6,99 €
Jerry Cotton ist Kult - und das nicht nur wegen seines roten Jaguars E-Type.
Fünf actiongeladene Fälle und über 300 Seiten Spannung zum Sparpreis!
G-Man Jerry Cotton hat dem organisierten Verbrechen den Krieg erklärt! Von New York aus jagt der sympathische FBI-Agent Gangster und das organisierte Verbrechen, und schreckt dabei vor nichts zurück!
Damit ist er überaus erfolgreich: Mit über 3000 gelösten Fällen und einer Gesamtauflage von über 850 Millionen Exemplaren zählt er unbestritten zu den erfolgreichsten und bekanntesten internationalen Krimihelden überhaupt! Und er hat noch längst nicht vor, in Rente zu gehen!
In diesem Sammelband sind 5 Krimis um den "besten Mann beim FBI" enthalten:
Jerry Cotton 3095 - Die falsche Wahrheit
Jerry Cotton 3096 - Tödliche Gerüchte
Jerry Cotton 3097 - Das Blut der Opfer
Jerry Cotton 3098 - Flucht ist keine Lösung
Jerry Cotton 3099 - Mord mit Hindernissen
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 650
Veröffentlichungsjahr: 2025
BASTEI LÜBBE AG
Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben
Für die Originalausgaben:
Copyright © 2016 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2024 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Covermotiv: © shutterstock: stockcreations | Nebosja Kontic
ISBN: 978-3-7517-8313-2
https://www.bastei.de
https://www.luebbe.de
https://www.lesejury.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Jerry Cotton 3095
Die falsche Wahrheit
Jerry Cotton 3096
Tödliche Gerüchte
Jerry Cotton 3097
Das Blut der Opfer
Jerry Cotton 3098
Flucht ist keine Lösung
Jerry Cotton 3099
Mord mit Hindernissen
Start Reading
Contents
Die falsche Wahrheit
Die Zahnbürste war eine tödliche Waffe.
Der Killer hatte sie in tagelanger Fleißarbeit angespitzt. Jede unbeobachtete Minute war von ihm genutzt worden, um diesen harmlosen Gegenstand zu einem Mordinstrument zu machen. Und nun war es endlich so weit. Das Opfer wirkte völlig arglos. Es stand unter der Dusche. Das Wasser prasselte auf den tätowierten, muskulösen Körper hinab.
Der Killer grinste zynisch. Der Kerl saß wegen schwerer Straftaten hinter Gittern, genau wie er selbst. Dieser Nackte im Waschraum konnte brandgefährlich werden. Aber momentan seifte er sich nur ein.
Da schlug der Mörder zu, schnell und gnadenlos wie eine Klapperschlange.
Das Opfer wirbelte herum. Aber es war zu spät. Ein gezielter Stich ins Herz beendete sein Leben für immer.
Ich nahm im FBI Headquarter gerade an einer Konferenz teil, als mein Smartphone klingelte. Schnell stand ich auf und trat zur Seite, um die anderen Teilnehmer nicht zu stören.
»Inspektor Cotton hier.«
Ich erkannte die Stimme eines Agent aus der Telefonzentrale.
»Wir haben einen Häftling aus dem Central Detention Facility in der Leitung, einen gewissen Paco Silva. Er will nur mit Ihnen reden. Angeblich sei es dringend.«
Paco Silva war ein Killer des mexikanischen Cinco-Kartells , den Phil und ich vor einigen Jahren verhaftet hatten. Seitdem saß er in der Strafanstalt in der D Street in Washington. Zuletzt hatte ich ihn bei der Gerichtsverhandlung gesehen. Silva war ein unangenehmer Kerl, brutal und hinterhältig. Ein Menschenleben bedeutete ihm nicht viel.
»Also gut, stellen Sie das Gespräch durch.«
Es knackte und rauschte kurz, dann erklang eine blechern verzerrte Stimme mit leichtem Latino-Akzent.
» Buenas Dias , Inspektor Cotton. Gut, dass ich Sie so schnell erreichen konnte.«
»Sparen Sie sich die Höflichkeitsfloskeln. Was wollen Sie von mir, Silva?«
Der Verbrecher lachte, als ob ich einen Scherz gemacht hätte.
»Ich will Ihre Karriere fördern. So freundlich bin ich zu Ihnen. Von mir kriegen Sie Informationen, die beim FBI die Sektkorken knallen lassen.«
»Soso.« Man konnte meiner Stimme vermutlich meine Skepsis anhören. »Und was genau wollen Sie mir mitteilen?«
»Nicht am Telefon.« Silva sprach jetzt leiser. »Mir steht nur ein kurzer Anruf pro Woche zu. Besuchen Sie mich, am besten noch heute. Dann packe ich aus. Es soll nicht zu Ihrem Nachteil sein, Inspektor Cotton.«
Im Hintergrund waren hallende Stimmen und Schritte zu hören, außerdem metallisches Klappern und unverständliche Lautsprecherdurchsagen. Es herrschte eine typische Gefängnisatmosphäre.
»Und was haben Sie davon, dass Sie plötzlich so auskunftsfreudig sind? Sie wollen doch auch einen Vorteil für sich herausschlagen, oder?«
»Das werden Sie verstehen, wenn wir uns gegenübersitzen. Adios , bis später.«
Das Telefonat war beendet. Während ich mein Smartphone wieder einsteckte, rief ich mir den Fall Paco Silva in Erinnerung. Wir hatten dem Killer des Cinco-Kartells drei Morde nachweisen können. Silva hatte konkurrierende Dealer getötet, die so dumm gewesen waren, im Gebiet des Cinco-Kartells zu wildern.
Da er die Bluttaten in den USA begangen hatte, saß er auch hier bei uns die Strafe von drei Mal lebenslänglich ab. Allerdings hatte sein Heimatland Mexiko auch ein Auslieferungsersuchen gestellt. Dort hatte er nämlich ebenfalls einige Menschen auf dem Gewissen. Aber wegen juristischer Spitzfindigkeiten zog sich die Sache hin, und Silva befand sich immer noch in unserem Land.
Ob er auspacken wollte, um hierbleiben zu dürfen? Bei seinem Prozess hatte er nur das Allernötigste zugegeben und seine Bosse nicht verraten. Ob ihm in Mexiko Unheil drohte? Womöglich war inzwischen bei Silva ein Sinneswandel eingetreten.
Ich hatte den Konferenzsaal verlassen, um telefonieren zu können. Nun öffnete ich die Tür und gab Phil ein Zeichen, der ebenfalls an der Besprechung teilnahm. Er kam zu mir auf den Flur.
»Was gab es denn so Wichtiges, Jerry?«
Ich erzählte ihm von dem Anruf. Phil runzelte die Stirn.
»Ob Silva dich wegen dem Staatsbesuch des mexikanischen Präsidenten sprechen will? Es ist ja kein Geheimnis, dass der Politiker in wenigen Tagen hierherkommt. Die Zeitungen und TV-Stationen posaunen es ja schon seit längerer Zeit hinaus.«
»Das stimmt. Aber woher kann Silva wissen, dass wir in den Schutz des Staatsgastes eingebunden sind? Die Zusammensetzung unserer Planungsgruppe ist geheim. Die Pressestelle hat nur verlautbart, dass Vorbereitungen getroffen werden.«
»Vielleicht ist das dem Verbrecher gar nicht bewusst, Jerry. Wir sind nun mal seine einzigen Kontakte beim FBI. Also hat er nach jemandem verlangt, den er kennt. Lass uns noch die Planung gerade zu Ende bringen. Anschließend fährst du zu ihm, dann erfährst du mehr. Ich halte hier die Stellung und notiere alles, was wichtig ist.«
Das war wirklich die beste Lösung. An der Konferenz nahmen außer uns und weiteren FBI-Kollegen auch noch Agents des Secret Service teil, der für den Schutz des amerikanischen Präsidenten zuständig ist. Die beiden Staatsoberhäupter wollten in Washington zusammentreffen. Und natürlich hatten wir auch Federales von der mexikanischen Bundespolizei mit ins Boot geholt, um die Sicherungsmaßnahmen abzustimmen.
Ich nickte Phil zu.
»Okay, so machen wir es.«
Nach einer knappen Stunde entschuldigte ich mich bei den anderen und versprach, so schnell wie möglich wieder zurück zu sein.
***
Ich nahm mir einen Chevrolet Tahoe aus der FBI-Fahrbereitschaft und brach Richtung Südosten auf. Ich kam im hauptstädtischen Verkehr relativ zügig durch und erblickte nach gut zwanzig Minuten die abweisenden Mauern des Central Detention Facility. Schon bei der Sicherheitskontrolle fiel mir die gereizte Stimmung auf.
»Ist etwas vorgefallen?«, fragte ich den bulligen Wachbeamten, der meinen Dienstausweis checkte.
»Das kann man wohl sagen, Inspektor Cotton. Es hat unter den Insassen einen Mord gegeben.«
Mir kam sofort ein Verdacht.
»Hieß das Opfer Paco Silva?«
»Ja, allerdings.« Der Officer wurde hellhörig. »Weshalb fragen Sie?«
»Weil dieser Gefangene angeblich eine wichtige Information für mich hatte. Er rief mich vorhin im FBI Headquarter an. Deshalb bin ich überhaupt hier.«
Der Uniformierte führte mich zum stellvertretenden Direktor, der die Untersuchung des Mordes leitete. Der schlaksige Anzugträger mit dem schütteren Haar hieß Malcolm Snyder. Nachdem ich mich ihm vorgestellt hatte, kamen wir sofort auf den Fall zu sprechen.
»Gewalttätigkeiten zwischen den Gefangenen und gegen unser Wachpersonal sind leider an der Tagesordnung«, seufzte Snyder. »Aber Morde kommen nicht so oft vor. Wir führen ständig unangekündigte Durchsuchungen der Zellen durch. Der Erfolg hält sich leider in Grenzen. Die Insassen sind unglaublich erfinderisch, wenn es um Verstecke für ihre verbotenen Gegenstände oder ihre Drogen geht. Die Mordwaffe war in diesem Fall eine angespitzte Zahnbürste. Der Täter wusste genau, wie er sie einsetzen musste. Silva hatte keine Chance.«
»Konnten Sie den Killer festsetzen?«
»Ja, wenigstens in dieser Hinsicht waren wir erfolgreich. Silva wurde unter der Dusche erstochen, dort befanden sich auch andere Gefangene. Durch die Schreie und das Fluchen wurde ein Wachbeamter aufmerksam. Als er den Täter mit der blutigen Tatwaffe in der Hand erblickte, setzte er ihn sofort mit Pfefferspray außer Gefecht. Der Mörder leistete dann keinen weiteren Widerstand mehr.«
»Wie lautet sein Name?«
»Derek Hastings. Er verbüßt eine lebenslängliche Strafe wegen Mordes und hat buchstäblich nichts mehr zu verlieren. Eine vorzeitige Entlassung ist bei ihm sowieso ausgeschlossen, weil er keine Reue zeigt und hier in der Strafanstalt schon zuvor mehrfach andere Gefangene angegriffen hat.«
Ob also Silva nur ein Zufallsopfer gewesen war? Das kam mir sehr unwahrscheinlich vor. Allerdings herrscht hinter Gefängnismauern ein Geflecht an Abhängigkeiten und Feindschaften, das man als Außenstehender nur sehr schwer durchschaut.
»Kann ich mit Hastings sprechen?«
»Ja, das lässt sich einrichten. Wir haben ihn in Isolationshaft gesteckt, nachdem er Silva niedergestochen hatte.«
Ich dachte kurz nach.
»Silva hat mich heute Morgen angerufen, weil er mir etwas mitteilen wollte. Können Sie sich vorstellen, worum es sich gehandelt haben könnte? Verhielt sich Silva in letzter Zeit anders? Bekam er Besuch von anderen Personen als zuvor?«
Der stellvertretende Direktor überlegte kurz, bevor er antwortete.
»Was die Besucherliste angeht, die kann ich Ihnen zur Verfügung stellen. Aber ob der Gefangene sich verändert hat, kann ich Ihnen nicht sagen. Da fragen Sie am besten die Wachbeamten, die in dem Block tätig sind. Die haben schließlich tagtäglich mit ihren Schäfchen zu tun.«
Dieses Angebot nahm ich gern an. Snyder ließ zunächst den Mörder in den Besucherraum bringen, wo ich schon Platz nehmen durfte. Als wenig später Hastings zu mir geführt wurde, waren seine Handgelenke ebenso gefesselt wie seine Fußgelenke. Beide waren durch eine Kette miteinander verbunden. Hastings konnte also nur ganz kleine Schritte machen, wobei die Stahlglieder seiner Fesselung gegeneinanderklirrten. Er grinste zynisch.
»Ich komme mir vor wie eine verfluchte Ballerina, wenn ich hier so entlangtrippeln muss.«
»An eine Balletttänzerin erinnern Sie mich aber nicht, Hastings«, sagte ich und stellte mich mit Namen und Dienstgrad vor. Dann kam ich sofort zur Sache. »Warum haben Sie Paco Silva umgebracht?«
Der Gefangene ließ sich auf den Stuhl mir gegenüber fallen. Die beiden Wachbeamten, die ihn begleitet hatten, blieben mit einigen Schritten Abstand hinter ihm stehen.
Hastings war ein großer, breit gebauter Schwarzer, der offensichtlich hinter Gittern viel Zeit mit Krafttraining verbrachte. Silva hatte einen ähnlichen Körperbau gehabt.
»Ich konnte den Bohnenfresser noch nie ausstehen, Inspektor Cotton. Wieso kümmert es überhaupt das FBI, wenn so einer krepiert? Sie können doch froh sein, dass Sie Silva nicht weiter durchfüttern müssen.«
Hastings’ Menschenverachtung war zum Kotzen. Aber mir war klar, dass er mich nur provozieren wollte. Und den Gefallen würde ich ihm nicht tun. Hier drin war es üblich, den Coolen zu spielen.
»Sie töteten Silva also nur, weil Sie ihn nicht mochten?«
»Reicht das vielleicht nicht?« Hastings rollte ungeduldig mit den Augen. »In diesem Knast wird mit harten Bandagen gekämpft, Inspektor Cotton. Wenn ich den Pancho nicht kaltgemacht hätte, dann wäre er mir auf die Pelle gerückt. Er oder ich, so einfach ist das. Und ich wollte gern noch weiterleben, obwohl ich hier drin versauern muss.«
»Dann haben Sie also Silva nicht umgebracht, weil er Informationen für mich hatte?«
Der Killer grinste noch breiter.
»Nee, von Informationen weiß ich nichts. Aber sind Sie sicher, dass Silva Sie nicht einfach nur verschaukeln wollte? Er war doch der größte Wichtigtuer in diesem Knast.«
Ich war sicher, dass Hastings mich belog. Seine Aussage kam mir unglaubwürdig vor, obwohl ein Menschenleben für diese Kerle wirklich nicht viel zählte. Silva hatte zum Schweigen gebracht werden sollen. Aber beweisen konnte ich das natürlich nicht.
Ich redete noch eine Weile auf den Mörder ein, aber er blieb stur bei seiner Version. Schließlich ließ ich ihn wieder fortschaffen. Ich wusste ja, wo ich ihn finden würde, wenn mir noch etwas einfiele.
Als Nächstes nahm ich mir die drei Strafgefangenen vor, mit denen sich Silva seine Zelle geteilt hatte. Sie saßen wegen Raubüberfall, Drogendelikten und Menschenhandel. Schnell wurde mir klar, dass diese Männer in der Gefängnis-Hackordnung unter Silva gestanden hatten.
Killer genossen hinter Gittern die meiste Anerkennung, Sexualstraftäter die geringste. Außerdem waren sie ausnahmslos kleiner und weniger kräftig als der Ermordete. Sie würden hinter Gittern nicht viel zu melden haben. Silva war in dieser Zelle zweifellos der Boss gewesen.
Ich befragte die Insassen einzeln, und im Gegensatz zu Hastings kamen sie mir glaubwürdig vor. Keiner von ihnen gab an, etwas von Silvas Geheimnis zu wissen.
Ein Kartell-Mörder wie Silva würde gewiss nicht seine Informationen mit Männern teilen, die in seinen Augen kleine Fische waren. Da spielte es auch keine Rolle, dass seine Zellengenossen wie er selbst Latinos waren. Im Zweifelsfall zählt für einen Berufsverbrecher nicht seine Hautfarbe, sondern die kriminelle Organisation, die ihn bezahlt und beschützt.
Schließlich sprach ich noch mit dem Wachpersonal. Auch von den Officers in dem Zellenblock wollte keiner eine Veränderung bei Silva bemerkt haben. Sie beschrieben den Ermordeten als arrogant und aufsässig. So hatte ich ihn auch erlebt. Silva war ein Straftäter gewesen, von dem man keine Reue oder Einsicht erwarten konnte.
Er betrachtete seine Laufbahn als Killer im Auftrag des Cinco-Kartells als einen ganz normalen Job. Oder hatte Silva heimlich seine Meinung geändert? Wollte er noch weitere Morde gestehen, von denen wir bisher nichts gewusst hatten?
Wilde Spekulationen brachten überhaupt nichts. Silvas Zelle war bereits gründlich durchsucht worden, die übrigen Gefangenen wurden einstweilen verlegt. Aber Aufzeichnungen konnten nicht sichergestellt werden. Zwar fanden die Wachbeamten ein paar Tabletten, die eingeschmuggelt worden waren. Aber sie ließen sich noch nicht einmal eindeutig Silva zuordnen. Meiner Meinung nach waren die Pillen keine heiße Spur. Dennoch würden wir natürlich herausfinden müssen, wie sie ins Gefängnis geschmuggelt worden waren.
Zunächst sah es so aus, als ob Silva seine Informationen mit ins Grab genommen hätte.
***
Ich verabschiedete mich von Snyder. Er versprach, mich über weitere Untersuchungsergebnisse auf dem Laufenden zu halten. Noch auf dem Parkplatz der Strafanstalt rief ich Mai-Lin in Quantico an. Ich erklärte ihr, worum es ging, und gab ihr die Besucherliste des Ermordeten durch.
»Womöglich hängt Silvas Anruf bei mir mit dem geplanten Staatsbesuch zusammen, Mai-Lin. Checken Sie doch bitte, ob Sie im Internet irgendwelche Hinweise finden können. Und ich müsste wissen, ob einer von Silvas Besuchern verdächtig ist.«
»Ich melde mich umgehend, Jerry.«
Nach meiner Rückkehr ins FBI Headquarter berichtete ich in der Arbeitsgruppe von Silvas Ermordung. Inspektor Julio Ponto wurde sofort hellhörig. Der fünfzigjährige Mexikaner mit dem beeindruckenden Schnurrbart leitete die Abordnung der Policía Federal , die mit uns und dem Secret Service gemeinsam den Präsidentenbesuch vorbereitete.
»Das Cinco-Kartell gehört zu den übelsten Krebsgeschwüren meines Landes«, sagte Ponto. »Ich traue diesen Leuten zu, ein Attentat auf unseren Präsidenten einzufädeln. Er hat dem Drogenunwesen den Krieg erklärt. Wenn unser Staatsoberhaupt stirbt, würde der Kampf gegen die Kartelle entscheidend geschwächt werden. Womöglich rechnen sich die Drogenbosse hier in den Staaten sogar bessere Chancen auf einen geglückten Anschlag aus.«
»Weil wir nicht mit einer Aktion der Kartelle rechnen?«, hakte Phil nach. Ponto nickte.
»Das ist zumindest ihre Hoffnung, schätze ich.«
»Dann wird das Cinco-Kartell sicher mit einheimischen Verbrechern kooperieren.«
Dieser Satz kam von Agent Mary Clifford. Die kühle Blonde leitete das Secret-Service-Team. Sie hatte es schon mehrfach erfolgreich verstanden, Gefahren vom Präsidenten abzuwenden.
»Wir sollten mit einer Bedrohung durch das Cinco-Kartell rechnen«, sagte ich. »Inspektor Decker und ich werden versuchen, das Geheimnis dieses toten Killers zu lüften. Jedenfalls können wir es uns nicht leisten, die Gefahr zu ignorieren.«
»Wäre es nicht besser, die Besichtigung von Lopez Fishing abzusagen?«, schlug Ponto vor. »Die Anwesenheit von gleich zwei Präsidenten in diesem unübersichtlichen Hafenviertel von Baltimore ist ein kaum vertretbares Risiko. Dort gibt es unzählige Möglichkeiten, sowohl Ihren als auch unseren Präsidenten anzugreifen.«
Mary Clifford schüttelte entschlossen den Kopf.
»Gerade der Besuch dieser Fabrik ist für unseren Präsidenten eine Herzensangelegenheit«, sagte sie. » Lopez Fishing wurde von einem mexikanischen Einwanderer gegründet, wie Sie wissen. Mister Lopez hat dort mehr als 150 Jobs geschaffen, vor allem für Amerikaner. Menschen wie Jaime Lopez sind ein Gewinn für unser Land, das möchte der Präsident zum Ausdruck bringen.«
»Das Risiko ist trotzdem hoch«, beharrte Ponto. Aber wir hatten den Plan schon so weit ausgearbeitet, dass der Fabrikbesuch genau durchdacht worden war. Die Bomb Squad sollte rechtzeitig nach versteckten Sprengsätzen suchen, Scharfschützen vom FBI und einer SWAT-Einheit des Baltimore PD würden sich an strategisch wichtigen Punkten postieren. Die Arbeiter, mit denen die beiden Präsidenten sprechen wollten, wurden von uns bereits überprüft. Falls einer von ihnen keine saubere Weste hatte, musste er uns rechtzeitig auffallen.
Mein Smartphone klingelte. Es war Mai-Lin, die zurückrief.
»Paco Silva wurde von einem Priester namens Father Bernardino regelmäßig im Gefängnis besucht. Was diesen Geistlichen angeht, konnte ich bei ihm keine Unregelmäßigkeiten feststellen. Er hält Kontakt zu vielen Latino-Insassen im Central Detention Facility und anderen Strafanstalten. Offenbar nimmt er ihnen auch die Beichte ab. Es gibt psychologische Studien darüber, dass die Rückfallquote bei reuigen und religiösen Kriminellen …«
»Darüber können wir bei Gelegenheit ausführlicher sprechen, Mai-Lin. Wie steht es mit weiteren Kontakten zur Außenwelt?«
»Da wäre noch Bruce Harrington zu nennen, der Pflichtverteidiger des Killers. Aber er hat sich seinen Mandanten nicht ausgesucht, und Harrington ist als Anwalt eher ein kleines Licht. Ich finde es erstaunlich, dass ein millionenschweres Drogenkartell keinen besseren Rechtsbeistand aufbieten wollte als Harrington.«
»Ja, das ist eine Ungereimtheit. Normalerweise stehen die besten Staranwälte Gewehr bei Fuß, um die Kartell-Killer zu verteidigen. Und was ist mit der Frau, die auf der Liste stand?«
»Sie sprechen von Ana Martinez, Jerry. Sie ist offenbar Silvas Freundin. Laut seiner Fallakte hat sie mit Silva zusammengewohnt, als er verhaftet wurde.«
»Ich erinnere mich an die Frau. Sie wurde hysterisch, als Phil und ich damals ihrem Freund die Handschellen anlegten. Wir konnten kein vernünftiges Wort aus ihr herausbekommen, sie brauchte ein Beruhigungsmittel. Später wurde sie von einer FBI-Kollegin verhört. Offenbar war die Martinez naiv und leichtgläubig. Silva muss ihr erfolgreich verschwiegen haben, dass er ein Killer ist. Und sie ist ihm nach wie vor verbunden, sonst würde sie ihn wohl kaum besuchen. Vielen Dank, Mai-Lin.«
Phil und ich verließen die Konferenz, um Silvas Kontakten auf den Zahn zu fühlen. Das FBI war noch durch andere Kollegen in der Arbeitsgruppe vertreten, sodass wir uns mit gutem Gewissen absetzen konnten.
***
Wir fuhren nach Fairlawn, eine der elenden Gegenden Washingtons. Hier war vom Glanz der Bundeshauptstadt nichts zu sehen. Die Fassaden aufgegebener Geschäfte waren mit Brettern vernagelt worden, Graffiti hatte sich ausgebreitet wie ein kunterbunter Virus. An den Straßenecken lungerten verdächtige Gestalten herum.
Die Galilee Baptist Church wirkte wie ein Fels in der Brandung. Phil und ich betraten das Gotteshaus. Ein weißhaariger Mann im Priestergewand kniete in der ersten Bank vor dem Altar.
Als er uns bemerkte, wandte er sich uns lächelnd zu. Ich zeigte meine Dienstmarke und nannte Phils und meinen Namen.
»Ich bin Father Bernardino. Was kann ich für Sie tun?«
»Wir müssen mit Ihnen über Paco Silva sprechen, Hochwürden. Sie haben ihn im Gefängnis betreut. Er wurde leider heute ermordet.«
Der Geistliche erschrak sichtlich, dann bekreuzigte er sich.
»Ich werde um sein Seelenheil beten. Paco Silva hat entsetzliche Dinge getan, das ist mir sehr wohl bewusst. Aber für mich war er nur ein verirrtes Schaf.«
»Haben Sie einen Verdacht, wer hinter seinem Tod stecken könnte? Der eigentliche Mörder wurde bereits ermittelt, aber ich halte ihn nur für ein Werkzeug. Ich will an die Hintermänner herankommen.«
Father Bernardino nickte langsam.
»Ihnen ist bekannt, dass ich an das Beichtgeheimnis gebunden bin. Paco Silva hat mir jedes Mal sein Herz ausgeschüttet, wenn ich ihn besucht habe.«
»Sicher, das Beichtgeheimnis respektieren wir. Aber vielleicht können Sie uns trotzdem einen Hinweis geben, der sich mit Ihrem Gewissen vereinbaren lässt.«
Der Geistliche lächelte und blinzelte mir zu.
»Mir scheint, dass Sie Ihren Beruf genauso ernst nehmen wie ich den meinigen, Inspektor Cotton. Also, ich hatte in letzter Zeit den Eindruck, dass Paco Silva unruhiger und nervöser wurde. Das kann mit der Sache zusammenhängen, die er mir dann gestanden hat.«
Ich schaute Father Bernardino ins Gesicht. Nein, von ihm konnten wir keine weiteren Informationen bekommen. Das sagte mir meine Erfahrung. Er verabschiedete uns lächelnd und wünschte uns viel Erfolg.
»Völlig umsonst war unser Besuch bei dem Priester trotzdem nicht«, sagte Phil, nachdem wir die Kirche wieder verlassen hatten. »Wir wissen jetzt immerhin, dass es bei Silva wirklich eine Veränderung gegeben hat. Er wird dich also nicht angerufen haben, weil er sich einfach nur wichtig machen wollte.«
Als Nächster stand Bruce Harrington auf unserer Liste. Der Anwalt hatte seine Kanzlei in der Potomac Avenue, einer lauten Durchgangsstraße in der Nähe des Gefängnisses. Sein Büro bestand aus zwei Räumen im ersten Stockwerk über einer Schnellreinigung. Das war nicht gerade eine Top-Adresse für einen Juristen in der amerikanischen Hauptstadt.
Harrington war ein blasser Mann, der wie ein gealterter Schuljunge aussah. Sein Gesicht war glatt und ohne Falten, obwohl ich wusste, dass er bereits im vierten Lebensjahrzehnt stand. Der Anwalt schien nicht besonders überrascht, als er durch uns vom Tod seines Mandanten erfuhr.
»Silva war kein Chorknabe, wie Sie wissen werden, Inspektor Cotton. Ich habe für ihn getan, was ich konnte. An seiner Schuld gab es trotzdem nichts zu deuten. Aber weshalb erzähle ich Ihnen das, Sie haben ihn schließlich selbst verhaftet.«
Ich erinnerte mich an unsere bisher einzige Begegnung mit Harrington, als Phil und ich bei Silvas Mordprozess als Zeugen ausgesagt hatten. Harrington hatte uns ins Kreuzverhör genommen. Aber schon damals war es vermutlich allen Anwesenden so vorgekommen, dass der Verteidiger auf verlorenem Posten stand. Sogar ihm selbst musste das klar gewesen sein, falls er nicht unter völligem Wirklichkeitsverlust litt.
»Ja, wir haben ihn verhaftet, und er wurde verurteilt. Weshalb haben Sie Silva weiterhin im Gefängnis besucht, Mister Harrington? Dankbar wird er Ihnen wohl nicht gewesen sein, denn trotz Ihrer Bemühungen wurde er ja zur Höchststrafe verurteilt.«
Der Jurist schnaubte ironisch.
»Silvas Verfahren war von Anfang an ein aussichtsloser Fall! Sie wissen, dass ich an das Mandanten-Geheimnis gebunden bin.«
»Aber jetzt ist Silva tot. Und Sie können uns dabei helfen, weitere Verbrechen zu verhindern.«
Harrington nickte.
»Okay, ich werde kooperativ sein. Allerdings weiß ich selbst nicht viel. Mein Job bestand in den letzten Monaten hauptsächlich darin, in Silvas Auftrag bei einer bestimmten Telefonnummer in Mexiko anzurufen.«
»Und weshalb?«
»Ich sollte sagen, dass Paco Silva eine neue Chance wollte.«
»Warum hat Ihr Mandant nicht vom Gefängnis aus selbst telefoniert?«
»Silva hatte die Sorge, dass die Gespräche abgehört werden konnten. Außerdem hätte die Justizverwaltung dann die Nummer erfahren, die ich anrufen musste. Das wollte Silva vermeiden.«
»Ich verstehe«, sagte ich. »Und wie reagierte Ihr Gesprächspartner, wenn Sie in Silvas Auftrag dort anriefen?«
»Die ersten Male wurde nur wortlos aufgelegt. Dann sagte jemand, dass man mir die Kehle durchschneiden würde, falls ich noch einmal diese Nummer anwählte. Da bekam ich Angst. Ich wollte Silva sagen, dass ich dort nicht mehr anrufen wollte.«
»Und wie reagierte er darauf?«
»Gar nicht, Inspektor Cotton. Mein nächster Besuchstermin war für übermorgen vorgesehen. Aber da Silva nun tot ist, kann ich mir den Weg sparen.«
Immerhin erfuhren wir von dem Anwalt die mexikanische Telefonnummer. Ich notierte sie mir, um sie später durch Mai-Lin überprüfen zu lassen. Bei Harrington ließ ich meine Visitenkarte zurück.
»Bitte rufen Sie mich an, falls Ihnen noch etwas einfällt. Jede Kleinigkeit kann wichtig sein.«
Wir setzten uns wieder ins Auto, um zu Ana Martinez zu fahren.
»Ich wette, dass der Verteidiger Silvas Kartell-Auftraggeber anrufen sollte. Aber warum hat der Killer diese Aufgabe nicht durch seine Freundin erledigen lassen? Warum musste der Jurist dafür herhalten?«
Es waren berechtigte Fragen, die Phil aufwarf.
»Ana Martinez wusste ja angeblich nichts von Silvas Unterwelt-Tätigkeit. Vielleicht hat er ihr gegenüber weiterhin den zu Unrecht Verurteilten gespielt. Da konnte er sie schlecht damit beauftragen, beim Cinco-Kartell anzurufen.«
»Das stimmt, Jerry. So wäre es auch zu erklären, dass die Freundin den Killer immer noch brav besucht hat.«
Ana Martinez wohnte in der First Street South East, in einer ebenfalls schäbigen Ecke von Washington. Sie war gerade nicht daheim. Von ihrer Nachbarin erfuhren wir, dass die Freundin des Killers in einem Diner in der Nähe arbeitete.
»Wie praktisch«, sagte Phil. »Es ist sowieso Zeit für eine kleine Pause.«
Wir beschlossen, die junge Frau unauffällig auszuhorchen. Das Satellite Diner war traditionell mit Kunstleder-Sitznischen und im Boden verschraubten Tischen eingerichtet. Es war dort nur wenig Betrieb, trotz der Mittagszeit. Vermutlich lief der Laden nicht besonders gut.
Phil und ich betraten das Diner und nahmen in einer Nische Platz. Gleich darauf kam eine junge Latina mit der Speisekarte auf uns zu. Sie war hübsch und machte einen sympathischen Eindruck. Es war schwer zu verstehen, dass sie mit einem eiskalten Killer wie Silva liiert war.
»Guten Tag, Gentlemen. Als heutiges Spezialangebot empfehlen wir …«
Ich fiel ihr ins Wort, denn ich hatte eine verdächtige Bewegung vor den Panoramascheiben bemerkt. Meine inneren Alarmsirenen schrillten.
»Runter!«, rief ich mit gellender Stimme.
Aber es war zu spät. Und ich konnte die Frau nicht mehr retten, weil sie sich noch zu weit von mir entfernt befand. Das Fenster zersplitterte unter einer Garbe aus einer Automatikwaffe. Und die Kellnerin ging von mehreren Kugeln getroffen blutüberströmt zu Boden.
***
Phil zog seine Glock und feuerte auf den SUV, der sich mit radierenden Reifen schnell entfernte. Die Waffenmündung war durch das Beifahrerfenster nach draußen geschoben worden. Ich eilte zu der Verletzten, während ich bereits mein Smartphone aus der Tasche geholt hatte und eine Ambulanz anforderte.
Im Satellite Diner herrschte helle Panik. Die Gäste konnten nicht wissen, dass dieser Anschlag gezielt Ana Martinez gegolten hatte. Ich kniete mich neben das Opfer, aber jede Hilfe kam zu spät. Die Augen waren gebrochen, ich tastete nach der Halsschlagader. Aber es war kein Leben mehr im Körper der jungen Frau. Die Killer hatten ganze Arbeit geleistet. Jetzt sollten sie wenigstens nicht davonkommen.
»Ana Martinez ist tot!«, rief ich Phil zu, während ich durch das zerborstene Fenster auf den Bürgersteig flankte. Phil folgte dicht hinter mir.
Ich startete den Motor unseres Chevrolet Tahoe. Phil griff zum Mikrofon des Funkgeräts und kontaktierte die Washington-PD-Zentrale.
»Hier spricht Inspektor Decker vom FBI. Inspektor Cotton und ich verfolgen einen schwarzen Lincoln Navigator. Das Fahrzeug hat sich nach einem Feuerüberfall in der South Capitol Street in nördlicher Richtung entfernt. Insassen sind bewaffnet und gefährlich, ihre Anzahl ist unbekannt. Das Nummernschild konnte nicht erkannt werden. Wir bitten dringend um Unterstützung.«
Ich schaltete die Sirene und das Warnlicht ein. Der dunkle SUV hatte einen Vorsprung von mehreren Minuten, und das konnte in einer Metropole wie Washington schon eine Menge ausmachen. Auf dem flachen Land wäre uns das Fahrzeug nicht so schnell aus dem Blickfeld entwischt, aber hier gab es zahlreiche Möglichkeiten zu entkommen.
Doch wir hatten Glück. Weiter vor uns floss der Verkehr zäher. Was für die meisten Autofahrer zur Geduldsprobe wurde, konnte für uns ein Vorteil sein.
»Ist das der Navigator da vorn?«, rief Phil mir zu, um den Sirenenlärm zu übertönen. Er deutete auf einen dunklen SUV, der sich hinter einem Mitsubishi Van im Schneckentempo fortbewegte. Die Parallelfahrbahnen boten keine Ausweichmöglichkeit, weil sich die Fahrzeuge dort ebenfalls Stoßstange an Stoßstange vorwärtsschoben.
Phil und ich kamen hingegen besser voran, weil uns die Sirene einen Vorteil verschaffte. Der Abstand zu dem Fluchtfahrzeug schmolz zusammen. Phil hatte bereits seine Pistole gezogen und hielt sie schussbereit in der Hand.
Wir mussten damit rechnen, dass die Automatikwaffe nochmals eingesetzt wurde. Wer eine arglose Diner-Kellnerin eiskalt niederknallt, der hat auch gegenüber dem FBI keine Hemmungen. Das war jedenfalls meine Vermutung.
»Gleich haben wir die Mistkerle.«
Phils Stimme verriet seine innere Anspannung. Wir waren jetzt wirklich nur noch fünf oder sechs Fahrzeuglängen von dem SUV entfernt. Im nächsten Moment verließ uns unser Glück. Denn nun sprang weiter vor uns eine Ampel auf Grün. Oder es gab einen anderen Grund dafür, dass der Verkehr plötzlich wieder flüssiger lief. Auf jeden Fall kamen die Autos auf der Fahrbahn links neben dem Lincoln Navigator nun schneller voran.
Diese Chance ließ sich der Fahrer des Fluchtwagens nicht entgehen. Er scherte plötzlich aus und wechselte auf die Parallelfahrbahn. Dort musste ein Cadillac eine Vollbremsung hinlegen, um eine Kollision zu vermeiden. Der Fahrer hupte empört, was ich gut verstehen konnte.
Aber es kam noch schlimmer.
Eine dunkel gekleidete Gestalt mit Sonnenbrille ließ das Beifahrerfenster herunter. Ich sah eine Mini-Uzi in der Hand des Verbrechers. Im nächsten Moment jagte er eine ungezielte Salve nach hinten. Mindestens ein Dutzend Kugeln landeten in den Reifen, dem Motorblock und der Windschutzscheibe des Cadillacs.
»Die sind ja völlig durchgeknallt!«, rief Phil empört.
Wir waren noch zu weit entfernt, um auf die Kriminellen schießen zu können. Außerdem war in dem Verkehrsgewirr die Gefahr viel zu groß, dass unbeteiligte Zivilisten zu Schaden kamen. Der Cadillac war nach dem Feuerstoß stehen geblieben. Ich hoffte nur, dass die Person hinter dem Lenkrad nicht zu Schaden gekommen war.
Nach dem Spurwechsel und den Schüssen setzten die Verbrecher ihre Flucht rücksichtslos fort. Es klirrte, Glas splitterte. Was geschehen war, konnte ich von unserer momentanen Position aus nicht sehen. Jetzt mussten wir uns zunächst um den Cadillac kümmern. Endlich brachte ich unseren Wagen neben dem beschädigten Fahrzeug zum Stehen. Phil riss die Beifahrertür des Cadillac auf und zeigte seine Dienstmarke.
»Keine Angst, Ma’am, wir sind vom FBI. Sind Sie okay? Brauchen Sie einen Arzt?«
Hinter dem Lenkrad saß eine Frau. Sie wandte ihr schreckensbleiches Gesicht in unsere Richtung.
»N-nein, mir fehlt nichts. Die Kugeln verfehlten mich. Aber was sind das für Leute, die auf Menschen schießen?«
»Das wüssten wir auch gern, Ma’am. Die Cops sind unterwegs, man wird sich um Sie kümmern.«
Wie zur Bestätigung von Phils Worten ertönten nun die Sirenen mehrerer Streifenwagen. Das Geräusch kam näher. Phil stieg wieder ein, damit wir die Verfolgung fortsetzen konnten. Aber es war wie verhext. Die Schüsse auf den Cadillac waren für die Flüchtenden ein Befreiungsschlag gewesen. Sie mussten in die D Street South West oder die Virginia Avenue abgebogen sein.
Inzwischen erschien auch ein Hubschrauber des Washington PD am wolkenverhangenen Himmel. Phil hielt über Funk Kontakt mit den Cops. Die Streifenwagen kämmten die Gegend ebenfalls systematisch durch.
»Da, schau nur!«
Phil deutete auf einen Lincoln Navigator, der ordentlich auf einem Parkstreifen stand. Wir stiegen aus und näherten uns mit schussbereiten Pistolen dem Fahrzeug. Ich riss die Fahrertür auf, zielte ins Innere. Aber der Wagen war leer. Ein leichter Geruch eines teuren Aftershave war alles, was von den Killern zurückgeblieben war.
***
Ich ordnete sofort eine kriminaltechnische Untersuchung des Fahrzeugs an. Außerdem nahm ich Kontakt zu Mai-Lin auf. Ich musste ihr ja sowieso noch die mexikanische Telefonnummer durchgeben. Dann berichtete ich von der vergeblichen Verfolgungsjagd und nannte ihr unseren Standort.
»Checken Sie bitte, ob sich in der Nähe Überwachungskameras befinden. Womöglich lässt sich nachvollziehen, ob die Täter in einem anderen Fahrzeug oder zu Fuß geflohen sind. Die Cops fragen auch in der näheren Umgebung herum, aber wir müssen alle Möglichkeiten ausschöpfen.«
»Selbstverständlich, Jerry. Sie hören wieder von mir, sobald ich brauchbare Ergebnisse habe.«
Phil und ich sprachen noch kurz mit den inzwischen eingetroffenen Officers. Die Fahndung wurde fortgesetzt, aber es gab praktisch keine nennenswerte Personenbeschreibung. Den SUV-Fahrer hatten wir überhaupt nicht gesehen, und das sonnenbebrillte Gesicht des Schützen mit der Mini-Uzi war nur für einen kurzen Moment zu erblicken gewesen. Er war ein Weißer oder ein hellhäutiger Latino, mehr konnten wir nicht mit Bestimmtheit sagen.
Wir kehrten zunächst zum Diner zurück. Auch dort war inzwischen das Washington PD eingetroffen. Ich stellte Phil und mich den Detectives Karen Jönsson und Angelo Scarpa von der Homicide Squad vor. Detective Jönsson deutete auf die Tote, die soeben von den Männern des Coroners in einen Sarg gelegt wurde.
»Dann hängt der Mord also mit einem FBI-Fall zusammen?«
»Momentan spricht alles dafür«, erwiderte ich und fasste kurz zusammen, weshalb wir uns für Ana Martinez interessiert hatten.
»Wir haben nichts dagegen, wenn Sie die Ermittlungen weiterführen«, sagte Detective Scarpa. »Wenn bei uns wichtige Informationen auftauchen, leiten wir alles sofort an Sie weiter.«
Damit waren Phil und ich einverstanden. Während die beiden Detectives weiterhin die Gäste sowie andere Augenzeugen vernahmen, ging ich zu dem Besitzer des Diners hinüber. Er hieß Pete McCormick und war ein rundlicher Mann mit einem sommersprossigen Gesicht. Ich zeigte meine Dienstmarke und stellte mich ihm vor.
»Wer tut denn so etwas, Inspektor Cotton?« McCormick schüttelte betrübt den Kopf. »Ana war so eine freundliche Person, die Gäste haben sie geliebt.«
»Was wissen Sie über das Privatleben und die Vergangenheit Ihrer Angestellten, Mister McCormick?«
»Nichts, ehrlich gesagt. Mich kümmert nicht, woher jemand kommt und was er früher getan hat. Für mich zählt nur Leistung. Ana hat vom ersten Tag an gearbeitet, als ob das Diner ihr gehören würde. Sie hat viel Trinkgeld bekommen, aber das war auch berechtigt.«
»Hat Ana jemals den Namen Paco Silva erwähnt?«
Der Diner-Besitzer schüttelte den Kopf.
»Soll das ein Gast sein? Ich kann mich nicht erinnern. Ihr Privatleben hat sie jedenfalls daheim gelassen. Ich kann mich nicht erinnern, wann sie jemals über ihre Freunde oder ihre Familie gesprochen hätte. Dabei war sie nicht schüchtern. Ana redete gern mit den Menschen, aber nur Smalltalk über Sport, Prominente und solche Dinge. Und das ist auch gut so. Wer will schon eine Kellnerin, die ihre Sorgen bei den Gästen ablädt?«
Damit hatte McCormick zweifellos recht, und er kam mir insgesamt glaubhaft vor. Ich gab ihm meine Visitenkarte.
»Bitte rufen Sie mich an, falls Ihnen noch etwas einfällt. Jede Kleinigkeit kann wichtig sein.«
Nachdem wir uns von den Detectives verabschiedet hatten, fuhren Phil und ich zum Apartment des Mordopfers zurück. Dort war die Tür nur angelehnt. Ich presste die Lippen aufeinander. Als wir zuvor dort gewesen waren, war die Tür noch verschlossen gewesen. Phil und ich zogen unsere Pistolen. Ich schob die Tür mit der Schuhspitze ganz auf, dann drangen wir in die Wohnung ein.
Alles war durchwühlt worden, die Scherben von zerschlagenem Porzellan lagen überall herum. Offenbar hatten die Verbrecher nach etwas gesucht. Ob sie es auch gefunden hatten?
Wir fragten in der Nachbarschaft herum, aber niemand wollte etwas gesehen oder gehört haben. Das wunderte mich nicht. Ana Martinez hatte in einer üblen Gegend gewohnt, wo sich jeder um seine eigenen Angelegenheiten kümmerte. Dort rief niemand sofort die Cops, wenn er das Klirren von zerschlagenem Glas hörte – oder einen Schuss.
Erneut forderte ich ein CSI-Team an. Aber ich machte mir keine großen Hoffnungen, dass sie etwas Verwertbares finden würden.
***
Mr High nickte nachdenklich. »Noch gibt es also keine Hinweise darauf, dass die beiden Morde im Zusammenhang mit dem Präsidentenbesuch zu sehen sind?«
»Nein, Sir. Aber sowohl der Feuerüberfall auf die Kellnerin als auch der Mord an Silva tragen die Handschrift von Profis. Ich bin sicher, dass Silvas Killer vom Cinco-Kartell angeheuert wurde«, erklärte ich.
»Als Lebenslänglicher hat er sowieso nichts zu verlieren«, ergänzte Phil. »Womöglich haben die Bosse Derek Hastings Gratisdrogen bis ans Ende seiner Tage in Aussicht gestellt. Es gelingt ja immer wieder, das Zeug in die Strafanstalten zu schmuggeln. Außerdem steigt Hastings’ Ansehen bei seinen Mitgefangenen durch eine solche Bluttat, wie wir wissen.«
Assistant Director High hob die Augenbrauen.
»Weshalb sollte das Cinco-Kartell einen seiner eigenen Killer beseitigen lassen? Glauben Sie, dass Silva seine Loyalität aufgegeben hat?«
»Das wäre eine Möglichkeit«, räumte ich ein. »Es könnte sich aber auch um einen Machtkampf innerhalb der Organisation handeln, bei dem Silva einfach nur auf der falschen Seite gestanden hat. Womöglich stellt sich heraus, dass es gar keinen Zusammenhang mit dem Staatsbesuch gibt. Ich finde nur, dass wir jedes Risiko ausschließen sollten.«
»Da bin ich ganz Ihrer Meinung, Jerry. Wie wollen Sie weiter vorgehen?«, fragte der Assistant Director.
»Morgen früh inspizieren wir den Betrieb im Hafen von Baltimore, den die beiden Präsidenten besuchen wollen«, sagte ich. »Der Sicherungsplan in Kooperation mit dem Secret Service steht, aber wir haben das Gelände noch nicht persönlich in Augenschein genommen.«
»Geben Sie mir bitte Bescheid, falls Sie noch weitere Unterstützung benötigen.«
Mit diesen Worten beendete Mr High die Besprechung. Als wir sein Büro verlassen hatten, klingelte mein Smartphone. Mai-Lin war am Apparat.
»Die mexikanische Telefonnummer führt leider ins Nichts, Jerry. Ich würde ihn als Geisteranschluss bezeichnen, obwohl ich selbst nicht an die Existenz von solchen übernatürlichen Wesen glaube.«
Es folgte eine mit Spezialausdrücken gespickte Erklärung, wie ich es von unserer Informatikerin gewohnt war. Offenbar war es möglich, durch einige Tricks die Nummer nicht nachprüfbar zu machen. Außerdem hatte kein mexikanischer Telefondienstleister jemals eine solche Zahlenfolge herausgegeben. Lediglich die Ländervorwahl Mexikos stimmte, sonst nichts. Trotzdem war der Anruf irgendwo in den Wirren der Telekommunikation angenommen worden.
»Also könnte diese Nummer weiterhin angerufen werden, ohne dass wir den Teilnehmer ermitteln können?«
»Bedauerlicherweise ja, Jerry. Aber es gibt auch gute Nachrichten. Die beiden Männer in dem SUV wurden von einer Überwachungskamera erfasst, als sie das Fahrzeug verlassen haben. Ich schicke Ihnen den Filmausschnitt auf Phils Notebook.«
Phil klappte das Gerät auf, und wenig später erblickten wir zwei mittelgroße Männer in unauffälliger dunkler Kleidung, die aus dem ordentlich geparkten Lincoln Navigator stiegen. Von ihren Gesichtern war leider nichts zu erkennen. Man sah, wie sie in einen grünen Toyota stiegen, der unmittelbar vor dem SUV stand. Ob sie den Wagen knackten, konnte man nicht sehen. Jedenfalls fuhren sie innerhalb von drei Minuten mit diesem Auto weiter.
»Danke, Mai-Lin. Immerhin wissen wir jetzt, dass nur zwei Verdächtige in dem Lincoln gesessen haben. Schade, dass man das Nummernschild des Toyota nicht erkennen kann.«
»Daran arbeite ich bereits. Aber ich habe noch etwas über Silva herausgefunden, genauer gesagt über seine Besucher.«
»Gibt es noch weitere Personen, mit denen er Kontakt hatte?«
»Nein, die Liste des Gefängnisdirektors war vollständig. Aber nur deshalb, weil Silva sich weigerte, Teresa Valencia zu empfangen.«
Ich dachte kurz nach.
»Ist das nicht seine Ex-Freundin, mit der er vor Ana Martinez zusammen war? Ihr konnte nie nachgewiesen werden, dass sie von seinem kriminellen Leben wusste. Sie führte ein ganz normales Leben als freie Übersetzerin.«
»Ja, Jerry, das ist korrekt. Wie gesagt, Silva wollte sie nicht sehen. Aber wieso hat er sie dann in den Wochen vor seiner Ermordung mehrfach angerufen? Das tat er nämlich, es lässt sich aufgrund der Verbindungsnachweise der Strafanstalt nachvollziehen.«
Ich horchte auf. Das war wirklich eine Spur, die wir verfolgen konnten.
»Wo finden wir Teresa Valencia momentan, Mai-Lin?«
»Das weiß ich leider nicht. Ihr Apartment hat sie gekündigt, eine neue Wohnadresse gibt es nicht. Sie ist anscheinend untergetaucht, will offenbar nicht gefunden werden. Aber ich versuche natürlich, sie ausfindig zu machen.«
»Ja, tun Sie das bitte, Mai-Lin.«
Ich beendete das Telefonat. Phil hatte über Lautsprecher mitgehört.
»Ich erinnere mich an diese Teresa Valencia, Jerry. Sie wirkte etwas naiv auf mich, deshalb hat Silva sie auch um den Finger wickeln können. Hübsch ist sie ja, aber auch sehr weltfremd. Er spielte ihr gegenüber den Saubermann, wie er es auch bei Ana Martinez getan hat. Sie fiel aus allen Wolken, als sie von seinen Morden erfuhr.«
Ich nickte.
»Inzwischen wird sie nicht mehr ganz so leichtgläubig sein. Sonst wäre sie wohl nicht spurlos verschwunden. Warum bricht eine Frau alle Brücken hinter sich ab? Es ist natürlich möglich, dass Silva ihr telefonisch gedroht hat. Vom Gefängnis aus konnte er allerdings nicht viel ausrichten.«
»Die Frage ist nur, ob sie vor dem Kartell oder vor den Behörden flieht. Außerdem interessiert mich brennend, weshalb ihr Ex-Freund sie angerufen hat. Waren es wirklich Drohungen? Aber wenn es jemanden gibt, der Teresa Valencia aufstöbern kann, dann ist es Mai-Lin.«
In diesem Punkt waren wir uns einig.
Am nächsten Morgen fuhren Phil und ich nach Baltimore. Von Ana Martinez’ Mördern fehlte nach wie vor jede Spur. Das CSI-Team hatte keine Fremd-DNA im Apartment nachweisen können, die sich bereits in unseren Datenbanken befand. Das musste nichts bedeuten. Wenn der Täter einfach noch nicht vorbestraft war, gab es bei uns auch keinen Eintrag.
Allerdings hatte eine Streifenwagenbesatzung den grünen Toyota gefunden. Der Wagen war wirklich gestohlen worden, brauchbare Spuren fanden sich dort ebenso wenig wie in dem Lincoln Navigator.
»Warum musste Silva auch unbedingt noch duschen, bevor du ihn besucht hast?«, dachte Phil laut nach.
»Die Zeiten sind festgelegt, anders geht es in einem voll belegten Gefängnis nicht. Er wollte vielleicht einfach zeigen, dass er keine Angst vor einem heimtückischen Angriff hat. Du weißt doch, wie es in den Strafanstalten zugeht. Respekt ist dort alles.«
»Ja, außer vor dem Leben anderer Menschen«, seufzte Phil.
***
Wir erreichten Baltimore pünktlich und betraten das Firmengebäude inmitten des weitläufigen Hafengeländes. Ich konnte die Sicherheitsbedenken teilen, denn diese unübersichtliche Umgebung war ein Paradies für Attentäter. Aber wir hatten einen guten Plan, mit dem wir jede Bedrohung in den Griff bekommen konnten.
Der Fischfabrik-Besitzer erwartete uns bereits. Jaime Lopez hatte sich seinen amerikanischen Traum verwirklicht, wie ich bei den bisherigen Konferenzen erfahren hatte. Vor dreißig Jahren war er als legaler Einwanderer mit zehn Dollar in der Tasche in unser Land gekommen, nun gehörte ihm dieser moderne Betrieb.
Es war kein Wunder, dass der Präsident ihn als leuchtendes Vorbild präsentieren wollte. Aber einen besonders glücklichen Eindruck machte der fünfzigjährige Latino mit der Halbglatze nicht. Sein rechtes Auge zuckte die ganze Zeit nervös. Und die Hand, die er uns gab, fühlte sich so kalt und feucht an wie ein Fisch.
»Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Inspektor Cotton und Inspektor Decker«, murmelte er. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Wir möchten gern die Stationen des Besuchsprogramms anschauen, das Sie für die beiden Präsidenten vorbereitet haben«, erwiderte ich.
»Selbstverständlich, folgen Sie mir bitte.«
Wir gingen in die Fabrikationshalle, die einen direkten Zugang zum Hafenbecken hatte. Lopez erklärte uns, dass die Fischtrawler dort anlegen könnten, um ihre Ladung zu löschen. Dann wurde der Fang sofort verarbeitet und filetiert. Aber ich interessierte mich momentan mehr für unseren Gastgeber als für die Fische.
Er spulte die Informationen emotionslos ab, obwohl es sich um sein Lebenswerk handelte. Lopez’ Blick war unstet, er konnte weder Phil noch mir in die Augen sehen. Er schien überhaupt nicht bei der Sache zu sein. Mehrmals verhaspelte er sich bei seinen Erklärungen, obwohl gewiss niemand die Fabrik so gut kannte wie er selbst. Schließlich geriet er fast völlig aus der Fassung, als plötzlich sein Smartphone klingelte.
Das Gespräch dauerte nur kurz, es ging wohl um irgendwelche Nebensächlichkeiten. Mürrisch steckte er das Gerät wieder ein. Lopez’ Verhalten war so auffällig, dass ich nicht einfach darüber hinweggehen konnte.
»Ich möchte offen sprechen«, sagte ich. »Mein Kollege und ich haben den Eindruck, dass Sie durch den bevorstehenden Staatsbesuch völlig überfordert sind. Der Präsident ist kein Unmensch. Noch ist es nicht zu spät, die Sache abzusagen. Wenn Ihnen die Planungen Bauchschmerzen machen, dann …«
»Sie haben doch keine Ahnung!«, fiel mir der Fabrikbesitzer gereizt ins Wort. »Wenn es nur der Staatsbesuch wäre! Diese Dreckskerle, sie haben meinen Sohn gekidnappt!«
Im nächsten Moment sah Lopez so aus, als ob er sich am liebsten die Zunge abgebissen hätte. Seine Unterlippe zitterte nervös. Aber jetzt war es zu spät, nun hatten Phil und ich seine Worte bereits gehört und verstanden.
Einen Moment lang herrschte Ruhe, wenn man vom Maschinenlärm im Hintergrund absah. Ich zog Lopez zur Seite, damit unsere Worte nicht versehentlich von einem vorbeikommenden Arbeiter aufgeschnappt werden konnten.
»Wann haben sich die Entführer bei Ihnen gemeldet?«
Der Vater des gekidnappten Sohnes rang verzweifelt die Hände.
»Das ist es ja gerade, Inspektor Cotton. Es gibt noch keine Nachricht von meinem einzigen Erben. Später soll er einmal die Firma übernehmen. Ich weiß nicht, ob er überhaupt noch lebt.«
»Aber Sie sind schon sicher, dass er entführt wurde? Wie heißt Ihr Sohn überhaupt?«
»Sein Name lautet Ronaldo. Er studiert hier in Baltimore Betriebswirtschaftslehre. Ich habe für ihn ein kleines Apartment in der Nähe des Campus gemietet, damit er in Ruhe lernen kann. Sonntags kommt er immer zum Essen nach Hause. Als wir nichts von ihm hörten, rief ich ihn an. Das Telefon war ausgeschaltet. Ich fuhr zu seinem Apartment, ich habe noch einen Schlüssel. Als ich es betrat, sah es dort völlig chaotisch aus. Ronaldo ist ein ordentlicher Junge, er hätte niemals so eine Unordnung angerichtet.«
»Könnten es Kampfspuren gewesen sein?«
»Ja, das vermute ich, Inspektor Cotton. Auf jeden Fall lag auf dem Tisch ein Zettel, auf dem nur zwei Worte standen: NO POLICIA. Da wusste ich, dass ich die Cops oder das FBI auf gar keinen Fall einschalten durfte. Und nun habe ich es doch getan«, fügte Lopez zerknirscht hinzu. Ich legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter.
»Es ist gut, dass Sie sich uns anvertraut haben. Wir kennen uns mit ähnlich gelagerten Fällen aus. Zunächst brauchen wir ein Bild des Vermissten.«
Lopez raufte sich die Haare. Aber dann riss er sich zusammen, holte ein Foto aus seiner Brieftasche und überreichte es mir. Es zeigte einen freundlich lächelnden jungen Latino. Ein Allerweltstyp, sympathisch, aber nicht sehr auffällig. Lopez ballte in ohnmächtigem Zorn die Fäuste.
»Was machen diese Bastarde nur mit meinem Sohn? Ich würde mein ganzes Vermögen hergeben, wenn ich nur Ronaldo wieder unverletzt in meine Arme schließen könnte.«
»Ich gehe davon aus, dass Ihrem Sohn nichts fehlt, sonst hätten die Verbrecher nämlich kein Druckmittel mehr. Wir müssen alles über Ronaldo erfahren, über seine Kontakte, seine Freunde, sein Umfeld.«
Lopez nickte, seine Augen schimmerten feucht.
»Ich will mithelfen, meinen Sohn wiederzufinden. Aber seien Sie bitte vorsichtig. Wenn diese Schurken etwas bemerken, dann ist Ronaldos Leben keinen Cent mehr wert.«
Ich versicherte ihm, dass er unbesorgt sein könnte. Mir war selbst klar, dass es wie eine leere Phrase klang. Aber unsere Arbeit begann jetzt erst richtig. Und durch die Entführung von Lopez Junior war sie nicht einfacher geworden.
Ich rief sofort Mary Clifford und Julio Ponto an. Sowohl der Secret Service als auch die Federales mussten über die neue Sachlage informiert werden. Daher richtete ich eine Konferenzschaltung ein.
»Schlagen Sie eine Planänderung vor, Inspektor Cotton?«, wollte Mary Clifford wissen.
»Nein, unser Konzept ist durchdacht. Allerdings sollten wir noch einen geheimen Zusatz einbauen.«
Ich sagte, was ich mir vorstellte. Sowohl Agent Clifford als auch Inspektor Ponto waren einverstanden.
»Rechnen Sie mit einer undichten Stelle beim FBI, beim Secret Service oder bei uns?«, wollte der mexikanische Kommandeur wissen.
»Wir können nichts ausschließen. Aber mir ist wohler, wenn ein Geheimnis nur von möglichst wenigen Menschen geteilt wird.«
Als ich das Gespräch beendet hatte, meldete sich Mai-Lin erneut bei mir.
»Jerry, ich konnte die verschwundene Teresa Valencia lokalisieren. Ich habe ihr Bild durch die Gesichtserkennungssoftware laufen lassen, außerdem ermittelte ich mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung den ungefähren Aufenthaltsort. Wussten Sie, dass Menschen niemals wirklich abtauchen können, weil ihr Verhaltensmuster aufgrund früherer Erfahrungen …«
Ich unterbrach die Informatikerin.
»Die Adresse, Mai-Lin. Es ist eine dringende Ermittlung.«
»Selbstverständlich, Jerry.« Obwohl ich sie nicht sah, konnte ich ihre Verlegenheit spüren. »Mit der genauen Anschrift kann ich nicht dienen. Aber Teresa Valencia hält sich vermutlich im Block zwischen Fairlawn Avenue und Nicolson Street in Washington auf.«
»Dort werden wir das scheue Wild schon auftreiben. Vielen Dank.«
Ich beendete das Gespräch. Phil hatte über Lautsprecher mitgehört.
»Schnappen wir uns Teresa?«
»Auf jeden Fall. Vielleicht weiß sie, wer hinter dem Mord an ihrem Ex steckt.«
Wir fuhren sofort nach Washington zurück. Die Fairlawn Avenue führte durch eine miese Gegend. Die Spirituosenläden waren mit schusssicherem Glas und dicken Stahlgittern gesichert, wildes Graffiti bedeckte die Mauern. Und an Obdachlosen herrschte ebenfalls kein Mangel. Ich parkte vor einer pakistanischen Garküche. Wir traten ein, und ich zeigte dem Inhaber meine Dienstmarke und ein Foto von Teresa Valencia. Ich hatte es in Silvas Fallakte gefunden.
»Haben Sie diese Frau schon einmal gesehen?«
Der Blick des bärtigen Mannes flackerte.
»Ich will keinen Ärger«, erwiderte er in schlechtem Englisch.
»Sagen Sie bitte einfach die Wahrheit«, gab ich freundlich zurück. Der Garküchenbesitzer senkte die Stimme, als er antwortete.
»Die Frau wohnt gegenüber. Ist aber nicht legal.«
Vermutlich meinte er damit, dass das Haus besetzt war. Die Bezeichnung Ruine wäre wohl passender gewesen. Er deutete auf das Gemäuer, dessen Fenster zum Teil eingeschlagen oder mit Brettern vernagelt waren. Es war kaum vorstellbar, dass dort Menschen hausten.
Ich bedankte mich mit einem Kopfnicken, und wir verließen die Garküche wieder.
»Sollen wir Verstärkung anfordern?«
Phil dachte laut nach, während sein Blick über die Fassade des dreistöckigen Hauses glitt. Im nächsten Moment fielen mehrere Schüsse. Und damit hatte sich die Frage von selbst beantwortet.
Wir zogen unsere Pistolen und liefen quer über die Fahrbahn. Ein weiterer Schuss knallte, gefolgt von einem Hilfeschrei aus weiblicher Kehle.
Ich stieß mit einem Fußtritt die Eingangstür ein, die nur unzureichend gegen unerwünschte Besucher gesichert war. Vermutlich hatten sich hier schon zahlreiche Eindringlinge Zugang verschafft. Das Treppenhaus lag im Halbdunkel, denn es gab keine funktionierende Beleuchtung. Nur durch die von mir geöffnete Tür drang etwas Tageslicht ins Innere. Es stank nach Urin und nach Exkrementen. Ich ließ den Lichtstrahl meiner Taschenlampe die nach oben führende Treppe hochwandern.
Da flammte Mündungsfeuer auf. Ein Schuss fiel, gleich darauf ein zweiter. Phil und ich erwiderten das Feuer. Es musste sich um mehrere Schützen handeln, die uns vom ersten Stockwerk aus ins Visier nahmen. Aber keine ihrer Kugeln traf einen von uns.
Schnelle Schritte ertönten, Glas klirrte.
»Gib mir Deckung!«, rief ich Phil zu. Im nächsten Moment hetzte ich die Treppe hoch, wobei ich immer zwei Stufen auf einmal nahm. Meine Glock hielt ich schussbereit in der Rechten. In der ersten Etage lag Müll auf dem Fußboden. Die meisten Türöffnungen waren leer, die Türen hatte man offenbar entfernt. Ich arbeitete mich langsam vor. Dabei rechnete ich damit, erneut unter Feuer genommen zu werden. Ich leuchtete in jedes Zimmer hinein. Hier waren offenbar früher kleine Apartments gewesen, aber die Einrichtung war zerstört und die Räume zugemüllt. Phil war mir inzwischen gefolgt.
Hier oben gab es auch ein zerschlagenes Fenster, durch das man das Flachdach des Nachbarhauses sehen konnte.
»Ich schätze, die Kerle sind abgehauen«, raunte Phil mir zu. Ich nickte. Nur einige Patronenhülsen auf dem Boden zeugten davon, dass wir beschossen worden waren. Es gab in diesem Stockwerk zwei intakte Türen. Hinter einer davon ertönte ein leises Schluchzen.
Das konnte auch eine Falle sein.
»Hier ist das FBI!«, rief ich mit lauter Stimme.
Das Geräusch hörte abrupt auf. Dann wurde ein Riegel zurückgeschoben, und eine der Türen öffnete sich einen Spaltbreit. Phil und ich waren auf alles gefasst. Aber im Lichtkegel meiner Taschenlampe war nur das tränenfeuchte Gesicht einer schönen jungen Frau zu erkennen. Ich erkannte sie sofort wieder.
Wir hatten Teresa Valencia vor uns. Sie schaute mich fragend an. Ich richtete die Lampe nun auf mein eigenes Gesicht.
»Inspektor Cotton?«, stammelte sie. »Sie haben mich doch damals vernommen. Und Inspektor Decker ist auch da. Dios Mio, ich bin in Sicherheit!«
Ich ging an ihr vorbei und schaute mich in ihrer Behausung um. Dort war es verhältnismäßig sauber und ordentlich, jedenfalls im Vergleich zum Rest des Gemäuers. Teresa Valencia hatte zweifellos einen Unterschlupf gefunden, in dem sie sich gut vor der Welt verbergen konnte. Und doch war sie von diesen Dunkelmännern bedroht worden.
Ich deutete mit einer Kopfbewegung auf das Apartment nebenan.
»Wissen Sie, ob sich hier noch mehr Leute aufhalten?«
»N-nein, ich bin die Einzige. Das dachte ich, bis diese Killer plötzlich auftauchten. Ich verbarrikadierte mich in meiner Wohnung. Aber wenn Sie nicht erschienen wären …«
Es war nicht nötig, den Satz zu beenden. Phil forderte Verstärkung an. Als die Agents vom Field Office Washington eintrafen, kämmten sie auf meine Anweisung hin das gesamte Gebäude durch. Aber von den Angreifern fehlte jede Spur. Phil und ich hatten die Kriminellen nicht verfolgt, weil für uns die Sicherheit von Teresa Valencia an erster Stelle stand. Ich sah sie als eine wichtige Zeugin an.
***
Ein CSI-Team erschien, um nach möglichen Spuren Ausschau zu halten. Phil und ich nahmen die junge Frau mit ins Field Office, wo wir ihr zunächst einen Kaffee und Sandwiches zukommen ließen. Allmählich kehrten ihre Lebensgeister zurück. Teresa Valencia war nicht verletzt, aber die Todesangst stand ihr noch immer ins Gesicht geschrieben.
»Wann hatten Sie das letzte Mal Kontakt mit Paco Silva?«, fragte ich, nachdem sie sich zu einer Aussage bereit erklärt hatte.
Die junge Latina legte die Stirn in Falten.
»Das ist schon ein paar Tage her. Die Strafgefangenen dürfen ja nicht so oft telefonieren. Weshalb fragen Sie, Inspektor Cotton?«
»Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Paco Silva im Gefängnis ermordet wurde.«
Teresa Valencia schlug die Hände vor das Gesicht, als sie diese Nachricht hörte. Ihre Schultern zuckten, sie begann zu weinen. Phil und ich warteten, bis sie sich einigermaßen beruhigt hatte.
»Können wir die Befragung fortsetzen, Miss Valencia?«
»Ja, natürlich.« Sie schniefte. »Ich will ja mithelfen, dass seine Mörder zur Strecke gebracht werden können.«
»Der Gefangene, der Silva niederstach, sitzt schon in Untersuchungshaft. Aber ich glaube, dass er Hintermänner hatte.«
»Mit Sicherheit, Inspektor Cotton! Ich schätze, dass ein anderes Drogenkartell für Pacos Tod verantwortlich ist. Diese Welt ist mir fremd, sie stößt mich ab. Deshalb hat Paco damals gewiss seine krummen Geschäfte vor mir verborgen. Als ich die Wahrheit erkannte, habe ich mich sofort von ihm getrennt.«
Ich nickte. »Weshalb sind Sie untergetaucht? Fühlten Sie sich bedroht? Hatte Paco Silva Sie vor jemandem gewarnt?«
»Nicht so konkret. Er hat also keine Namen genannt. Aber ich fürchtete mich, deshalb habe ich mich hier versteckt. Ich weiß nicht, wie diese Dreckskerle mich gefunden haben. Vielleicht konnten sie meine Handynummer orten. Ich habe sie behalten, das war ein Fehler.«
Ich schaute Teresa Valencia ins Gesicht.
»Mit einer neuen Telefonnummer hätten Silvas Nachrichten aus dem Gefängnis Sie nicht mehr erreicht.«
»Da haben Sie recht. Eigentlich dachte ich, dass es aus wäre zwischen Paco und mir. Aber er rief mich in letzter Zeit öfter an.«
»Aus welchem Grund?«
»Paco wollte mich sehen. Ich glaube, er wünschte sich einen Neuanfang. Dabei hatte er mir unter die Nase gerieben, dass er jetzt mit einer anderen Frau zusammen wäre.«
»Sie meinen Ana Martinez.«
»Heißt sie so? Es kann sein, dass er ihren Namen genannt hat. Ich schaltete dann immer auf Durchzug.«
»Wissen Sie, was ich nicht verstehe, Miss Valencia? Einerseits will Silva Sie sehen, andererseits hat er Sie von seiner Besuchsliste streichen lassen. Sie hätten ihn also eigentlich gar nicht treffen können.«
Sie schüttelte traurig den Kopf.
»Das ist auch nicht zu begreifen, Inspektor Cotton. Paco war mir in letzter Zeit immer mehr ein Rätsel. Es gab so eine Art Hassliebe zwischen uns, anders kann man das nicht nennen. Wir konnten nicht zusammen sein, aber es auch nicht ohne einander aushalten. Trotzdem wollte ich natürlich nicht, dass er stirbt.«
»Und Sie haben keine Ahnung, wer die Killer waren, die Sie heute bedrängt haben? Weshalb wollte man Sie zum Schweigen bringen? Warum sind Sie für diese Leute so gefährlich? Ist Ihnen etwas über einen geplanten Anschlag bekannt?«
Die Zeugin machte eine hilflos wirkende Geste.
»Ein Anschlag? Nein, davon weiß ich nichts. Und auch nicht von anderen Unterwelt-Plänen. Die Gangster nehmen wahrscheinlich an, dass Paco mich in die Geschäfte des Cinco-Kartells eingeweiht hat. Aber das stimmt nicht, ganz im Gegenteil. Wie gesagt, er hat vor mir immer den seriösen Saubermann gespielt. Und ich dumme Kuh glaubte ihm einfach. Es heißt doch immer, Liebe würde blind machen. Dafür bin ich wahrscheinlich das beste Beispiel.«
Die junge Frau ließ den Kopf hängen. Ich berührte sie an der Schulter.
»Sie müssen keine Angst mehr haben. Wir veranlassen, dass Sie ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden. Womöglich sind Ihnen Tatsachen bekannt, von deren Wichtigkeit Sie selbst keine Ahnung haben. Das lässt sich nur durch intensive Ermittlungen klären.«
Teresa Valencia schaute zu mir auf und warf mir einen dankbaren Blick zu.
»Ich will gerne mithelfen, diese Kerle zu fassen. Ich glaubte bisher, einfach nur weglaufen zu können. Aber das funktioniert nicht. Man muss diesen Verbrechern die Stirn bieten, sonst wird man sie niemals los.«
Phil telefonierte bereits mit dem US Marshal Service, der für die Zeugenschutzprogramme zuständig ist. Es dauerte nicht lange, bis zwei Deputy Marshals erschienen.
Ich zeigte ihnen meinen Dienstausweis.
»Es ist sehr gut, dass Sie so schnell kommen konnten. Ich bin Inspektor Jerry Cotton, FBI. Bitte schaffen Sie diese junge Lady in ein Safe House hier in Washington. Inspektor Decker und ich werden sie später wegen einer wichtigen Mordermittlung befragen.«
»Wird gemacht, Inspektor Cotton«, gab der ältere Deputy Marshal zurück. Sein Name war Andy Darren.
»Ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen.«
Mit diesen Worten verabschiedete sich Teresa Valencia von mir. Dann stieg sie in den Dienstwagen des US Marshal Service und war verschwunden.
»Teresa scheint dich zu mögen«, meinte Phil.
»Ich glaube, sie ist einfach nur dankbar für die Lebensrettung. Ich hoffe, dass die CSI Hinweise auf die Killer findet, die sie beseitigen wollten.«
»DNA-Spuren kann man in diesem Dreckloch wahrscheinlich vergessen«
Phil und ich warteten noch, bis ein CSI Team eintraf, dann verließen wir die Bruchbude. Ich forderte einige Agents vom Field Office Washington an, um in der unmittelbaren Umgebung mögliche Zeugen zu befragen. Wegen der Schießerei mit den flüchtigen Tätern herrschte in der Gegend ohnehin schon Aufregung, ein Übertragungswagen vom Lokal-TV rückte bereits an. Wir hatten uns auch mit dem Police Department kurzgeschlossen, Officers sperrten die Ruine bereits ab.
»Medienrummel können wir jetzt überhaupt nicht gebrauchen«, raunte Phil mir zu.
»Das stimmt, aber zum Glück ist unsere Zeugin schon aus der Schusslinie. So wird sie ihr Gesicht wenigstens nicht in den Abendnachrichten sehen müssen. Teresa ist vorerst in Sicherheit, wir können sie später befragen. Jetzt warten dringendere Aufgaben auf uns.«
***
Phil und ich kehrten zum FBI Headquarter zurück, wo die Vorbereitungen für den Staatsbesuch wie vorgesehen weiterliefen. Wir erstatteten Bericht über das, was geschehen war.
»Wurde diese Teresa Valencia bereits bei früheren Ermittlungen überprüft?«, wollte Julio Ponto wissen.
»Ihr konnte keine Mitwisserschaft nachgewiesen werden, was Silvas Kartell-Morde angeht«, erwiderte Phil.
»Die Frau sollte von einem mexikanischen Beamten verhört werden«, warf Arturo Hernandez ein. »Sie ist immerhin eine Landsmännin von uns, und wir …«
»Vergessen Sie nicht, dass wir in diesem Land zu Gast sind«, wies Ponto seinen Untergebenen zurecht. »Die Federführung der gesamten Aktion liegt beim FBI.«
Hernandez gab Ruhe. Aber ihm war anzusehen, dass ihm diese Entscheidung nicht gefiel.
»Wir nehmen Ihre Hilfe gern in Anspruch, falls es notwendig sein sollte«, sagte ich, um die Wogen zu glätten. »Könnten Sie die familiären Verhältnisse von Teresa Valencia durchleuchten? Vielleicht gibt es ja in ihrer Heimat verwandtschaftliche Kontakte zu den Kartellen, von denen wir noch nichts wissen.«
Damit war Ponto einverstanden. Er beauftragte einen der anderen Federales mit dieser Aufgabe, obwohl Hernandez sie gern übernommen hätte. Aber der junge Beamte schien bei seinem Vorgesetzten für den Moment in Ungnade gefallen zu sein.
Phil und ich wollten uns nun auf den gekidnappten Ronaldo Lopez konzentrieren. Ich brauchte technologische Unterstützung und nahm Kontakt mit Mai-Lin in Quantico auf. Zunächst informierte ich sie über die Entführung, dann sagte ich: »Ermitteln Sie bitte die Mobilfunknummer von Lopez Junior. Womöglich kann das Smartphone geortet werden, wenn die Entführer nicht daran gedacht haben, es auszuschalten.«
»Das wäre allerdings ein grober Fehler, Jerry.«
»Noch wissen wir nicht, ob wir es mit Amateuren oder mit Profis zu tun haben. Außerdem benötige ich alle Informationen über den jungen Mann, die Sie im Internet finden können.«
Die Informatikerin versprach, sich baldmöglichst wieder zu melden. Phil und ich nutzten die Zeit, um selbst zur University of Baltimore zu fahren. Wir wollten uns bei der Campuspolizei umhören. Vielleicht sagte der Name Ronaldo Lopez ihnen etwas. Aber Phil war skeptisch.
»Glaubst du wirklich, dass ein anderer Student in das Verbrechen verwickelt ist?«
»Ausschließen können wir es nicht, Phil. Ronaldos Vater hat nichts von Einbruchspuren erwähnt, also muss das Entführungsopfer seinen Kidnappern die Tür geöffnet haben. Aus welchem Grund? Er könnte sie gekannt haben, und da ist das gemeinsame Studium der Anknüpfungspunkt.«
»Da hast du auch wieder recht.«
Wir parkten vor der zentralen Polizeiwache des weitläufigen Campusgeländes. Die Universität war eine kleine Stadt in der Stadt, in der ein Sicherheitsdienst in Zusammenarbeit mit dem Baltimore PD für Ordnung sorgte. Wir zeigten unsere Dienstausweise und wurden von einem jungen Officer direkt zu Don Jenkins geführt. Der dunkelhäutige Ex-Cop war der Chef auf dem Campus.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Jenkins, nachdem wir uns ihm vorgestellt hatten. »Hat einer unserer Studenten Ärger mit dem FBI?«
»Ich muss Sie um Ihre Diskretion bitten«, erwiderte ich und berichtete von dem Kidnapping. Jenkins zuckte zusammen. Der Polizeichef fühlte sich offenbar verantwortlich, obwohl Ronaldo Lopez ja nicht auf dem Campus selbst gewohnt hatte.
»Und es besteht kein Zweifel daran, dass der Student entführt wurde?«
»Alles deutet darauf hin, Chief Jenkins.«
Der kräftige Mann in der dunkelblauen Uniform nickte und tippte auf seiner Computertastatur herum. Dann zeigte er uns einen Datensatz, den er aufgerufen hatte. Phil und ich schauten ihm über die Schulter.
»Ich erinnere mich an den Namen Lopez. Sehen Sie, hier habe ich den Einsatzbericht unserer Nachtpatrouille. Es geht um einen Zwischenfall, der vor acht Tagen stattgefunden hat. Damals gab es eine tätliche Auseinandersetzung direkt vor dem betriebswirtschaftlichen Institut.«
»Sie meinen eine Schlägerei?«, vergewisserte sich Phil.
»Ganz genau, Inspektor Decker. Lopez war einer der Streithähne, der andere heißt Ian Brennan. Meine Officers konnten die beiden Burschen nur mit Hilfe von Pfefferspray voneinander trennen.«
»Worum ging es bei dem Streit?«