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Sammelband 5: Fünf actiongeladene Fälle und über 300 Seiten Spannung zum Sparpreis!
G-Man Jerry Cotton hat dem organisierten Verbrechen den Krieg erklärt! Von New York aus jagt der sympathische FBI-Agent Gangster und das organisierte Verbrechen, und schreckt dabei vor nichts zurück!
Damit ist er überaus erfolgreich: Mit über 3000 gelösten Fällen und einer Gesamtauflage von über 850 Millionen Exemplaren zählt er unbestritten zu den erfolgreichsten und bekanntesten internationalen Krimihelden überhaupt! Und er hat noch längst nicht vor, in Rente zu gehen!
In diesem Sammelband sind 5 Krimis um den "besten Mann beim FBI" enthalten:
2800: Eine Falle für den Tod
2801: Im Zeichen der 13
2802: Eine Leiche ist gut fürs Geschäft
2803: Datenströme können tödlich sein
2804: Weiße Weste - schmutzige Hände
Jerry Cotton ist Kult - und das nicht nur wegen seines roten Jaguars E-Type.
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Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 734
Veröffentlichungsjahr: 2018
Jerry Cotton
Jerry Cotton Sammelband 5 - Krimi-Serie
Cover
Impressum
Eine Falle für den Tod
Vorschau
Eine Falle für den Tod
Inspector Alan Duncan wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und drückte es dann vor seine Nase. Um ihn herum taten die Spezialisten der Crime Scene Unit der Metropolitan Police Sydney ihr Bestes, um die Spuren zu sichern. Die Plastikoveralls der Männer und Frauen raschelten leise bei jeder Bewegung.
Die vier Leichen in dem Zimmer zeigten schon deutliche Verwesungsspuren und der Gestank war fast unerträglich. Mit jedem Atemzug bewegte sich Duncans Magen ein Stück nach oben. Er hatte genug gesehen. Mit einer knappen Handbewegung winkte er einen der Police-Sergeants nach draußen.
Nachdem er vor dem weitläufigen Haus in Rockdale am Rande von Sydney ein paar Mal tief Luft geholt hatte, fragte er den Sergeant: »Was haben wir?«
Der Sergeant zuckte mit den Schultern. »Nichts.«
Phil und ich saßen an unseren Schreibtischen und warteten auf einen Anruf von Helen, dass wir zum Chef kommen könnten. Auf unserem Computer hatten wir einen Termin für eine dringende Besprechung an diesem nasskalten Januarmorgen gefunden. Er sollte um neun Uhr stattfinden, aber Helen hatte uns informiert, dass der Chef noch nicht da wäre und dass sie uns Bescheid geben würde, wenn Mr High einträfe.
»Hast du eine Ahnung, um was es geht?«, fragte ich Phil, der damit beschäftigt war, seine E-Mails durchzusehen.
»Keine Ahnung«, gab er zurück und klickte sich weiter durch die elektronische Post.
»Helen scheint auch nichts zu wissen«, versuchte ich das Gespräch in Gang zu halten.
»Wenn ich richtig informiert bin, dann ist Mister High gestern nach Washington geflogen, so erzählt man sich zumindest.«
»Dann kommt bestimmt Edward G. Homer ins Spiel«, mutmaßte ich.
»Ja, das verheißt nichts Gutes«, räumte Phil ein.
In diesem Moment klingelte das Telefon. Im Display sah ich, dass Helen anrief.
»Ja, Helen. Ist er jetzt da?«
»Ja, er ist eben eingetroffen. Seine Maschine aus Washington hatte wegen des Schneetreibens auf dem Dulles Airport Verspätung. Er will euch in einer halben Stunde in seinem Büro sprechen.«
»Wir werden auf der Matte stehen«, gab ich zurück.
Genau fünfundzwanzig Minuten später winkte uns Helen an ihrem Schreibtisch vorbei ins Büro von Mr High. Er sah übernächtigt aus und die Anspannung war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Wortlos deutete er auf den Besprechungstisch, an dem wir nach einem kurzen Gruß, den er mit einem Nicken und einem Murmeln erwiderte, Platz nahmen. Helen kam mit einem Tablett, auf dem sich eine Warmhaltekanne mit Kaffee und Tassen befanden, herein, stellte es auf den Tisch und verschwand wortlos wieder. Man konnte die Anspannung förmlich spüren. Mr High kam hinter seinem Schreibtisch hervor, unter dem Arm einen Stapel Akten, und setzte sich an die Stirnseite des Besprechungstisches. Dann konzentrierte er sich kurz.
»Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie habe warten lassen, aber wie Sie sicher schon von Helen erfahren haben, war es ein Fall von höherer Gewalt.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, das sofort wieder ernst wurde.
Phil und ich nickten.
»Wie Sie sicher auch wissen, war ich in Washington bei Assistant Director Homer, dem Leiter der Field Operation Section East.«
Wir nickten wieder.
Mr. High fächerte den Aktenstapel auf. Nacheinander nahm er die einzelnen Schnellhefter in die Hand. »Jack Demsy«, sagte er und hielt den ersten Schnellhefter in die Höhe. »Ermordet aufgefunden in Kuala Lumpur.« Er nahm den nächsten. »Pietro Fargas, getötet bei einem Straßenkampf in Rio de Janeiro. Antonio Sastrada, tot angeschwemmt an einer kleinen Insel der Philippinen.«
Er nannte noch zwei weitere Namen, die uns nichts sagten, und hob die entsprechenden Ordner kurz an. Dann kam er zu dem letzten. »Paul Gescon, Mary Gescon, John Pricklett und Peter Sheckley, vor sechs Wochen ermordet aufgefunden in einem Haus in Sydney, Australien.«
Phil und ich nickten automatisch, ohne dass wir den blassesten Schimmer hatten, um was es eigentlich ging. Aber es war noch nicht an der Zeit, Fragen zu stellen.
»Ich denke, die Namen sagen Ihnen nichts«, fuhr der Chef fort und quittierte unser Kopfschütteln nun seinerseits mit einem kurzen Nicken. »Nun, Assistant Director Homer hat mit seiner Abteilung auch lange gebraucht, bis er eine Verbindung zwischen den Fällen gefunden hat, und um ehrlich zu sein, diese Verbindung steht auf wackligen Füßen. Es sind größtenteils nur Vermutungen, aber wenn diese zutreffen …«
»Entschuldigen Sie, Sir«, nutzte ich die kurze Pause. »Könnten Sie etwas konkreter werden?«
»Ja, natürlich, Jerry. Auslöser dieser ganzen Geschichte waren die Morde in Australien. Vor drei Wochen bekam die FBI-Zentrale eine Anfrage von der Metropolitan Police in Sydney. Man hatte dort in einem Haus drei männliche und eine weibliche Leiche gefunden. Zum Zeitpunkt des Fundes waren die Personen schon zwischen zehn und vierzehn Tagen tot und die Verwesung hatte bei den dort im November herrschenden Temperaturen schon deutliche Spuren hinterlassen. Die Identifizierung war schwer bis unmöglich. Die Fingerabdrücke ergaben nichts. Die Gebissanalyse führte auch nicht weiter, obwohl zwei der Opfer sehr außergewöhnliche Zahnbehandlungen hatten. Und aufgrund der stark fortgeschrittenen Verwesung konnte man auch keine brauchbaren Fahndungsfotos mehr machen. Aber sehen Sie selbst.«
Mr. High schob uns einen Stapel mit Tatortfotos zu, die alle zu der unappetitlichsten Sorte gehörten. Wir warfen nur einen kurzen Blick darauf.
»Ich brauche nicht zu erwähnen, dass keine der Personen irgendetwas bei sich trug, was der Identifizierung dienlich gewesen wäre. Wie Sie gesehen haben, waren alle Leichen nackt. Nirgendwo in dem Haus fand man ein Kleidungsstück oder einen Fingerabdruck. Es war in diesem Sinne klinisch rein, wenn man so sagen kann. DNA-Spuren nur solche, die den Opfern zugeordnet werden konnten. Das legt die Vermutung nahe, dass der Tatort sorgfältig präpariert worden ist. Die australischen Kollegen versuchten es mit einem DNA-Abgleich, aber auch der verlief negativ. Ja, und dann bescherte ihnen der Zufall einen Strohhalm, an den sie sich klammerten. Eines der Opfer hatte eine Tätowierung.« Mr High zog einen weiteren Fotoausdruck aus dem Schnellhefter und schob ihn über den Tisch. »Nun, diese Tätowierung befindet sich, wie Sie sehen, auch an einer Stelle, wo man nicht unbedingt danach suchen würde.«
Ich nahm den Ausdruck und sah ihn mir an. Phil beugte sich zu mir herüber, um auch einen Blick darauf zu werfen. Es zeigte im Ausschnitt den Schambereich eines Mannes, wo sich kurz über der Schambehaarung ein tätowierter Totenkopf mit einem Kranz von Rosen befand und die Buchstaben J G 1995. Ich zuckte mit den Schultern und auch Phils Miene zeigte Ratlosigkeit.
Mr High lächelte. »Die Australier hatten Glück, dass sich in ihrer Einheit ein ausgewiesener Deadhead befand, der das Tattoo sofort erkannte.«
»Deadhead?«, fragte ich nach.
»So nennen sich die Fans der Rockgruppe Grateful Dead, und das Tattoo ist ein typisches Emblem dieser Gruppe. J G steht für Jerry Garcia, den Gitarristen, Bandleader und Frontman der Gruppe, die Zahlen sind sein Todesjahr«, klärte uns Mr High auf, und es klang etwas merkwürdig, als unser Chef so kompetent über die Rockszene referierte.
»Nicht, dass ich das alles gewusst hätte, Jerry«, lenkte er auch gleich ein, »aber zumindest haben die Kollegen in Australien den Versuch gestartet und das FBI kontaktiert, da zumindest ja die Möglichkeit bestand, dass einer der Ermordeten amerikanischer Staatsbürger war. Sie schickten der Zentrale die DNA-Analyse der vier Opfer, die Bilder, die Sie hier vorliegen haben, und die Fingerabdrücke, und in Washington wurde man fündig. Es handelt sich um die genannten Personen und alle waren im Zeugenschutzprogramm.«
Phil und ich waren sprachlos. »In unserem Zeugenschutzprogramm?«, fragte ich nicht besonders intelligent.
Mr High nickte.
»Und wie kommen sie nach Australien und warum waren sie im Zeugenschutzprogramm?«, hakte Phil nach.
»Im Rahmen der Zerschlagung der ENA«, erklärte Mr. High. »Es waren zwei Consultants, die Frau des einen und ein ehemaliger Detective aus San Francisco, der mit der ENA zusammengearbeitet hatte. Sie hatten sich seinerzeit der Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestellt, und durch ihre Aussagen konnte die gesamte Westküste von der ENA gesäubert werden.«
»Und warum wissen wir nichts davon?«
»Jerry, Sie wissen doch genauso gut wie ich, wie das im Zeugenschutzprogramm läuft. Geheimhaltung ist das A und O bei dieser Sache. Wir waren damals nicht involviert. Das lag ganz in der Verantwortung der Field Operation Section West.«
»Aber wie kamen die vier Personen nach Australien?«, fragte ich nochmals nach.
»Soweit Assistant Director Homer das bis jetzt recherchiert hat, sind sie auf eigenen Wunsch mit ihrer neuen Identität nach Down Under ausgewandert. Die USA waren ihnen einfach nicht sicher genug und auch Kanada war keine Option für sie.«
»Was ist mit den anderen, die Sie uns genannt haben?«, wollte Phil wissen.
»Im Prinzip liegen alle Fälle ähnlich. Jede dieser Personen war im Zeugenschutzprogramm im Zusammenhang mit der ENA, nur haben die zuständigen Behörden bei diesen Todesfällen, wie im Fall Demsy und Fargas, es als tragisches Unglück angesehen, und bei Sastrada ging man von einem Unfall aus.«
»Und warum denkt man bei den Toten in Sydney anders?«, hakte ich nach.
»Diese Morde wurden professionell ausgeführt. Das Haus, in dem sie gefunden wurden, stand seit mehreren Wochen leer, die Tat war perfekt vorbereitet und ausgeführt. Jeweils ein Schuss in den Hinterkopf. Es war eindeutig eine Hinrichtung.«
»Sie glauben an einen Racheakt?«, fragte mein Partner.
»Ja, wenn man so will«, räumte Mr High ein.
»Dann kommt dafür doch nur die ENA in Frage«, stellte ich zweifelnd fest.
»Genau das ist der Punkt, aber denken Sie einen Schritt weiter, Jerry.«
Ich schaute unseren Chef verständnislos an. Auf sein müdes Gesicht stahl sich das milde Lächeln eines Vaters, der seinem Sohn noch etwas Zeit gibt, nachzudenken und die Lösung des Problems zu finden. Bevor ich diese gefunden hatte, war Phil mir eine Nasenlänge voraus.
»Sie meinen«, er machte, was man im Theater eine dramatische Pause nennen würde, »das ›Phantom‹.«
»Ja«, bestätigte Mr High. »Kedro Hollander. Alles deutet darauf hin.«
»Das ›Phantom‹? Sie meinen, es ist nach der Sache in North Dakota wieder aktiv geworden?«, fragte ich ungläubig.
Mr High nickte. »Zumindest die perfekte Ausführung der Morde in Australien deutet darauf hin. Dieser Meinung ist auch Assistent Director Homer. Bei den anderen sind wir uns nicht so sicher, ob Kedro Hollander«, er gebrauchte den bürgerlichen Namen des unheimlichen Killers, der beim FBI allgemein nur das ›Phantom‹ genannt wurde, »auch da seine Hände im Spiel gehabt hat. Zumindest bei den beiden Morden in Brasilien und Kuala Lumpur. Das heißt aber auch, dass wir es wieder mit der ENA zu tun haben.«
»Ich dachte, die ENA wäre zerschlagen worden«, sagte ich.
»Ja, hier in den Vereinigten Staaten wohl, aber im asiatischen Raum …« Mr High ließ den Satz unvollendet, sodass wir uns den Rest denken konnten. Niemand wusste, was wirklich mit der ENA passiert war.
»Nun, Assistant Director Homer«, Mr Highs Stimme nahm einen offiziellen Klang an, »ist der Meinung, dass Sie beide sich um die Sache kümmern sollten. Besonders wegen der Möglichkeit, dass Hollander dahintersteckt. Die australischen Kollegen sind damit einverstanden, dass Beamte des FBI sie bei den Ermittlungen vor Ort unterstützen. Und diese beiden Beamten sind Sie.« Mr High deutete mit einer übertrieben wirkenden Geste auf Phil und mich. »Auf besonderen Wunsch des Assistant Director«, fügte er dann noch hinzu.
Phil und ich schauten uns an. Ein Lächeln huschte über das Gesicht meines Partners. Ein Trip nach Down Under bedeutete, dem Winter in New York zu entfliehen. Ein paar Tage, vielleicht auch mehr, Urlaub in der Sonne und Baden im Meer, während unsere Kollegen hier in New York sich einen Körperteil abfroren, den wir in Australien hauptsächlich zum Sitzen in der Sonne benutzen würden.
Mr High schien unsere Gedanken erahnt zu haben, allzu schwer war das sicher auch nicht gewesen. »Jerry, Phil, nehmen Sie die Sache nicht zu leicht. Besonders Sie nicht, Jerry. Hollander hat damals einen großen Aufwand betrieben, um Sie in North Dakota zu entführen, und Sie standen schon mit einem Bein im Grab, wie ein paar andere Agents auch. Denken Sie an Agent Beagle, die es mit ihrem Leben bezahlt hat. Vielleicht ist das Ganze nur eine Finte, um Sie nach Australien zu locken. Denken Sie immer daran, wie perfekt die Morde in Sydney vorbereitet waren.«
Nach diesen Worten waren Phil und mir sämtliche Urlaubsgefühle vergangen. Unser Chef hatte recht. Wir begaben uns vielleicht in einen Hinterhalt, der in einem Sarg mit den Stars and Strips darauf endete. Mit betroffenen Gesichtern nickten wir stumm.
»Helen hat Ihre Tickets. Sie fliegen morgen um 16:45 Uhr mit der Qantas über Los Angeles nach Sydney und werden dort am Montagmorgen ankommen. Ihr Flug ist angemeldet. Ihre Dienstwaffen kommen in eine versiegelte Transportkiste. Geben Sie sie bitte gleich in der Waffenkammer ab. In Sydney können Sie sie dann in Empfang nehmen. In der Kiste befindet sich auch das Beschussprotokoll …«
»Das Beschussprotokoll?«, fragte ich erstaunt.
»Ja, das war eine der Voraussetzungen, dass Sie in Australien Waffen tragen dürfen.«
Ich schaute den Chef verständnislos an.
»Nun, die australischen Kollegen wollen etwas in der Hand haben, sollte eine Kugel aus Ihren Waffen in einem Körper gefunden werden und die Waffe selbst verschwunden sein, dann kann man anhand des Beschussprotokolls die Kugel der Waffe zuordnen. Anscheinend haben die Jungs Down Under zu viele Cowboy-Filme gesehen«, meinte Mr High mit einem Anflug von Humor. »Nun, das ist der Deal, damit Sie dort nicht nackt herumlaufen müssen. Und noch etwas, es muss immer ein australischer Kollege bei Ihnen sein, wenn Sie Waffen tragen. Wenn Sie sich also auf eigene Faust irgendwohin begeben, tragen Sie keine Waffe. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie sich nirgendwohin begeben, wo Sie möglicherweise eine Waffe brauchen, ohne in Begleitung eines australischen Kollegen zu sein.«
Mr High schaute uns eindringlich an. »Wir haben uns doch verstanden, Agents?«
»Selbstverständlich, Sir«, antworteten Phil und ich wie aus einem Mund.
***
Die Sonne brannte schon in den frühen Morgenstunden erbarmungslos auf Sydney herab. Auf dem Flugfeld herrschte gleißende Helligkeit, die durch die getönten Scheiben des Raumes etwas gedämpft wurde. Die Klimaanlage surrte vernehmlich. Im stummgeschalteten Fernsehapparat lief die Übertragung der Australian Open, wo sich gerade zwei Spielerinnen in der Rod Laver Arena darum bemühten, eine Runde weiterzukommen.
Inspector Duncan nahm einen Schluck Kaffee und schaute auf die Uhr und dann auf das Arrival Display auf dem Bildschirm an der Wand. Zusammen mit ihm befanden sich noch Detective Sergeant Linda Masters und Lieutenant Patrik Gray im Raum.
»Immer noch pünktlich. Ich hoffe, daran ändert sich auch nichts«, stellte Alan Duncan fest.
»Musste das wirklich sein?«, fragte Patrik Gray, ohne eine Antwort zu erwarten, die ihm der Inspector aber trotzdem gab.
»Alleine wären wir nicht weitergekommen. Wir sind auf die Hilfe des FBI angewiesen.«
Gray zuckte mit den Schultern.
»Hören Sie, Patrik. Wir haben hier vier Tote und hatten keinen blassen Schimmer, wer sie waren und warum man sie umgebracht hat. Meinst du, das macht sich gut in unserem Department?«
»Es waren Yanks«, gab Gray lapidar zurück. »Wen kümmert das?«
»Mich«, fauchte Duncan den Lieutenant an. »Weil ich für jeden Toten in meinem Bezirk zuständig bin. Und ich hasse es, einen Mörder und dazu noch einen vierfachen frei herumlaufen zu lassen. Das macht keinen guten Eindruck bei denen da oben.« Er richtete seinen Blick theatralisch in Richtung seiner Vorgesetzten, die irgendwo in einem Bereich zwischen gleißendem Flugfeld und strahlend blauem Himmel zu residieren schienen. »Und auch wegen der Presse mussten wir etwas tun.«
»Vielleicht sind die beiden Agents ja gar nicht so übel«, warf Linda Masters ein, »und können uns wirklich helfen. Irgendetwas scheint mit den vier Toten nicht zu stimmen, aber das werden wir ja bald von den Yanks erfahren.«
Inspector Duncan schaute sie strafend an. »Noch mal, und zum Mitschreiben: Niemand nennt die beiden Agents Yanks. Ist das klar?«
Gray und Masters nickten.
»Natürlich nicht, Boss«, sagte Gray in gespielt unterwürfigem Ton. »Niemand nennt die Yanks Yanks, wenn sie dabei sind. Wir würden ja auch niemals Pomps Pomps nennen, oder?«
Inspector Duncan schüttelte den Kopf und meinte: »Lassen wir es dabei. Ich denke, ihr habt verstanden!«
Die drei Police Officers widmeten sich wieder dem stummen Spiel im Fernsehen. Wirklich interessieren tat sie das Spiel allerdings nicht.
Schließlich zeigte das Arrival Board auf dem Display an, dass der Flug QF12 aus Los Angeles gelandet war. Inspector Duncan schraubte sich aus dem Sessel hoch.
»Los, Leute, unser großer Auftritt ist gekommen. Holen wir die Kollegen aus Yankee-Land ab.«
Sergeant Masters und Lieutenant Gray konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen.
***
Nach fünfundzwanzig Stunden Flug fühlte ich mich richtig gerädert. Selbst die bequemen Sitze und der gute Service der Business-Class hatten den langen Flug nicht wirklich angenehm gemacht. Zuerst hatten Phil und ich noch die Akten auf unseren Laptops studiert, doch schnell waren unsere Augen in der trockenen Flugzeugluft müde geworden. Jetzt waren wir endlich da und wollten nur noch festen Boden unter den Füßen haben. Die Kabinen-Crew verabschiedete uns mit einem herzlichen »Goodbye«, und kaum hatten wir die Maschine verlassen, traf uns die Hitze im Extender wie eine Keule.
Als wir New York verlassen hatten, war es dort einige Grad unter Null gewesen, in Los Angeles hatten wir im Transit von der Außentemperatur nichts mitbekommen, und hier in Sydney waren es um neun Uhr morgens schon knapp dreißig Grad.
Die Passkontrolle brachten wir problemlos hinter uns, denn für den Trip nach Australien waren wir von der Zentrale in Washington mit Diplomatenpässen ausgestattet worden. Nun standen wir am Gepäckband und warteten auf unsere Koffer und noch wichtiger auf die Transportkiste mit unseren SIG-Sauer P226. Die Koffer kamen als Priority-Gepäck, kaum dass wir am Band angekommen waren, doch die Alukiste mit den Waffen ließ auf sich warten.
»Assistant Special Agent in Charge Jerry Cotton und Special Agent Phil Decker.«
Es klang mehr wie eine Feststellung denn eine Frage. Phil und ich drehten uns um. Vor uns stand ein ziemlich großer blondhaariger Mann. Er trug ein grünes Poloshirt und hellgelbe Hosen, darüber ein beiges Jackett. Er musste so Mitte vierzig sein, war aber schlecht zu schätzen. Flankiert wurde er von einem Mann in T-Shirt und Jeans und einer Frau im ärmellosem Top und einem weit schwingenden, knöchellangen Rock.
»Ja?«, sagte ich und trat einen halben Schritt vor.
»Inspector Alan Duncan von der Sydney Metropolitan Police«, stellte er sich vor und streckte mir seine Hand entgegen. »Herzlich willkommen in Down Under, Agents.«
Ich ergriff seine Hand. »Vielen Dank, Inspector.«
Danach schüttelte er auch Phil die Hand und stellte seine beiden Begleiter vor.
»Das sind Detective Sergeant Linda Masters und Lieutenant Patrik Gray.«
Wir wiederholten das Begrüßungszeremoniell.
»Können wir?«, fragte Duncan und deutete auf die beiden Koffer, die neben uns standen.
»Noch nicht«, gab Phil zurück. »Wir warten noch auf die Kiste mit unseren Waffen.«
Inspector Duncan lachte und auch seine beiden Begleiter grinsten. »Sie glauben doch nicht, dass Ihre Waffen auf diesem Band hier kommen. Die sind längst aussortiert worden. Wir holen den Koffer beim Immigration Officer ab.« Er drehte sich um und wir folgten ihm.
Eine halbe Stunde später hatten wir endlich alle Formalitäten erledigt und konnten das Airportgebäude verlassen. Die Jacken, die uns vor den Minustemperaturen in New York geschützt hatten, hatten wir schon lange in unseren Koffern verstaut und die Hemdärmel hochgekrempelt, trotzdem traf uns die Hitze vor dem Gebäude wie ein Hammerschlag. Phil und mir quoll nach ein paar Schritten der Schweiß aus allen Poren.
»Der Wagen steht gleich da drüben«, sagte Duncan und deutete nach links. »Ein kleines Privileg, wenn man bei der Polizei ist.«
Er ging auf einen weißen Toyota Landcruiser zu.
»Schrecklich heiß hier«, meinte Phil, um die etwas hölzerne Unterhaltung mit den australischen Kollegen aufzulockern.
»Nicht wirklich, Special Agent Decker«, gab Linda Masters einsilbig zurück. »Ist noch früh am Morgen.«
»Wie spät ist es überhaupt?«, fragte ich nach.
»Halb elf.«
»Morgens oder abends?«, versuchte Phil einen Scherz zu machen, der aber nicht ankam.
Wir hatten den Off-Roader erreicht und zwängten uns in das brütend heiße Gefährt. Duncan stellte sofort die Klimaanlage auf Maximum und fädelte sich in den Verkehr ein. Phil und ich hielten den Atem an, denn an den Linksverkehr mussten wir uns erst noch gewöhnen.
Eine gute halbe Stunde später hielt Inspector Duncan vor dem BaysideHotel. Phil und ich hatten anfänglich noch versucht, ein Gespräch mit den drei Australiern aufrechtzuerhalten, dann waren uns aber bald die Lider schwer geworden und wir hatten vor uns hingedöst.
»Hier haben wir Ihnen Zimmer reserviert. Das Police Department liegt zwei Blocks weiter. Ruhen Sie sich erst einmal von dem langen Flug aus und versuchen Sie den Jetlag zu ignorieren«, empfahl uns Inspector Duncan, als er uns aus dem Kofferraum unser Gepäck reichte. Als ich nach der Alu-Box mit unseren Waffen greifen wollte, kam er mir zuvor.
»Nein, Assistant Special Agent in Charge Cotton, die nehme ich mit aufs Revier. Die kommt in die Waffenkammer. Sie dürfen Ihre Waffen ja sowieso nur tragen, wenn wir dabei sind. Dann bekommen Sie sie ausgehändigt.«
»Hören Sie …«, erhob mein Partner die Stimme. Bevor er weitersprechen konnte, hatte ich ihm die Hand auf den Arm gelegt.
»Schon gut, Phil, der Inspector hat vollkommen recht.«
Phil schaute mich erstaunt an. »Aber Jerry …«
»Mister High hat uns die Bedingungen genannt.«
Duncan kam mit uns ins Hotel und erledigte die Formalitäten, während der Sergeant und der Lieutenant am Wagen warteten.
»Ich denke, Sie wollen sich erst einmal frisch machen und sich akklimatisieren, soweit es geht …«, meinte Alan Duncan, als wir die Türkarten in Empfang genommen hatten und ein Page mit unserem Gepäck schon auf dem Weg zu unseren Zimmern war.
Phil und ich nickten.
»Was halten Sie davon, wenn ich Sie morgen früh um neun Uhr abhole und wir dann mit der Arbeit beginnen?«
»Guter Vorschlag«, stimmte ich für Phil und mich zu.
***
In einem unscheinbaren Haus in Bankstown, einem etwas heruntergekommenen Vorort von Sydney, klingelte das Telefon. Ted Selby, übergewichtig und nur mit einem zu eng sitzenden T-Shirt der Brisbane Bulldogs und Shorts bekleidet, wuchtete sich aus dem Sessel hoch und griff nach dem Headset, das neben ihm auf einem kleinen Tisch lag.
»Ja?«, meldete er sich.
»Ich bin’s, Rick. Sie sind angekommen.«
»Und weiter?«
»Der Inspector hat sie ins Hotel gebracht. Ich glaube nicht, dass heute noch etwas passieren wird.«
»Denke ich auch nicht. Sollen die Agents sich erst einmal erholen. Sie müssen fit sein für das, was in den nächsten Tagen auf sie zukommt.« Bei diesen Worten zog sich ein breites Grinsen über Selbys Gesicht.
Aus der Leitung war vom anderen Ende her ein Krächzen zu hören, das man vielleicht als Lachen interpretieren konnte. Selby wischte sich mit der Hand über die schweißnasse Stirn und die kurzgeschnittenen Haare.
»Wir treffen uns heute Abend hier und sprechen noch einmal alles durch. Sorg dafür, dass das Hotel immer unter Beobachtung steht. Ich will über jeden Schritt der beiden Yanks informiert sein. Sobald etwas Ungewöhnliches passiert, rufst du an.«
»Geht klar«, bestätigte Rick und unterbrach die Verbindung.
Nachdenklich blickte Selby von der Veranda auf die in der mittäglichen Hitze flimmernde Straße. Dann wählte er eine Nummer. Als sich der Teilnehmer meldete, sagte er: »Es ist so weit.«
***
Am nächsten Morgen um neun standen Phil und ich in der gut klimatisierten Hotelhalle. Wir trugen leichte Sommerkleidung und versuchten den Klimawechsel so gut wie möglich zu verdauen. Wir waren schon seit sechs Uhr auf, denn mit dem Schlafen hatte es doch nicht so richtig geklappt. Unsere innere Uhr bestand darauf, dass es jetzt sechs Uhr abends sei – und zwar gestern. So hatten wir genügend Zeit gehabt, ein paar Runden im Swimmingpool zu drehen und danach ausgiebig zu frühstücken.
Touristengruppen versammelten sich in der Halle, um auf Sightseeing-Tour zu gehen, Busse fuhren vor und wieder weg, und die ersten Neuankömmlinge von den Flügen aus Europa und Asien belagerten den Counter, um einzuchecken.
Inspector Duncan schob sich durch die Drehtür und kam mit schnellen Schritten auf uns zu.
»Und, wie war Ihre erste Nacht hier in Down Under?«, begrüßte er uns.
»Kurz«, gab ich zurück.
»So richtig schlafen konnten wir nicht«, ergänzte Phil. »Für unser Zeitempfinden war es schließlich Tag.«
»Nun, das gibt sich in ein paar Tagen. Jetzt wollen wir aber erst einmal loslegen.« Duncan drehte sich um und steuerte den Ausgang an. Phil und ich folgten ihm.
Wenig später saßen wir in einem Besprechungsraum des Departments. Mit anwesend war außer Inspector Duncan und den beiden Kollegen von gestern noch ein Spezialist von der zuständigen CSI, der die Tatortuntersuchung durchgeführt hatte.
Alan Duncan fasste noch einmal die Erkenntnisse zusammen, die wir aber im Wesentlichen schon aus den Unterlagen kannten, die uns Mr High in New York gegeben hatte. Der Beamte der CSI hatte noch ein paar Kleinigkeiten beizutragen, aber im Prinzip wussten die Australier nicht mehr, als dass vier Personen in ein leerstehendes Haus gelockt oder gebracht und dort auf professionelle Weise förmlich hingerichtet worden waren. Die Tatwaffe war wahrscheinlich eine Magnum. Das war der Punkt, an dem wir ins Spiel kamen.
Ich schloss meinen Laptop an einen Beamer an und begann mit meinem Vortrag. Ich enthüllte die Identität der vier Getöteten und dass sie im Zeugenschutzprogramm der Staatsanwaltschaft gewesen waren, sich dann aber nach Australien abgesetzt hatten. Über die Gründe konnten auch wir vom FBI nur spekulieren.
Als ich mit diesem Teil fertig war und in die Runde blickte, sah ich in enttäuschte Gesichter. Nach einem ungemütlich langen Schweigen meldete sich Lieutenant Gray zu Wort.
»Nun, Assistant Special Agent in Charge, wir hatten uns eigentlich etwas mehr versprochen. Wissen Sie …«
»Entschuldigung, Lieutenant Gray«, unterbrach ich ihn. »Können wir vielleicht etwas weniger förmlich sein? Wir sind doch Kollegen. Also nennen Sie mich und meinen Partner doch einfach Agent, noch lieber wäre es mir, wenn Sie uns einfach Jerry und Phil nennen würden. Das gilt natürlich auch für die anderen Anwesenden.«
Die australischen Kollegen blickten sich überrascht an, dann ergriff Alan Duncan das Wort. »Danke, Jerry. Ich glaube, dem steht nichts entgegen. Lassen wir also die Förmlichkeiten.«
Alle im Raum nickten zustimmend.
»Also, Patrik, was wolltest du sagen?«, forderte ich den Lieutenant auf.
»Ja, was ich sagen wollte, für euch in New York ist es vielleicht nichts Ungewöhnliches, ein paar Leichen zu finden, die man nicht identifizieren kann, und keinerlei Hinweis auf den Täter zu haben, aber bei uns ist das nicht gerade alltäglich. Deshalb hofften wir, von euch Rückschlüsse auf den oder die Täter zu bekommen. Diese Geschichte hat hier in Sydney für ziemlich viel Wirbel gesorgt und wir sind ganz schön unter Druck.«
Ich nickte. »Genau deshalb sind wir hier. Phil wird euch jetzt sagen, wohin unsere Vermutungen gehen und mit wem ihr, beziehungsweise natürlich auch wir, es zu tun haben könnten.«
Phil räusperte sich.
»Die Art, wie diese Morde ausgeführt wurden, und der Zusammenhang mit der Zerschlagung einer Verbrechensorganisation in den USA deuten darauf hin, dass wir es mit einem alten Bekannten zu tun haben. Wir nennen ihn nur das ›Phantom‹. Es ist ein Killer, dem wir eine Reihe von Morden zur Last legen – wie viele, wissen wir nicht genau. Er ist lange für uns ein Phantom geblieben, weil wir rein gar nichts über ihn wussten. Inzwischen haben wir einen bürgerlichen Namen, Kedro Hollander, aber es bestehen große Zweifel, ob das sein richtiger Name oder auch nur eine Tarnexistenz ist. Er steht oder stand in den Diensten der ENA …«
»Was ist bitte die ENA?«, fragte Inspector Duncan nach.
Phil klickte auf den Laptop und auf der Projektionsfläche an der Wand erschien ein Organigramm, das die Organisationsstruktur der ENA zeigte, soweit wir sie hatten rekonstruieren können.
»Die ENA«, setzte Phil seinen Vortrag fort, »war oder ist eine weit aufgefächerte Verbrecherorganisation, die vor einiger Zeit kurz davorstand, wesentliche Positionen und Schaltzentren der Wirtschaft und Politik in den USA zu übernehmen. Uns ist es gerade noch rechtzeitig gelungen, diese Pläne zu durchkreuzen und die ENA faktisch zu eliminieren …«
»ENA, was soll das denn bedeuten?«, fragte Linda Masters nach. Phil lächelte die gut aussehende Polizistin an, die allerdings keine Miene verzog.
»ENA steht für Enforcement of Nuisance and Affluence. Und glauben Sie mir, das haben sie auch gemacht. Sie haben das Verbrechen und ihren Reichtum wirklich vorangetrieben.«
Ich warf einen Blick in die Runde. Es hatte nicht den Anschein, als wären die australischen Kollegen wirklich beeindruckt. Phil sprach inzwischen weiter. »Nun etwas über die Struktur der ENA, soweit wir sie aufdecken konnten. In jedem Land, in dem die ENA tätig war, gab es einen Führungszirkel. Unterhalb dieses Führungszirkels gibt es sogenannte Arbeitsgruppen, die in den verschiedenen Ländern agieren und von Consultants geleitet werden.
Unter den Consultants beginnt die Ebene, wo sich die ENA beliebiger Gangster bedient, um ihre Ziele zu erreichen. Diese werden zu einem bestimmten Zweck angeheuert und bezahlt, ohne dass sie irgendetwas über die Organisation erfahren. Der Consultant sucht sich dazu einen für die jeweilige Aktion notwendigen Mittelsmann, der seine Befehle weitergibt und die Durchführung der Aktion überwacht. Der Mittelsmann kennt den Consultant nicht. Im Idealfall, wenn die staatlichen Organe keine Spur aufnehmen können, verstreut sich die Gruppe nach der Aktion in alle Winde.
Es gibt Resident Consultants und Special Consultants. Die Resident Consultants haben in großen Städten und Ballungsgebieten, zum Beispiel New York, Chicago, Bogotà oder auch in Bangkok ihren Sitz und dort ein Netzwerk in Politik und Wirtschaft aufgebaut. Es sind angesehene Männer, deren wahre Identität natürlich geheim ist.
Die Special Consultants sind so etwas wie eine Feuerwehr. Sie werden von der ENA eingesetzt, wenn keine bestehende Arbeitsgruppe vor Ort existiert, die den Auftrag durchführen kann. Nach Abschluss der Aktion verschwinden die Special Consultants wieder in der Versenkung – bis ein neuer Auftrag erteilt wird. Auch diese Leute haben als Tarnexistenz einen einflussreichen Beruf, z.B. Unternehmensberater, Top-Ingenieure, Militärs, Rechtsanwälte.
Neben den Consultants gibt es noch Associatees, die exklusiv für die ENA konkrete Spezialaufgaben durchführen. Sie erhalten die gesamte Rückendeckung der ENA und werden von Fall zu Fall eingesetzt und leben ansonsten ein ganz normales Leben. Man könnte sie als Schläfer bezeichnen, die zu einem bestimmten Auftrag geweckt werden.
Ziel der ENA war bzw. ist es, ein weltweites Geflecht aufzubauen und so etwas wie eine weltweite Schattenwirtschaft des Verbrechens zu etablieren. Vorbild sind dabei die international operierenden Großkonzerne. Dabei arbeitet die ENA mit allen Mitteln. Im Vordergrund steht nicht zuletzt die Geldbeschaffung für die weltweiten Aktionen, die Ausschaltung von Konkurrenten und die Einflussnahme auf Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft. Vordringliche Ziele der ENA sind: Kontrolle des gesamten Rauschgifthandels, des Waffenhandels und ähnlicher Unternehmungen.«
Nachdem Phil geendet hatte, schaute er erwartungsvoll in die Runde.
»Und was hat das mit unserem Fall zu tun?«, wollte Linda Masters wissen.
»Wir nehmen an«, ergriff ich das Wort, »dass die Morde eine Strafaktion der ENA an Verrätern war und das ›Phantom‹, das man wohl als Associatee ansehen muss, den Auftrag dazu erhielt. Wir haben also einen Hinweis auf den Täter …«
»Was uns aber nicht viel weiterhilft«, warf Duncan ein, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust.
»Vielleicht doch, denn wenn das ›Phantom‹ hier tätig geworden ist, besteht die Möglichkeit, dass die ENA in Australien präsent ist …«
»Ich glaube nicht, dass es diese Organisation bei uns gibt«, erklärte Duncan. »Dann hätten wir bestimmt schon etwas davon gehört.«
»Nun, so einfach ist es nicht. Wir haben lange gebraucht, bis wir Hinweise auf die ENA hatten. Zu diesem Zeitpunkt war sie schon etabliert. Wir mussten erst die Verbindung von einer Reihe von Verbrechen herstellen, die oberflächlich nichts miteinander zu tun hatten.«
Alan Duncan machte eine wegwerfende Handbewegung. »Lassen wir das«, knurrte er unmutig. »Wie wollen wir jetzt weiter vorgehen?«
»Wir haben hier das DNA-Spektrum von Kedro Hollander. Wenn Sie also unbekannte DNA am Tatort festgestellt haben, dann können wir einen Abgleich machen.« Mein Blick ging zu dem CSU-Mann, der den Kopf schüttelte.
»Nein, wir haben nur die DNA der Opfer gefunden. Das war ja einer der Punkte, die uns zu schaffen gemacht haben.«
»Gut, dann würden Phil und ich uns gerne den Tatort ansehen, wenn das noch möglich ist.«
Duncan nickte. »Das können wir. Wir haben ihn noch nicht freigegeben. Ob es aber nach der langen Zeit noch etwas bringt, wage ich zu bezweifeln.«
***
Die Abenddämmerung senkte sich über den Parramatta River mit seinen unzähligen Buchten, an denen die wohlhabenden Einwohner von Sydney ihre Häuser mit dazugehörigem Bootssteg hatten. An den dort vertäuten Booten konnte man die Wohlhabenden von den Reichen unterscheiden. Ted Selby lenkte den schon etwas betagten Nissan Patrol die kurvige Straße durch die Hügel und kam vor dem Gittertor eines Anwesens zum Stehen, das man in seiner Weitläufigkeit hinter der hohen Mauer nur erahnen konnte. Es dauerte keine Minute, dann schwang das Tor auf. Die Zufahrt zum Haus wurde von halbhohen Leuchtsäulen erhellt und endete vor einem imposanten zweistöckigen Gebäude. Selby stellte den Wagen neben den Garagen ab und ging auf die Haustür zu. Er war sich sicher, dass jeder seiner Schritte von einem Überwachungssystem aufgezeichnet würde.
An der Tür befand sich weder eine Klingel noch ein Klopfer oder sonst etwas, mit dem er sich hätte bemerkbar machen können. Er musste nicht lange warten, dann wurde ihm von einem Asiaten in einem perfekt sitzenden weißen Jackett geöffnet. Eine knappe Geste forderte ihn zum Eintreten auf. Selby folgte dem Mann, der ihn durch das Haus auf eine Terrasse führte, von der man den Fluss überblicken konnte. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen und auf den Hügeln, die sich vom Fluss erhoben, sah man die Lichter der darin versteckt liegenden Häuser wie Sterne blinken. Rechts am Horizont schimmerte der helle Schein der erleuchteten Harbour Bridge.
Auf der Terrasse, im blassen Schein einer Kerze, konnte Selby die Silhouette eines Mannes erkennen. Der Asiate zog sich lautlos zurück. Selby blieb stehen und wartete.
»Setzen Sie sich«, kam nach einer qualvoll langen Zeit die Aufforderung.
Selby trat vor und setzte sich zu dem Mann, der ihn keines Blickes würdigte, an den niedrigen Tisch.
»Sie haben alles vorbereitet.« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung, die nur eine Bestätigung des Sachverhalts als Antwort erlaubte.
Selby räusperte sich. »Ja.«
»Gut.«
»Sie wissen, dass ich Ihnen in der Angelegenheit ganz vertraue?«
»Ja, und das können Sie. Ich werde das mit meinen Jungs perfekt und …«
Mit einer schnellen Geste unterbrach der Hausherr den Redeschwall von Selby. Er beugte sich zur Seite und nahm eine Plastiktüte auf, die neben seinem Sessel auf dem Boden stand.
»Hier ist noch etwas, das Sie zur Durchführung Ihres Auftrags brauchen.« Er reichte Selby die Tüte.
Selby blickte hinein und sah eine Magnum Desert Eagle – ein riesiges Schießeisen. »Wozu? Wir haben unsere eigenen Waffen.«
»Die sollten Sie besser nicht gebrauchen«, gab der Mann zurück. »Ich will, dass nur aus dieser Waffe geschossen wird. Haben Sie verstanden?«
Selby konnte sich keinen Reim auf das Anliegen seines Auftraggebers machen. Aber solange er bezahlte, gut bezahlte … »Ja, natürlich, wird erledigt. Und was soll dann mit der Waffe passieren?«
»Die liefern Sie wieder hier ab.«
»Wird erledigt«, erklärte Selby dienstbeflissen.
»Und noch etwas.« Der Mann zog eine kleine Plastiktüte aus seiner Jackentasche und reichte sie Selby. »Das hier lassen Sie am Tatort zurück.«
Selby nahm die durchsichtige Plastiktüte, die nicht größer als ein Briefumschlag war. Darin befanden sich ein paar Haare unbestimmter Farbe.
»Was ist das?«, fragte er überflüssigerweise.
»Haare, oder ist das so schwer zu erkennen?« Ein leicht verärgerter Unterton schwang in der Stimme seines Auftraggebers mit.
»Wozu?«
»Das hat Sie nicht zu interessieren. Sie machen, was ich Ihnen sage. Haben wir uns verstanden?«
Selby nickte und steckte die Plastiktüte ein.
»Ich höre von Ihnen, wenn der Auftrag erledigt ist.«
Wie aus dem Nichts herbeigezaubert stand auf einmal der Asiate neben Selby und ließ keinen Zweifel daran, dass es jetzt Zeit war zu gehen.
***
Zwei Stunden hatten wir mit den australischen Kollegen in dem Haus in Rockdale zugebracht und nichts gefunden. Wir konnten nur das bestätigen, was vorher schon klar war. Das Haus war klinisch rein – im kriminaltechnischen Sinne. Auf dem Fußboden waren noch die Kreideumrisse, wo die Leichen gelegen hatten. Ein paar dunkle Flecken innerhalb dieser Umrisse, wo das Blut eingetrocknet war, und ansonsten nichts. Es bestätigte sich für Phil und mich, was die Polizei von Sydney vermutet hatte: Die Opfer waren in das Haus gelockt und dann erschossen worden.
Da der Täter nichts außer ihren Körpern zurückgelassen hatte, fehlte auch jeder Hinweis, wo sie bis zu diesem Zeitpunkt gelebt hatten. Ein Fahndungsaufruf der Polizei von Sydney kurz nach dem Verbrechen hatte auch nichts gebracht.
Wie waren die vier an den Ort ihrer Hinrichtung gekommen? Mit einem Wagen, das lag auf der Hand, wenn man sich die abgelegene Lage des Hauses vergegenwärtigte. Doch wo war der Wagen abgeblieben? Das Haus lag am Rande von Sydney, der nächste Nachbar war mehr als fünfhundert Meter entfernt, und es stand schon seit einem halben Jahr zum Verkauf.
Ich stand neben Patrik Gray, der sich eine Zigarette angesteckt hatte, und starrte auf das Buschland, das sich jenseits der Straße ausbreitete. Phil war hinter dem Haus unterwegs und suchte nach etwas, nach irgendetwas.
»Ich denke, ihr habt hier jeden Stein umgedreht«, begann ich ein Gespräch.
»Ja, aber wir haben nichts gefunden«, gab er mürrisch zurück. »Gar nichts.«
»Das ist die Arbeit des ›Phantoms‹. Man findet nie etwas, und das macht ihn so gefährlich.«
»Und wie geht es weiter, Jerry? Hast du einen Plan?«
»Nun, wir wissen, und ihr jetzt auch, zumindest etwas, was euch bislang unbekannt war. Die Opfer hatten eine kriminelle Vergangenheit und waren bedroht. Die Frage ist nun: Was hat das Ehepaar Gescon, Pricklett und Sheckley dazu veranlasst, dieses Haus aufzusuchen? Sie wussten doch, dass sie sich in Gefahr begeben würden. Warum taten sie es, oder wurden sie entführt und hierhergebracht?«
Patrik zuckte mit den Schultern. »Eher nicht. Keine Fesselspuren an den Leichen, keine Einwirkung von äußerer Gewalt, außer den Kopfschüssen, und keine Substanzen im Körper, die auf eine Betäubung hindeuten.«
Phil kam am Haus vorbei die Stufen hoch und schüttelte den Kopf. Hinter ihm tauchten Inspector Duncan und Linda Masters auf. Phils Hemd zeigte große dunkle Flecken unter den Achseln. Die Hitze war wirklich mörderisch, wie New York zu den schlimmsten Zeiten im August. Mein Partner schüttelte den Kopf.
»Machen wir Schluss«, sagte Duncan. »Ich habe mir auch nicht viel davon versprochen«, fügte er resignierend hinzu.
Wir stiegen in den Landcruiser, den Linda Masters auf die holprige Zufahrtsstraße lenkte. Das Gebläse der Klimaanlage ließ nach kurzer Zeit die Innentemperatur auf ein erträgliches Maß absinken.
»Morgen haben wir die Daten von der Einwanderungsbehörde«, sagte Duncan und drehte sich auf dem Beifahrersitz zu uns nach hinten um. »Jetzt, wo wir die Namen haben, können wir vielleicht rekonstruieren, wann und wo die vier Opfer eingereist sind und wo sie sich bis zum Zeitpunkt ihres Todes aufgehalten haben.«
Ich nickte. Aber wer sagte uns, dass sie sich in den USA nicht falsche Pässe besorgt hatten?
»Mit Ihrem ›Phantom‹ wird es allerdings etwas schwerer werden. Oder glauben Sie, es ist unter seinem Namen eingereist?«
»Wahrscheinlich nicht. Zumal wir noch nicht einmal wissen, ob seine Tarnexistenz in Utah und der Name Kedro Hollander sein wirklicher Name ist. Es bleibt immer noch das Phantom.«
Nach einer Stunde hatten wir wieder das Stadtzentrum von Sydney und unser Hotel erreicht. Es war ein langer erster Tag für Phil und mich gewesen. Wir verabschiedeten uns von unseren australischen Kollegen. Ganz oben auf unserem Dienstplan stand erst einmal eine Dusche, und dann wollten wir etwas essen gehen.
***
Ted Selby saß am Steuer des Nissan Patrol und starrte gegen die untergehende Sonne. Die Straße zog sich genau nach Westen und die Schlieren auf der Windschutzscheibe brachen das Licht in schimmernde Kaskaden. Aus dem Radio dröhnte ein verrauschter Sender aus Sydney, der Rockmusik der sechziger Jahre spielte, unterbrochen von Werbung und einem Telefonspiel, bei dem man 100 Dollar gewinnen konnte. Rich Bellows und Norman Leary dösten auf dem Rücksitz, während Ginger Barkley auf dem Beifahrersitz ihn mit dummem Geschwätz zumüllte.
Sie waren auf dem Weg nach Molong, um den Job zu erledigen, für den sie von dem Mann in Sydney angeheuert worden waren. Ein einfacher Job, und ein gut bezahlter dazu. Die Straße zog sich durch ein hügeliges Gelände, rechts davon lag der Blue Mountains National Park. Eine gottverlassene Gegend. Noch eine halbe Stunde, dann wäre die Sonne endlich untergegangen und die Sichtbedingungen besser.
Selby kniff die Augen zusammen und versuchte zu erkennen, was vor ihm lag. In der Dämmerung kamen die Roos aus dem Busch und kümmerten sich nicht darum, ob da eine Straße war oder nicht. Zwar hatte der Nissan einen schweren Bullbar vor der Kühlerhaube, aber Selby konnte gut darauf verzichten, so ein verdammtes Känguru auf die Hörner zu nehmen. Vielleicht flog es ihm noch in die Windschutzscheibe, und dann Goodbye mit dem Auftrag.
»Was ist das für ein seltsamer Job?«, fragte Ginger jetzt schon zum wiederholten Male.
Selby reagierte nicht.
»He, ich hab dich etwas gefragt, Arschloch.«
»Hab’s gehört«, gab Selby zurück.
»Und?«
»Und was?«
»Na, was soll das?«
»Ich weiß auch nicht mehr. Wir fahren dorthin, erledigen die Sache und verschwinden wieder. So einfach ist das.«
Ginger machte das Handschuhfach auf und holte die Desert Eagle heraus. Sie ließ das Magazin herausgleiten und schob es dann mit einem deutlichen Klicken wieder zurück. »Und wir dürfen nur diese Waffe benutzen?«
»Leg die Knarre wieder zurück«, fuhr Selby die Frau auf dem Beifahrersitz an.
»Nun hab dich mal nicht so«, gab Ginger zurück.
Selby warf einen bösen Blick auf Ginger. Eigentlich war sie nicht übel, aber manchmal konnte sie einem schon wirklich auf den Geist gehen. Jedenfalls hatte sie nach ihm die besten Nerven von den vieren. Und sonst konnte man sich auch nicht beschweren. Eine gute Figur, dunkle, lockige Haare und auf keinen Fall prüde. Sie wusste, was sie wollte und wie sie es bekam. Sie legte die Waffe zurück ins Handschuhfach und räkelte sich dann auf dem Sitz. Selby kamen Erinnerungen an die letzte Nacht, die er aber mit einem Kopfschütteln wieder verdrängte.
»Feiern wir, wenn wir die Kohle haben?«, fragte Ginger mit einem Gurren in ihrer Stimme.
Selby riskierte einen Blick. Sie hatte ihr T-Shirt hochgeschoben, sodass er ihre Brüste sehen konnte.
»Ja, natürlich, aber bis dahin konzentrieren wir uns auf den Job.«
Mit einem gekünstelten Schmollen zog Ginger ihr Shirt wieder nach unten.
Die Dunkelheit brach herein und die Scheinwerfer des Nissan erhellten nur noch einen schmalen Streifen der Straße. Weit vor ihnen stachen helle Leuchtfinger in den Himmel. Selby packte das Lenkrad fester und hielt den Wagen ganz links am Straßenrand. Die Lichter kamen näher und dann rauschte ein Roadtrain an ihnen vorbei. Der Luftzug schüttelte den Nissan durch und die beiden Männer auf dem Rücksitz schreckten aus dem Schlaf.
»Was ist los? Sind wir da?«, fragte Norman Leary mit rauer Stimme.
»Nein«, gab Selby zurück. »Wir sind kurz vor Lithgow. Ich schätze, noch eine gute Stunde.«
***
Phil und ich hatten geduscht, frische Sachen angezogen und waren jetzt bereit, Sydney zu erkunden. Wir kamen aus dem Lift, standen etwas unschlüssig in der Hotellobby herum und studierten den Stadtplan.
»Mister Cotton, Mister Decker.«
Der Mann hinter dem Desk winkte uns zu sich.
»Hier ist eine Nachricht für Sie.«
Er händigte uns einen Umschlag aus. Phil und ich zuckten mit den Schultern.
»Der ist vorhin für Sie abgegeben worden.«
Wir bedankten uns und sahen uns den Brief unschlüssig an. Ein Hotelumschlag. Auf der Vorderseite standen nur unsere beiden Namen. Ich riss ihn auf. Darin befand sich die Karte eines Lokals, The Downs, mit Adresse. Ich drehte die Karte um. Mit Bleistift war 10.30 darauf notiert. Die Adresse lautete: Playfair Street, The Rocks.
Ich reichte sie Phil und drehte mich zu dem Mann an der Rezeption um.
»Wissen Sie, wer das abgegeben hat?«
»Nein, Sir, ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern. Vielleicht wurde der Brief auch einem Kollegen ausgehändigt. Soll ich mal nachfragen?«
»Nein, ist schon gut«, lehnte ich sein Angebot ab. Es würde uns auch nicht weiterhelfen.
Ich ging mit Phil ein paar Schritte von der Rezeption weg.
»Was nun?«, fragte mein Freund und betrachtete die Karte nachdenklich.
Ich schaute auf die Uhr. Es war halb acht. Zeit genug, etwas zu essen und dabei zu überlegen, ob wir der Aufforderung Folge leisten wollten.
»Nehmen wir ein Taxi und fahren in die Rocks«, schlug ich vor.
The Rocks war ein Amüsierviertel, das am Überseehafen an der Sydney Cove lag, einem bis in die achtziger Jahre ziemlich heruntergekommenen Stadtteil, der aber erfolgreich aufgepeppt worden war und nun ein beliebtes Touristenviertel mit Restaurants, Kneipen und Bars war. Nicht nur für die Touristen, wie uns Alan Duncan versichert hatte, auch die Einheimischen suchten dort ihr Freizeitvergnügen. So etwas wie das Village in New York, hatte er den Vergleich gewagt. Nun, er kannte New York nicht und wir nicht Sydney.
Wir ließen uns vom Taxifahrer am Circular Quai absetzen und liefen an der Mole entlang zu The Rocks, wo schon ziemlich viel Leben herrschte. Die meisten Bars hatten Tische vor der Tür stehen, wo sich nicht nur die Raucher sammelten und die milde Brise, die vom Meer die Bucht hereinblies, genossen. Die Temperatur war inzwischen unter dreißig Grad gefallen und man konnte es aushalten. Einige Yachten kreuzten in der Bucht und über die Harbour Bridge rauschte der Feierabendverkehr in die nördlichen Vororte.
Phil und ich schauten uns nach einem Restaurant um. Die Auswahl war einer Großstadt angemessen, allerdings überwogen asiatische Restaurants aller Couleur, an zweiter Stelle lagen Italiener, dicht gefolgt von Griechen. Dazwischen mal ein Steakhouse und die unvermeidlichen Fastfood-Ketten. Etwas ratlos blieben wir stehen.
»Probieren wir doch einfach den Thailänder dort drüben«, schlug Phil vor und deutete schräg über die Straße zu einem schmalen Restauranteingang, über dem ein stilisierter Buddha hing.
»In Ordnung.«
***
Als wir das Lokal nach zwei Stunden verließen, hatten wir gut gegessen und einen bis dahin angenehmen Abend verbracht.
Jetzt standen wir vor dem Lokal und hatten noch eine halbe Stunde bis zu unserem Treffen. The Downs lag in der Parallelstraße, keine zehn Minuten zu Fuß. Ganz wie normale Touristen schlenderten Phil und ich los. Einen wirklichen Plan für das, was kommen sollte, hatten wir nicht. Wir mussten abwarten, was passieren würde, und so ganz wohl fühlten wir uns in unserer Haut nicht. Ich für meinen Teil wäre schon beruhigter gewesen, wenn ich den vertrauten Druck der SIG an meiner Hüfte gespürte hätte.
Vor dem Downs stand eine Traube von ausgelassenen Menschen, Biergläser in der Hand, die meisten rauchten, und bei einigen Pärchen schienen sich zarte Bande anzuknüpfen. Die Bar selbst war ein fast quadratischer Raum, in dessen Mitte sich eine hufeisenförmige Bar befand, die an den Seiten nur Platz für einen schmalen Durchgang ließ. An den Wänden waren Borde angebracht, auf denen die Gäste ihre Gläser abstellen konnten. Tisch und Stühle gab es keine. Auf der rechten Seite befand sich am Ende des Durchgangs eine Tür, die zu den Toiletten führte. Der linke Durchgang endete an einer Tür, an der groß Private – No Admission geschrieben stand. An der rechten Wand, in Höhe der Bar, war ein Flachbildschirmfernseher angebracht, in dem ein Rugbyspiel ohne Ton lief. Niemand schien sich wirklich dafür zu interessieren.
Hinter der Theke waren zwei Frauen und ein Mann damit beschäftigt, den Gästen, die für Getränke anstanden, ihre Wünsche zu erfüllen. Unauffällig blickte ich mich um. Niemand schien sich um uns zu kümmern.
Ein kurzer Augenkontakt mit Phil bestätigte mir, dass auch er ziemlich unschlüssig war. Wir ließen uns an der Bar nieder. Uns gegenüber befanden sich riesige Kühlschränke, in denen sich Gläser befanden, die kaum herausgeholt sofort beschlugen. Darüber befanden sich Flaschenbatterien der gängigsten Schnäpse. BundaberryRum schien sich, wie wir feststellen konnten, besonderer Beliebtheit zu erfreuen. Er wurde mit so ziemlich allem gemischt, was flüssig war. An Bier vom Fass gab es Four X, Four X Gold, die Leichtvariante des ersten, Victoria Bitter und Foster Bitter. Wem diese Auswahl nicht reichte, der konnte auf unzählige Sorten in Flaschen zurückgreifen, die in Kühlschränken mit Glastüren standen.
»Was darf’s sein, Leute?«, fragte eine hübsche Rothaarige, die für einen Moment den Zapfhahn verlassen hatte und uns nun mit einem breiten Lächeln auf der anderen Seite der Bar gegenüberstand.
»Tonic Water«, gab ich mit einem Lächeln zurück. »Zweimal.«
»Mit was?«, fragte sie zurück.
»Mit Eis, wenn’s geht«, antwortete Phil.
»Na, ihr seid mir vielleicht zwei Spaßvögel.« Ihre Miene wurde deutlich ernster. Anscheinend passten wir nicht in ihren routinierten Ablauf. »Ich meine, ihr wollt das Zeug doch nicht pur trinken.«
Also daher wehte der Wind. »Nein, keinen Schnaps, wirklich nur Tonic Water«, erklärte ich.
Sie zuckte die Schultern und zog von dannen. Kurz darauf stellte sie zwei kleine Flaschen Tonic Water vor uns auf die Theke. »Fünf Dollar.«
Ich legte den entsprechenden Schein auf die Theke. Die Rothaarige nahm ihn und verschwand.
»Dass wir auch immer auffallen müssen«, meinte Phil, als die Bedienung außer Hörweite war. »Wahrscheinlich können wir uns in keiner Bar mehr sehen lassen.«
Ich nickte. »Ist nun mal nicht zu ändern, aber so wird uns der große Unbekannte leicht finden. Zwei Yanks, die den Alkohol verweigern. Auffälliger kann man sich hier wohl nicht benehmen.«
»Da hast du auch wieder recht.«
Ich schaute auf die über den Kühlschränken angebrachte Uhr. Wir hatten noch fünf Minuten bis halb elf. Ich drehte mich zur Tür hin. Irgendwann musste ja irgendwer auftauchen. Aus dem Augenwinkel verfolgte ich das Geschehen auf dem Fernseher, in dem gerade Werbung lief. Phil behielt das Personal im Auge, besonders wohl die hübsche Rothaarige, die uns Nichttrinker aber geflissentlich ignorierte.
»Cathy, mach mir ein Gold.«
»Pott oder Scooner?«
»Scooner.«
Phil und ich fuhren herum. Neben uns an der Bar, zu nah, um nur zufällig dort zu sein, stand ein Mann und grinste uns an. Er war gut einen Meter neunzig groß, hatte einen kahlgeschorenen Schädel und eine Tätowierung, die sich vom Hals hinunterzog, bis sie unter dem T-Sirt der Sydney Swans verschwand. Darüber trug er eine dieser Westen, die mit unzähligen Taschen ausgestattet waren. Er war stark gebräunt, aber es sah nicht nach Sonnenstudio aus. Sein muskulöser Körper deutete eher auf einen Job in der freien Natur hin.
Die rothaarige Cathy kam mit einem gefüllten Bierglas und stellte es vor den Mann.
»Hier, Chris. Wie geht’s denn so?«
»Geht so«, antwortete Chris und legte einen Zwanziger auf die Theke.
»Noch ein Tonic?«, fragte Cathy und erwartete nicht wirklich eine Antwort.
Ich wollte etwas sagen, doch Chris gebot mir mit einer kurzen Geste zu schweigen und trank von seinem Bier. Cathy kam mit dem Wechselgeld zurück und legte es neben das Bierglas auf den Tresen. Chris machte keine Anstalten, es einzustecken.
»Na, Yanks, habt ihr euch schon eingelebt?«
Phil und ich zuckten mit den Schultern und ich fragte mich, wo Chris auf einmal hergekommen war. Es blieb nur die Tür zu den Toiletten, die wir nicht im Auge gehabt hatten.
»Anscheinend ja noch nicht«, meinte Chris und deutete auf unsere Tonic Water.
»Ich denke nicht, dass ich Ihnen sagen muss, dass wir im Dienst sind«, antwortete ich reserviert, aber bereit, einen Versuchsballon steigen zu lassen.
»Klar, Leute. Aber machen wir’s doch nicht so förmlich. Ich bin Chris, Jerry«, und er streckte mir die Hand hin. Bevor ich mich noch wundern konnte, woher er wusste, wer ich und wer Phil war, hatte er schon meine Hand ergriffen und geschüttelt. Danach machte er das Gleiche mit Phil.
»Okay, Chris. Jetzt mal Klartext. Was soll das hier?«
Chris trank sein Glas leer und stellte es auf die Theke, dann hob er in gespielter Abwehrhaltung die Hände hoch. »Nicht doch. Ich bin nur der Überbringer der Botschaft.«
In diesem Moment tauchte Cathy auf und nahm das leere Glas weg. Kurz darauf stellte sie ein volles vor Chris und nahm sich von dem auf der Theke liegenden Geld. Für den Australier schien das ganz normal zu sein.
»Also, welche Botschaft hast du?«
»Ihr seid doch hier wegen der vier Yanks, die man in Rockdale erschossen hat, klar?«
Ich nickte.
»Da hat man euch wohl ein paar Zeugen unter dem Hintern weggeschossen.«
»Wenn man so will«, räumte Phil ein. »Nur dass sie schon ausgesagt hatten und der Prozess schon lange gelaufen ist.«
»Vielleicht haben sie euch aber nicht alles gesagt«, gab Chris zurück. »Vielleicht wussten sie etwas, was ihnen gefährlich wurde. Vielleicht war das der Grund, warum sie hier aufgetaucht sind.«
»Ein bisschen viele Vielleichts«, meinte Phil und sah mich demonstrativ gelangweilt an.
Chris ließ sich dadurch nicht beeindrucken. »Gebt doch zu, dass ihr keine Ahnung habt, oder?«
»Du aber«, ging ich in die Offensive.
»Nein, aber der, der mich zu euch geschickt hat.«
»Und wer ist das?«
Chris lachte. »Der Weihnachtsmann jedenfalls nicht, obwohl ich ein Geschenk für euch habe. Merkt euch mal die Namen Freckle, Lindsay, Meyers und Banham …«
»Noch mal«, forderte Phil Chris auf, holte seinen Notizblock hervor und suchte nach einem Stift. Chris kam ihm zuvor, zog einen Kugelschreiber aus einer der vielen Taschen seiner Weste und reichte ihn Phil. Dann wiederholte er die Namen.
»Und, was ist mit den Leuten?«
»Das sind drei Männer und eine Frau, die aus San Francisco kommend in Australien eingereist sind. Na, klingelt’s jetzt?«
»Du meinst, das waren die Gescons, Pricklett und Sheckley?«
»Genau. Und wenn wir schon mal dabei sind, solltet ihr in Frisco auch mal nachforschen, wer ihnen die falschen Papiere besorgt hat. Die waren nämlich echter als echt.«
Wieder holte Cathy das inzwischen leere Bierglas und brachte ein neues. Während dieser Zeit erklärte uns Chris mit lauter Stimme das Rugbyspiel, das wieder im Fernseher lief.
»Und wer hat sie umgebracht?«, fragte ich, als Cathy verschwunden war.
»Der Weihnachtsmann …«, entgegnete Chris grinsend.
»Und warum wurden sie umgebracht?«
»Weil sie dem Osterhasen die Eier geklaut haben?« Chris schien sich köstlich zu amüsieren.
»Hör zu, du Kängurujäger.« Phil war deutlich mit seiner Geduld am Ende. »Entweder du packst jetzt aus oder du trollst dich. Nur für die paar Namen hättest du uns nicht hierherzubestellen brauchen.«
»Keinen Sinn für Humor, diese Yanks«, meinte Chris kopfschüttelnd. »Aber Kängurujäger ist gut, wirklich gut.«
»Also, jemand wollte nicht, dass die vier weiter mit ihrem Wissen herumlaufen, deshalb hat man ihnen in Frisco gezeigt, dass man ihre neue Identität kennt. Was würdet ihr in einem solchen Fall machen?« Er schaute uns auffordernd an. »Klar«, beantwortete er sich seine Frage selbst, »abhauen. Möglichst weit weg, zum Beispiel nach Australien …«
»Aber«, warf ich ein, »sie hätten sich doch an die Staatsanwaltschaft wenden und dann eine neue Tarnung bekommen können.«
»Und wenn klar war, dass ihre Tarnung nun durch ebendiese Staatsanwaltschaft aufgeflogen war?«
Ich schüttelte den Kopf. Dachte kurz nach und kam dann zu dem Schluss, dass man es doch nicht ausschließen konnte. Bevor ich etwas sagen konnte, sprach Chris schon weiter, und auf einmal war keine Spur von Spott mehr in seiner Stimme.
»Ihr solltet vorsichtig sein, wem ihr hier in Australien vertraut. Die Ermordung der vier Yanks ist nicht nach Plan verlaufen, und das hat für einigen Aufruhr gesorgt. Ihre Leichen sollten eigentlich nie gefunden werden. Die Fronten haben sich verschoben. Der Weihnachtsmann«, jetzt huschte wieder ein Grinsen über sein Gesicht, »ist ziemlich sauer. Und möglicherweise zur Kooperation bereit.«
»Das ›Phantom‹ will sich stellen?« Der Gedanke war mir ganz plötzlich gekommen und es war den Versuch wert, doch Chris verzog keine Miene. Er tat so, als hätte er meine Bemerkung gar nicht gehört.
»Stellt die richtigen Fragen, Agents«, forderte er uns auf. »Aber nicht mir. Ich muss jetzt gehen.« Er nahm das restliche Geld vom Tresen, steckte es ein und ließ uns stehen.
»He …«, setzte ich an.
Er grinste. »Erinnerung ist nicht alles, Jerry.« Dann war er zur Tür hinaus.
***
Lithgow lag inzwischen hinter ihnen und die Nacht war undurchdringlich geworden. Es war eine mondlose Nacht, die zwar das helle Band der Milchstraße am Himmel wie Schneeflocken schimmern ließ, aber die Landschaft in fast undurchdringliche Dunkelheit hüllte. Links und rechts der Straße standen niedrige Büsche und vereinzelte Gerippe von schon lange abgestorbenen Bäumen. Die Katzenaugen der Begrenzungspfosten reflektierten für kurze Zeit das Scheinwerferlicht des Nissan Patrol und verschwanden dann wieder in der Dunkelheit. Die Straße war schlechter geworden. Schlaglöcher rüttelten die Insassen durch und die vier kämpften gegen die Müdigkeit der eintönigen Fahrt. Am Straßenrand wurde ein verblichenes Schild Molong 15 km von den Scheinwerfern erfasst.
»Kommt in die Gänge«, sagte Selby und drehte das bis dahin laut plärrende Radio ab. »Gleich sind wir da.«
Die Tachonadel zitterte um die erlaubten 100 Kilometer.
Auf dem Rücksitz lud Rick Bellows deutlich hörbar seine Pistole durch.
»Lass den Scheiß«, fuhr Selby ihn an. »Dazu ist noch Zeit genug, wenn wir da sind.«
»Immer gut vorbereitet sein«, gab Bellows zurück und das Grinsen auf seinem Gesicht war in der Dunkelheit nicht zu sehen.
»Jetzt noch mal für alle zum Mitschreiben«, sagte Selby. »Waffen ja, aber geschossen wird nur mit der Desert Eagle, klar?«
Ein dreifaches Murren signalisierte Bestätigung.
»Warum eigentlich?«, hakte Ginger nach.
»Weil ich es sage und weil der Boss es so will, klar?«
Aus dem Augenwinkel sah Selby im schwachen Licht der Armaturen, dass Ginger sich damit nicht zufriedengeben wollte.
»Das gilt auch für dich, Ginger!«
Am Straßenrand tauchte das übliche 80-km/h-Begrenzungsschild auf, das eine Ortschaft ankündigte. Selby ging vom Gas. Dann kam die Beschränkung auf 60 km/h und die ersten Gebäude von Molong tauchten links und rechts der Straße aus der Dunkelheit auf. Ein typisches Nest am Rande des Outback – heruntergekommene Häuser, große Vorgärten, in denen sich der Schrott von Jahrzehnten angesammelt hatte: verrostete Farmgeräte, Autowracks, bestenfalls noch zum Ausschlachten geeignet, Hunde, die bellten und um die sich niemand kümmerte.
Dann kam die übliche Tankstelle, die an dieser abgelegenen Straße auch schon längst geschlossen hatte, und eine Zeile mit Läden, die noch nicht einmal nachts beleuchtet waren. Selbst das örtliche Pub hatte schon geschlossen.
Selby blickte sich aufmerksam um. Niemand war mehr unterwegs. Molongs Bürger schliefen den Schlaf der Gerechten. Am Ende der Hauptstraße, die gleichzeitig die Durchgangsstraße war, bog er hinter dem Newagent links ab und fuhr den Nissan nach hundert Metern an den Straßenrand. Er stellte den Motor ab, schaltete die Scheinwerfer aus und wartete. Das Kaff hatte sich nicht in seiner nächtlichen Ruhe stören lassen.
»Los jetzt«, forderte er seine drei Komplizen auf. »Und knallt die Türen nicht zu.«