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Jerry Cotton ist Kult - und das nicht nur wegen seines roten Jaguars E-Type.
Fünf actiongeladene Fälle und über 300 Seiten Spannung zum Sparpreis!
G-Man Jerry Cotton hat dem organisierten Verbrechen den Krieg erklärt! Von New York aus jagt der sympathische FBI-Agent Gangster und das organisierte Verbrechen, und schreckt dabei vor nichts zurück!
Damit ist er überaus erfolgreich: Mit über 3000 gelösten Fällen und einer Gesamtauflage von über 850 Millionen Exemplaren zählt er unbestritten zu den erfolgreichsten und bekanntesten internationalen Krimihelden überhaupt! Und er hat noch längst nicht vor, in Rente zu gehen!
In diesem Sammelband sind 5 Krimis um den "besten Mann beim FBI" enthalten:
Jerry Cotton 3050 - Die Kunst des Tötens
Jerry Cotton 3051 - Zeit zum Sterben
Jerry Cotton 3052 - Denn alle tragen Schuld
Jerry Cotton 3053 - Töten und getötet werden
Jerry Cotton 3054 - Mit ungewissem Ausgang
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Seitenzahl: 618
Veröffentlichungsjahr: 2024
BASTEI LÜBBE AG
Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben
Für die Originalausgaben:
Copyright © 2015 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
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Für diese Ausgabe:
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ISBN: 978-3-7517-6510-7
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Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Jerry Cotton 3050
Die Kunst des Tötens
Jerry Cotton 3051
Zeit zum Sterben
Jerry Cotton 3052
Denn alle tragen Schuld
Jerry Cotton 3053
Töten und getötet werden
Jerry Cotton 3054
Mit ungewissem Ausgang
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Contents
Die Kunst des Tötens
New York City
FBI Special Agent Joe Brandenburg fasste die Magnum mit beiden Händen. Ebenso wie seine Kollegen Les Bedell und »Zeery« Zeerookah trug er Kevlar-Weste und Headset. »Es geht los!«, gab Joe das Signal für alle. Monatelange Ermittlungen lagen hinter ihnen. Heute war der Tag der Ernte …
Vor ihnen lag eine alte Lagerhalle in der Nähe des stillgelegten Navy Yard im Norden von Brooklyn. Eine Stretch-Limousine stand davor, bemannt mit Chauffeur und Leibwächter.
Beide hatten zu spät bemerkt, was die Stunde geschlagen hatte. Als sie die herannahenden G-men sahen, war es schon zu spät. Der Leibwächter machte nicht einmal den Versuch, seine Waffe zu ziehen. Zwei FBI-Agents entwaffneten ihn.
Joe und Les stürmten unterdessen auf den Personaleingang der Lagerhalle zu. Die Tür war offen. Joe gelangte als Erster ins Innere. »FBI! Keine Bewegung!«, rief er.
Die Antwort bestand aus einem Kugelhagel.
In der Mitte der Lagerhalle befanden sich mehrere Kisten. Eine davon war halb geöffnet. Ein Mann mit weinroter Krawatte und dunkelgrauem Maßanzug stand daneben. Er trug Latex-Handschuhe und hielt eine goldene Figur in der Hand, deren Kopf einen langen gebogenen Schnabel hatte. Der Mann war hager und schmal. Das Haar trug er kurz geschoren und fast militärisch korrekt.
Der Mann neben ihm wirkte wie das genaue Gegenteil des Hageren. Er war ein Koloss. Groß, kräftig und mit Armen ausgestattet, die dicker waren als bei anderen Leuten die Oberschenkel. Sein Kopf war kahl. Eine Maschinenpistole vom Typ Uzi hing ihm an einem Riemen an der Seite. Und die riss der Kahlkopf jetzt empor und ballerte los.
Agent Zeerookah wurde getroffen. Die Wucht von einem halben Dutzend kleinkalibriger Uzi-Projektile erwischte seinen Oberkörper und brannte sich in die Kevlar-Weste hinein.
Keine dieser Kugeln konnte das mehrlagige, dicht gewebte High-Tech-Material durchdringen. Aber die kinetische Energie der Geschosse, die durch die Weste auf den gesamten Oberkörper verteilt wurde, glich in ihrer Stärke immer noch mehreren kräftigen Fußtritten. Und an der Schulter bekam Zeerookah ebenfalls einen Treffer ab. Er taumelte.
Im selben Moment hatte ein großkalibriges Geschoss aus Joe Brandenburgs .357er-Magnum den Kahlköpfigen getroffen.
Eine zweite folgte. Er wurde nach hinten gerissen. Die Uzi streute jetzt ihre Geschosse ungezielt in die Gegend. Irgendwo schrie jemand auf.
Während der Kahlkopf zurücktaumelte, riss er die Uzi erneut empor. Mit der anderen Hand griff er zu einer Automatik und feuerte auch mit ihr.
Zwei andere Männer, die etwas abseits gestanden und ebenfalls ihre Waffen herausgerissen hatten, rannten auf den Hinterausgang der Halle zu. Aber sie erstarrten augenblicklich mitten in der Bewegung. Unsere New Yorker FBI-Kollegen Fred Nagara und Ruby O’Hara stürmten herein, gefolgt von weiteren G-men.
Der hagere Mann im grauen Maßanzug hatte sich sofort zu Boden geworfen. Er hielt die Statue immer noch in der Hand. Joe Brandenburg war bei ihm.
»Mr Harry Dialev?«, fragte Joe.
»Warum fragen Sie, wenn Sie es doch wissen?«, knurrte der Hagere.
»Auf diesen Augenblick haben wir lange gewartet. Sie sind verhaftet.«
»Das ist alles legal!«
»Natürlich!«
»Und wahrscheinlich haben Ihre rücksichtslosen Leute soeben mit Ihrem hemmungslosen Geballere unschätzbare Kulturgüter zerstört!«
»Illegal gehandelte Kunstgegenstände und archäologische Fundstücke – wertvoller als Heroin. Aber es klebt genauso viel Blut daran. Jedenfalls sind Sie erst mal aus dem Geschäft, Dialev. Sie haben das Recht zu schweigen. Falls Sie auf dieses Recht verzichten, kann alles, was Sie von nun an sagen, vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben außerdem das Recht …«
»Lassen Sie’s gut sein!«, knurrte Harry Dialev.
Les Bedell und zwei andere G-men hatten sich unterdessen um den kahlköpfigen Kerl mit der Uzi gekümmert und die Waffe sichergestellt.
Les rief den Emergency Service. Der Kahlköpfige lebte noch. Die Kugeln, die er abbekommen hatte, waren durch seine Kleidung gedrungen und dann in der Kevlar-Weste stecken geblieben. Der Mann konnte kaum atmen.
»Was ist mit Zeery?«, rief unterdessen Joe Brandenburg.
»Stabil!«, meldete Agent Sarah Hunter, die sich um Zeery gekümmert hatte. Der war im Augenblick kaum in der Lage, etwas zu sagen. »Ein Streifschuss und eine oder zwei gebrochene Rippen«, fügte Sarah Hunter ihrer ersten, sehr knappen Status-Meldung über den Kollegen Zeerookah noch hinzu.
Joe Brandenburg wandte sich unterdessen der halboffenen Kiste zu. »Ich bin kein Archäologe, aber das sieht für mich nach Ägyptika aus.«
»Alles aus englischem Privatbesitz!«, rief Harry Dialev. »Sie vergreifen sich an Privateigentum. Der Transfer dieser Stücke ist völlig legal.«
Es war eine Tatsache, dass sich seit der viktorianischen Zeit viele Kunstgegenstände aus dem Vorderen Orient – Mumien, Totenmasken, Skarabäen und Papyri – im Besitz englischer Aristokraten befanden.
»Das werden wir genau überprüfen«, stellte Joe Brandenburg klar. »Im Übrigen unterlägen auch solche Stücke Ausfuhrbeschränkungen.«
»Sie werden schon sehen, was Sie davon haben«, knurrte Dialev. »Jede Menge Ärger.«
»Der Deal, der sich hier angebahnt hat, ist genau dokumentiert«, stellte Joe fest. »Sie werden es schwer haben, einem Bundesrichter oder den Geschworenen weiszumachen, dass das alles nur Erbstücke aus Großbritannien sind.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »In Wahrheit kommt das alles geradewegs aus dem Nahen Osten – oder woher auch immer …«
***
Zwei Wochen später, New York City, Foley Square
» Ich hoffe, du kannst wieder einigermaßen atmen, Zeery«, meinte Joe Brandenburg. Zusammen mit Les Bedell, Zeerookah und Sarah Hunter standen sie auf den unteren Stufen des Gerichtsgebäudes, dessen Säulenportal im Stil eines griechischen Tempels gehalten war.
»Es geht so«, meinte Zeerookah. Der sonst als bestgekleideter G-man des FBI Field Office New York bekannte Zeerookah war an diesem Tag eher salopp angezogen und trug eine Armmanschette. Eine der Fleischwunden, die er davongetragen hatte, war nicht ganz so unkompliziert zu behandeln, wie man zuerst angenommen hatte, und würde ihn wohl noch eine ganze Weile einschränken.
In diesem Moment fuhr ein Wagen vor. Es war ein Dienstfahrzeug aus den Beständen des Field Office. Special Agent in Charge Steve Dillaggio stieg aus. Seit einem Dreivierteljahr war er der Nachfolger des legendären John D. High auf dem Chefsessel des Field Office New York.
Die Verpflichtungen seiner Führungsposition fesselten den Italoamerikaner normalerweise auch an sein Büro im Bundesgebäude an der Federal Plaza. Aber heute hatte er genauso wie die an den Ermittlungen gegen Harry Dialev beteiligten Agents eines Field Office vor Gericht zu erscheinen. Dort fand nämlich die Anhörung vor der Grand Jury statt, in der entschieden wurde, ob Harry Dialev wegen seiner mafiösen Geschäfte mit illegal importierter Kunst, archäologischen Artefakten und anderen Kulturgütern, deren Handel strengen Beschränkungen unterlag, angeklagt wurde.
Sowohl SAC Steve Dillaggio als auch die anderen an den Ermittlungen gegen Dialev beteiligten G-men mussten vor der Grand Jury Rede und Antwort stehen.
»Diese Anhörung wird ja wohl hoffentlich nur eine Formalie sein«, meinte Joe Brandenburg. »Jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, dass die Anklage gegen Harry Dialev nicht durchkommt! So eindeutig, wie die Beweislage in diesem Fall ist …«
»Wollen wir es hoffen«, sagte Steve.
»Was soll das denn heißen?«, mischte sich jetzt Zeerookah in das Gespräch ein. Zeery war schließlich lange genug Steves Dienstpartner gewesen. Kaum jemand kannte Steve so gut wie er. Und so wusste er auch dessen Zwischentöne zu deuten.
Steve zuckte die Schultern.
»Unser Chef ist unter die Pessimisten gegangen, wie mir scheint«, bemerkte Les Bedell.
»Bringt der Chefposten offenbar so mit sich«, knurrte Joe.
»Also, ich habe eine gute Nachricht und eine, von der ich noch nicht so genau weiß, was ich davon halten soll und was daraus wird«, eröffnete Steve Dillagio schließlich. »Dass ihr nicht gleich alles brühwarm den Medien in die Mikros weitersagt, versteht sich wohl von selbst.«
»Sicher«, sagte Joe.
»Gary Mouzon, der Leibwächter, der euch mit seiner Uzi unter Beschuss genommen hat, ist bereit auszusagen. Ich habe vorhin mit dem Staatsanwalt gesprochen. Mouzon weiß ganz genau, dass er nur noch diese eine Chance hat, sich selbst zu retten, und wird daher umfassend mit der Justiz zusammenarbeiten.«
»Dann kann man nur hoffen, dass er auch was anzubieten hat«, meine Zeery.
»Hat er. Harry Dialev hat eine ganze Reihe von Morden in Auftrag gegeben.«
»Und Mouzon war das ausführende Organ?«, fragte Joe.
»Nein, er hat die Sachen nur vermittelt. Den Killer kennt er nicht. Aber es sieht so aus, als könnte er beweisen, was er sagt. Und das bringt Dialev so sehr in Schwierigkeiten, dass alles andere, was er auf dem Kerbholz hat, dagegen wie eine Ansammlung von Lappalien aussieht.«
»Und die andere Neuigkeit?«, hakte Zeery nach.
Steve Dillaggio hob die Augenbrauen. »Dialev ist nicht die große Nummer, für die wir ihn gehalten haben.«
»Du willst jetzt aber nicht erzählen, dass er die Stufen dieses Gebäudes als Unschuldslamm herabsteigen wird!«, sagte Joe.
»Nein, von Unschuld kann keine Rede ein. Aber die Anzeichen mehren sich, dass dieser vermeintlich große Boss selbst nur ein kleines Rädchen in einer viel größeren Maschinerie ist. Ein kriminelles Netzwerk ungeahnten Ausmaßes, das seine Schwerpunkte über die gesamte Ostküste der Vereinigten Staaten verteilt hat und weltweit im illegalen Kunst- und Antiquitätenhandel tätig ist.«
»Ein richtiges Groß-Syndikat!«, sagte Joe.
»Wir haben schon lange geahnt, dass es so etwas gibt«, fuhr Dillaggio fort. »Aber erst die Ermittlungen gegen Harry Dialev fördern jetzt nach und nach die ganze Dimension zutage, in der diese Organisation offenbar tätig ist. Das Spektrum ihrer Aktivitäten ist wirklich beeindruckend. Es geht längst nicht nur um die illegale Einfuhr von ägyptischen Kultgegenständen oder Artefakten, die aus Angkor Wat geplündert wurden.« Er geriet ins Dozieren. »Die organisieren auch regelrechte Entführungen von Kunstwerken, für die die Besitzer dann Lösegeld zahlen, was über dubiose Anwälte und Mittelsmänner organisiert wird. Und vor allem haben sie offenbar einen Stamm sehr reicher Kunden, die nahezu jeden Preis dafür zahlen, etwas Einmaliges zu besitzen. Sei es nun ein gestohlener Picasso oder eine Götterstatue aus Ninive.«
»Weiterverkaufen kann man so etwas jedenfalls nicht«, meinte Zeery. »Jedenfalls nicht so ohne Weiteres …«
»Das wollen diese Leute auch gar nicht«, erklärte Steve. »Es gibt ihnen einen Kick, etwas zu besitzen, was sonst nicht zu haben ist. Dass man diese Schätze nicht öffentlich zeigen kann, ohne verhaftet zu werden, gehört dazu.«
»Verrückt«, meinte Les Bedell.
»Wer weiß, was du für Unsinn anstellen würdest, wenn du zu viel Geld hättest und nicht wüsstest, wohin damit«, warf Joe ein.
»Keine Sorge, das wüsste ich schon«, gab Les zurück.
»Jedenfalls halten diese Kunden einen Markt aufrecht, auf dem sich unvorstellbare Summen verdienen lassen. Und diese Organisation, zu der Dialev gehörte, will die Bedürfnisse dieser erlesenen Kundschaft möglichst perfekt bedienen.«
»Das bedeutet, die Ermittlungen gehen gerade erst los und Dialev ist nicht der End-, sondern der Ausgangspunkt«, sagte Joe.
»Wir werden sicher daran beteiligt sein, aber die Sache ist inzwischen eine Angelegenheit für die höheren Etagen«, sagte Dillaggio. »Ich habe mit Mr High bereits deswegen telefoniert. In seiner Eigenschaft als Leiter der Field Operation Section East ist er dabei, die nötigen Schritte einzuleiten.«
In diesem Augenblick fuhren mehrere Wagen vor, darunter auch ein Gefangenentransporter. Harry Dialev stieg aus, flankiert von Sicherheitskräften. Mehrere Beamte des NYPD hatten ihn in die Mitte genommen. Ein Pulk von Reportern umringte den vermeintlichen Boss der Kunst-Mafia. Seine Anwälte waren ebenfalls in der Nähe. Während einer von ihnen mit einem Medienvertreter sprach, hob Dialev seine mit Handschellen gefesselten Hände und reckte die Finger zum provozierenden, siegesgewissen Victory-Zeichen. »Sie werden sehen, ich bin bald wieder auf freiem Fuß!«, rief er den Pressevertretern zu. »Und dann können Sie mich gerne mit Ihren Fragen löchern!«
»Der zieht hier auch noch eine große Show ab«, meinte Joe verächtlich. »Solche Typen kann ich auf den Tod nicht ausstehen.«
Langsam bewegten sich Harry Dialev und seine Bewacher und Anwälte auf den Treppenaufgang zu. Der Pulk von Journalisten wuchs noch an und folgte ihnen.
Immer wieder musste die gesamte Gruppe stehen bleiben. Dialev schien sich in seiner Rolle als Star dieser Justiz-Show durchaus zu gefallen. Seinen Anwälten schien die Art und Weise, wie sich ihr Mandant gebärdete, hingegen eher unangenehm und peinlich zu sein.
»Dem wird das Lachen schon noch vergehen«, meinte Joe.
Seine Worte erwiesen sich als grausame Prophezeiung.
Plötzlich ging ein Ruck durch Dialevs Körper. Etwas schien ihn am Hinterkopf getroffen zu haben.
Eine Kugel!
Ein zweites Geschoss drang in seinen Kopf und trat vorn am Stirnansatz wieder aus. Weitere Schüsse fielen. Schüsse, von denen schon allein deswegen nichts zu hören war, weil sich plötzlich ein schier ohrenbetäubender Chor aus kreischenden und schreienden Stimmen erhob.
Journalisten, Medienvertreter, Kameraleute und Schaulustige stoben auseinander. Panik breitete sich aus. Die NYPD-Officers griffen zu ihren Waffen.
»Runter! In Deckung!«, schrie jemand. Aber die Anweisung ging im allgemeinen Chaos völlig unter.
Auch Steve Dillaggio, Joe Brandenburg und die anderen G-men des Field Office New York zogen augenblicklich ihre Dienstwaffen. Aber alles geschah viel zu schnell, um wirksam eingreifen zu können.
»Wo steckt der verdammte Schweinehund?«, rief Joe Brandenburg.
Zweimal noch wurde Harry Dialev getroffen, diesmal in den Rücken. Er trug unter der Kleidung aus Sicherheitsgründen eine Kevlar-Weste.
Aber diese letzten Treffer gaben ihm nur einen Stoß nach vorn. Er lebte schon nicht mehr, als er auf den Stufen aufschlug.
***
Es war ein wunderschöner Morgen in Washington, D.C. Kühl, aber sonnig. Ich hatte Phil an der bekannten Ecke abgeholt, und jetzt saßen mein Kollege und ich in meinem Jaguar, oder besser gesagt: in dem Hybrid aus einer Jaguarkarosserie und dem Innenleben einer Dodge Viper. Wir waren auf dem Weg zum J. Edgar Hoover Building, wo wir seit unserer Beförderung zu FBI-Inspektoren unsere Büros hatten.
Allerdings ging es mal wieder im Schneckentempo vorwärts. Die Verkehrsverhältnisse ließen an diesem schönen Tag im Zentralbereich von Washington, D.C. kaum mehr als ein Durchschnittstempo von 25 Meilen pro Stunde zu, großzügig gerechnet.
»Hast du gehört, was im Moment in der Stadt los ist?«, fragte ich Phil.
»Keine Ahnung. Vielleicht irgendein Staatsbesuch, der besondere Sicherheitsvorkehrungen erfordert? Oder eine Großdemonstration für oder gegen irgendetwas?« Phil zuckte die Schultern. »In den Nachrichten ist mir nichts aufgefallen.«
In Washington war jeden Tag irgendetwas los, was das Verkehrssystem jeder anderen Stadt vermutlich in sehr kurzer Zeit zum Kollaps gebracht hätte. Und seitdem die Gefahr terroristischer Anschläge so extrem gestiegen war, forderten in dieser Hinsicht manchmal auch Sicherheitsmaßnahmen ihren Tribut, die speziell in der Bundeshauptstadt der USA zum Tragen kamen.
Ein Anruf erreichte uns. Wir nahmen ihn über die Freisprechanlage entgegen.
Der Anrufer stellte sich nicht weiter vor, aber das war auch gar nicht nötig. Schon die ersten Worte ließen seine britische Herkunft erkennen. Es handelte sich um Dr. Frederik G. Fortesque, von allen normalerweise nur FGF genannt.
Fortesque war ein Mitglied des Scientific Research Team in Quantico, dessen Dienste Phil und mir bei der Aufklärung unserer Fälle regelmäßig zur Verfügung standen. Er war Naturwissenschaftler und Forensiker, kannte sich aber auch hervorragend mit Waffen aus und fertigte exzellente Berichte an. Immer dann, wenn die Ansprüche über die ballistische Abteilung irgendeines FBI Field Office oder der städtischen erkennungsdienstlichen Einrichtungen anderer lokaler Polizeieinheiten hinausgingen, tat man sehr gut daran, Fortesque um seinen Rat zu fragen. Auch wenn sein britischer Zungenschlag für manchen eingebildet oder überheblich klang, waren seine Ansichten immer sehr gut fundiert.
Und was die angebliche Herablassung anging, so war sich eigentlich jeder, der ihn etwas länger kannte, sicher, dass er das keineswegs so meinte. Es war einfach nur so, dass er sich wohl meist wie ein Genie unter Vollidioten fühlte. Aus seiner Sicht war das sogar nachvollziehbar. Auf seinem Gebiet gab es nur sehr wenige, die ihm das Wasser reichen konnten.
»Ich komme gleich zur Sache«, sagte er ohne Umschweife. »Die Tests haben ergeben, dass beide Morde mit derselben Waffe begangen wurden.«
»Wenn Sie uns noch sagen, worum es eigentlich geht und auf welchen Fall Sie sich beziehen, wäre das sehr hilfreich, FGF«, sagte ich.
Phils verwirrter Blick ließ keinen Zweifel daran, dass er genauso wenig wusste, was Fortesques Mitteilung eigentlich bedeutete.
»Sie sind noch nicht informiert?«, fragte Fortesque – jetzt seinerseits irritiert. »Dann sagen Sie Mr High bitte das, was ich Ihnen gerade gesagt habe. Wiederholen Sie einfach meine Worte, er ist im Bilde … Ansonsten muss ich jetzt …«
»Moment mal, FGF!«, schritt Phil energisch ein. »So einfach kommen Sie jetzt nicht davon. Was ist los? Von welchen Morden sprechen Sie und wieso rufen Sie uns an, wenn Sie eigentlich Mr High etwas zu sagen haben?«
Fortesque seufzte theatralisch. »Mr High wird Sie in Kürze über den Fall informieren«, sagte er. »Also kann ich mir jetzt Einzelheiten sparen, ich bin nämlich etwas in Eile. Ich habe versucht, Mr High anzurufen, aber da ist andauernd besetzt. Ich nehme an, dass er zurzeit eine Reihe wichtiger Telefonate zu führen hat. Also richten Sie ihm aus, was ich Ihnen gesagt habe, dann nützt uns das allen am meisten. Der Bericht dazu kommt irgendwann per Mail an alle, die damit was zu tun haben. Also auch zu Ihnen beiden. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte.«
Fortesque hatte das Gespräch bereits beendet, als Phil noch einmal versuchte, ihm doch noch Einzelheiten zu entlocken. »Ein kommunikatives Wesen hat der nicht gerade«, meinte mein Kollege resigniert.
»Kommt drauf an, was du unter Kommunikation verstehst, Phil.«
»Ach ja?«
»Er hat uns genau das gesagt, was wir im Moment wissen müssen …«
»… damit sich das Genie den wirklich wichtigen Aufgaben widmen kann«, vollendete Phil meinen Satz. »Sosehr ich FGF schätze – seine Art des Umgangs ist manchmal schon etwas gewöhnungsbedürftig.«
***
Wir erreichten das J. Edgar Hoover Building mit einer halbstündigen Verspätung. Anstatt zuerst unsere eigenen Büros aufzusuchen, fanden wir uns gleich im Vorzimmer von Mr High ein. Miss Dorothy Taylor, seine Sekretärin, begrüßte uns dort mit ein paar Gesten, während sie gleichzeitig ein Telefonat führte. Das Winken sollte wohl bedeuten, dass wir sofort Mr Highs Büro aufsuchen sollten.
Ihr Telefonat schien in einer ziemlich gereizten Gesprächsatmosphäre zu verlaufen. Dorothy Taylor wirkte angespannt, auch wenn das lediglich ihrem Gesicht anzusehen war. In ihrem Tonfall konnte die Afroamerikanerin dies hervorragend verbergen. »Ja, Mr High wird Sie so schnell er kann zurückrufen. Sir, ich weiß, dass diese Angelegenheit sehr wichtig ist, aber das lässt sich über so ziemlich alles sagen, was hier im Moment über uns zusammenschlägt …«
Den Rest bekam ich nicht mehr mit, denn inzwischen hatten wir die Tür zu Mr Highs Büro passiert.
Der Chef der Field Operation Section East beendete gerade ein Telefongespräch, während bereits ein anderer Anschluss klingelte. »Guten Morgen, Jerry. Guten Morgen, Phil.«
»Guten Morgen, Sir«, sagte ich.
»Lassen Sie sich von dem Dauergeklingel nicht stören. Die nächsten zwei Minuten werde ich ganz exklusiv nur Ihnen beiden widmen.«
»Das klingt, als gäbe es Arbeit für uns«, meinte Phil.
»Setzen Sie sich.«
»Ich soll Ihnen von Dr. Fortesque ausrichten, dass die Projektile in beiden Mordfällen aus derselben Waffe stammen«, sagte ich. »Der Bericht würde folgen. Ach ja, und er erwähnte auch noch, dass er vergeblich versucht hätte, Sie anzurufen.«
Mr High runzelte die Stirn. Seine Hemdsärmel waren aufgekrempelt. Die Krawatte hing ihm wie ein Strick um den Hals. Die Hände verschwanden in den weiten Taschen seiner Flanellhose. »Heißt das, Sie sind schon darüber ins Bild gesetzt worden, worum es geht?«
»Nein, das heißt es leider nicht«, gestand ich.
»Um es kurz zu machen: In New York wurden vor kurzem von unserem Freund Steve Dillaggio und seinen Kollegen die Ermittlungen gegen Harry Dialev zu einem vorläufigen Ende gebracht. Dialev galt als große Nummer im illegalen Kunsthandel. Bei einem Großdeal mit ägyptischen Artefakten und anderen altorientalischen Kunstgegenständen wurde er verhaftet.«
»Klingt nach guter Ermittlungsarbeit«, sagte Phil.
»Harry Dialev schien der Kopf einer mächtigen Organisation zu sein«, fuhr Mr High fort, ohne darauf einzugehen. »Aber nach seiner Verhaftung hat sich sehr schnell herausgestellt, dass er vermutlich nur ein mittelgroßes Rädchen in einem viel größeren kriminellen System war, das von der Ostküste der Vereinigten Staaten aus in der ganzen Welt aktiv ist.«
»Also ein Fall für die Operation Section East«, schloss ich.
»Dialev ist von einem Scharfschützen erschossen worden, bevor er der Grand Jury vorgeführt werden konnte.«
»Offenbar wollte da jemand nicht, dass weitere Details über dieses kriminelle Netzwerk ans Licht kommen«, meinte Phil.
»Gut möglich«, nickte Mr High.
»Das war der erste Mord, von dem Fortesque sprach, wie ich annehme«, warf ich nun ein. »Und wer ist der zweite Tote?«
»Er heißt Eric Templeton, ein Reeder aus Philadelphia.«
»Hat er etwas mit diesem Kunsthandel der besonderen Art zu tun?«
»Das untersuchen zurzeit die Kollegen in Philadelphia. Fest steht, dass es Verbindungen gibt. Sehr wahrscheinlich wurden Schiffe von Templetons Reederei zum Schmuggeln von Kunstgegenständen benutzt. Es gibt sogar aktenkundige Fälle, aber die Reederei konnte in der Vergangenheit stets plausibel darlegen, dass sie damit nichts zu tun hatte.«
»Lassen Sie mich raten«, warf ich ein. »Kapitän und Crew wollten sich etwas dazuverdienen und haben ein paar Statuen oder Totenmasken aus Nahost mitgebracht. Die paar Kilo zusätzliche Ladung fallen schließlich nicht ins Gewicht. Und beim Zoll sind vorher die richtigen Leute bestochen worden, sodass man mit der heißen Ware glatt durchkommt.«
»So ähnlich wird es gewesen sein«, bestätigte Mr High. »Aber Sie wissen ja, wie das ist, Jerry. Als Ermittler weiß man so manches, kann es aber nicht unbedingt auch gerichtsfest beweisen.«
Davon konnte wohl jeder ein Lied singen, der jemals in irgendeiner Polizeieinheit seinen Dienst verrichtet hatte – gleichgültig, ob nun beim FBI oder in einer anderen Ermittlungsbehörde.
Mr High berichtete uns davon, dass einer der beiden Morde – der in New York – sogar gefilmt worden war. Erstens gab es vor dem Portal des Supreme Court Überwachungskameras, die die Geschehnisse aufgezeichnet hatten, und zweitens waren jede Menge Medienvertreter anwesend gewesen. Ein paar davon wurden ebenfalls durch Schüsse verletzt.
»Von wo aus hat der Täter geschossen?«, fragte ich. Die Verhältnisse rund um das Gerichtsgebäude in New York waren mir ja gut vertraut. Ziemlich regelmäßig hatten Phil und ich dort unsere Aussagen machen müssen, wenn es nach erfolgreichen Ermittlungen zu einem Strafprozess gekommen war.
»Genau darüber rätseln die Kollegen in New York noch. Die Untersuchung ist nicht abgeschlossen. Bei der Waffe handelt es sich vermutlich um ein Scharfschützengewehr, das auch auf einige Kilometer Entfernung noch zuverlässig trifft.« Mr High hob die Schultern. »Mir liegen dazu bisher keine Einzelheiten vor.«
»Es dürften sich eine Menge hoher Gebäude in der Umgebung finden, von denen aus man eine hervorragende Sicht auf das Portal des Gerichtsgebäudes hat«, sagte Phil.
»Unsere Kollegen in New York fahren wegen dieser Sache im Augenblick einen Großeinsatz«, sagte Mr High. »Ihre Aufgabe wird es sein, dort einzugreifen, wenn Sie Anhaltspunkte erkennen, die das rechtfertigen. Alle wichtigen Daten haben Sie auf dem Rechner. Die Koordination des Gesamteinsatzes erfolgt aus meinem Büro.«
»Ja, Sir«, sagten Phil und ich wie aus einem Mund.
»Sie werden in den Unterlagen sehen, dass mindestens ein halbes Dutzend Field Offices hier an der Ostküste in diesen Fall involviert sind. Normalerweise gebe ich Ihnen bei Ihren Ermittlungen ja freie Hand, in diesem Fall werden Sie sich mit mir abstimmen müssen.«
***
Phil und ich nutzten die nächsten Stunden, um uns in die Materie einzuarbeiten. Dazu führten wir auch verschiedene Telefonate mit den beteiligten Field Offices. Insbesondere sprach ich mit meinem alten Kollegen SAC Steve Dillaggio aus New York sowie mit Special Agent in Charge Don Gordon, dem Chef des Field Office Philadelphia.
»Wir rätseln immer noch, wie das Attentat auf Harry Dialev eigentlich abgelaufen ist«, berichtete uns Steve. »Sämtliche Videoaufnahmen von der Tat werden gerade von unseren Innendienstlern ausgewertet. Aber das braucht seine Zeit, wie du dir vorstellen kannst.«
»Zeit, die dem oder den Tätern in die Hände spielt«, stellte ich fest.
»Die ballistischen Untersuchungen haben ergeben, dass die Schüsse vermutlich nicht von einem hohen Gebäude aus abgefeuert wurden, wie wir es vermutet hatten«, fuhr Steve fort.
»Und das bedeutet …?«, erkundigte ich mich.
»Das kann ich auch noch nicht sagen. Die Berechnung der Einschusswinkel hängt von vielen Faktoren ab. Und in den ersten Augenblicken nach den Schüssen hat natürlich niemand daran gedacht, die Leiche nicht zu bewegen, damit man das besser feststellen kann. Immerhin wissen wir durch Dr. Fortesques Untersuchungen an den Projektilen, dass es nur ein Schütze war. Definitiv.«
»Ich habe den vorläufigen Bericht inzwischen auf dem Rechner gelesen«, sagte ich. »Ich möchte, dass ihr Fortesque so weit wie möglich in eure Untersuchungen mit einbezieht. Vor allem müssen sämtliche Daten so schnell wie möglich in Quantico landen.«
»Natürlich, Jerry. Die Waffe scheint etwas Besonderes zu sein, da sie offenbar eine recht hohe Schussfrequenz erlaubt.«
»Gab es in dem Verfahren, das Harry Dialev bevorstand, irgendwelche Bezüge zur Reederei von Eric Templeton?«, fragte ich. »Denn die Tatsache, dass Templeton nur einen Tag später mit derselben Waffe getötet wurde, kann kein Zufall sein.«
»Ich habe vorhin noch mit dem zuständigen Staatsanwalt gesprochen, Jerry. Dialev hat mehrfach mit einer Im- und Export-Firma namens Harrison & Partners Ltd. zusammengearbeitet, die wiederum über Frachtschiffe aus Templetons Reederei Waren in den Nahen Osten verschifft und von dort bezogen hat. Wir haben bisher keinerlei Hinweise darauf, dass mit diesen Warenlieferungen irgendetwas nicht in Ordnung gewesen sein könnte, aber die Vermutung liegt natürlich nahe, dass es sich um getarnte Transporte von Kunstgütern gehandelt hat.«
»Ich hoffe, dass die Staatsanwaltschaft New York darüber noch etwas mehr herausfindet«, erklärte ich.
»Ehrlich gesagt waren Templeton und seine Reederei niemals Schwerpunkt der Ermittlungen«, berichtetet Steve. »Es gab eine ganze Reihe anderer Lieferungen und Deals, die zweifelsfrei bewiesen werden konnten und sehr gut dokumentiert waren.«
»Vielleicht wurde Templetons Rolle einfach unterschätzt«, vermutete ich.
»Das nennt man Prozessökonomie: Die Staatsanwaltschaft konzentriert sich auf die am besten beweisbaren Einzelfälle. Schließlich haben die Kollegen dort ja nicht ewig Zeit, um eine aussichtsreiche Anklage auf die Beine zu stellen. Aber ich bin sicher: Seit der Mord an Templeton bekannt wurde und feststeht, dass er und der Anschlag auf Harry Dialev vom selben Killer begangen wurden, beschäftigt man sich dort sehr intensiv mit jedem Indiz, das auf eine Verbindung zwischen den beiden hindeutet.«
»Dann wollen wir hoffen, dass dabei auch etwas herauskommt«, gab ich zurück.
Eine halbe Stunde, nachdem ich mit Steve Dillaggio gesprochen hatte, rief mich Dr. Mai-Lin Cha an, die Mathematikerin und IT-Spezialistin aus unserem Scientific Research Team in Quantico.
»Hallo, Jerry, ich nehme an, Sie sind dabei, sich in den Dialev-Templeton-Komplex einzuarbeiten«, begrüßte sie mich.
»Da liegen Sie richtig«, gab ich zurück.
Der Nachteil für uns Inspektoren ist nun mal, dass wir normalerweise erst relativ spät zu den Ermittlungen hinzugezogen werden und dementsprechend immer einen gewissen Nachholbedarf haben, was die aktuelle Faktenlage angeht. Aber das liegt in der Natur der Sache und ist wohl nicht zu ändern. Und manchmal wandelt sich dieser vermeintliche Nachteil auch in einen Vorteil, denn es geht nicht selten auch darum, sich den Fall noch einmal von Grund auf und ohne irgendeine vorgefasste Meinung anzusehen. Schnelle Festlegungen auf eine Ermittlungsrichtung, das ist die Kardinalsünde in der Ermittlungsarbeit. Selbst die Besten unserer Kollegen können sich davon nicht freisprechen – ich auch nicht.
»Es gibt eine wichtige Neuigkeit für alle, die sich mit diesem Komplex beschäftigen«, erklärte Dr. Cha. »Es existiert ein drittes Opfer des Templeton-Dialev-Killers.«
»Ach!«, stieß ich hervor.
Eigentlich hatte ich gedacht, dass man es beim Abgleich der Projektildaten sofort festgestellt hätte, wenn die Waffe ein weiteres Mal benutzt worden war. Schließlich hatte der Abgleich ja auch die Übereinstimmung bei der Ermordung von Templeton und Dialev bewiesen.
»Vor drei Jahren wurde mit derselben Waffe in Paris ein gewisser Jean-Claude Fontaine erschossen«, berichtete Mai-Lin Cha weiter. »Fontaine war ein Ägyptologe und Kunsthändler.«
»Das klingt interessant.«
»Die französische Polizei ermittelte gegen ihn wegen illegalem Handel mit Kunstgegenständen. Kurz bevor Fontaine festgenommen werden sollte, traf ihn die Kugel. Und falls jemand behaupten sollte, dass dies eine zufällige Übereinstimmung wäre, dann würde ich dagegenhalten, dass sowohl die mathematische Wahrscheinlichkeit als auch der gesunde Menschenverstand in diesem Fall eindeutig dagegensprechen.«
»Wie sind Sie an die Daten der französischen Polizei herangekommen?«, fragte ich.
»Das wollen Sie nicht wissen, Jerry. Die offizielle Auskunftsanfrage läuft noch und ich nehme an, dass meine Angaben spätestens morgen oder übermorgen offiziell bestätigt werden.«
»Ich verstehe …«
»Allerdings dachte ich, Sie wüssten vielleicht gern schon etwas früher Bescheid.«
»Vielen Dank.«
»Und einige weitere Informationen stammen ja auch aus öffentlich zugänglichen Quellen. Dem Pressearchiv von Le Monde in Paris zum Beispiel.«
»Ich brauche alle Informationen zum Fall Fontaine. Der Zusammenhang zu unseren Fällen scheint tatsächlich gegeben zu sein.«
»Ich sehe zu, was ich für Sie tun kann, Jerry. Im Moment bin ich gerade dabei, ein mathematisches Beziehungsnetz aller Personen zu erstellen, die in irgendeiner Weise mit dem Templeton-Dialev-Komplex zusammenhängen. Noch ist die Datenbasis etwas lückenhaft, aber ich bin davon überzeugt, dass wir nach und nach erkennen werden, welche Ausmaße dieses kriminelle Netzwerk hat. Ich habe bis jetzt Zusammenhänge mit fünf Mordfällen aus Louisiana herstellen können, obwohl keinerlei forensische Erkenntnisse einen Hinweis in diese Richtung geliefert hätten.«
»Mich interessiert im Moment vor allem der Zusammenhang zwischen dem Fall Dialev und der Templeton-Reederei«, gab ich zu verstehen.
»Sie denken zu klein, Jerry. Viel zu klein.«
»Wenn Sie das sagen …«
»Glauben Sie mir, die Zusammenhänge gehen weit darüber hinaus. Wir werden der Schlange den Kopf abschlagen müssen, sonst ist die ganze Aktion völlig sinnlos.«
»Ich fürchte, da haben Sie recht.«
»Und eins steht ja inzwischen fest: Harry Dialev war nicht dieser Kopf, auch wenn Ihre New Yorker Kollegen zunächst genau das geglaubt haben.«
Ich beendete das Gespräch mit Cha. Sie versprach, sich zu melden, sobald sie etwas Neues hatte.
Ich informierte Mr High, Steve Dillaggio und SAC Gordon aus Philadelphia per Mail über den Zusammenhang mit dem Fall Fontaine aus Frankreich. Dann nahm ich mir einen Becher mit Kaffee und ging hinüber zu Phil, der in seinem Büro vor dem Rechner saß. Wir sprachen natürlich über die Neuigkeit, die ich von Cha erfahren hatte.
Zwei Stunden später hatten wir gleich mehrere handfeste Verbindungen zu dem, was Dr. Cha den »Templeton-Dialev-Komplex« zu nennen pflegte.
»Da werden wir jetzt wohl einen Namen hinzufügen müssen«, meinte Phil. Es stellte sich nämlich heraus, dass sich sowohl Dialev als auch Templeton und Fontaine zeitweise von einer bestimmten Anwaltskanzlei hatten vertreten lassen. Und diese Kanzlei wiederum war unter anderem darauf spezialisiert, Lösegeldforderungen für gestohlene Kunstwerke diskret und ohne Einschaltung der Polizei über die Bühne zu bringen.
»Gary Laird and Partners«, murmelte ich. »Diese Kanzlei ist auch sonst im Kunsthandel anscheinend sehr aktiv.«
»Wir werden mit Mr Laird früher oder später sprechen müssen«, meinte Phil.
Ich war ganz seiner Ansicht. »Allerdings sollten wir damit noch etwas warten, bis wir das genaue Ausmaß der Verflechtungen dieses Netzwerks kennen.«
»Du meinst, der macht sich sonst davon, Jerry?«
»Wäre bei einem Mann mit so exzellenten internationalen Verbindungen ja wohl nichts Ungewöhnliches«, hielt ich entgegen.
»Ich werde mal mit Concita telefonieren«, kündigte Phil an. »Vielleicht kriegt sie darüber noch einiges heraus, was uns weiterbringt.«
»Mach das.«
Mit Concita meinte Phil Concita Mendez. Die Puerto Ricanerin gehörte ebenfalls zu unserem Scientific Research Team in Quantico. Ihr Fachgebiet war Wirtschaftswissenschaft. Und wenn wir jemanden brauchten, der verborgene Geldströme verfolgte, dann war sie genau die Richtige dafür.
***
Einen Tag später fuhren wir nach Philadelphia. 141 Meilen maß die Strecke vom J. Edgar Hoover Building dorthin. Laut Navigationssystem waren die in einer Stunde zwanzig Minuten zu schaffen, vorausgesetzt, man nutzte die zum Teil mautpflichtige Strecke über die Interstate 95.
Wir brauchten eine halbe Stunde länger. Die Verkehrsverhältnisse sind eben unvorhersehbar. Und auf dem letzten Stück Richtung Philadelphia konnte man nicht einmal die erlaubten 88 Meilen pro Stunde fahren, geschweige denn die Power ausschöpfen, die mein Jaguar-Dodge-Hybrid unter der Haube hatte.
Wir hatten einen Termin mit Morgaine Templeton, der Schwester, Teilhaberin und Erbin des ermordeten Reeders. Außerdem wollten wir natürlich auch mit Don Gordon, dem SAC des Field Office Philadelphia, sprechen, wenn wir schon mal in der Stadt waren.
Morgaine Templeton war eine elegant gekleidete Frau Ende dreißig. Sie residierte in einer Villa im Westen der Stadt. Eine hohe Mauer umgab das Anwesen. Leibwächter mit mannscharfen Hunden patrouillierten auf dem Grundstück.
Das Säulenportal des Haupthauses erinnerte an eine etwas kleinere und weniger erhabene Version des Supreme-Court-Gebäudes in New York City. Der Stil war zumindest derselbe. Ein Spruch stand über dem Portal in Stein gemeißelt: Gott belohnt die Tüchtigen.
» Das sagt doch alles«, meinte Phil.
»Ein Ausdruck von amerikanischem Unternehmergeist«, gab ich zurück. »Wer weiß, wie lange diese Reederdynastie schon existiert.«
»Keine dreißig Jahre«, sagte Phil, während er gleichzeitig mit seinem Smartphone beschäftigt war und ein paar Nachrichten checkte. »Gegründet von Peter Gregory Thomas Templeton. Es folgte ein steiler Aufstieg des Unternehmens, dann kam die Krise. Ein Großteil der Templeton-Flotte läuft seitdem unter kostengünstiger panamesischer Flagge.«
»Du bist ja gut informiert.«
»Der alte Templeton hat diese Krise nicht überlebt. Er starb an einem Herzinfarkt und hat das Unternehmen zu gleichen Teilen seinen Kindern Morgaine und Eric vermacht.«
»Und jetzt ist Morgaine Alleinerbin – oder hat Eric irgendwelche Nachfahren?«
»Nein, er ist unverheiratet geblieben. Er war übrigens als Einziger der beiden Geschwister am operativen Geschäft beteiligt. Morgaine hielt lediglich ihre Anteile und strich die entsprechenden Gewinnausschüttungen ein.«
»Sofern es welche gab!«
»Oh, die hat es in beachtlichem Ausmaß gegeben, Jerry! Schon kurz nachdem Templeton Junior die Geschäfte höchstpersönlich übernommen hatte, war die Krise nämlich wie von Zauberhand behoben. Die Insolvenz konnte abgewendet werden und das Geld schien nur so zu sprudeln. Die Unternehmenszahlen haben sich rasant nach oben entwickelt. Das hing unter anderem mit einer Veränderung der Kundenstruktur zusammen. Die Templeton-Reederei fuhr jetzt vor allem Fracht nach Asien und in den Nahen Osten. Und eigenartigerweise haben nicht einmal die sehr hohen Aufwendungen für Sicherheitsmaßnahmen die Bilanzen erkennbar belastet.«
»Was ist los mit dir, Phil?«, scherzte ich. »Hast du ein Schnellstudium in Betriebswirtschaft hinter dich gebracht?«
Phil grinste. »Ich könnte dich ja eigentlich in diesem Glauben lassen.«
»Nein, könntest du nicht!«
»Okay, ich gebe es zu. Die meisten meiner Erkenntnisse stammen aus der Nachricht von Concita Mendez. Sie hat die Templeton-Reederei noch einmal etwas genauer unter die Lupe genommen. Du müsstest die Info auch auf dem Smartphone haben.«
»Verstehe. Die Firmengeschichte klingt ja fast wie ein Märchen mit gutem Ausgang.«
»Oder nach Geldwäsche und Zugewinn durch unseriöse Nebengeschäfte, Jerry.«
»Lautet so Concitas Fazit?«
»Das vorläufige Fazit, wie sie betont. Mit drei Ausrufungszeichen.«
»Ich vermute, dass man diesen Verdacht im Augenblick nicht beweisen kann.«
»Es wird sogar schon schwierig, ihn auch nur ansatzweise zu überprüfen. Aber du kennst ja Concita. Sie ist hartnäckig.«
»Und wir auch.«
»Du sagst es!«
Ich fuhr bis zum Portal vor und stellte den Wagen ab. Wir stiegen aus. Der Jaguar passte ausgezeichnet in dieses Ambiente. Mir fiel ein schwarzer Wagen des gleichen Typs auf, der ebenfalls vor dem Portal abgestellt war, daneben allerdings ein SUV mit getönten Scheiben. Ein Seitenfenster war heruntergelassen. Für einen Augenblick sah ich den Mann, der am Steuer saß. Er befasste sich mit seinem Smartphone und sah nur kurz in meine Richtung. Ein Mittdreißiger mit gepflegtem, exakt getrimmtem Vollbart, der so schwarz war, dass er einfach nicht zu dem älter wirkenden Gesicht passen wollte. Dasselbe galt auch für die Haare. Vermutlich war beides gefärbt.
Der SUV war nicht mehr das neueste Modell und hatte vorne ein paar nicht zu übersehende Lackschäden.
»Staunst du noch oder gehen wir jetzt weiter, Jerry?«, fragte Phil.
»Ich staune noch«, sagte ich, meinte damit allerdings was ganz anderes als das, was Phil im Sinn hatte. Ich fragte mich, wer der Typ mit dem schwarzen Bart war. Manchmal ist es einfach der pure Instinkt, der einen auf irgendetwas aufmerksam werden lässt. Etwas, das nicht in die Situation passt, was einem einfach nicht mehr aus dem Sinn gehen will und wovon man erst viel später begreift, was es zu bedeuten hat.
Wir gingen die Stufen hinauf, die zum eigentlichen Eingang führten.
»Dies ist übrigens nicht der Familiensitz der Templetons«, sagte Phil.
»Hast du das auch aus Concitas Nachricht, Phil?«
»Nein, das stand im Internet. Morgaine Templeton hat diese Villa als Spekulationsobjekt erworben. Es gab vor ein paar Jahren mal einen Steuerskandal in der Upper Class von Philadelphia. Dabei ist auch diese Villa unter den Hammer gekommen.«
»Und Morgaine Templeton wusste nicht, wohin mit dem vielen Geld, das ihr die Reederei aufs Konto gespült hat!«
»Für irgendwas muss man es ja ausgeben, Jerry.«
»Gut, dass wir andere Sorgen haben!«
Das Hausmädchen kam uns entgegen und führte uns ins Innere des Gebäudes. Wir durchquerten eine mit Antiquitäten überladene Eingangshalle und wurden in einen weiträumigen Salon geleitet.
Für sich genommen hatte dieser Raum mindestens hundert Quadratmeter. Das Hausmädchen führte uns wortlos zu einer Sitzgruppe aus schweren Ledermöbeln. Eine elegant gekleidete Enddreißigerin und ein leicht übergewichtiger Mann im kobaltblauen Dreiteiler saßen dort.
Ein Anwalt, dachte ich sofort. Sein Knie berührte den schwarzen Diplomatenkoffer. Auch wenn er mit seinem Gesicht etwas konturlos wirkte, so hatte er trotzdem einen sehr durchdringenden, konzentrierten Blick.
»Sie sind die FBI-Inspektoren?«, fragte die Dame des Hauses. Ihr Lächeln war geschäftsmäßig und kalt, das Gesicht maskenhaft. Eine Frau, die sich sehr darum bemühte, nicht nach außen dringen zu lassen, was in ihr vorging.
»Inspektor Jerry Cotton, FBI«, stellte ich mich vor und zeigte vorschriftsmäßig meine ID-Card. »Dies ist mein Kollege Inspektor Phil Decker.«
»Aus Washington?«
»Ja, aus Washington.«
»Soll ich das als ein Anzeichen dafür werten, dass man dem Mord an meinem Bruder nun endlich die nötige Aufmerksamkeit zuteilwerden lässt?« Ihr Tonfall war hart und kalt wie klirrendes Eis.
Woher diese Bitterkeit?, fragte ich mich. Der Tod ihres Bruders mochte ein harter Schlag für sie ein, und ich hatte oft genug erlebt, wie solche Verluste dazu führten, dass ein Mensch sich veränderte. Aber bei Morgaine Templeton war noch ein anderer Aspekt herauszuhören. Sie schien eine Abneigung gegen die Ermittler zu hegen, die bisher mit diesem Fall betraut worden waren. Die unterschwellige Aggressivität verwunderte mich. »Sie sind Morgaine Templeton, wie ich annehme«, fragte ich.
»Das ist korrekt.«
»Seien Sie zunächst versichert, dass …«
Sie ließ mich nicht ausreden. »Sie können sich setzen, Inspektor Cotton«, fuhr sie dazwischen. »Da ich annehme, dass Sie im Dienst sind, brauche ich Ihnen auch nichts zu trinken anzubieten, nicht wahr?«
Wir setzten uns. Immerhin waren die Ledermöbel sehr bequem. Der kurze Blick, den Phil und ich miteinander tauschten, verriet mir, dass mein Kollege über ihr Verhalten genauso verwundert war wie ich.
»Was ich eigentlich sagen wollte«, setzte ich neu an. »Mein tief empfundenes Beileid zum Tod Ihres Bruders. Niemand sollte auf diese Weise sterben müssen. Ich versichere Ihnen, dass wir alles tun werden, um den oder die Schuldigen zu ermitteln und einer gerechten Bestrafung zuzuführen.«
»Sie können sich Ihre Law-and-Order-Lyrik sparen, Inspektor Cotton«, entgegnete sie kalt. »Sagen Sie einfach, ob Sie mir in irgendeiner Weise ein kriminelles Verhalten, ein Verbrechen oder wenigstens eine Ordnungswidrigkeit anhängen wollen. Falls dies nicht der Fall ist, sollten Sie dieses Haus so schnell wie möglich wieder verlassen und damit anfangen, das zu tun, von dem Sie gerade behauptet haben, dass es Ihnen wichtig wäre: nämlich den Mörder meines Bruders zur Strecke bringen.«
Ich musste mich zwingen, ruhig zu bleiben. »Um dabei erfolgreich zu sein, brauchen wir Ihre Kooperation«, sagte ich. »Deshalb sind wir hier.«
»Sie nennen das Kooperation. Am Ende schnüffeln Sie aber nur überall herum, und was danach übrig bleibt, ist irgendein Verfahren gegen mich«, sagte Morgaine Templeton voller Bitterkeit.
»Was meine Mandantin sagen möchte, ist Folgendes«, mischte sich der dickliche Mann im kobaltblauen Dreiteiler ein. »Sie hat sich kooperativ verhalten, hat in der Geschäftsführung der Reederei nie eine Rolle gespielt und sieht sich jetzt mit Anschuldigungen, Verdächtigungen und haltlosen Mutmaßungen seitens der Justiz und des hiesigen FBI konfrontiert.«
»Und wer sind Sie, bitte?«, fragte ich.
»Gary Laird. Ich bin Mrs Templetons Anwalt.«
»Gary Laird? Sind Sie zufällig der Gary Laird, der bekannt dafür ist, Lösegeldzahlungen an Kunstdiebe zu vermitteln?«
»Manche Besitzer kostbarer Kunstgegenstände schmerzt es weniger, eine gewisse Summe zur Wiederbeschaffung aufbringen zu müssen, als wenn sie das betreffende Stück nicht mehr zurückbekämen. Und genau für solche Fälle biete ich meine Dienste an.«
»Und verdienen sehr ordentlich daran.«
»Geld verdienen ist nichts Ehrenrühriges, Inspektor Cotton.«
»Das wollte ich damit auch nicht gesagt haben. Und nun hat Morgaine Templeton Sie darum gebeten, sie während des Gesprächs mit uns juristisch zu unterstützen.«
»Um ehrlich zu sein, bin ich eigentlich nicht deswegen hier«, sagte Gary Laird.
»Warum dann?«
»Ich berate Morgaine – Mrs Templeton – in einigen finanziellen und steuerrechtlichen Dingen, die im Augenblick der Klärung bedürfen.«
»Geht es dabei um die Reederei?«
»Nein, es geht um Vorgänge, die sich aus dem Nachlass von Mrs Templetons verstorbenem Mann ergeben haben.«
»Mein Mann war Kunstliebhaber«, warf Morgaine Templeton ein. »Leider wurde er durch einen Verkehrsunfall aus dem Leben gerissen, und dabei wurden auch einige wichtige Unterlagen vernichtet, was die Klärung dieser Vorgänge erschwert.« Sie lächelte kühl. »Aber das können Sie ja alles selbst nachlesen, denn es gibt zu diesen Vorgängen ein halbes Dutzend Gerichtsurteile in verschiedenen Instanzen – jeweils mit wechselnden Erfolgen für beide Seiten.«
»Du solltest dich dazu nicht weiter äußern, Morgaine«, sagte Gary Laird.
»Schon gut, Gary. Sie finden ohnehin alles heraus. Wenn man erst einmal in Verdacht geraten ist und im Fokus von Ermittlungen gegen das sogenannte organisierte Verbrechen steht …«
»Das ist kein sogenanntes organisiertes Verbrechen«, gab ich zurück. »Es ist im Gegenteil sehr real, und Ihr Bruder ist diesen kriminellen Strukturen zum Opfer gefallen.«
Morgaine Templeton blickte auf. Sie verschränkte dabei die Arme vor der Brust. Ihr Blick wirkte durchdringend und sehr entschlossen. »Machen Sie sich keine Sorgen um meine Sicherheit. Dafür habe ich gesorgt.«
»Das haben wir gesehen«, sagte Phil und spielte damit wohl auf die Wächter mit den Hunden an, die auf dem Grundstück patrouillierten.
»Auf den Polizeischutz der Behörden vertraue ich nicht«, verriet Morgaine Templeton. »Der Tod meines Bruders hat mir zwei Dinge gezeigt: erstens, dass die Polizei nicht in der Lage ist, in diesem Land die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, und zweitens, dass man sich offenbar mehr für meine angeblichen Verwicklungen in irgendwelche dubiosen Geschäfte interessiert, in die mein Bruder verwickelt gewesen sein soll. Das Opfer wird am Ende zum Täter gemacht! Fehlt nur noch, dass man mir sagt, mein Bruder hätte letztlich selbst Schuld daran, dass ihn ein Verrückter in den Kopf geschossen hat.«
»Das war kein Verrückter«, hielt ich entgegen. »Es war ein eiskalter Profikiller, der genau wusste, was er tat. Wollen Sie nicht auch gerne wissen, wer dahintersteckt?«
»Natürlich!«
»Dann sollten Sie kooperieren. Ihr Bruder …«
»Wollen Sie wieder den Dreckkübel über einen Toten ausleeren?«
»Morgaine, bleib bitte sachlich«, beschwichtigte Gary Laird sie. »Die Inspektoren tun nur ihre Pflicht.«
»Das sehen Sie völlig richtig, Mr Laird«, sagte ich.
Morgaine Templeton hob das Kinn. »Ich habe jedenfalls kein Vertrauen in Ihre Ermittlungsarbeit. Aber natürlich bin ich daran interessiert, mehr über die Hintergründe zu erfahren.«
»Morgaine, du solltest es ihnen sagen«, mischte sich Gary Laird abermals ein.
»Was meinst du, bitte schön?«, wandte sie sich an Laird.
»Das weißt du doch. Das, was du mir gerade eben eröffnet hast.«
Morgaine presste die Lippen aufeinander. Es machte nicht den Eindruck, als wäre damit zu rechnen, dass sie sich dazu äußern würde. Doch Gary Laird brachte sich erneut als Stimme der Vernunft in das Gespräch ein. Er wandte sich an Phil und mich und sagte: »Dann sage ich es: Meine Mandantin hat eine Privatdetektei beauftragt, die Hintergründe der Ermordung ihres Bruders aufzuklären.« Er ignorierte einen empörten Laut seiner Auftraggeberin und fuhr fort: »Ich habe ihr zwar davon abgeraten, da ich im Gegensatz zu meiner Mandantin durchaus Vertrauen in die Integrität und Professionalität unserer Justiz und unserer Ermittlungsbehörden habe. Aber sie ließ sich davon nicht abbringen.«
»Wir leben in einem freien Land«, sagte Phil. »Jeder kann einen Privatdetektiv engagieren, und im Prinzip ist jede Hilfe, die die Justiz erhält, nur zu begrüßen.«
»Es freut mich, dass Sie eine so pragmatische Sicht auf die Dinge haben, Inspektor Decker«, erklärte Gary Laird.
Ein aalglatter Kerl, dachte ich. Ich konnte mir ziemlich lebhaft vorstellen, wie er mit seiner eiskalten Diplomatie komplizierte Lösegeldverhandlungen führte. Allerdings war ich mir nicht ganz sicher, zu wessen Gunsten er das letztlich wirklich tat. Ein Gewinner stand wohl immer von Anfang an fest: er selbst.
Dass wir Gary Laird noch wegen seiner geschäftlichen Verbindungen sowohl zu Harry Dialev als auch zu Eric Templeton befragen mussten, stand auf einem anderen Blatt. Dafür war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Und vor allem nicht die richtige Gesellschaft, denn dass er sich in Anwesenheit von Morgaine Templeton unbefangen äußern würde, war fraglich.
»Sie haben ja keine Ahnung, wie das ist«, sagte die Herrin des Hauses jetzt in einem ungewohnt sanften Tonfall. »Ich habe mich um die Geschäfte meines Bruders nie gekümmert. Davon verstand ich nichts. Für meinen Vater hat es immer festgestanden, dass Eric eines Tages die Reederei führen würde. Eine Frau, so meinte er, wäre dazu nicht imstande.« Sie zuckte die Schultern. »Er kam eben aus einer anderen Zeit und hat seine Ansichten nie geändert.«
»Aber jetzt sind Sie die Nummer eins in der Reederei«, stellte ich fest.
»Wenn Sie glauben, dass ich das angestrebt hätte, dann irren Sie sich! Ich war sehr froh, nichts damit zu tun zu haben. Warum hätte ich mich auch beklagen sollen? Eric hat es mit bemerkenswertem Geschick verstanden, die Firma aus der Krise zu führen.«
»Es gibt den begründeten Verdacht, dass ihm das nur gelungen ist, weil er sich an illegalen Geschäften beteiligt hat.«
»Diese Vorwürfe kenne ich inzwischen. Aber es ist nichts daran beweisbar! Und Sie sollten die Unschuldsvermutung respektieren! Mein Bruder ist noch nicht einmal unter der Erde, wird aber schon zu einem Verbrecher gemacht! Wie gut, dass man ihn wenigstens nicht mehr anklagen kann.«
»Lass es gut sein, Morgaine«, sagte Laird. »Das hat keinen Sinn.«
Phil warf mir einen Blick zu, der mir sagte, dass er eine Fortsetzung des Gesprächs nicht für besonders ergiebig hielt. Inzwischen war ich auch zu dieser Ansicht gelangt. Ich gab sowohl Morgaine Templeton als auch Gary Laird eine Visitenkarte des FBI. »Wenn Ihnen noch etwas Sachdienliches einfällt, dann rufen Sie diese Nummer an.« Damit wandte ich mich an Gary Laird. »Und was Sie angeht, hätte ich gerne auch Ihre Karte.«
Für einen kurzen Moment wirkte Gary Laird überrascht. Ein rarer Moment, in dem er die Kontrolle verlor. Aber das dauerte kaum zwei Sekunden, dann war sein Gesicht wieder eine geschäftsmäßig lächelnde Maske. Ein Pokerface, aus dem man nichts herauszulesen vermochte.
»Natürlich. Darf ich fragen, warum?«
»Es könnte sein, dass wir Ihnen noch ein paar Fragen zu Mr Templeton stellen müssen.«
»Ich habe Mr Templeton lediglich in ein paar finanzrechtlichen Fragen beraten«, erklärte Laird.
»Wie gesagt, wir kommen gegebenenfalls auf Sie zurück.« Ich dachte gar nicht daran, mir Laird gegenüber irgendwie in die Karten sehen zu lassen.
***
Als wir wenig später wieder im Freien waren, hatte ich das Gefühl, endlich wieder richtig atmen zu können.
Phil schien meine Gedanken zu erraten. »Da drinnen herrschte eine ziemlich dicke Luft, was, Jerry?«
Mir fiel auf, dass der bärtige Kerl mit dem verbeulten SUV verschwunden war. Eine beiläufige Beobachtung, die mir in diesem Moment nicht bedeutsam vorkam. Aber das sollte sich noch ändern.
»Jerry? Du sagst ja gar nichts!«
»Ist dir aufgefallen, dass dieser Gary Laird Mrs Templeton mit Vornamen und sehr vertraut angeredet hat, obwohl er zugleich versucht hat, eine gewisse Distanz zu demonstrieren, indem er sie als seine Mandantin bezeichnete?«
»Ja, schon, aber was willst du da herauslesen?«
»Ihr Bruder war immer nur ›Mr Templeton‹ für ihn. Ich glaube, Morgaine Templeton und Gary Laird kennen sich näher und sind einander sehr vertraut.«
»Meinst du, sie sind ein Paar?«
Ich zuckte die Achseln. »Keine Ahnung; ausschließen würde ich das nicht.«
Wir stiegen in den Wagen und fuhren mit dem Jaguar vom Grundstück. Hinter uns schloss sich selbsttätig das gusseiserne Tor.
»Wir hätten die beiden vielleicht nach Dialev und Fontaine fragen sollen«, meinte Phil.
Aber ich winkte ab. »Das wäre nicht der richtige Zeitpunkt gewesen. Wir wissen weder, welche Rolle Laird in diesem Spiel einnimmt, noch ob Morgaine Templeton tatsächlich so ahnungslos gewesen ist, was die Geschäfte ihres Bruders angeht.«
»Ich denke, wir sollten unser Hauptaugenmerk auf diesen Laird legen«, sagte Phil. »Seine Person verbindet die einzelnen Fälle des Dialev-Templeton-Komplexes miteinander.«
Ich nickte. »Weißt du, was mir auch aufgefallen ist? Dr. Cha hat die Namen immer andersherum genannt und vom Templeton-Dialev-Komplex gesprochen.«
»Ich bin einfach nach der Reihenfolge der Morde gegangen«, gestand Phil. »Und was glaubst du, wonach unser mathematisches Superhirn sortiert?«
»Nach Relevanz«, gab ich zurück. »Sie sortiert immer nach Wichtigkeit.«
»Du meinst also, sie hält Templeton für den Wichtigeren?«
»Ja, das denke ich. Ich überlege nur, weshalb.«
»Du könntest sie einfach anrufen und fragen.«
»Das könnte ich. Aber ich will nicht wie ein Idiot dastehen. – Themenwechsel: Was hältst du davon, wenn wir noch was essen gehen, bevor wir SAC Don Gordon aufsuchen?«
Phil grinste. »Mir knurrt auch der Magen. Vielleicht finden wir ja irgendwo einen Hotdog-Stand oder eine Snack-Bar.«
Wir kamen an der Filiale einer asiatischen Fastfood-Kette vorbei und aßen dort etwas. Es war scharf, aber gut. Plötzlich stutzte ich. Auf der anderen Straßenseite sah ich den verbeulten SUV, der mir schon auf dem Anwesen von Morgaine Templeton aufgefallen war.
»Ist es doch schärfer, als du gedacht hast?«, hörte ich Phil fragen.
Ich sah ihn irritiert an. »Warum?«
»Weil dein Mund offen steht.«
Ich grinste kurz. »Nein. Aber schau mal aus dem Fenster. Siehst du den SUV? Der stand auch vor dem Portal der Templeton-Villa, als wir dort ankamen. Und als wir wegfuhren, war er nicht mehr da.«
Phil brauchte einige Sekunden, bis er begriffen hatte, worauf ich hinauswollte. »Glaubst du, wir werden verfolgt?«
»Jedenfalls glaube ich nicht an solche Zufälle. Und eigentlich möchte ich von dem Typ selbst hören, was er hier zu suchen hat.«
Ich stand auf und eilte zum Ausgang. Dann überquerte ich die Straße auf eine Weise, die man niemandem empfehlen kann. Aber mein hochgehaltener FBI-Ausweis sorgte dafür, dass ein Lieferwagen hielt und die nachfolgenden Fahrzeuge stark bremsten.
Als ich die andere Straßenseite erreichte, hatte der Fahrer des verbeulten SUV den Motor angelassen. Aber weil der Verkehr hier nur in eine Richtung geführt wurde und ich die Straße an einer strategisch günstigen Stelle überquert und den Verkehr kurzzeitig zum Stillstand gebracht hatte, war es ihm jetzt unmöglich, aus der Parklücke auszuscheren.
Nur Augenblicke später hatte ich das Fahrzeug erreicht. Ich klopfte an die getönte Seitenscheibe und drückte meine ID-Card gegen das Glas.
Die Scheibe ging herunter. Der Bärtige sah mir entgegen.
»Jerry Cotton, FBI. Steigen Sie bitte aus.«
»Was soll das? Habe ich irgendwas verbrochen? Bin ich verhaftet?«
»Im Augenblick will ich nur Ihre Personalien überprüfen. Aber eine Festnahme könnte durchaus folgen, wenn Sie sich den Maßnahmen eines Bundesagenten widersetzen. Also steigen Sie jetzt sofort aus.«
Ich hatte meine rechte Hand an der Dienstwaffe. Der Bärtige schien einen Augenblick lang abzuwägen, was er tun sollte, kam dann aber doch zu dem Schluss, dass ihm keine andere Wahl blieb.
»Immer mit der Ruhe«, meinte er.
Phil war mir inzwischen gefolgt. Ich durchsuchte den Mann und förderte einen kurzläufigen .38er und einen Führerschein hervor, ausgestellt auf den Namen Frank Tamino.
»Darf ich fragen, was das soll?«, fragte Tamino jetzt, der die Prozedur widerstandslos über sich hatte ergehen lassen.
»Aus welchem Grund verfolgen Sie zwei Bundesagenten?«, fragte ich.
»Ich verfolge Sie nicht, Mr …«
»Inspektor Jerry Cotton, FBI. Dann ist es also reiner Zufall, dass Sie genau vor dem Lokal stehen, in das mein Partner und ich eingekehrt sind, nachdem Sie zuvor schon auf dem Vorplatz der Villa von Morgaine Templeton waren?«
»Nun, ich …« Ihm fehlten die Worte.
»Was hatten Sie bei der Villa zu tun?«, schoss ich die nächste Frage ab.
»Sie können ja Mrs Templeton fragen.«
»Das werden wir vielleicht noch. Jetzt aber frage ich Sie .«
»Hören Sie, ich kann hier mit meinem Wagen stehen, solange ich will. Und was die Waffen angeht, habe ich eine Lizenz dafür.«
» Die Waffen?«, echote ich.
Der Bärtige biss sich auf die Unterlippe.
Phil warf einen Blick ins Innere des Wagens. Im Handschuhfach befand sich eine zweite Waffe, eine großkalibrige Automatik. Auf dem Beifahrersitz lag ein Laptop und auf dem Boden stand ein trichterförmiges Gerät, das damit verbunden war. »Sieh an, ein Richtmikrofon«, stellte Phil fest. »Nur ein Presslufthammer in unmittelbarer Umgebung hätte ihn daran hindern können, unser Gespräch abzuhören, Jerry.«
»Ich habe keine illegale Technik eingesetzt«, verteidigte sich Frank Tamino.
»Ein Lauschangriff auf zwei Bundesagenten. Das könnte man als einen Hinweis auf Spionage oder terroristische Aktivitäten deuten, findest du nicht auch, Phil?«, meinte ich.
»Hören Sie, wer sagt Ihnen, dass ich Sie abgehört habe!«, rief Tamino. »Sie sind immerhin nicht die Einzigen, die auf der Straße herumlaufen! Verflucht, Sie haben gar nichts gegen mich in der Hand!«
»Wir haben genug, um die Sache in einer Gewahrsamszelle des hiesigen FBI Field Office zu klären«, sagte ich. »Da können Sie dann die nächsten achtundvierzig Stunden darüber nachdenken, wie Sie sich aus dieser Sache herauswinden wollen …«
»So eine Scheiße!«
»Und Ihr Laptop wird derweil von unseren Spezialisten in Quantico untersucht …«
Mir war klar, dass unsere Position schwach war. Aber seine war noch schwächer, das stellte sich jetzt heraus. Er gab seinen Widerstand auf und schwenkte um in Richtung Kooperationsbereitschaft. »Okay, okay, Sie haben gewonnen!«
»Schön, dann mal der Reihe nach. Fangen wir mit Ihren persönlichen Angaben an.«
»Mein Name ist wirklich Frank Tamino. Ich bin Privatdetektiv. Meine Lizenz und die Lizenzen für die Waffen liegen unter dem Fahrersitz. Überprüfen Sie es, wenn Sie mir nicht glauben.«
Phil erledigte das augenblicklich. Er holte dazu noch eine dritte Waffe hervor, eine Pumpgun. Die Papiere befanden sich in einem Lederetui.
Die Waffengesetze sind in den einzelnen Bundesstaaten sehr unterschiedlich und ich gebe zu, nicht einmal ein FBI-Inspektor kennt alle Feinheiten. Pennsylvania nimmt, was die Strenge der Bestimmungen angeht, eine mittlere Position ein. Nicht so lax wie in Virginia, wo sich die halbe Ostküste mit Waffen versorgt, weil die Daten der Kunden nicht durchgängig erhoben werden, aber auch nicht so streng wie in New York City, wo zwar der Besitz von Waffen erlaubt, das Tragen in der Öffentlichkeit aber verboten ist. Und wenn jemand eine Lizenz als Privatermittler vorweist und die Waffen ordnungsgemäß eingetragen sind, kann man da wenig machen.
Ich sah mir die Lizenz eingehend an. Sie war ausgestellt von der Stadt Philadelphia. »Wir werden Ihre Daten überprüfen«, sagte ich. »Und dann sehen wir, ob etwas gegen Sie vorliegt.«
»Ich hoffe, das geht schnell. Ich muss mein Geld ehrlich verdienen und bekomme es nicht einfach jeden Monat vom Staat, so wie …«
Ich sah auf. »Wie ein FBI-Inspektor?«
»Das haben Sie jetzt gesagt.«
»Mr Tamino, für wen arbeiten Sie?«
»Das muss ich Ihnen nicht sagen.«
»Gut, wir waren sowieso auf dem Weg zum hiesigen Field Office. Da mein Jaguar leider aus Platzgründen keinen Gefangenentransport zulässt …«
»Hören Sie, ich komme in Teufels Küche, wenn ich über meine Auftraggeber rede. So was spricht sich herum. Und verdammt noch mal, ich brauche den Job!«
»Sie arbeiten für Morgaine Templeton, nicht wahr?«
Tamino schluckte. Er sah kurz zu Phil hinüber, dann wieder zu mir. Schließlich nickte er. »Ja, das trifft zu«, gab er zu.
»Erzählen Sie jetzt alles. Das ist Ihre letzte Chance, einer Verhaftung zu entgehen.«
»Okay, okay! Wenn Sie mir versprechen, mir keine Schwierigkeiten zu machen. Im Prinzip arbeiten wir ja an derselben Sache.«
»Ach ja?«, gab ich zurück.
»Es geht um den Mord an Eric Templeton, dem Reeder. Er wurde von einem Scharfschützen erledigt, als er in einem französischen Lokal saß und mit einem Geschäftspartner ein Arbeitsessen hatte. Einfach durch das Fenster und … Peng ! Aber das wissen Sie ja.«
»Reden Sie weiter.«
»Ich will ganz ehrlich sein: Als Mrs Templeton mir den Auftrag gab, war mir etwas mulmig zumute, und ich wunderte mich auch, dass sie ausgerechnet mich genommen hat.«
»Wieso? Sind Sie nicht gut?«
»Doch. Aber meine Detektei ist ein Ein-Mann-Betrieb. Ich war früher bei der Polizei von Philadelphia, bei der Homicide Squad und der Drogenfahndung.«
»Warum sind Sie da nicht mehr?«
»Ich hab mal einen Verdächtigen etwas zu grob angefasst. Was ein paar Konsequenzen nach sich zog, mit denen ich nicht gerechnet hatte …«
»Sie meinen, Sie haben nicht damit gerechnet, dass Ihre Kollegen Sie nicht decken?«
»Sie haben eine unfreundliche Art, die Dinge auszudrücken, Inspektor.«
»Ich mag es, reinen Wein einzuschenken und die Dinge beim Namen zu nennen, Mr Tamino. Also weiter: Wieso, denken Sie, hat Morgaine Templeton Sie ausgewählt – Ihrem Eindruck nach?«
»Vermutlich, weil sie den Behörden nicht traut. Das FBI und die Cops sind für sie nur verlängerte Arme der Steuerfahndung, und mit denen hatte sie in der Vergangenheit schon mal Ärger. Außerdem sagte sie mir, dass sie ganz bewusst jemanden mit dem Job betrauen wollte, der allein arbeitet.«
»Hat sie das begründet?«
»Sie meinte, dass damit die Gefahr geringer sei, dass irgendwelche Details an die falsche Adresse geraten. Je weniger Mitwisser, desto weniger Gequatsche – so lautete wohl ihre Rechnung«, sagte Frank Tamino. »Davon abgesehen war ich froh, diesen Job zu bekommen, schließlich herrscht in der Sicherheitsbranche ein harter Wettbewerb. Kleinere Betriebe haben es da schwer, sich gegen die Mega-Detekteien durchzusetzen.«
»Wenn Sie aber doch angeblich hinter dem Mörder von Eric Templeton her sind, wieso hören Sie dann uns ab?«, hakte ich nach.
»Das liegt ja wohl auf der Hand«, sagte Phil und machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Ich will es von ihm persönlich hören«, gab ich zurück.
Frank Tamino atmete tief durch. Seine Gesichtsfarbe hatte sich verändert; er war dunkelrot angelaufen. Die Sache war ihm peinlich. Und dazu hatte er allen Grund.
»Kurz bevor Sie bei Morgaine Templeton aufgetaucht sind, habe ich der Dame Bericht erstattet. Das Hausmädchen erwähnte, dass FBI-Inspektoren erwartet würden. Und als daraufhin meine Anhörung ziemlich schnell endete, habe ich eins und eins zusammengezählt.«
»Das erklärt noch nicht, wieso sie sich an unsere Fersen geheftet haben!«
Tamino hob die Augenbrauen. »Ich dachte, ich könnte etwas von Ihren Erkenntnissen abschöpfen. Denn ehrlich gesagt bin ich in dieser Sache noch nicht besonders weit. – Was ist jetzt? Kann ich gehen?«
»Können Sie«, sagte ich.
»Gott sei Dank. Wenn Sie mich für ein oder zwei Tage festsetzen würden, wäre ich den Job bei Mrs Templeton los.«
Ich dämpfte seine Freude. »Wir beschlagnahmen Ihren Laptop, um zu überprüfen, was Sie aufgenommen haben«, erklärte ich.
»Sie wollen mich ruinieren!«
»Wenn Sie in dem Fall wirklich noch nicht weit sind, werden wohl kaum unverzichtbare Ermittlungsergebnisse darauf sein«, gab ich zurück. »Das Abhörprotokoll werden wir natürlich löschen, den Rest bekommen sie irgendwann zurück.«
» Irgendwann? «, echote er.
Phil mischte sich jetzt ein. »Es könnte auch durchaus sein, dass Ihre Aktion noch ein paar juristische Konsequenzen nach sich zieht. Je nachdem, was wir am Ende finden. Und so lange ist das Gerät ein Beweisstück.«
Ganz gleich, was Frank Tamino in diesem Augenblick noch zu sagen gehabt hätte, er schluckte es herunter. Anscheinend war er der Ansicht, dass er mit einem blauen Auge davongekommen wäre.
***
Gary Laird fuhr nach King of Prussia, einem kleinen Ort nördlich von Philadelphia. Der Name der 18.000-Seelen-Gemeinde leitete sich von einem Gasthaus her, das nach Friedrich dem Großen von Preußen benannt worden war. Das Gasthaus existierte längst nicht mehr, dafür gab es an gleicher Stelle die King of Prussia Mall. Bezogen auf die Verkaufsfläche war das die größte Einkaufsmall der gesamten Ostküste der Vereinigten Staaten.
Und genau die war das Ziel des Anwalts.
Er stellte seinen schwarzen Jaguar auf einem der weiträumigen Park-Areale ab. Bevor er das Fahrzeug verließ, nahm er den kurzläufigen Revolver aus dem Holster, das er unter dem Anzugjackett trug, und legte ihn unter den Fahrersitz. Schließlich wollte er nicht mit dem Sicherheitspersonal der King of Prussia Mall aneinandergeraten. Seitdem man an öffentlichen Orten Terroranschläge befürchtete, wurden verstärkte Kontrollen durchgeführt. Das Risiko, mit einer Waffe aufzufallen, war Gary Laird einfach zu hoch.
Auffallen war nämlich das Letzte, was er wollte.
Genau genommen war er mit einer exakt gegenteiligen Absicht hierhergekommen. Eine Mall war immer ein idealer Ort, um sich unauffällig mit jemandem zu treffen. Und außerdem gab es hier etwas, das man sonst fast nirgends mehr finden konnte: Münztelefone.
Im Zeitalter der Smartphones hatte man in der King of Prussia Mall fünf davon stehen gelassen – ein nostalgisches Überbleibsel aus einer Zeit, in der anonyme Kommunikation noch weitaus leichter möglich war.
Die Münztelefone befanden sich zwischen einer Boutique für Herrenoberbekleidung und einem Restaurant für indische Küche.