar waren wir in unmittelbarer Nähe des Hafens. Ich konnte von weitem die Silhouetten von Kränen sehen.

Lewis stieg in die Eisen, riss die Fahrertür auf, schoss in unsere Richtung und rannte in eine schmale Gasse zwischen abgestellten Containern.

***

Eileen brachte unseren Volvo ebenfalls zum Stehen, auch Rafferty hatte nun angehalten. Von weitem war das Geräusch von sich nähernden Einsatzfahrzeugen zu hören.

»Die Armed Support Unit wird in ein paar Minuten hier sein«, sagte der Detective. »Wir müssen das Gelände umstellen.«

»Es geht jetzt um Minuten, so schnell kriegen wir nicht genügend Verstärkung hierher«, sagte ich. »Inspektor Decker und ich nehmen zu Fuß die Verfolgung auf.«

»Und warum dürfen wir nichts tun?«, fragte Eileen.

»Weil Sie keine Pistolen haben«, gab ich zurück. »Und ein Mann wie Tom Lewis hat bestimmt keine Hemmungen, auf unbewaffnete Polizisten zu schießen.«

Wir durften jetzt keine weitere Zeit verlieren. Phil und ich eilten ebenfalls in die Durchgänge. Es waren jeweils vier Container übereinandergestapelt, sodass zwischen den Behältern ein Halbdunkel herrschte. Wir hatten uns aufgeteilt, um einen größeren Bereich absuchen zu können.

Ich bewegte mich so schnell und so leise wie möglich vorwärts. Der Wind pfiff zwischen den Containern hindurch. Er trieb leere Plastikflaschen vor sich her. Doch ich hörte auch schnelle Schritte.

Kamen sie aus der Gasse links von mir? Phil war jedenfalls auf der rechten Seite zwischen die großen Stahlbehälter gegangen. Ich hielt die Pistole schussbereit im Beidhandanschlag. Dann sprang ich in die Lücke zwischen den nächsten beiden Containern.

Es war niemand zu sehen.

Doch ich hatte mich nicht getäuscht. So schnell konnte der Verdächtige noch nicht entkommen sein. Er musste in der Nähe lauern. Ich presste mich gegen eine Containerwand und hielt den Atem an.

Und dann hörte ich die Schritte erneut. Sie kamen näher. Nun sah ich Tom Lewis. Er hatte mich noch nicht bemerkt. Er bewegte sich langsam rückwärts, sein Kopf drehte sich hin und her. Ich sprach ihn an, die Waffe auf ihn gerichtet.

»Geben Sie auf, Lewis. Es ist vorbei.«

Er zuckte zusammen, wirbelte herum. Nun wandte er mir sein Gesicht zu. Der Täter musste unter einem enormen Stress stehen. Er war in Schweiß gebadet. Seine Hände krampften sich um die Waffe, die Fingerknöchel traten weiß hervor. Die Unterlippe zitterte unaufhörlich. Aus weit aufgerissenen Augen starrte er mich an. Konnte ich überhaupt noch zu diesem Mann durchdringen?

Ich hatte meine Zweifel. Momentan sah es nicht danach aus, dass er aufgeben würde. Wir standen einander gegenüber, die Pistolen aufeinander gerichtet. Es war ein Nervenkrieg, den ich gewinnen würde. Aber ich wollte Blutvergießen vermeiden. Doch es sah nicht danach aus, als ob ich das schaffen würde.

Da erschien plötzlich Phils Hand mit seiner Dienstwaffe zwischen zwei Containern. Er war noch viel näher an Lewis herangekommen und zielte direkt auf den Kopf des Verdächtigen.

»Geben Sie endlich auf, Mann. Noch ist niemand ernsthaft verletzt worden. Machen Sie sich nicht unglücklich. Gegen uns beide können Sie nicht gewinnen.«

Phils Stimme war eindringlich, und der Sinn seiner Worte verfehlte seine Wirkung nicht. Es kam mir vor, als ob der Kriminelle aus einem Traum erwachen und zur Vernunft kommen würde. Er begriff, dass es keinen Ausweg mehr gab. Sein Körper erschlaffte. Langsam ließ er den Arm sinken. Seine Finger öffneten sich, die Pistole fiel zu Boden.

Ein schluchzender Laut drang aus seiner Kehle, er rang nach Luft. Im nächsten Moment hatte ich ihn überwältigt und ihm die Arme hinter den Rücken gerissen.

***

Der Verdächtige wurde im Garda Headquarter erkennungsdienstlich behandelt. Danach gab es definitiv keinen Zweifel mehr an seiner wahren Identität. Mai-Lin hatte einen elektronischen Datenabgleich mit den Fingerprints von Kenneth Malloy vorgenommen, die in der amerikanischen CJIS-Datenbank gespeichert waren. Entsprechend gut vorbereitet konnten Phil, Detective Rafferty und ich ins Verhör gehen.

Eileen Fain fahndete währenddessen nach der Freundin des Verdächtigen, die er auf dem Parkplatz geküsst hatte. Wir wollten herausfinden, inwieweit sie von seinen Aktivitäten gewusst hatte. Die irische Kollegin wollte sich auch unter den Mitarbeitern von Ninti umhören, um entsprechende Informationen zu bekommen. Sie hatte also genug zu tun.

Tom Lewis blickte missmutig auf, als wir den Verhörraum betraten. Wir stellten uns offiziell vor und der Detective belehrte ihn über seine Rechte. Dann fragte Rafferty: »Wie sollen wir Sie denn nun anreden? Wollen Sie Lewis oder Malloy genannt werden?«

Der Täter grinste, als ob er in eine saure Zitrone gebissen hätte. Dann schüttelte er den Kopf.

»Wirklich sehr lustig, Detective. Nennen Sie mich meinetwegen Malloy. So heiße ich schließlich wirklich.«

»Sie scheinen ja gute Laune zu haben«, warf Phil ein. »Und das, obwohl wir Ihnen Mord, Mordversuch an Polizeibeamten, Urkundenfälschung sowie mögliche weitere Delikte vorwerfen?«

Malloy riss die Augen auf. Aber es brachte ihm nichts, den Überraschten zu spielen. Er hatte schon hinter Gittern gesessen und musste wissen, was auf ihn zukam.

»Aber ich habe niemanden umgelegt, Inspektor Decker. Und dass ich auf Sie geballert habe, war eine Panikreaktion. Aber es ist ja niemand verletzt worden, oder?«

Das stimmte zwar, aber trotzdem konnte sich Malloy nicht aus seiner ernsten Lage herauswinden. Rafferty übernahm wieder das Verhör.

»Beginnen wir mit Ihrer Einreise nach Irland. Wie kamen Sie auf die Idee, unter falschem Namen in Dublin leben zu wollen?«

Malloy zögerte. Ich wollte ihm keine Chance lassen, sich eine Lügengeschichte zurechtzulegen. Also hakte ich sofort nach.

»Wir wissen von Ihrer Mitgliedschaft bei der Celtic Brotherhood , dieser US-Gefängnis-Gang. Legen Sie jetzt die Karten auf den Tisch. Gestehen Sie alles, was Sie getan haben. Das ist Ihre einzige Chance, im Prozess den Richter milde zu stimmen.«

Der Verbrecher zuckte zusammen. Ob er wirklich geglaubt hatte, seine Verbindung zu der Knast-Gang wäre unbemerkt geblieben? Solche Gangs haben oftmals eine übertriebene Vorstellung von der eigenen Macht. Sie fühlen sich unangreifbar. Aber diesen Zahn wollten wir Malloy gründlich ziehen. Und er schien wirklich Vernunft angenommen zu haben, als er nun wieder zu sprechen begann.

»Okay, ich bin wirklich bei der Celtic Brotherhood . Das war für mich zunächst nur eine Frage des Überlebens hinter Gefängnismauern. Aber dann kniete ich mich wirklich in die Sache hinein. Die Brüder haben weitreichende Beziehungen, auch über die US-Grenzen hinaus. Und natürlich hatte die Bruderschaft große Pläne mit mir, nachdem ich meine Strafe abgesessen hatte.«

»Ich hörte, dass Sie sich hinter Gittern fortgebildet haben?«, hakte Rafferty nach. Malloy warf sich in die Brust.

»Ja, ich habe ein schlaues Köpfchen. Mein Talent wurde von der Bruderschaft erkannt und gefördert. Deshalb schickte mich unser Anführer ins Ausland, nämlich hierher. Zu der Zeit suchte Ninti gerade Logistik-Fachleute mit umfangreichen Computerkenntnissen. Und dieses Wissen habe ich. Also ließ die Bruderschaft für mich falsche Zeugnisse und einen falschen US-Reisepass anfertigen. Wenig später kriegte ich die Jobzusage.«

»Angesichts der heutigen Sicherheitsbestimmungen des Heimatschutzes ist ein falscher Reisepass ein sehr teurer Spaß. Was versprach sich die Bruderschaft davon, Sie bei Ninti einzuschleusen? Es ging ja wohl nicht nur darum, Ihnen eine Rückkehr ins bürgerliche Leben zu ermöglichen, oder? Dazu passt die falsche Identität nämlich überhaupt nicht. Und dafür hätten Sie auch nicht ins Ausland gehen müssen.«

»Okay, ich gebe es zu. Ich hatte einen recht gut bezahlten Job ergattert, aber ich sollte meine Position natürlich im Sinn der Bruderschaft ausnutzen.«

»Was müssen wir uns darunter vorstellen?«, wollte Rafferty wissen.

»Ihnen ist klar, welche Geschäfte Ninti betreibt?«, lautete die Gegenfrage.

»Sicher, Ninti ist einer der größten internationalen Online-Versandhändler«, meinte Phil. Malloy nickte.

»Richtig, und dafür müssen enorme Warenmassen weltweit bewegt werden. Hier in Dublin befindet sich eine Drehscheibe für den Europahandel. Die Ware kommt aus China, aus Brasilien, von überall her. Und ich bin für die Beladung der Container verantwortlich.«

Jetzt wurde mir einiges klar.

»Sie haben Frachtpapiere manipuliert und Container mit illegalen Handelsgütern bestückt?«

Malloy grinste breit. Er war offenbar stolz auf seine Machenschaften.

»Ja, und das in großem Stil. Es ging hauptsächlich über gefälschte Markenprodukte. Damit kann man heutzutage mehr Geld verdienen als mit Drogen.«

»Wie schön«, sagte Phil ironisch. »Und warum haben Sie Jake Brennan getötet? Ist er Ihnen auf die Schliche gekommen? Oder hat er Sie erpresst, um sich auch ein Stück vom Kuchen zu sichern?«

»Das sehen Sie falsch, Inspektor Decker. Der Mord an Brennan hat mir überhaupt nichts genützt, ganz im Gegenteil. Weshalb sitze ich denn überhaupt hier? Weil jeder Garda in der Republik Irland hinter dem Killer des Ninti