Jerry Cotton Sammelband 58 - Jerry Cotton - E-Book

Jerry Cotton Sammelband 58 E-Book

Jerry Cotton

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Beschreibung


Jerry Cotton ist Kult - und das nicht nur wegen seines roten Jaguars E-Type.

Fünf actiongeladene Fälle und über 300 Seiten Spannung zum Sparpreis!
G-Man Jerry Cotton hat dem organisierten Verbrechen den Krieg erklärt! Von New York aus jagt der sympathische FBI-Agent Gangster und das organisierte Verbrechen, und schreckt dabei vor nichts zurück!
Damit ist er überaus erfolgreich: Mit über 3000 gelösten Fällen und einer Gesamtauflage von über 850 Millionen Exemplaren zählt er unbestritten zu den erfolgreichsten und bekanntesten internationalen Krimihelden überhaupt! Und er hat noch längst nicht vor, in Rente zu gehen!

In diesem Sammelband sind 5 Krimis um den "besten Mann beim FBI" enthalten:
Jerry Cotton 3065 - Blind Date mit einem Killer
Jerry Cotton 3066 - Angst kennt keinen Ausweg
Jerry Cotton 3067 - Mit Blut bezahlt
Jerry Cotton 3068 - Der Tod steht hinter dir
Jerry Cotton 3069 - Keine Gnade für Verlierer

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Seitenzahl: 664

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Jerry Cotton
Jerry Cotton Sammelband 58

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2016 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Covermotiv: © shutterstock: stockcreations | Milos Kontic

ISBN: 978-3-7517-6513-8

https://www.bastei.de

https://www.sinclair.de

https://www.luebbe.de

https://www.lesejury.de

Jerry Cotton Sammelband 58

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Jerry Cotton 3065

Blind Date mit einem Killer

Jerry Cotton 3066

Angst kennt keinen Ausweg

Jerry Cotton 3067

Mit Blut bezahlt

Jerry Cotton 3068

Der Tod steht hinter dir

Jerry Cotton 3069

Keine Gnade für Verlierer

Guide

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Contents

Blind Date mit einem Killer

Die halbnackte Frau begann vor Furcht zu zittern, als das Telefon klingelte. Aber der Mann mit den Mörderaugen beachtete sie gar nicht. Er hatte den Rücken in ihre Richtung gedreht, während er das Gespräch entgegennahm.

»Verstanden, Jake. So machen wir es. Ich melde mich dann.«

Der Mann steckte sein Handy wieder ein. Nun wandte er sich wieder der Blondine auf dem zerwühlten französischen Bett zu. Sie riss ihre schönen Augen weit auf. Aus ihrer Furcht war nun pure Todesangst geworden.

»Ich habe nichts gehört!«, beteuerte sie mit schwerem Akzent. Der Mann schüttelte nur den Kopf.

»Es war mein Fehler. Ich hätte keinen Namen nennen sollen. Namen sind schlecht, verstehst du?«

Eine Antwort erwartete er nicht, denn im nächsten Moment starb die Frau durch eine Kugel aus seiner Pistole.

Der Winter hatte die amerikanische Hauptstadt fest im Griff. Ich kam nur im Schneckentempo vorwärts, als ich meinen Jaguar in Richtung J. Edgar Hoover Building lenkte. Phil war auch gerade erst eingetroffen.

»Da bist du ja, Jerry. Ich wollte schon einen Suchtrupp in den Schneesturm schicken. Mr High möchte uns sprechen.«

Wir gingen sofort zum Chefbüro hinüber. Dorothy Taylor blickte auf, als wir das Vorzimmer betraten. Die aparte dunkelhäutige Sekretärin schenkte uns ein freundliches, aber distanziertes Lächeln.

»Der Chef erwartet Sie bereits, Jerry und Phil.«

Wir versorgten uns an der Espressomaschine noch schnell mit Kaffee und betraten dann das eigentliche Büro von Assistant Director High.

Unser Vorgesetzter begrüßte uns mit einem Kopfnicken und bat Phil und mich an den Konferenztisch. Er kam sofort zur Sache.

»Gestern wollten die Field Offices Kentucky, Virginia und Tennessee eine gemeinsame Aktion gegen den Menschenhandel durchführen. Es gibt dort im Grenzgebiet etliche versteckte Bordelle mitten in der Einöde. Sie werden besonders von Truckern und durchreisenden Geschäftsleuten aufgesucht. Angeblich sollen die Prostituierten dort für besonders wenig Geld arbeiten und auch die perversesten Wünsche erfüllen. Das liegt zweifellos daran, dass sie nicht freiwillig dort sind.«

Ein Blick auf Phils Gesicht bewies mir, dass er diese Verbrechen genauso abscheulich fand wie ich. Aber mir war noch etwas anderes aufgefallen.

»Die Kollegen wollten also zuschlagen, Sir? Haben sie es dann doch nicht getan?«

»Die Razzia erfolgte planmäßig, war aber ein völliger Fehlschlag. Ich habe vorhin mit Agent Allan Mendoza telefoniert. Wie Sie wissen, leitet er das Field Office in Richmond. Unsere Teams haben weder Prostituierte noch Freier oder Zuhälter angetroffen. Allerdings wurde eine Leiche gefunden, die höchstwahrscheinlich etwas mit dem Fall zu tun hatte.«

»Ist die Identität schon bekannt?«

John D. High beantwortete meine Frage mit einem Kopfschütteln.

»Es handelt sich um eine weiße blonde Frau Mitte zwanzig. Sie wurde nicht in einem der Bordelle gefunden, sondern von Wanderern in einem Waldstück. Aber ihre Kleidung deutet darauf hin, dass sie im Rotlichtmilieu tätig war. Man hat die Leiche offenbar nur in der Wildnis abgelegt.«

»Und es gab keine einzige Verhaftung?«, fragte Phil ungläubig.

Der Chef blickte in seinen Schnellhefter.

»Es konnte eine Person festgenommen werden, ein gewisser Jake Morley. Die Agents fanden ihn in einem der Gebäude, die als Bordelle dienen. Er stand unter Drogen und wusste gar nicht, wie ihm geschah.«

»Dann war seine Verhaftung also eher ein Glücksfall«, stellte Phil ernüchtert fest. Der Chef nickte.

»Ich möchte Sie bitten, nach Richmond zu reisen und die merkwürdigen Umstände dieses fehlgeschlagenen Zugriffs aufzuklären. Und nehmen Sie Ihr SR-Team mit. Es ist momentan nicht sicher, wem wir vor Ort noch vertrauen können.«

Mit dieser Bemerkung hatte Mr High leider ins Schwarze getroffen. Es gab nämlich nur eine plausible Erklärung für das Desaster.

Die Verbrecher mussten einen Tipp aus den Reihen des FBI bekommen haben.

***

Dorothy Taylor erhob sich hinter ihrem Schreibtisch, als wir aus dem Chefbüro kamen.

»Ich habe gerade in Richmond angerufen. Wenn sich das Wetter hält, wird es keine Verzögerung im Flugverkehr geben. Up and Away hat die Tickets für Sie bereits am Airport hinterlegt.«

Wir bedankten uns. Ich rief Dr. Willson an, um ihn über den bevorstehenden Einsatz zu informieren. Da sich ihr Labor in Quantico in Virginia befand, konnten sie von dort aus schneller per Auto nach Richmond gelangen.

»Ein Verräter unter uns?«, grollte der bärbeißige Pathologe. »Falls das stimmen sollte, wird es mir ein besonderes Vergnügen sein, ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Wir treffen uns dann im Field Office Richmond, Jerry.«

Das SR-Team bestand neben Willson noch aus Fortesque, Mai-Lin Cha und Concita Mendez. Es war ein gutes Gefühl, auf ihre Unterstützung bauen zu können. Noch war nicht absehbar, ob wir ihre Fachkenntnisse benötigen würden. Aber zumindest für die Obduktion der unbekannten Frauenleiche war Willson der fähigste Mann, den ich mir vorstellen konnte.

Phil und ich hatten unser Reisegepäck stets griffbereit. So kam es, dass wir noch den nächsten Flug vom Reagan National Airport erwischen konnten. Die Reise nach Richmond dauerte nur eine knappe Stunde.

Phil klappte sein Notebook auf.

»Ich habe mir mal die elektronische Fallakte dieses Jake Morley aufgerufen, Jerry. Der Knabe ist kein unbeschriebenes Blatt. Er ist wegen schwerer Körperverletzung und Beihilfe zum Betrug vorbestraft. Angeklagt wurde er noch wegen weiterer Delikte, wie du siehst. Aber die übrigen Verfahren mussten aus Mangel an Beweisen eingestellt werden.«

Ich nickte.

»Aus dem Datenbankeintrag geht auch hervor, dass Morley der Sohn eines ebenfalls aktenkundigen Kriminellen ist. Ich wette, dass unser Kollege Allan Mendoza uns noch mehr über diese saubere Familie erzählen kann.«

»Wir müssen ja Jake Morley beinahe dankbar dafür sein, dass er Drogen konsumiert«, meinte Phil seufzend. »Wenn er nicht so neben der Spur gewesen wäre, hätten die Agents niemanden verhaften können.«

Ich nickte.

»Es wird sich zeigen, ob wir aus dem Verdächtigen etwas herausbekommen. Wenn er wirklich aus einer Verbrecher-Dynastie stammt, dann können wir nicht auf Kooperationsbereitschaft hoffen.«

Die Wetterlage blieb stabil, obwohl Richmond uns mit eiskaltem Nordwind empfing. Eine junge Agentin holte uns vom Airport ab. Der Name der attraktiven Brünetten im taubengrauen Hosenanzug lautete Larissa Hawkins. Sie chauffierte uns in einem Chevrolet Tahoe zum Field Office, wobei sie auffällig schweigsam war.

»Waren Sie auch an diesem missglückten Zugriff beteiligt, Agent Hawkins?«, wollte ich von ihr wissen.

»Wir haben uns nichts zuschulden kommen lassen«, gab sie scheinbar ruhig zurück. Doch ein Beben in ihrer Stimme verriet die unterdrückte innere Anspannung.

»Das wird sich zeigen. Wir sind nicht hier, um vorschnelle Urteile zu fällen. Letztlich ziehen wir an einem Strang. Und wenn eine FBI-Aktion scheitert, dann fällt das auf uns alle zurück, egal ob wir Agents oder Inspektoren sind.«

Als Larissa Hawkins mir antwortete, klang ihre Stimme schon etwas versöhnlicher.

»Es kommt mir so vor, als ob man uns nicht mehr trauen würde.«

»Kein Agent, der seine Aufgaben korrekt erfüllt, muss Inspektor Decker oder mich fürchten«, stellte ich klar.

Richmond ist im Vergleich zu Washington eine kleine Stadt. Schnell erreichten wir das Field Office in der East Parham Road. Dort wurden wir bereits von SAC Allan Mendoza erwartet. Der korpulente Latino mit dem Knebelbart gab Phil und mir die Hand, dann führte er uns persönlich in sein Büro und schloss die Tür hinter sich.

»Dr. Willson hat von unterwegs aus angerufen. Ihr SR-Team ist auf dem Weg, aber nördlich von hier sind die Straßenverhältnisse schlechter als erwartet. Womöglich zieht ein Blizzard herauf«, sagte Mendoza, nachdem wir Platz genommen hatten. Seine Sekretärin brachte Kaffee für uns alle.

»Okay, früher oder später werden die Kollegen eintreffen. Wie lautet der momentane Stand der Ermittlungen?«

Der SAC seufzte, bevor er meine Frage beantwortete.

»Das ist schnell berichtet, Inspektor Cotton. Bei der Razzia wollten wir insgesamt acht ehemalige Farmen und Molkereien durchkämmen, die zu Bordellen umgebaut wurden. Davon befinden sich drei auf dem Staatsgebiet von Virginia, die übrigen sind in Kentucky und Tennessee. Wir haben die Aktion geheim gehalten, selbst die State Police erfuhr erst eine halbe Stunde vor dem Zugriff davon. Wir baten die uniformierten Kollegen darum, die Zufahrtsstraßen zu sperren. Das haben sie auch getan, aber wir fanden alle Bordelle leer vor, wenn man Jake Morley einmal ausklammert.«

»Hat der Verdächtige schon ausgesagt? War er bei Bewusstsein?«

»Auf meine Agents machte Morley einen weggetretenen Eindruck, Inspektor Cotton. Es war offensichtlich, dass er Drogen eingeworfen hatte. Bei seiner Verhaftung leistete er keinen Widerstand. Aber er stammelte nur wirres Zeug. Wir fanden bei ihm eine Pistole, die er allerdings legal gekauft hat, außerdem ein Röhrchen mit chemischen Drogen aus irgendeiner Hinterhof-Giftküche.«

»Dann können wir ihn wenigstens wegen Drogenbesitz anklagen«, warf Phil ein. »Wurde die Waffe schon kriminaltechnisch untersucht?«

Mendoza zog seine Augenbrauen zusammen und zog einen Beutel für Beweisstücke aus seinem Schreibtisch. Darin befand sich eine Pistole.

»Nein, ich habe das Beweisstück höchstpersönlich in Verwahrung genommen. So, wie es momentan aussieht, können wir keinem meiner Leute trauen, auch den Kriminaltechnikern nicht. Jedenfalls nicht, bis der Maulwurf enttarnt ist.«

»Gibt es noch andere Möglichkeiten, wie die Razzia verraten worden sein kann? Wurden Ihre Computer gehackt?«

»Ich habe die Anweisungen nur mündlich sowie telefonisch über abhörsichere Leitungen gegeben. Inzwischen hat ja jeder Kleinkriminelle einen Polizeifunkscanner. Deshalb haben wir auch die State Cops erst in allerletzter Minute informiert.«

Mendoza hatte offenbar an alles gedacht. Ich kam auf einen anderen Aspekt zu sprechen.

»Wem gehören diese Bordelle? Jake Morley ist ja wohl Mitglied eines Verbrecherclans. Sind alle Freudenhäuser im Morley-Besitz?«

Der SAC schüttelte den Kopf.

»Nein, die Morleys teilen sich dieses schmutzige Geschäft mit der Russell-Familie aus Kentucky. Den Russells gehören drei Bordelle.«

Phil legte die Stirn in Falten.

»Dann verstehe ich aber nicht, warum Ihre Agents nicht wenigstens die Gebäude der einen kriminellen Sippe ausheben konnten. Ein möglicher Spitzel hier im Field Office wird ja wohl kaum für beide Organisationen arbeiten, oder?«

»Vielleicht doch«, gab ich zurück. »Wenn er sich seine Tipps gut bezahlen lässt, konnte er in diesem Fall doppelt kassieren.«

***

Einen konkreten Verdacht gegen einen bestimmten Agent hatte Allan Mendoza noch nicht. Natürlich war es auch möglich, dass sich das Leck in einem der beiden anderen beteiligten Field Offices befand. Doch wir wollten mit unseren Ermittlungen zunächst in Richmond beginnen.

Einige Zeit später traf auch das SR-Team ein. Nachdem wir die Kollegen begrüßt hatten, gab ich Fortesque Morleys Pistole.

»Checken Sie bitte, ob die Waffe schon bei Straftaten benutzt wurde, FGF.«

»Mit dem größten Vergnügen, Jerry.«

Unser Ballistiker sollten von Agent Larissa Hawkins zum Labor des Richmond Police Department gefahren werden, das vom FBI mitbenutzt werden durfte. Fortesque straffte seine schlanke hochgewachsene Gestalt, als er die junge Kollegin erblickte.

Ich wandte mich an Mai-Lin und Concita Mendez.

»Stellen Sie bitte alle Informationen über den Morley-Clan zusammen, die Sie finden können. Die Finanzströme interessieren mich ganz besonders. Natürlich werden die Gangster versuchen, ihre Transaktionen möglichst gut zu tarnen.«

»Das tun sie alle«, meinte unsere Finanzexpertin trocken. »Aber früher oder später macht jeder Gangster einen Fehler.«

»Es gibt eine interessante Statistik über gescheiterte kriminelle Pläne«, begann die Informatikerin. Ich verließ schnell den Raum, bevor es zu theoretisch wurde. Stattdessen kehrte ich zu Mendoza zurück.

»Was ist mit der weiblichen Leiche, von der wir in Washington gehört haben?«

»Sie wurde ins gerichtsmedizinische Institut von Richmond gebracht«, erwiderte der SAC.

»Dann will ich sie mir gleich mal vornehmen«, sagte Willson, der zu uns getreten war. Phil und ich begleiteten ihn. Mit dem Chevrolet Tahoe fuhren wir zur Pathologie. Phil und ich konnten das Fahrzeug während unseres Aufenthalts in Richmond als Dienstwagen nutzen.

Nachdem wir unsere Dienstmarken präsentiert hatten, wurden wir in einen Kühlraum geführt. Einheimische Kollegen hatten die Tote bereits entkleidet. Ihre Habseligkeiten befanden sich in einer Plastiktüte.

Sie war mit halterlosen Strümpfen, roten Dessous und Lackpumps bekleidet gewesen. Willson hatte inzwischen einen Kittel, Latex-Handschuhe sowie einen Mundschutz angelegt.

»Bevor ich die Lady aufschneide, können Sie schon mal einen Blick in ihren Mund werfen«, sagte der Pathologe. Er drückte Ober- und Unterkiefer mittels eines Instruments auseinander. »Sehen Sie das, Jerry und Phil? Die Tote hatte eine Überkronung im Oberkiefer.«

»Okay, aber so etwas haben viele Leute, auch schon in jungen Jahren.«

»Richtig, Phil. Allerdings ist diese Zahnkrone definitiv keine amerikanische Arbeit. Ich habe solche Überkronungen schon oft genug gesehen. Sie stammen aus Osteuropa oder aus Russland.«

»Ein weiterer Hinweis auf Zwangsprostitution«, stellte ich bitter fest. Willson zog das weiße Laken weg, mit dem der Körper bedeckt gewesen war.

»Der Körper weist keine äußeren Verletzungen auf, aber das muss nichts bedeuten. Diese Dreckskerle machen die Frauen gefügig, ohne Spuren zu hinterlassen. Hämatome sind schlecht für das Geschäft, schätze ich.«

***

Willson versprach, uns die Ergebnisse der Obduktion möglichst bald mitzuteilen. Phil und ich verließen die Pathologie wieder. Unser nächster Weg führte uns zur Wache der State Police. Nach einigem Hin und Her trafen wir auf den State Trooper, dem der Leichenfund gemeldet worden war. Er war ein bulliger farbiger Sergeant und hieß Porter. Nachdem wir uns ihm vorgestellt hatten, kam ich auf die Leiche zu sprechen. Er schüttelte den Kopf.

»Ja, die Frau wurde abgeknallt. Nur ein Schuss, wenn ich das richtig gesehen habe. Zeugen meldeten mir den Leichenfund, ich war eine Viertelstunde später vor Ort.«

»Könnten Sie uns die Stelle bitte zeigen?«

»Sicher. Fahren wir gleich, wenn Sie gerade Zeit haben.«

Wir stiegen zu dem Sergeant in einen Streifenwagen. Als Porter den Wagen gestartet hatte, setzte Schneetreiben ein.

»Was für einen Eindruck hatten Sie von den Zeugen, Sergeant?«

»Die Lonnegans? Die waren völlig durch den Wind, als ich am Leichenfundort eintraf. Sie hatten eine Wanderung gemacht und plötzlich einen Unterarm aus dem Schnee ragen gesehen. Ich habe das Ehepaar schon in den Datenbanken gecheckt. Kein Eintrag, weder bei ihm noch bei ihr. Sie stammen aus Texas und wollten mal einen Wanderurlaub im Schnee verbringen. Ich halte es für ausgeschlossen, dass sie etwas mit der Bluttat zu tun hatten.«

Das Schneegestöber wurde immer dichter. Jenseits der Stadtgrenze von Richmond fuhr der Sergeant vom Highway herunter auf eine Gemeindestraße. Wenig später bog er in einen Feldweg ein. Wir waren jetzt nur zwanzig Meilen vom Stadtzentrum entfernt. Dennoch hatte ich das Gefühl, mich in einer völlig abgelegenen Gegend zu befinden.

Porter stoppte den Wagen. Wir stiegen aus, und er deutete auf einige Douglas-Tannen vor uns.

»Dort, unter dem höchsten Baum, lag die Ermordete. Der Boden unter dem Schnee ist hartgefroren. Aber die Zeugen waren sicher, auf dem Feldweg Reifenspuren entdeckt zu haben. Die sind natürlich inzwischen vom Neuschnee vernichtet worden.«

Ich ließ meinen Blick schweifen. Links und rechts vom Weg standen Bäume, hin und wieder war ein Stück Brachland zu sehen.«

»Wo ist die nächste Siedlung, Sergeant?«

»Richtung Norden liegt Locust Creek, ein verschlafenes Nest. Aber eines der Morley-Bordelle befindet sich nur zwei Meilen westlich von hier, in einer ehemaligen Molkerei.«

Ich selbst hatte noch nicht über die missglückte Razzia gesprochen. Aber Porter war nicht dumm. Er konnte sich denken, weshalb zwei FBI-Inspektoren ausgerechnet jetzt nach Virginia kamen: bestimmt nicht zur Aufklärung eines Frauenmordes, der für sich allein wahrscheinlich noch nicht einmal ein FBI-Fall gewesen wäre. Ich hakte nach.

»Wie ist Ihre Meinung zu der FBI-Aktion, Sergeant?«

Porter schüttelte den Kopf.

»Ich fürchte, Sie haben einen faulen Apfel in Ihrem Korb, Inspektor Cotton. Wir von der State Police versuchen schon seit ewigen Zeiten, den Morleys das Handwerk zu legen. Aber die Familie fühlt sich stark, weil sie sich nie bei Straftaten erwischen lassen und es keine Zeugen gibt, die gegen sie aussagen würden. Wir waren überrascht und haben uns gefreut, als das FBI endlich dem Spuk ein Ende machen wollte.«

»Ich verstehe. Die Gegend hier ist ziemlich abgelegen, nicht wahr?«

»Das stimmt, Inspektor Cotton. Wenn die Wanderer nicht zufällig auf die Leiche gestoßen wären, hätte sie hier noch monatelang unentdeckt unter dem Schnee liegen können. Der Winter hat schließlich gerade erst begonnen.«

»Und die Mörder haben die Frau nicht verscharrt, weil der Boden gefroren ist«, mutmaßte Phil. Noch gab es keinen Beweis dafür, dass die Leiche von der Morley-Familie oder ihren Komplizen beiseite geschafft worden war. Aber es sprach sehr viel dafür.

Wir fuhren mit Porter wieder zurück nach Richmond. Als Phil und ich ins Field Office kamen, herrschte dort große Aufregung. SAC Allan Mendoza rannte hektisch hin und her, sein Gesicht war weiß vor Wut.

»Was ist geschehen?«, fragte ich Larissa Hawkins. Die junge Agentin sah nicht so aus, als ob sie sich besonders wohl in ihrer Haut fühlen würde.

»Dem SAC sind Beweismittel abhandengekommen. Womöglich wurden sie gestohlen.«

Ich trat auf Mendoza zu und nahm ihn beiseite.

»Erzählen Sie mir, was geschehen ist«, forderte ich. »Am besten unter vier Augen, in Ihrem Büro.«

Der SAC nickte. Er starrte glasig vor sich hin, seine Stirn war von kleinen Schweißtropfen bedeckt. Ich wandte mich Phil zu.

»Behältst du die Lage hier draußen im Auge? Wenn sich jemand verdächtig verhält …«

»Ich kümmere mich darum. Verlass dich auf mich, Jerry.«

Nachdem ich Mendoza in sein eigenes Büro geschoben hatte, schloss ich die Tür hinter uns.

»Worum genau geht es also, Agent?«

Der SAC atmete tief durch, bevor er antwortete.

»Es hatte natürlich seinen Grund, weshalb wir die Razzia für den zurückliegenden Montag geplant hatten. Nachdem William Morley längere Zeit durch meine Agents observiert worden war …«

Ich unterbrach Mendoza.

»In welchem Verhältnis steht William zu Jake Morley?«

»Sorry, das hatte ich Ihnen noch nicht gesagt. William ist Jakes Dad. Der Alte ist der momentane Boss des Clans. Ein brutaler Mafioso alter Schule, der keinen lebenden Zeugen zurücklässt. Jedenfalls erhielten wir eine richterliche Genehmigung, sein Auto mit einer elektronischen Wanze zu bestücken. Zunächst hörten wir nur belangloses Gerede mit, aber dann bekam William Morley einen Anruf auf seinem Handy. Aus dem kurzen Telefonat ging hervor, dass er ein Dutzend neuer Prostituierter für seine Betriebe erwartete. Wir wollten genau an dem Tag zuschlagen, wenn die Frauen eintrafen. Unsere Hoffnung war, dass Morley und die anderen Zuhälter in dem Durcheinander nicht so wachsam sein würden, wie sie es gewöhnlich sind.«

»Und was genau ist Ihnen nun gestohlen worden?«

»Der Audio-Mitschnitt dieses abgehörten Telefonats.«

»Aber davon muss es doch ein Backup geben.«

»Normalerweise schon, Inspektor Cotton. Aber die Sicherungskopie wurde gelöscht.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Zu unserem SR-Team gehört eine der besten Informatikerinnen des FBI. Vielleicht kann Mai-Lin Cha die Datei wiederherstellen.«

Mendoza zog die Augenbrauen zusammen.

»Das sollten wir auf alle Fälle versuchen. Meinen Sie, ich sollte meine Agents über den Diebstahl informieren?«

»Schaden kann es nichts, denke ich. Der Verräter wird möglicherweise nervös. Und wenn wir das Beweismittel rekonstruieren können, wäre er das Risiko völlig umsonst eingegangen.«

Der SAC stimmte mir zu. Er wies seine Sekretärin an, eine Personalversammlung einzuberufen. Eine halbe Stunde später versammelten sich die anwesenden Agents und das übrige Personal im Sitzungsraum des Field Office. Mendoza betrat den Raum, flankiert von Phil und mir. Mai-Lin hatten wir ebenfalls mitgenommen.

Alle Blicke richteten sich gespannt auf uns.

Der SAC ergriff das Wort. »Ich will es kurz machen. Sie alle werden mitbekommen haben, aus welchem Grund unsere Aktion gegen den lokalen Menschenhandel gescheitert ist. Jetzt ist auch noch ein wichtiges Beweismittel abhanden gekommen. Jemand von Ihnen spielt offenbar mit gezinkten Karten. Aber ich habe eine schlechte Nachricht für den Verräter. Die hochqualifizierte Informatikerin Dr. Mai-Lin Cha wird die Audio-Datei retten können. Und der Täter sollte sich darüber im Klaren sein, dass er durch ein umfassendes Geständnis seine Lage nur verbessern kann.«

Betretenes Schweigen breitete sich aus. Ich konnte sehr gut nachvollziehen, wie sich die Agents fühlen mussten. Wahrscheinlich hatte sich nur ein Einziger von ihnen strafbar gemacht, aus was für Gründen auch immer. Aber solange wir ihn nicht enttarnt hatten, mussten wir die Männer und Frauen des Field Office alle unter Generalverdacht stellen.

***

Inzwischen war es Abend geworden. Mai-Lin saß an einem Hochleistungsrechner und war mit Feuereifer bei der Arbeit. Und auch unsere Finanzexpertin war nicht untätig geblieben.

»Ich habe die Konten sämtlicher Agents des Field Office Richmond überprüft«, sagte Concita Mendez. »Dabei ist mir eine Unregelmäßigkeit aufgefallen. Es gibt einen Kollegen, der kürzlich 10.000 Dollar aus einer dubiosen Quelle erhalten hat.«

Ich hakte nach.

»Was verstehen Sie unter einer dubiosen Quelle, Concita?«

»Das Konto, von dem aus überwiesen wurde, gehört einer gewissen NBK Consulting auf den Bahamas. Das ist eine Briefkastenfirma. Ich habe das Unternehmen schon gecheckt. Es ist bereits in unseren Datenbanken für Wirtschaftskriminalität verzeichnet. NBK Consulting steht im Verdacht, in Geldwäscheaktivitäten des organisierten Verbrechens verwickelt zu sein.«

»Wie heißt der Agent, der das Geld kassierte?«

»Tom Newman, Jerry.«

Phil schüttelte heftig den Kopf.

»Ich will bestimmt keinen Schuldigen schützen. Aber wäre ein korrupter Agent wirklich so dumm, sich das Geld von zwielichtigen Geschäftemachern auf sein Privatkonto überweisen zu lassen?«

Concita nickte.

»Ein guter Einwand, Phil. Ich muss allerdings dazu sagen, dass dieses Konto offiziell der Lakeside Insurance gehört, einer Autoversicherung. Man muss schon etwas tiefer graben, wie ich es getan habe. Dann zeigt sich, dass hinter der Versicherungsgesellschaft eine Briefkastenfirma im Ausland steckt.«

»Bei einer normalen Routineüberprüfung wäre der Schwindel nicht aufgeflogen«, stellte ich fest. »Newman hätte behaupten können, von der Versicherung eines Unfallgegners einen Betrag für die Autoreparatur erhalten zu haben. Vielleicht hat er auch eine fingierte Werkstattrechnung parat.«

Jedenfalls mussten wir den Verdacht aufklären. Ich sprach Allan Mendoza auf das Ergebnis von Concitas Recherchen an. Der SAC legte seine Stirn in tiefe Falten.

»Das hätte ich von Tom Newman niemals gedacht. Er ist ein erfahrener und zuverlässiger Agent, mit dem ich noch niemals Probleme hatte. Tom ist seit zwölf Jahren beim FBI.«

»Wissen Sie, ob Newman private Sorgen hat? Vielleicht eine Scheidung oder ein Drogenproblem?«

»Nein, da ist nichts. Oder Tom hat es sehr geschickt vor mir verborgen. Ich dachte eigentlich immer, dass ich meine Leute kennen würde.«

Ich legte meine Hand auf Mendozas Schulter.

»Noch ist nichts bewiesen. Bevor wir mit dem Agent sprechen, würde ich gern Jake Morley verhören. Vielleicht gibt der Verdächtige unabsichtlich etwas preis, das unsere Ermittlungen voranbringt.«

»Das bezweifle ich«, stöhnte Allan Mendoza. »So, wie ich Jake Morleys Dad kenne, wird er seinem Sohn den besten Strafverteidiger von Virginia an die Seite stellen.«

***

Mit dieser Einschätzung sollte der SAC recht behalten. Als Jake Morley zur Befragung in einen Verhörraum geschafft wurde, bestand er auf der Anwesenheit seines Anwalts. Nun, das war sein gutes Recht.

Wir mussten noch etwas warten, aber dann erschien Dr. Walter Swift im Field Office. Er war ein dicker Mann in einem Nadelstreifenanzug, der uns durch seine starken Brillengläser misstrauisch anfunkelte. Phil und ich stellten uns ihm vor.

»Weshalb müssen denn gleich zwei Inspektoren aus Washington anrücken, um ein Bagatelldelikt zu bearbeiten? Das hört sich für mich doch sehr stark nach Verschwendung von Steuergeldern an.«

Ich ließ mich durch Swifts herausfordernde Art nicht aus der Ruhe bringen.

»Beihilfe zur Prostitution und Mord sind für uns keine Kleinigkeiten, Dr. Swift. Und ich bin sicher, dass es die Jury genauso sehen wird.«

»Sie haben eine blühende Fantasie, Inspektor Cotton. Ich verlange, mich zunächst mit meinem Mandanten zu beraten. Dann wird sich sehr schnell herausstellen, dass Ihre Anschuldigungen pure Hirngespinste sind.«

Wir mussten uns darauf einlassen, dass der Jurist zunächst allein mit Jake Morley sprechen durfte. Phil war sauer.

»Woher will dieser aufgeblasene Ochsenfrosch denn überhaupt wissen, was sein Schützling verbrochen hat? Er hat doch noch gar nicht mit ihm geredet, nachdem er verhaftet wurde.«

»Swift wird Morley als Unschuldslamm darstellen, so viel ist mir jetzt schon klar. Allerdings fürchte ich, dass wir nicht viel gegen den Drogenknaben in der Hand haben. Falls wir ihm keine Verbindung zu der Toten nachweisen können, sehe ich schwarz.«

Endlich rief uns der Rechtsanwalt hinein. Er konnte ein triumphierendes Grinsen nur schwer unterdrücken. Jedenfalls kam es mir so vor. Auch sein Mandant machte nicht gerade den Eindruck, vor der Macht des Gesetzes zu zittern.

Jake Morley war ein schlanker mittelgroßer Mann Ende zwanzig, dessen Haar modisch geschnitten war. Er trug eine teure Lederjacke, die vermutlich von einem Designer entworfen worden war.

»Mr Morley ist ein Opfer widriger Umstände, Inspektor Cotton. Daher verlange ich seine sofortige Freilassung.«

Ich blickte auf das Verhaftungsprotokoll, das Mendoza mir gegeben hatte.

»Jake Morley wurde am Montag von FBI Agents in einer ehemaligen Molkerei aufgegriffen, in der Nähe von Locust Creek. In dem Gebäude wird ein Bordell betrieben.«

»Von einem Puff weiß ich nichts«, behauptete der Verdächtige. »Und ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich dorthin gekommen bin.«

»Vermutlich in Ihrem eigenen Auto, Mr Morley. Jedenfalls stand laut meinen Aufzeichnungen Ihr Dodge Neon vor dem Gebäude.«

Nun legte sich der Anwalt für sein vermutlich fürstliches Honorar ins Zeug: »Das Auto befand sich dort, aber Sie können nicht beweisen, dass mein Mandant es gefahren hat.«

»Welche Erklärung haben Sie denn dafür, dass Jake Morley dort hingelangt ist und außerdem noch unter Drogen stand?«, wollte Phil wissen.

»Mein Mandant war am Sonntagabend in Richmond auf einer Party. Dort lernte er eine junge Lady kennen, die mit ihm flirtete. Sie war attraktiv, trieb aber offenbar ein falsches Spiel mit ihm. Diese Frau verleitete Mr Morley dazu, eine Partydroge zu nehmen. Das bedauert er inzwischen zutiefst. Er verlor schnell seine Fahrtüchtigkeit. Die Lady bot Mr Morley an, ihn nach Hause zu fahren. Bedenken Sie, dass er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr Herr seiner Sinne war. Aber sie brachte ihn nicht zu seinem Apartment, sondern in diese stillgelegte Molkerei.«

»Und wie ist die Frau wieder von dort weggekommen, nachts, bei Schneefall und mitten in der Einöde?«

Man konnte Phils Stimme anhören, dass er dem Anwalt kein Wort glaubte. Das ging mir genauso. Dr. Swift lächelte kalt.

»Das weiß ich nicht, Inspektor Decker. Vielleicht wurde sie von einer anderen Person mitgenommen. Oder die Frau ist zu Fuß gegangen.«

»Oder die Geschichte Ihres Mandanten ist von vorn bis hinten frei erfunden«, sagte ich.

»Diese Unterstellung weise ich zurück, Inspektor Cotton! Oder können Sie beweisen, dass Mr Morley auf andere Weise dorthin gekommen ist?«

Das konnte ich natürlich nicht, aber das wollte ich dem Juristen noch nicht auf die Nase binden. Ich bohrte weiter nach.

»Und wie lautete der Name Ihrer Partybekanntschaft, Mr Morley?«

Er grinste frech.

»Sie heißt Kate.«

»Haben Sie keinen Nachnamen für uns?«

»Leider nein.«

»Und wie steht es mit einer Beschreibung?«

»Sie war blond und schlank. An mehr kann ich mich nicht erinnern.«

»Wissen Sie, wie viele blonde schlanke Frauen es vermutlich allein im Umkreis von Richmond gibt?«, rief Phil genervt.

»Das können Sie meinem Mandanten nicht anlasten«, stellte der Anwalt genüsslich fest. Ich hatte im Leichenschauhaus mit meinem Smartphone ein Foto vom Gesicht der Toten gemacht. Das zeigte ich dem Verdächtigen nun.

»Haben Sie diese Frau schon einmal gesehen? Handelt es sich bei ihr eventuell um Kate?«

Morleys Grinsen verschwand beim Anblick des Leichengesichts. Aber ich konnte unmöglich einschätzen, ob er das Todesopfer kannte. Er schüttelte nur stumm den Kopf.

»Wir vermuten, dass diese Frau ebenfalls in dem Bordell war«, erklärte ich. »Und außerdem gehen wir davon aus, dass sie dort ermordet und dann im Wald abgelegt wurde.«

»Gibt es Hinweise auf eine Tatbeteiligung meines Mandanten?«

»Noch nicht, aber …«

»Dann ist dieses Gespräch beendet«, entschied der Anwalt. »Wir sehen uns dann morgen beim Haftprüfungstermin. Ich zweifle nicht daran, dass der Richter meinen Mandanten auf freien Fuß setzen wird.«

Swift wollte aufstehen, aber ich hielt ihn zurück.

»Nicht so eilig, wir sind noch nicht fertig. – Dr. Swift, ich will offen sprechen. Das FBI verdächtigt nicht nur Jake Morley, sondern auch seinen Vater William, in Menschenhandel verwickelt zu sein. Wir haben mit richterlicher Erlaubnis Telefonate von William Morley abgehört. Daraus ging hervor, dass er am Montag neue Zwangsprostituierte erwartete. Eine von ihnen war womöglich die tote Frau, deren Bild Sie gesehen haben.«

Aber auch auf diesen Vorstoß waren die beiden Herzchen vorbereitet.

»Prostituierte? Ich weiß nicht, was Sie oder Ihre Kollegen gehört haben wollen, Inspektor Cotton«, sagte Jake Morley mit Unschuldsmiene. »Mein Dad hat bestimmt nicht von Prostituierten oder Huren oder so etwas gesprochen. Er hat am Montag wirklich eine Lieferung bekommen, aber von Puppen! Dad sammelt nämlich diese russischen Holzpuppen, Matroschkas oder Babuschkas oder wie die heißen. Und das ist ja wohl nicht verboten.«

***

»Dieser miese kleine Gangster und sein Anwalt haben uns vorgeführt wie die Tanzbären!«

Phil versuchte nicht, seine Wut zu verbergen, nachdem der Verdächtige in Untersuchungshaft gebracht wurde und der Anwalt sich verabschiedet hatte.

»Wer zuletzt lacht, lacht am besten«, erwiderte ich. »Morleys Alibi könnte funktionieren. Er ist der Spross einer alteingesessenen Verbrechersippe. Bestimmt gibt es in Richmond viele Leute, die ihm entweder einen Gefallen schuldig sind oder sich vor ihm fürchten. Oder beides.«

Phil nickte düster.

»Ja, und diese Leute werden gerne aussagen, dass sie ihn auf der Party gesehen haben. Und an eine unbekannte Blonde können sie sich bestimmt auch ausnahmslos erinnern. Wir hätten Morley noch auf Agent Newman ansprechen und seine Reaktion abwarten sollen!«

Ich schüttelte den Kopf.

»Nein, noch können wir nicht sicher sein, ob der Agent Dreck am Stecken hat. Außerdem hätten wir dadurch dem Verteidiger gegenüber durchblicken lassen, dass in unseren eigenen Reihen etwas faul ist. So etwas muss man einem Typen wie Dr. Swift nicht noch unter die Nase reiben, damit liefert man ihm nur Munition.«

»Du hast ja recht, Jerry. Aber …«

Bevor Phil den Satz beenden konnte, kam Agent Larissa Hawkins hereingestürmt. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihre Stimme zitterte leicht.

»Das Police Department hat angerufen. Aus Tom Newmans Apartment wurde ein Schuss gemeldet. Die Nachbarn haben die Cops alarmiert.«

Ich sprang auf.

»Konnten Sie Ihren Kollegen telefonisch erreichen?«

»Negativ, Inspektor Cotton.«

Natürlich fuhren Phil und ich sofort gemeinsam mit Larissa zu Newmans Adresse. Er wohnte am Glenside Drive. Allan Mendoza folgte mit zwei Agents in einem weiteren Wagen. Obwohl die Räumfahrzeuge im Einsatz waren, kamen wir in dem Chevrolet Tahoe nur langsam voran. Aber vielleicht erschien mir das auch nur so, weil ein Kollege in Gefahr schwebte.

Wir bekamen eine Nachricht über Funk. Die Richmond Police war bereits mit einem Streifenwagen vor Ort. Die Cops wollten in das Apartment eindringen.

Es war bereits spät, und das Schneetreiben erschwerte in der Dunkelheit die Sicht zusätzlich. Endlich erreichten wir das Apartmenthaus. Es befand sich in einer durchschnittlichen Wohngegend, weder Luxus-Vorort noch Ghetto.

Die Rot-Blau-Lichter des geparkten Streifenwagens rotierten. Ein Rettungswagen war ebenfalls da. Durch die offenstehende Haustür fiel Licht auf den schneebedeckten Gehsteig. Ich rannte hinein, dicht gefolgt von Phil und Larissa. Im ersten Stockwerk hielt ein uniformierter Cop die neugierigen Nachbarn zurück. Er nickte uns zu, als er die FBI-Ausweise sah.

»Mein Partner ist drin.«

»Und …?«, hakte Larissa nach. Die Anspannung war ihrer Stimme anzuhören.

»Sehen Sie selbst«, sagte der Officer. Er war ein großer Rothaariger. Offenbar versuchte er, seine eigenen Gefühle nicht zu zeigen. Stattdessen konzentrierte er sich ganz auf die Gaffer, die einen Blick in das Apartment erhaschen wollten.

Wir traten ein. Die Tür war von den Cops aufgebrochen worden. Die Wohnung bestand aus zwei Räumen, einer winzigen Küche und einem Bad.

Ein Mann lag auf dem Bett im Schlafzimmer. Er war vollständig bekleidet und hielt eine Glock in der Hand. Seine Schläfe wies eine Schusswunde auf. Die toten Augen starrten gegen die Zimmerdecke.

Ein Notarzt packte seine Sachen zusammen, zwei Sanitäter standen tatenlos hinter ihm. Sie hatten offenbar nichts mehr tun können. Der Mediziner wandte sich an uns.

»Der Tod muss sofort eingetreten sein, in einem Zeitfenster von wenigen Sekunden. Eine Kugel mitten ins Gehirn, so etwas überlebt niemand. Sie kannten den Mann?«

Larissa nickte.

»Er hieß Tom Newman«, brachte sie gepresst hervor. Neben dem Bett stand ein weiterer Cop, der sich Notizen machte. Ich nannte meinen Namen und Dienstgrad, wandte mich direkt an ihn.

»Konnten Sie Hinweise auf ein Fremdverschulden entdecken?«

Er schüttelte den Kopf.

»Negativ, Inspektor. Ihr Kollege war allein im Apartment, als Luke und ich die Tür eingetreten haben. Es sieht so aus, als ob er sich selbst umgebracht hätte.«

»Das würde Tom niemals tun!«, behauptete Larissa. Ihre Augen schimmerten feucht. Der Cop hob die Schultern.

»Ich kann nur berichten, was ich gesehen habe. Auf den ersten Blick gibt es keine Hinweise auf einen Einbruch.«

»Haben die Nachbarn etwas bemerkt?«

»Das weiß ich nicht, Inspektor Cotton. Wir sind ja auch noch nicht viel länger vor Ort als Sie.«

Der Notarzt und seine Leute zogen ab, nachdem er den Totenschein ausgestellt hatte. Mittlerweile waren auch Mendoza und die übrigen Kollegen eingetroffen.

Ich wandte mich an den SAC.

»Dr. Fortesque vom SR-Team soll gleich morgen früh mit der Untersuchung des Tatorts beginnen. Veranlassen Sie bitte, dass Tom Newmans Leichnam ins gerichtsmedizinische Institut überführt wird. Dr. Willson wird ihn sich ansehen, sobald er mit der Obduktion der unbekannten Toten fertig ist.«

Phil, Larissa und ich befragten die unmittelbaren Nachbarn. Aber keiner von ihnen wollte bemerkt haben, dass ein Fremder in Newmans Apartment gewesen war. Die Aussagen fand ich allerdings fragwürdig, denn der unmittelbare Nachbar zur Linken war fünfundachtzig Jahre alt und schwerhörig. Die junge Frau auf der rechten Seite hatte schon geschlafen und war nach eigener Aussage erst durch das Schussgeräusch aufgewacht.

»Da habe ich mich gefürchtet und bin einfach im Bett geblieben. Ich habe mich erst rausgetraut, als ich im Treppenhaus die Stimmen der anderen Hausbewohner hörte. Und gleich darauf haben dann die Cops die Nachbarstür aufgebrochen.«

»Kannten Sie Tom Newman näher?«

Sie beantwortete meine Frage mit einem Kopfschütteln.

»Ich wusste nur, dass er für die Regierung arbeitet. Aber ich hatte keinen Schimmer, dass er FBI-Agent war. Ich dachte, er wäre Finanzbeamter oder so etwas gewesen. Jedenfalls war er niemals auffällig.«

Die Frau konnte sich auch nicht an verdächtige Besucher in der letzten Zeit erinnern. Für mich stand jetzt immerhin fest, dass es ein Zeitfenster von wenigen Minuten gab. Das hätte gereicht, damit ein Killer ungesehen verschwinden konnte.

Aber was sprach eigentlich gegen den Selbstmord von Agent Newman?

***

Nach wenigen Stunden Schlaf in unserem Motel versammelten wir uns am nächsten Morgen im Field Office. Allan Mendoza wirkte gefasster als bei unserer Begegnung im Apartment des toten Agent.

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass Tom Newman ein Verräter gewesen sein soll«, sagte der SAC zur Begrüßung. Bevor wir etwas erwidern konnten, betrat Fortesque den Raum. Er wirkte bleich und übernächtigt, hatte aber trotzdem ein Lächeln auf seinen schmalen Lippen.

»Mit dieser Einschätzung dürften Sie richtigliegen, Agent Mendoza.«

Die Blicke aller Anwesenden richteten sich auf den Wissenschaftler. Fortesque atmete tief durch, bevor er fortfuhr: »Ich habe mir erlaubt, noch während der Nacht mit der Spurensicherung am Tatort zu beginnen. Schon bei einer ersten groben Sichtung stellte sich heraus, dass weder auf Newmans Ärmel noch an seiner Kleidung Schmauchspuren nachzuweisen sind.«

»Also kann er die Waffe gar nicht selbst abgefeuert haben!«

»Richtig, Phil. Mir ist noch ein anderes Detail aufgefallen. Der Teppich neben dem Bett war feucht.«

»Das finde ich nicht ungewöhnlich«, sagte ich. »Es hat gestern stark geschneit, wir hatten alle Schnee in den Rillen unserer Stiefelsohlen. In einem beheizten Raum schmilzt dieser Schnee natürlich.«

Fortesque nickte.

»Ja, Jerry. Aber erinnern Sie sich noch daran, auf welcher Seite des Bettes Sie gestanden haben?«

Ich musste nicht lange überlegen.

»Auf der rechten.«

»Und auch alle anderen Anwesenden haben sich nur von rechts der Leiche genähert, das habe ich überprüft. Das trifft auch auf die Cops, den Notarzt und die Sanitäter zu.«

»Sie wollen also sagen, dass der Mörder als Einziger auf der linken Bettseite gewesen ist?«

»Genau, Phil.«

»Aber aus welchem Grund? Wenn man das Schlafzimmer betritt, steht das Bett in der Mitte. Man müsste es erst ganz umrunden, um auf die linke Seite zu gelangen. Weshalb hätte der Killer so umständlich sein sollen? Der Dreckskerl konnte unseren Kollegen auch von der rechten Seite aus erschießen.«

»Ja, Phil. Vielleicht hat er das auch getan. Aber der Täter musste nach links, um im Kleiderschrank dieses Beweisstück zu verstecken.«

Nun zog Fortesque wie ein Zauberkünstler eine Plastiktüte hervor. Allan Mendoza bekam große Augen.

»Das Tape mit der Audio-Aufnahme!«

»Ja, das vermutete ich auch«, sagte Fortesque. Ich nickte ihm zu.

»Gute Arbeit, FGF. Ich schätze, dass der wahre Täter Agent Newmans Selbstmord vortäuschen wollte. Wir sollten darin ein Schuldeingeständnis sehen. Zur Untermauerung dieses Verdachts wurde ihm Geld aus dubiosen Quellen überwiesen und das Tape untergeschoben. Der echte Verräter ist also immer noch aktiv.«

»Vielleicht sollten wir ihn in Sicherheit wiegen und zum Schein so tun, als ob wir Newman wirklich für schuldig halten«, schlug Concita Mendez vor.

Aber bevor jemand darauf etwas erwidern konnte, klingelte Mendozas Handy. Der SAC entschuldigte sich, nahm das Gespräch aber an. Es dauerte nicht lange. Sein Gesicht wurde dabei immer länger. Schließlich beendete er das Telefonat.

»Der Direktor des Staatsgefängnisses hat mir gemeldet, dass Jake Morley tot ist. Er wurde während der Nacht von einem Mithäftling erwürgt.«

***

Ich beschloss, der Sache sofort auf den Grund zu gehen. Phil und ich wollten zu der Strafanstalt fahren. Die Mitglieder des SR-Teams widmeten sich inzwischen weiter ihren jeweiligen Aufgaben. Mendoza wollte unser Eintreffen telefonisch ankündigen.

Wenig später saßen wir in dem Chevrolet Tahoe. Ich tippte die Adresse Whitebush Terrace in das Navigationsgerät ein.

»Die Sache stinkt doch zum Himmel, Jerry! Morley wird gleich in seiner ersten Nacht hinter Gittern ermordet? Das Anstaltspersonal wird ihn doch wohl nicht zu rivalisierenden Gangstern in die Zelle gesteckt haben? So dumm kann man doch nicht sein!«

»Das muss mit Dummheit nichts zu tun haben. Womöglich ist ein Streit wegen einer Nichtigkeit aufgeflammt. Du weißt doch selbst, dass Verbrecher oft lieber erst zuschlagen und dann denken. Wir haben Jake Morley als arrogant und überheblich erlebt, oder? Wenn er sich in der Zelle genauso aufgeführt hat, dann wollte ihm jemand vielleicht eine Lektion erteilen.«

»Ja, das wäre gut möglich.«

An diesem Morgen war es immer noch kalt, aber der Schneefall hatte aufgehört. Wir sahen auf unserem Weg nach Nordwesten zahlreiche liegengebliebene Fahrzeuge. Das Staatsgefängnis konnte ich schon von weitem erkennen. Mit seinen stacheldrahtbewehrten grauen Mauern und Wachttürmen unterschied es sich nicht von den anderen Strafanstalten überall im Land.

Nachdem wir die Sicherheitsschleusen durchlaufen hatten, wurden wir von Direktor Sam Hastings persönlich empfangen. Er war ein kleiner Mann mit harten Augen und festem Händedruck.

»Wir tun alles, um solche Vorfälle zu unterbinden. Das müssen Sie mir glauben. Leider kommt es immer wieder zu Gewalttätigkeiten unter den Gefangenen.«

»Steht schon fest, wer Jake Morley umgebracht hat?«

»Ja, der Häftling heißt José Sacorro. Er ist ein verurteilter Mörder, der eine lebenslange Haftstrafe verbüßt.«

Phil legte die Stirn in Falten.

»Und Sie haben Morley zu so einem schweren Jungen in die Zelle gesteckt? Morley war gewiss kein Unschuldslamm, aber zunächst einmal nur ein Untersuchungshäftling. Wir konnten ihm noch nichts nachweisen. Möglicherweise wäre er heute sogar auf freien Fuß gesetzt worden.«

»Ja, das ist wirklich tragisch. Aber leider sind wir überbelegt. Daher kann ich mir nicht aussuchen, welche Gefangenen ich zusammenstecke.«

Ich bat darum, mit dem Killer sprechen zu dürfen. Hastings wies einen Wärter an, uns zu dem Delinquenten zu bringen.

»Sacorro ist ein schlimmer Finger«, sagte der Uniformierte zu uns. »Seien Sie also vorsichtig.«

»Danke für die Warnung, aber mit solchen Typen haben wir öfter zu tun«, erwiderte ich. Trotzdem blieben wir natürlich wachsam, als die Zellentür für uns geöffnet wurde.

Der Mörder unseres Verdächtigen saß jetzt in Einzelhaft. Er hatte sich gerade die Zeit mit Liegestützen vertrieben. Sacorro war ein hochgewachsenes Muskelpaket mit rasiertem Schädel und zahlreichen Tätowierungen auf Brust und Armen. Der Gefangene erhob sich vom Fußboden und flegelte sich auf seine Pritsche. Sein Blick fiel auf unsere Dienstmarken. Ich nannte unsere Namen und Dienstgrade.

»FBI? Rücken jetzt schon die Bundesbullen an, nur weil ich diese Laus zerquetscht habe? Da kann ich mich ja richtig geehrt fühlen.«

Sacorro lachte, als ob irgendetwas komisch wäre. Auch wenn Jake Morley ein Verbrecher gewesen war, ließ mich sein sinnloser Tod dennoch nicht unberührt. Und die Rohheit des Mörders empörte mich.

»Sie fühlen sich wohl stark, Sacorro? Jake Morley war mindestens einen Kopf kleiner als Sie. Sind Sie im Machtrausch, wenn Sie sich an Schwächeren vergreifen?«

Ich forderte den Killer bewusst heraus. Ich wollte checken, ob er leicht zu reizen war. Seine Augen begannen zu funkeln, noch während ich sprach. Aus seinem Mund drang ein leises Knurren wie von einem gefährlichen Raubtier.

Im nächsten Moment schnellte er von der Pritsche hoch, um mir mit einem Kopfstoß die Nase zu zertrümmern. Aber damit hatte ich schon gerechnet. Ich wich ihm aus und ließ meine Faust gegen seine Schläfe krachen. Mein Schlag riss ihn von den Beinen. Der Gefangene wollte sich wieder erheben, aber da blickte er schon in die Mündung von Phils Glock.

»Das würde ich mir an Ihrer Stelle zweimal überlegen, Freundchen! Wir können uns sehr wohl unserer Haut wehren.«

Sacorro grinste und hob beschwichtigend die Handflächen.

»Okay, okay, ich bin ein Hitzkopf. Das haben Sie ja eben selbst gemerkt. Aber so ein Bürschchen wie Jake Morley war einfach ein rotes Tuch für mich. Können Sie das nicht verstehen, Inspektor Cotton?«

Ich hakte nach. »Wie meinen Sie das?«

»Ganz einfach. Die Zellentür hatte sich kaum hinter Jake Morley geschlossen, da ging er mir schon auf die Nerven. Er protzte damit herum, was für tolle Bräute er immer aufreißen würde. Zugegeben, er war ja so ein Schönling. Und Kohle hatte er außerdem auch noch. Warum konnte er nicht einfach seine Klappe halten? Dann fing er auch noch an, sich über meine Visage lustig zu machen. Ich weiß selbst, dass ich nicht Mr Universum bin. Aber es war nicht sehr clever von ihm, mich auch noch mit der Nase darauf zu stoßen.«

»Sie sagen also, Jake Morley hat Sie provoziert?«

»Darauf können Sie wetten, Inspektor Cotton! Erst habe ich ihm nur gedroht. Aber dann meinte er, sein Vater wäre ein mächtiger Mann, der mich fertigmachen könnte. Da sind bei mir die Sicherungen durchgebrannt. Bevor ich wusste, was ich tat, hatte ich meine Hände um seinen Hals gelegt. Und dann ging alles ganz schnell.«

»Sie müssen jetzt mit der Todesstrafe rechnen«, sagte Phil. Sacorro zuckte nur die Schultern.

»Das wird sich zeigen. Hier in Virginia brummen ein paar Freunde von mir seit Jahren in der Todeszelle, ohne dass sie die Giftspritze auch nur aus der Entfernung gesehen hätten. Außerdem kann ich jetzt nicht mehr rückgängig machen, was geschehen ist. Jake Morley hat sich letztlich selbst zuzuschreiben, was geschehen ist.«

***

»Totschlag im Affekt – oder wie würdest du das Ende unseres Verdächtigen sonst beschreiben?«

Diese Frage stellte mir Phil, als wir wenig später in dem Chevrolet Tahoe das Staatsgefängnis wieder verließen.

»Ja, wenn Sacorros Schilderung stimmt. Kam er dir glaubwürdig vor?«

»Schwer zu sagen, Jerry. Sacorro erinnert mich an einen tollwütigen Stier, der beim kleinsten Anlass sofort besinnungslos gewalttätig wird. Wir haben ja Jake Morley nur einmal gegenübergesessen. Aber da hat er sich ja auch als überheblicher Sohn eines mächtigen Vaters präsentiert. Es ist also vorstellbar, dass er sogar gegenüber einem Gewaltmenschen wie Sacorro auftrumpfen wollte. Und das ist ihm dann zum Verhängnis geworden.«

»Möglich. Aber vielleicht wollte uns Sacorro einen Bären aufbinden und hat in Wirklichkeit für die Konkurrenz gearbeitet? Wenn er auf der Gehaltsliste des Russell-Clans steht, dann konnte er sich bei diesen Gangstern durch Morleys Ermordung beliebt machen.«

Phil klappte sein Notebook auf und schaute sich Sacorros elektronische Fallakte an.

»Hier findet sich kein Hinweis auf eine Gang-Mitgliedschaft, Sacorro ist sozusagen ein freischaffender Krimineller. Aber die Feindschaft zwischen den Morleys und den Russells ist ja hier in Virginia ein offenes Geheimnis. Vielleicht wollte Sacorro seine Bluttat als eine Art Eintrittskarte in den Russell-Clan benutzen. Knastbrüder sehen es ja oft als einen Vorteil an, zu einer Gang zu gehören.«

Wir fuhren zum gerichtsmedizinischen Institut von Richmond. Willson hatte kurz zuvor angerufen. Er wollte uns die Obduktionsergebnisse der unbekannten Frauenleiche mitteilen.

Der Pathologe erwartete uns bereits.

»Zur Identität des Opfers kann ich Ihnen leider nichts sagen. Die Fingerprints sind gecheckt worden, aber sie ist weder legal in die Staaten eingereist noch jemals von einer Polizeibehörde erfasst worden. Wie gesagt, die Überkronungen deuten auf eine osteuropäische Herkunft. Was definitiv feststeht, ist die Todesursache. Die Frau wurde förmlich hingerichtet, wie Sie bei genauerer Betrachtung der Eintrittswunde sehen können.«

Willson schlug das Tuch zurück, mit dem das Gesicht der Toten bedeckt gewesen war. Er deutete mit einem chirurgischen Instrument auf ihren Schädel.

»Wir haben es mit einem Nahschuss zu tun, vermutlich befand sich die Waffenmündung nur einen Fingerbreit von ihrem Kopf entfernt. Die beim Abbrennen der Ladung entstehenden Treibgase dringen tief in die Haut ein. Dadurch wurde die Haut an der Eintrittsstelle strahlenförmig eingerissen, sehen Sie? Aber wir haben Glück im Unglück gehabt.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Phil.

»Oftmals ist es bei solchen Schüssen so, dass die Kugel den Schädel durchschlägt und dann auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Aber aus irgendwelchen Gründen blieb das Geschoss diesmal im Schädel stecken. Ich konnte es bereits entfernen. Es handelt sich um eine Kugel im Kaliber .32. Wenn Sie mir die Mordwaffe bringen, kann ich nachweisen, dass sie für diesen Schuss verwendet wurde.«

»Dazu müssten wir erst einmal einen Verdächtigen haben«, murmelte Phil.

»Das ist Ihr Job, da will ich Ihnen nicht hineinreden. Bei der zweiten Obduktion gab es übrigens keine Überraschungen. Unser Kollege Tom Newman wurde ja mit seiner eigenen Dienstwaffe ermordet, nämlich einer Glock Kaliber .40. Diese Pistole können Sie also schon mal ausschließen.«

»Wie sieht es mit Alkohol- oder Drogenmissbrauch aus?«

»Negativ, Jerry. Tom Newman muss solide wie ein Ministrant gelebt haben, jedenfalls konnte ich bei der Blutanalyse nichts Gegenteiliges feststellen.«

Ich nickte. Immer mehr verdichteten sich die Hinweise, dass der wahre Täter unseren Kollegen zum Sündenbock hatte machen wollen. Bei Korruption sind häufig Geldsorgen oder Drogenprobleme im Spiel. Das konnten wir nun bei Agent Newman ausschließen.

Aber dadurch kamen wir dem echten Verräter kein Stück näher.

***

William Morley war offiziell natürlich kein Menschenhändler und Zuhälterkönig. Er besaß eine Kette von chemischen Reinigungen. Auf seine Einnahmen aus diesem legalen Geschäft bezahlte er brav Steuern, das hatte Concita Mendez schon geprüft.

Das Hauptgebäude seines Unternehmens befand sich in der Jackson Street, unweit vom Virginia State Capitol. Es war eine wohlhabende Geschäftsgegend, die nicht zu den eher bescheidenen Einnahmen aus dem Reinigungsgeschäft passte.

»Ich wette, dass William Morley mit dreckigen Verbrechen viel besser verdient«, knurrte Phil, als wir das Gebäude betraten.

Das Lächeln der Empfangsdame war so frostig wie die Außentemperaturen.

»Ich bin nicht sicher, ob Mr Morley Sie empfangen kann.«

»Das wird ihm schon möglich sein«, entgegnete ich. »Wir finden den Weg allein, bemühen Sie sich nicht.«

Und bevor die Lady protestieren konnte, hatten wir den Fahrstuhl betreten. Die Geschäftsleitung residierte in der fünften Etage. Als Phil und ich dort aus dem Lift stiegen, wurden wir von zwei Gorillas empfangen. Die kurzgeschorenen Kerle in den Maßanzügen funkelten uns aggressiv an.

»FBI-Schnüffler haben hier keinen Zutritt«, knurrte der Größere von ihnen. Ich präsentierte meine Dienstmarke, Phil folgte meinem Beispiel.

»Wir können Ihren Boss auch vorladen lassen«, sagte ich. »Aber Sie ersparen sich selbst eine Menge Ärger, wenn Sie jetzt den Weg freigeben.«

Der Bodyguard öffnete erneut den Mund. Aber bevor er sich selbst ernsthaft in Schwierigkeiten bringen konnte, ging hinter ihm eine Tür auf.

Der ältere Mann, der nun auf uns zutrat, musste William Morley sein. Seine Gesichtszüge deuteten auf die Verwandtschaft mit dem Ermordeten hin. Seine Augen waren kalt und grau wie Zigarrenasche. Am Revers seines grauen Anzugs hatte er einen Trauerflor angebracht.

»FBI?«, fragte er mit Grabesstimme. »Sie haben wirklich Nerven, hier aufzutauchen. Aber kommen Sie rein, ich habe Ihnen etwas zu sagen.«

Morley machte eine kurze herrische Bewegung, und seine Leibwächter traten zur Seite. Wir folgten dem Gangsterboss in sein luxuriös eingerichtetes Büro. Morleys Mienenspiel war so unbewegt, als ob er uns am Pokertisch gegenübersitzen würde.

»Sie haben also meinen Sohn ins Gefängnis geworfen?«

Ich nickte, wobei ich unsere Namen und Dienstgrade nannte. Morley grinste freudlos.

»Zwei Inspektoren aus Washington also. Ihr Rang wird Sie allerdings nicht vor einer Dienstaufsichtsbeschwerde retten, Inspektor Cotton und Inspektor Decker. Ich mache Sie persönlich für Jakes Tod verantwortlich. Dafür werden Sie bezahlen, das schwöre ich. Dr. Swift bereitet bereits die Beschwerde gegen Sie vor.«

»Wir bedauern Ihren persönlichen Verlust«, erwiderte ich. »Aber Sie werden schon erfahren haben, dass Ihr Sohn unter merkwürdigen Umständen in einem leerstehenden Bordell aufgegriffen wurde. Daher war die Verhaftung gerechtfertigt.«

Ich beobachtete Morley genau, während ich sprach. Aber er zeigte nach wie vor keine Gefühlsregung.

»Sind Sie nur gekommen, um Salz in meine Wunden zu streuen?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Das liegt nicht in unserer Absicht. Aber Sie selbst stehen im Verdacht, Prostituierte in die Staaten einzuschleusen und in Ihren Bordellen arbeiten zu lassen.«

»Sind Sie von allen guten Geistern verlassen, Inspektor Cotton? Erst nehmen Sie mir mein einziges Kind, und nun wollen Sie mich auch noch zum Verbrecher abstempeln? Ich sollte gar nicht ohne Rechtsbeistand mit Ihnen reden, sondern lieber gleich Dr. Swift anrufen.«

Morley griff zum Telefonhörer. Ich zog ein Foto der unbekannten Toten aus meiner Tasche und zeigte es ihm.

»Haben Sie diese Frau schon einmal gesehen?«

Die Mundwinkel des Verdächtigen zuckten, auf seinem Gesicht war so etwas wie spontanes Erschrecken zu sehen. Aber gleich darauf hatte er sich wieder unter Kontrolle.

»Nein, ich weiß nicht, wer das sein soll. Und nun sage ich überhaupt nichts mehr.«

Es gab aktuell nichts, womit wir William Morley festnageln konnten. Darüber musste er sich ebenfalls im Klaren sein. Concita Mendez arbeitete zwar mit Hochdruck an der Überprüfung seiner Finanzen, hatte aber noch keine Unstimmigkeit feststellen können.

»Sie müssen Ihren Anwalt nicht bemühen, Mr Morley. Inspektor Decker und ich gehen jetzt. Aber wir sehen uns wieder, das verspreche ich Ihnen.«

Als wir uns abwandten, glaubte ich die hasserfüllten Blicke dieses Mannes in meinem Rücken zu spüren.

***

Im Field Office konnten Phil und ich sowie das SR-Team einen Arbeitsraum nutzen. Wir hatten dort eine Stellwand, an der bisher allerdings nur vier Fotos angebracht waren. Sie zeigten Morley Junior und Senior, außerdem den Anführer des Russell-Clans sowie die tote Frau. Wir berichteten unseren Kollegen von der Begegnung mit dem mutmaßlichen Gangsterboss.

»Jeder Mensch geht mit Trauer anders um«, meinte Phil, »aber trotzdem fand ich es auffällig, wie cool William Morley geblieben ist. Ich kenne viele Mafiosi, die Jerry und mich ohne Vorwarnung erschossen hätten, wenn sie uns für den Tod ihres Sohnes verantwortlich machen würden.«

»Vielleicht war das Verhältnis zwischen Vater und Sohn nicht so innig«, mutmaßte Concita. »Womöglich war Jake Morley das schwarze Schaf der Familie.«

»Dann ist es womöglich gar kein Zufall, dass der Verdächtige als einzige Person in dem Gebäude aufgegriffen wurde«, sagte Fortesque. »Sein Vater oder jemand anders aus dem Clan wollte ihn sich vom Hals schaffen.«

»Aber doch nicht, indem man ihn beim FBI ins offene Messer laufen lässt«, widersprach Phil. »William Morley ist nicht dumm. Er muss gewusst haben, dass sein Sohn es im Gefängnis mit Kerlen wie José Sacorro zu tun bekommen würde. Also musste er um jeden Preis verhindern, dass sein Sohn verhaftet wurde.«

Ich zeigte auf die Fotos.

»Wir können es drehen und wenden, wie wir wollen. Die Beziehungen dieser Verdächtigen zueinander sagen nichts über den Verräter in unseren eigenen Reihen aus. Und da …«

Es klopfte an der Tür, und gleich darauf trat Agent Larissa Hawkins ein.

»Die State Police hat angerufen. Sie haben eine junge Frau aufgegriffen, die unbedingt eine Aussage machen will. Allerdings beherrscht sie nur wenige Brocken unserer Sprache. Die State Trooper meinten, ihr Akzent würde russisch klingen.«

Wir hatten die State Police zuvor um alle Informationen gebeten, die irgendwie mit Menschenhandel zu tun haben könnten. Das zahlte sich nun aus. Ich bat Larissa Hawkins, einen Russisch-Dolmetscher zu organisieren. Die Frau sollte direkt zum Field Office gebracht werden.

Wenig später traf ein Cop vom Richmond Police Department ein, der als Sohn russischer Einwanderer zweisprachig aufgewachsen war. Wir bedankten uns bei ihm für die spontane Unterstützung. Während er von Larissa mit Kaffee versorgt wurde, brachten die State Troopers auch schon die Zeugin ins Field Office.

Die Frau trug einen Pelzmantel, der fast bis zum Boden reichte. Sie warf einen schüchternen Blick in die Runde. Der dolmetschende Cop bot ihr einen Platz an. Ich wechselte zunächst einige Worte mit dem Uniformierten, der sie gemeinsam mit seinem Kollegen aufgegriffen hatte. Sein Name war Officer Ben Carlyle. Er war ein blasser Rothaariger mit gebrochener Boxernase.

»Wie sind Sie auf die Lady gestoßen, Officer?«

»Wir befanden uns auf einer Patrouillenfahrt nördlich von Charlottesville. Dort kam sie plötzlich winkend aus dem Wald gelaufen. Die Lady machte einen sehr verstörten Eindruck. Außerdem konnten wir sie kaum verstehen. Wie Sie sehen können, trägt sie Lackpumps. Nicht gerade die passende Fußbekleidung für einen Waldspaziergang, oder? Die Frau könnte etwas mit Ihrem Menschenhandel-Fall zu tun haben, dachten wir uns. Und da sie aussagen will, haben wir sie gleich hierhergebracht.«

»Sehr gut. Wurde die Zeugin medizinisch untersucht?«

Officer Carlyle schüttelte den Kopf.

»Wir haben es ihr angeboten, aber sie hat uns nicht verstanden. Aber Sie sehen ja selbst, dass sie völlig von der Rolle ist.«

Ich nickte. Man musste kein Psychologe sein, um das zu erkennen. Die Zeugin saß auf der äußersten Kante ihres Stuhls, kaute nervös an ihren Fingernägeln und ließ ihre Blicke unentwegt durch den Raum schweifen. Sie kam mir vor wie ein verängstigtes Tier, das man in die Enge getrieben hat.

Die State Troopers hatten ihren Job erledigt und verabschiedeten sich. Ich wandte mich an den Cop, der dolmetschen sollte.

»Sagen Sie der Frau, dass ich Inspektor Jerry Cotton vom FBI bin und sie von uns nichts zu befürchten hat. Ich möchte zunächst gerne wissen, wie sie heißt.«

Der Polizist redete auf Russisch beruhigend auf sie ein. Sie hielt ihren Pelzmantel mit beiden Händen zusammen.

»Sie kann den Mantel gerne ablegen«, sagte ich. »Es ist doch nicht zu kalt hier drin, oder?«

Nachdem der Cop gedolmetscht hatte, schüttelte die Frau heftig den Kopf und riss panisch die Augen auf. Dann stieß sie schnell einige Sätze hervor.

»Sie sagt, dass sie darunter nackt sei, Inspektor Cotton.«

***

Wenig später erfuhren wir den Namen der Zeugin. Sie hieß Eugenia Magenjuk und stammte aus Minsk in Weißrussland. Der folgende Wortwechsel kam mit Hilfe des Dolmetschers zustande.

»Wie sind Sie von Ihrer Heimat aus in die USA gelangt, Miss Magenjuk?«

Meine Frage schien sie zu überraschen.

»Ich bin hier nicht in Kanada?«

»Nein, Sie befinden sich in Richmond, das ist eine amerikanische Stadt. Ich arbeite beim FBI, das ist die US-Bundespolizei.«

Sie nickte heftig.

»Ich will auf jeden Fall bei der Polizei aussagen. Ich danke Gott, dass ich noch lebe. Ich wäre heute beinahe getötet worden!«

»Am besten erzählen Sie der Reihe nach. Sie glaubten also, nach Kanada gebracht zu werden?«

»Ich war auch zunächst in Kanada, Inspektor Cotton. Die anderen Frauen und ich bekamen Flugtickets von Minsk nach Montreal. Bezahlt wurde die Reise von der Agentur, die uns angeworben hat. Wir sollten in Kanada als Haushaltshilfen arbeiten.«

Ob Eugenia das wirklich geglaubt hatte? Das konnte ich nicht beurteilen.

»Aber das geschah nicht, oder?«

Sie senkte den Kopf, bevor sie antwortete.

»Nein, wir … wurden in einen Van gesteckt, nachdem wir die Einreise hinter uns gebracht hatten. Der Mann von der Agentur nahm uns unsere Pässe weg, aber da dachten wir uns noch nichts dabei. Wir fuhren lange, vielleicht die ganze Nacht durch. Ich verlor jedes Zeitgefühl. Schließlich stiegen wir mitten im Wald aus. Dort gab es auf einer Lichtung ein altes Gemäuer. Und da – da mussten wir Männer treffen.«

Eugenia Magenjuk hatte zuletzt nur noch geflüstert. Ich merkte, dass ihr die Worte nicht leicht über die Lippen kamen. Aber wir mussten genau wissen, was geschehen war.

»Hat man Sie dazu gezwungen, mit den Männern Sex zu haben?«

»Ja, Inspektor Cotton. Wir hatten alle schreckliche Angst. Und wir wussten nicht, wie wir von dort entkommen sollten.«

»Wie hießen die Kerle, die Sie gefangen hielten?«

»Einer hieß Floyd, das war der Anführer. Die anderen hatten alle Angst vor ihm und führten seine Befehle aus.«

Ich zeigte der Zeugin das Foto von Floyd Russell, und sie konnte ihn sofort identifizieren. Nun waren wir schon einen großen Schritt weitergekommen.

»Wie kam es dazu, dass Sie sich befreien konnten, Miss Magenjuk?«

»Heute Morgen wurde ich von einem fürchterlichen Krach geweckt. Ich dachte, die ganze Welt bricht zusammen. Aber dann hörte ich ein anderes Geräusch. Es klang wie das Rattern von Maschinengewehren. Ich kannte das bisher nur aus dem Fernsehen. Aber in Wirklichkeit klingt das noch viel lauter und härter. Plötzlich wurde die Tür zu meinem Zimmer aufgerissen. Einer der Männer stand vor mir. Und er war blutüberströmt.«

»Wie lautete sein Name?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, Inspektor Cotton. Floyd war es jedenfalls nicht. Der Mann ging zu Boden, unter ihm bildete sich sofort eine riesige Blutlache. Ich hatte noch gar nichts an, ich war ja gerade aufgewacht. Es wurde weitergekämpft. Ich hörte weitere Schreie und Schüsse. Ich weiß nicht, wie viele Fremde eingedrungen waren. Aber sie schienen überall zu sein. Ich hatte furchtbare Angst, doch ich wollte die Chance nutzen. Ich nahm mir den Pelzmantel und schlich mich hinaus. Ich sah noch einen der Kerle, die uns überfallen hatten. Er bemerkte mich zum Glück nicht. Dann lief ich hinaus und rannte zwischen den Bäumen hindurch, bis ich nicht mehr konnte. Dann sah ich das Auto der Polizisten, und jetzt bin ich hier.«

Die Erzählung schien Eugenia Magenjuk sehr aufgewühlt zu haben, was ich gut verstehen konnte.

»Würden Sie den Angreifer wiedererkennen, Miss Magenjuk?«

»Ja, Inspektor Cotton. Allein schon, weil er so hübsch war. Ich dachte in dem Moment noch, warum so ein schöner Mann so brutal sein muss.«

Mai-Lin hatte genau wie die anderen Anwesenden konzentriert zugehört. Nun ging die Informatikerin zum Sideboard hinüber, um sich einen Kaffee zu holen. Mai-Lin hatte bisher vor der Stellwand gestanden und mit ihrem Körper das Foto von Jake Morley verdeckt. Nun aber konnte man es deutlich sehen.

Die Zeugin sprang auf und deutete mit dem Zeigefinger auf das Bild.

»Das ist er doch! Das ist einer der Angreifer, die mit Maschinenpistolen geschossen haben!«

***

Diese Aussage mussten wir erst einmal verdauen. War Jake Morley gar nicht tot? Oder hatte er einen Doppelgänger? Die weitere Befragung mussten wir jedenfalls verschieben, weil die Zeugin offenbar völlig erschöpft war.

Ich beauftragte Larissa Hawkins damit, Eugenia Magenjuk ins Krankenhaus zu bringen. Dort sollte sie ärztlich untersucht werden. Wenn sie der Zwangsprostitution ausgesetzt gewesen war, benötigte sie garantiert ärztliche Hilfe. Bevor Larissa sie zum Hospital fuhr, wandte sich die Frau im Pelzmantel noch einmal an mich.

»Werden Sie dafür sorgen, dass diese Dreckskerle bestraft werden, Inspektor Cotton?«

»Das verspreche ich Ihnen, Miss Magenjuk.«

Der Russisch sprechende Cop fuhr ebenfalls mit. Ich rief bei der State Police an, die über einen Hubschrauber verfügte.

»Ihr Kollege Officer Carlyle hat eine Zeugin aufgegriffen, die nördlich von Charlottesville einen Schusswechsel beobachtet hat. Die Tat fand in einem abgelegenen Bordell statt, der Trooper wird Ihnen die ungefähre Lage benennen können. Bitte suchen Sie das Gebäude und stellen Sie fest, ob es dort noch Überlebende gibt.«

Mir wurde versichert, dass man sich sofort darum kümmern wollte. Ich blickte in die Runde.

»Da ich nicht an Zombies glaube, muss Jake Morley immer noch unter den Lebenden weilen. Es sei denn, er hat bei dem Schusswechsel sein Leben gelassen. Oder gibt es andere Meinungen?«

Die Antwort bestand aus einem allgemeinen Kopfschütteln. Phil und ich fuhren sofort noch einmal zum Staatsgefängnis. Direktor Hastings fiel aus allen Wolken, als wir von der Zeugenaussage berichteten.

»Diese Frau muss sich irren! Ich habe den Totenschein höchstpersönlich in der Gefangenenakte abgeheftet.«

»Und wer hat ihn ausgestellt?«

»Dr. van Doren, unser Gefängnisarzt. Er ist ein zuverlässiger Mitarbeiter, für den ich meine Hand ins Feuer legen würde.«

»Ich möchte auf jeden Fall mit ihm reden«, sagte ich.

»Und wir wollen uns Jake Morleys Leiche anschauen«, ergänzte Phil. Ein Wärter brachte uns zunächst in den Kühlraum, wo verstorbene Gefangene aufbewahrt werden. Der Direktor begleitete uns ebenfalls. Da Morley eines unnatürlichen Todes gestorben war, musste er noch obduziert werden. Aber dazu war noch keine Gelegenheit gewesen, weil in der Pathologie von Richmond so viel zu tun war.

Doch es war ohnehin keine Leiche da, die man hätte aufschneiden können!

»Wo ist der Tote geblieben?«, schnauzte der Direktor den Wärter an, der hier unten Dienst tat.