Jerry Cotton Sammelband 65 - Jerry Cotton - E-Book

Jerry Cotton Sammelband 65 E-Book

Jerry Cotton

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Beschreibung

Jerry Cotton ist Kult - und das nicht nur wegen seines roten Jaguars E-Type.

Fünf actiongeladene Fälle und über 300 Seiten Spannung zum Sparpreis!
G-Man Jerry Cotton hat dem organisierten Verbrechen den Krieg erklärt! Von New York aus jagt der sympathische FBI-Agent Gangster und das organisierte Verbrechen, und schreckt dabei vor nichts zurück!
Damit ist er überaus erfolgreich: Mit über 3000 gelösten Fällen und einer Gesamtauflage von über 850 Millionen Exemplaren zählt er unbestritten zu den erfolgreichsten und bekanntesten internationalen Krimihelden überhaupt! Und er hat noch längst nicht vor, in Rente zu gehen!

In diesem Sammelband sind 5 Krimis um den "besten Mann beim FBI" enthalten:
Jerry Cotton 3100 - Im Netz der Intrigen
Jerry Cotton 3101 - Wenn der Schein trügt
Jerry Cotton 3102 - Zeugen und Opfer
Jerry Cotton 3103 - Wer den Sturm erntet
Jerry Cotton 3104 - Dead Link

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 706

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Jerry Cotton
Jerry Cotton Sammelband 65

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2016 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Covermotiv: © shutterstock: stockcreations | sharpner

ISBN: 978-3-7517-8314-9

https://www.bastei.de

https://www.luebbe.de

https://www.lesejury.de

Jerry Cotton Sammelband 65

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Jerry Cotton 3100

Im Netz der Intrigen

Jerry Cotton 3101

Wenn der Schein trügt

Jerry Cotton 3102

Zeugen und Opfer

Jerry Cotton 3103

Wer den Sturm erntet

Jerry Cotton 3104

Dead Link

Guide

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Contents

Im Netz der Intrigen

»Hallo!«

Der Schrei verhallte ungehört. Die junge Frau ließ den Kopf sinken und schluchzte. Plötzlich sprang sie auf, umklammerte die Gitterstäbe und schrie erneut. »Hallo, hört mich denn keiner? Hallo!« Dann brach sie auf der Pritsche, die an die Wand geschraubt war, zusammen.

»Hallo, Jenny«, ertönte eine sanfte männliche Stimme aus einem nicht sichtbaren Lautsprecher. »Beruhige dich doch. Es hat keinen Sinn, wenn du schreist. Damit änderst du nichts.«

Die junge Frau hob den Kopf in die Richtung, aus der sie die Stimme zu hören glaubte. Tränen flossen über ihr Gesicht. »Du Schwein, du elendes Schwein …«

»Nicht doch, kleine Jenny. Nichts ist so schlimm, als dass es nicht noch schlimmer werden könnte.« Und jetzt schwang Häme in der Stimme mit.

Urlaub, was für ein wunderbares Wort. Phil und ich hatten es tatsächlich geschafft, zwei Wochen von unserem Job in Washington wegzukommen: er auf Hawaii und ich in Oregon. Er lag jetzt wahrscheinlich am Strand, gönnte sich einen Cocktail und wartete auf den Sonnenuntergang. Ich hatte es nicht ganz so gemütlich, aber beschweren konnte ich mich auch nicht.

Seit vier Tagen befand ich mich auf einer Hiking-Tour im Bereich des Upper Klamath Lake in den Rocky Mountains. Wir waren eine Gruppe von zehn Leuten und zwei Führern, die durch die einsame Bergwelt wanderte und in einfachen Hütten übernachtete.

Handys waren zwar nicht verboten, aber nutzlos, denn es gab schon nach wenigen Stunden unseres ersten Tages keinen Empfang mehr. Natürlich verfügten unsere Begleiter über ein Satellitentelefon, aber nur im äußersten Notfall, wie sie bei der Einweisung mit Bestimmtheit erklärt hatten. Keiner der Gruppe hatte widersprochen. Genau aus diesem Grund waren wir ja hier: um die Natur zu genießen und zehn Tage lang mal nichts mit der Welt zu tun zu haben.

Für heute hatten wir unser Tagespensum von knapp zwanzig Meilen erfüllt und saßen jetzt vor der Blockhütte, in der wir übernachten würden. Gerald, unser Guide, war dabei, in der Feuerstelle das Campfire in Gang zu bringen, während Bill, so etwas wie das »Mädchen für alles«, damit beschäftigt war, das Abendessen zuzubereiten.

Unsere Gruppe hatte sich zerstreut, um ein bisschen Privatsphäre zu haben. Ich war zum Bach hinuntergegangen, hatte mich ans Ufer auf einen Baumstamm gesetzt und genoss die Abendsonne. Über dem Wasser tanzten die Mücken. Sie waren die einzige Plage, die den Trip manchmal etwas unangenehm werden ließ, aber auch dagegen gab es Mittel.

Nach dem Abendessen saßen wir bei Kaffee noch um das Campfire herum, betrachteten die flackernden Flammen, und die Pausen im Gespräch wurden immer länger, bis sich die Ersten zum Schlafen verabschiedeten. Zurück blieben Linda und ich.

»Trinkst du auch noch einen Kaffee, Jerry?«

Ich dachte kurz nach und reichte ihr dann meinen Becher. Sie ging mit den beiden Bechern hinüber zum Tisch, füllte Kaffeepulver hinein, nahm den Wasserkessel vom Rost über der Glut und goss kochendes Wasser über das Pulver.

Linda war eine Computertechnikerin aus New Orleans mit kreolischem Einschlag und einem leichten Südstaaten-Singsang in der Stimme. Es hatte sich irgendwie ergeben, dass wir zusammengefunden hatten. Nicht unwahrscheinlich, wenn man den Rest der Gruppe betrachtete: vier Paare, von denen sich zwei kannten und schon einige Hiking-Treks zusammen unternommen hatten.

Ich hatte auf dem Anmeldeformular angegeben, beim Innenministerium in Washington in der Vermögensverwaltung angestellt zu sein. Es schien mir nicht angeraten, als FBI-Agent oder gar Inspektor aufzutreten, obwohl die meisten wohl gar nicht wussten, dass es so etwas gab.

Linda reichte mir meine Tasse und setzte sich neben mich auf den grob behauenen Baumstamm am Lagerfeuer. Ich spürte deutlich ihre Körperwärme in der jetzt schon kühlen Septembernacht, und das Lagerfeuer war inzwischen so weit heruntergebrannt, dass es kaum noch Wärme abgab.

»Das ist aber meine letzte Tasse«, sagte ich, »sonst kann ich die ganze Nacht kein Auge zutun.« Ich blies auf die heiße Flüssigkeit und nippte daran. Linda hatte nicht mit Kaffeepulver gespart.

»Meinst du nicht, dass es vielleicht etwas gibt, für das wachzubleiben sich lohnen würde?«, flüsterte Linda dicht an meinem Ohr. Ihre Augen in dem hellbraunen Gesicht glänzten.

Ich war nicht überrascht, als sich ihr Arm unter den meinen schob.

»Ganz bestimmt«, gab ich ebenso leise zurück und stellte meinen Kaffeebecher neben mich auf den Boden. »Und ich glaube nicht, dass du dabei an die nächtlichen Aktivitäten der Waschbären denkst.«

Sie legte den anderen Arm um meinen Nacken und drehte sich zu mir. »Nein.«

***

Wir saßen am anderen Morgen an dem roh gezimmerten Tisch vor der Hütte beim Frühstück, hatten unsere Rucksäcke schon wieder gepackt und waren in bester Aufbruchsstimmung. Linda und ich hatten entschieden, die anderen so gut wie irgend möglich aus dem, was uns betraf, herauszuhalten. Aber vielleicht waren dadurch die offensichtlichen Gesten zwischen uns auch nur noch deutlicher.

Eigentlich konnte es uns ja egal sein. Wir waren erwachsen, ungebunden und konnten machen, was wir wollten, aber wir wollten es nicht übertreiben.

Als das Frühstück beendet war, kam Gerald mit einem schwer zu deutenden Gesichtsausdruck, der aber nichts Gutes verhieß, auf mich zu.

»Jerry, kann ich dich mal kurz sprechen?«

»Ja, natürlich. Was ist denn?«

»Gehen wir erst ein paar Schritte«, wobei er sich umdrehte und von der Gruppe entfernte. Als wir außer Hörweite waren, hielt er an.

Ich blieb ebenfalls stehen und schaute ihm fragend ins Gesicht.

»Wer bist du?«

»Wie? Wer bin ich?«, fragte ich zurück und ahnte nichts Gutes. Hatte er von der letzten Nacht etwas mitbekommen? Stand er in irgendeiner Beziehung zu Linda, die sie mir verschwiegen hatte?

»Ich habe gerade eben mit dem Basiscamp telefoniert. Du weißt, der tägliche Bericht und die Vorratsbestellung für die Hütte heute Abend. Da bekam ich die Anweisung, hierzubleiben. Einer von uns, und zwar du, Jerry, würde von einem Hubschrauber der State Troopers in etwa einer Stunde abgeholt werden …«

Im ersten Moment war ich sprachlos und dann rasten meine Gedanken. Natürlich wusste man im Hauptquartier in Washington, wo ich war und wie ich erreicht werden konnte, aber ich hatte natürlich gehofft, dass man nie davon Gebrauch machen würde. Besser, Gebrauch machen müsste.

»Also, wer bist du?« Gerald schaute mich auffordernd an.

»Gerald …«, begann ich. »Tut mir leid, dass ich dir, Bill und den anderen diesen schönen Hiking-Trek vermassele.« Ich holte tief Luft. »Ich bin FBI-Agent, und das hier hat hoffentlich nichts mit euch zu tun. Ich habe einfach Urlaub machen wollen. Nun, scheint nicht geklappt zu haben«, entschuldigte ich mich mit einem Schulterzucken.

»Du weißt also nichts über diese Aktion?«

»Nein, keine Ahnung, um was es sich hier handelt. Ich bin mir nur ziemlich sicher, dass es entweder verdammt dringend oder verdammt ernst sein muss«, gab ich zurück. »Komm, gehen wir wieder zu den anderen.«

Als Gerald die anderen über die Verzögerung und meine »Abreise« informierte, behielt ich Linda genau im Auge. Sie schaute mich erstaunt, ja vielleicht sogar entgeistert an. In der nach der Ankündigung entstandenen Unruhe zog ich sie zur Seite, legte den Arm um sie und wir gingen zum Bach hinunter.

Sie war nicht wütend, sondern nur enttäuscht. Dass ich meinen Job verschwiegen hatte, konnte sie sogar verstehen. Wir tauschten noch unsere Telefonnummern aus und versprachen, uns anzurufen. Dann war schon das Knattern der Rotorblätter eines Helikopters zu hören.

***

Zwei Stunden später landeten wir auf dem Flughafen in Portland, Oregon. Während des Fluges hatte mich ein Captain der Troopers darüber informiert, dass der Leiter des Field Office in Portland Anweisung gegeben hatte, mich unverzüglich – und dabei huschte ein Grinsen über sein Gesicht – ins Field Office zu bringen. Das war gestern Abend gewesen. Man hatte erst warten müssen, bis sich der Trek-Guide heute Morgen gemeldet hatte, aber dann war alles unverzüglich gegangen.

Auf dem Flughafen wurde ich von zwei Agents empfangen und in einen Konferenzraum des Airport gebracht. Dort erwartete mich Special Agent in Charge Hollister.

»Inspektor Cotton, schön, dass Sie endlich hier sind. Ich bin Jerome Hollister, Leiter des hiesigen Field Office.«

»Guten Tag, Agent Hollister …«, erwiderte ich und schaute ihn fragend an.

»Kaffee?« Er reichte mir eine Tasse und deutete auf eine Thermoskanne, die auf dem Tisch stand.

»Danke. Sie werden verstehen, dass ich neugierig bin, was das alles zu bedeuten hat.«

»Das frage ich mich auch«, gab er mit einem Anflug von Lächeln zurück. »Hier ist alles, was ich weiß: Gestern Nachmittag kam die Anweisung von Assistant Director Gardner, Sie und Inspektor Decker, der sich zurzeit auf Hawaii befindet, wie Sie sicher wissen, aufzuspüren und sofort nach Washington in Marsch zu setzen …«

Hollister hatte sofort meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Gardner war der Leiter der für diesen Bereich zuständigen Field Operation Section Pacific.

»Bei Inspektor Decker war es recht einfach. Wir haben ihn in seinem Hotel erreicht und er«, Hollister warf einen Blick auf seine Armbanduhr, »wird in etwa zwei Stunden hier landen. Er befindet sich in einem FBI-Jet auf dem Weg von Honolulu hierher.«

Langsam wurde mir ungemütlich in meiner Haut. Vier Tage war ich von sämtlichen Nachrichten abgeschnitten gewesen, was konnte da passiert sein? Ich kratzte mich am Kinn, an dem ein Dreitagebart wuchs. Rasieren war ein Luxus, den man sich auf einem Hiking-Trek nicht gönnte.

»Können Sie mir irgendetwas über den Hintergrund dieser Aktion sagen? Ist der Präsident entführt worden?«, wollte ich von Hollister wissen.

Der zuckte die Schultern. »Nicht die geringste Ahnung, Inspektor Cotton. Ich weiß nicht mehr, als ich Ihnen gesagt habe, und dass ich Sie zu Inspektor Decker in den FBI-Jet setzen soll, der Sie beide sofort nach Washington bringt.«

»Entschuldigen Sie, Agent Hollister, haben Sie nicht mal eine Vermutung, eine Andeutung, irgendetwas?«

Nur ein stummes Schulterzucken war die Antwort.

Ich zog mein Handy aus der Tasche und wählte Mr Highs Nummer. Es war die direkte Durchwahl, doch statt des Assistant Director meldete sich Dorothy Taylor. Ich fragte nach Mr High.

»In einer Besprechung mit Director Fuller«, kam die knappe Antwort.

»Und warum holt man Phil und mich so aufwendig aus dem Urlaub zurück?«

»Dazu kann ich nichts sagen, Jerry: Nachrichtensperre. Sie werden informiert, wenn Sie in Washington sind.«

»Danke, Dorothy«, sagte ich und trennte die Verbindung.

Ich schaute Hollister ratlos an. Drei Stunden später saß ich neben Phil im Flugzeug, der genauso wenig wusste wie ich.

***

Auf Capitol Hill trafen sich zwei Männer im Büro des Senators von West Virginia. Der eine war Senator Morland Holden, der andere war der Governor des gleichen Staates, Fletcher Betgrove. Ihre Mienen waren ernst und ihre Stimmen gedämpft.

»Ich weiß nicht, wie das weitergehen soll, Morland«, erklärte der Governor mit einem mehr als verzweifelten Gesichtsausdruck. »Margie ist völlig mit den Nerven fertig.«

Der Senator lehnte sich in seinem Sessel zurück und versuchte dem Blick seines Gegenübers auszuweichen.

»Du hast mir gesagt, ich solle mich ruhig verhalten.« Es klang deutlich wie ein Vorwurf. »Und jetzt haben wir schon zwei Wochen keine Nachricht von Jenny.«

Holden räusperte sich und nahm einen Schluck aus dem Wasserglas, das vor ihm auf seinem Schreibtisch stand. »Nun, zuerst solltest du vielleicht Margie beruhigen. Vielleicht wäre es am besten, du bringst sie für die Zeit, die die Sache noch dauert, in eine Klinik …«

»Du meinst, eine psychiatrische Anstalt …«

»Nein, Fletcher, eine wunderschöne Klinik in ruhiger Umgebung, wo sie sich mal richtig entspannen kann«, widersprach der Senator, und fast hätte man es ihm glauben können. »Sag ihr, sie soll sich keine Sorgen machen, wir Männer regeln die Sache schon.«

»Wie das aussieht, weiß ich schon. Jetzt sind drei Wochen vergangen und meine Tochter ist immer noch in der Gewalt der Entführer. Ich hätte gleich das FBI informieren sollen.«

»Jenny geht es bestimmt gut, und was wir getan haben, war richtig und der einzige Weg, den wir hatten.«

Governor Betgrove sprang auf. »Das sagst du. Es ist ja nicht dein Kind, das in den Klauen der Kidnapper ist.«

Der Senator hob beschwichtigend die Hände und versuchte den Governor zu beruhigen. »Ganz langsam, Fletcher. Wenn du die Forderung erfüllst, dann muss das still und leise geschehen. Sollte etwas davon an die Öffentlichkeit gelangen, dann bist nicht nur du erledigt, sondern auch unser gesamtes politisches System. Ist dir das klar?«

»Na und?«, entgegnete Betgrove wütend. »Es geht hier schließlich um ein Menschenleben, und zufällig um das meiner Tochter!«

Darauf wusste Holden keine Antwort. Er hob den Telefonhörer ab, und als sich seine Sekretärin meldete, fragte er: »Ist Ben Nacimo in der Nähe?« Er wartete auf die Antwort. »Gut, dann schicken Sie ihn zu uns herein.«

»Was soll dein sogenannter Sicherheitsberater jetzt hier?«, fuhr Betgrove auf.

»Nun, vielleicht hat er inzwischen etwas herausgefunden, was uns weiterhilft.«

»Der hat doch seit der Entführung nichts herausgefunden, außer Beweise für seine eigene Unfähigkeit.«

Ein deutliches Klopfen kündigte den Sicherheitsberater an. Er trat ein, nickte erst dem Senator, dann dem Governor zu, der es mit einem abfälligen Blick beantwortete. Ben Nacimo, ein mittelgroßer, muskulöser Lateinamerikaner, blieb in der Mitte des Raumes stehen und wartete ab.

»Der Governor«, begann Holden und forderte Nacimo mit einer kurzen Bewegung auf, Platz zu nehmen, »ist in der speziellen Angelegenheit sehr besorgt – was ich ihm nicht verdenken kann. Gibt es etwas Neues in der Sache?«

Nacimo produzierte ein paar deutliche Sorgenfalten auf seiner Stirn. »Nada. Wir haben nichts gefunden, sind aber noch an der Sache mit Hochdruck dran …«

»Habe nichts anderes erwartet.« Trotz der angespannten Situation triefte die Stimme des Governor vor Sarkasmus.

Nacimo wandte sich zu Betgrove und die Sorgenfalten verwandelten sich in ein Lächeln. »Tut mir leid, Governor, dass ich keine besseren Nachrichten habe, aber unsere Ermittlungen müssen ja im Geheimen stattfinden. Das ist nicht besonders hilfreich und macht es ganz bestimmt nicht einfacher.«

Fletcher Betgrove zog es vor, nicht darauf zu antworten, und verließ mit einem knappen Abschiedsgruß das Büro.

***

Zeit hatte wirklich niemand verloren. Wir waren um 19 Uhr auf dem Dulles International Airport direkt am Flieger abgeholt und mit unserem Gepäck in einen wartenden Tahoe verfrachtet worden. Der Agent am Steuer hatte unsere Fragen abwechselnd mit einem Kopfschütteln und einem Schulterzucken beantwortet, während er den Wagen mit Sirenengeheul und Warnlicht durch die Straßen von Washington zum J. Edgar Hoover Building lenkte.

Als wir im Vorzimmer von Mr High aufkreuzten, Phil im Hawaii-Hemd und ich in Trekking-Klamotten, unrasiert und ungeduscht, stahl sich selbst auf Dorothys Gesicht ein Lächeln.

»Ah, die beiden Inspektoren im Freizeit-Look. Da merkt man doch den Unterschied zwischen den Charakteren«, begrüßte sie uns.

»Und was liegt mehr auf Ihrer Wellenlänge, der Sonnyboy oder der Trapper?«, fragte Phil mit einem Grinsen zurück.

»Mister Big, wenn ich ehrlich sein soll«, räumte Dorothy ein und wurde wieder ernst. »Bitte gehen Sie sofort in den Konferenzraum vier, dort sind die Herren versammelt.«

»So?«, gab ich zurück und schaute demonstrativ auf Phil und dann an mir herunter.

»Ich glaube, das spielt keine Rolle«, antwortete Dorothy und es klang nicht gut.

Als Phil und ich den Konferenzraum betraten, schauten wir uns erstaunt um. Es glich mehr der Vollversammlung der UNO. Sämtliche Plätze an dem großen Tisch waren bis auf zwei am oberen Ende besetzt. Alle Leiter der vier Field Operation Sections waren anwesend und eine ganze Menge anderer Leute, die wir nicht oder höchstens vom Sehen kannten.

Assistant Director High, der offensichtlich den Vorsitz dieser Konferenz hatte, blickte uns nur kurz erstaunt an, dann wurde ihm wohl wieder klar, dass er uns aus dem Urlaub geholt hatte.

»Jerry, Phil, gut, dass Sie endlich da sind. Nehmen Sie bitte Platz!« Er deutete auf die zwei freien Stühle. Auf unserem Weg dorthin bemerkten wir einige irritierte Blicke, die ohne Zweifel mit unserer bestenfalls als leger zu bezeichnenden Kleidung zusammenhingen.

»Stören Sie sich bitte nicht an dem etwas außergewöhnlichen Erscheinungsbild von Inspektor Cotton und Inspektor Decker«, erklärte Mr High, »sie sind direkt aus ihrem Urlaub hier eingetroffen. Wie Sie unschwer sehen können, haben sie nicht die gleiche Vorstellung von Erholung.«

In einigen Gesichtern zeigte sich kurz ein Grinsen. Als wir uns gesetzt hatten, blickten Phil und ich etwas ratlos in die Runde.

Mr High ergriff wieder das Wort. »Assistant Special Agent in Charge Derek Bowler, Leiter des FBI-Büros in Charleston, West Virginia, wird Sie jetzt ins Bild setzen und unsere Diskussion der Situation zusammenfassen.«

Mit einem Nicken in Richtung eines groß gewachsenen Weißen mit vollem schwarzem Haar und einem ebensolchen Vollbart erteilte er dem ASAC das Wort.

»Leider, so möchte ich sagen«, begann Bowler und beugte sich etwas vor, »kann ich es ziemlich kurz machen. Gestern, am späten Nachmittag, kam Mrs Margie Betgrove zu uns ins FBI-Büro und wollte mich unter vier Augen sprechen. Sie erweckte den Anschein, kurz vor einem Nervenzusammenbruch …«

»Bitte, wer ist Margie Betgrove?«, unterbrach Phil den ASAC.

»Entschuldigung, Inspektor, mein Fehler«, gab Bowler zurück. »Margie Betgrove ist die Gattin von Fletcher Betgrove, dem Governor von West Virginia.«

Phil und ich nickten.

»Also, Mrs Betgrove war ziemlich aufgelöst, ja verzweifelt. Es stellte sich heraus, dass ihre zwanzigjährige Tochter Jenny vor drei Wochen entführt worden ist. Kurz nach der Entführung haben sie ein Lebenszeichen von ihrer Tochter erhalten, aber seit zwei Wochen nichts mehr von den Entführern gehört. Ihr Mann, der Governor, hat sich kategorisch geweigert, das FBI einzuschalten, und sie sei ohne sein Wissen zu mir gekommen.«

»Hat es Lösegeldforderungen gegeben?«, fragte ich nach.

»Nun, so einfach ist das nicht zu beantworten, Inspektor Cotton.«

Ich beugte mich interessiert nach vorne. »Wie ist das zu verstehen?«

»Es gibt definitiv keine Geldforderung«, erklärte Bowler, »aber Mrs Betgrove hat angedeutet, dass da vielleicht etwas anderes ist. Sie glaubt, dass ihr Mann von etwas weiß, das die Entführer von ihm im Austausch gegen Jenny wollen.«

»Staatsgeheimnisse, Waffen, Gefangenenaustausch …«, warf Phil seine Vermutungen in den Raum. Ein allgemeines Schulterzucken war die Antwort.

»Wir wissen es nicht, denn unsere einzige Quelle weiß es auch nicht. Am Anfang hat Mrs Betgrove ihrem Mann vertraut und war auch damit einverstanden, dass niemand von der Sache etwas erfährt. Freunden und Bekannten haben sie erzählt, ihre Tochter würde Urlaub in Europa machen. Er hat ihr immer gesagt, dass alles in bester Ordnung sei und Jenny bald nach Hause kommen würde. Sie hat ihm vertraut, aber nachdem zwei Wochen lang nichts passiert ist, hat sie sich an uns gewandt.«

»Hat schon jemand mit dem Governor Kontakt aufgenommen?«, wollte ich wissen.

»Nein, Jerry«, antwortete Mr High. »Das ist vermintes Gebiet. Offiziell wissen wir von nichts, denn die Frau des Governor will das Gespräch als streng vertraulich behandelt wissen, da sie ja auch nicht weiß, was ihr Mann möglicherweise unternommen hat, und auf keinen Fall will sie ihre Tochter gefährden.«

»Haben wir denn außer der Aussage der Lady irgendetwas Greifbares?«, fragte Phil. »Wer sagt uns, dass sie sich das alles nicht nur ausgedacht hat und die Tochter wirklich in Europa ist?«

»Auch diese Möglichkeit haben wir schon in Erwägung gezogen«, entgegnete Bowler. »Wir halten sie aber für höchst unwahrscheinlich. Wir haben ein mögliches Beweisstück …«

Bowler drückte auf eine Taste seines Laptops und auf das Whiteboard hinter Mr High wurde ein Bild projiziert. Man sah deutlich, dass es eine Aufnahme von einem Foto war. Das Bild zeigte in Großaufnahme Oberkörper und Gesicht einer jungen Frau mit langen blonden Haaren. Das Gesicht war geschwollen, wahrscheinlich hatte die Frau ausgiebig geweint und auch den einen oder anderen Schlag abbekommen. Sie erweckte nicht den Eindruck, in einem guten Zustand zu sein. Über das Originalbild war mit einem Filzstift geschrieben: Gone but not forgotten .

***

»Du hast was gemacht?«, stöhnte Fletcher Betgrove in sein Handy, auf dem er den Anruf seiner Frau entgegengenommen hatte. Er hatte zwar das Büro von Morland Holden schon verlassen, befand sich aber immer noch im Senatsgebäude auf Capitol Hill. Am anderen Ende blieb es stumm. Der Governor holte tief Luft.

»Margie, ich hatte dir doch gesagt, dass ich die Sache regeln würde …«

»Regeln nennst du das?« Ihre Stimme klang so laut aus dem Handy, dass einige der Vorbeigehenden die Köpfe reckten. »Nichts hast du getan, absolut nichts. Jenny ist jetzt schon drei Wochen verschwunden, und seit zwei Wochen haben wir kein Lebenszeichen von ihr. Wenn du dieses schreckliche Bild überhaupt als Lebenszeichen werten willst. Was ist da los, Fletcher? Was machst du da in Washington, statt hier zu sein?«

»Ich tue, was ich kann, während du nichts Besseres zu tun hast, als meine Bemühungen zu torpedieren. Das FBI war eine ganz schlechte Idee, eine wirklich schlechte.«

Aus dem Handy kam ein erstickter Schrei, dann ein herzzerreißendes Schluchzen, danach wurde die Verbindung unterbrochen. Betgrove starrte noch einen Moment das Telefon in seiner Hand an, dann unterbrach auch er die Verbindung. Unschlüssig stand er einen Moment auf dem Gang, dann drehte er sich um und ging zum Büro des Senators zurück.

Er gab sich keine Mühe, höflich zu sein, sondern stürmte durch das Vorzimmer und stieß die Tür zu Holdens Büro auf. Der Senator saß hinter seinem Schreibtisch, Ben Nacimo hatte in einem der Besuchersessel davor Platz genommen. Die Köpfe der beiden ruckten hoch, als Betgrove den Raum betrat.

»Jetzt haben wir den Salat«, platzte Betgrove heraus. »Wie stehe ich jetzt als Governor da?«

»Was ist passiert?«, fragte Nacimo, während der Senator eine beschwichtigende Geste in Richtung des Governor machte.

»Margie hat das FBI informiert!«

»Nicht gut«, stellte Nacimo fest.

»Nicht gut«, wiederholte Betgrove und blickte Holden dabei wütend an. »Ich würde sagen, zu dem, was mich jetzt erwartet, könnte man den Untergang der Titanic als nicht gut bezeichnen.«

»Was genau hat sie dem FBI gesagt?«, fragte Holden nach.

»Woher soll ich das wissen? Sie hat mich eben angerufen, um mir das mitzuteilen, und bevor ich nachfragen konnte, hatte sie einen Nervenzusammenbruch und die Verbindung unterbrochen. Was kann sie schon gesagt haben – nicht viel. Aber natürlich hat sie dem FBI das Bild gezeigt. Was sollen wir jetzt tun?«

»Wir?«, gab Holden zurück. »Es ist zuerst mal deine Angelegenheit. Wir«, er deutete auf sich und seinen Sicherheitsberater, »bleiben auf jeden Fall besser im Hintergrund. Das würde die Sache sonst noch mehr verkomplizieren.«

»Bravo, so ist das also«, meinte Betgrove mit Sarkasmus und Hass in der Stimme.

»Nun mal langsam, Fletcher. Du bist zu mir gekommen, und ich habe versucht zu helfen. Dass weder die Polizei noch das FBI eingeschaltet werden, entsprach den Forderungen der Entführer. Ich meine, was ist denn bis jetzt passiert?«

»Seit zwei Wochen haben wir kein Lebenszeichen von meiner Tochter«, warf der Governor ein.

»Richtig, aber die Sitzung ist erst in drei Tagen. Dann erst kannst du handeln und die Bedingungen der Entführer erfüllen. Solange musst du, müsst ihr noch Ruhe bewahren.«

»Wie soll ich das Margie nur klarmachen? Ich muss es ihr sagen …«

»Dann kannst du gleich an die Presse oder zum FBI gehen.«

»Zum FBI muss ich gar nicht gehen, die werden binnen Kürze bei mir sein«, erklärte Betgrove resignierend.

»Deshalb heißt es umso mehr, ruhig Blut zu bewahren, und du musst deine Haltung gegenüber dem FBI genau planen. Also entwerfen wir einen Plan.«

***

» Gone but not forgotten klingt nicht sehr hoffnungsvoll«, sagte ich leise, mehr zu mir selbst.

»Ist eher was für einen Grabstein oder eine Trauerkarte«, ergänzte Phil und blickte in die Runde der betroffenen Gesichter. Auch den Kollegen war dieser Gedanke schon gekommen.

Mr High ergriff das Wort. »Also, wie es scheint, hat sich der Governor von West Virgina bei der Entführung seiner Tochter entgegen allen Richtlinien für einen solchen Fall verhalten. Seine Frau behauptet, er hätte Maßnahmen ergriffen, von denen sie aber nichts weiß, ja sie weiß noch nicht einmal definitiv, ob Forderungen gestellt wurden, und wenn ja, worin diese bestehen. Jetzt, da wir von der Entführung Kenntnis erlangt haben, müssen wir tätig werden. Mir ist klar, dass nach drei Wochen jede Spur, falls es sie gegeben haben sollte, kalt ist. Wir müssen bei Governor Betgrove und seiner Familie anfangen, und das wird nicht leicht werden.«

»Welches Szenario sollen wir zugrunde legen?«, wollte ASAC Bowler wissen.

»Wir gehen natürlich davon aus, dass Jenny Betgrove noch lebt«, erklärte Mr High mit Bestimmtheit. »Wir versuchen, unsere Ermittlungen so breit wie möglich zu fächern, aber wenn der Governor mit verdeckten Karten spielt, dann können wir das auch. Sie verstehen?«

Die Anwesenden und auch Phil und ich murmelten Zustimmung oder nickten bekräftigend mit den Köpfen.

»Die Inspektoren Cotton und Decker werden die Ermittlungen leiten und ein grobes Raster erarbeiten, nach dem wir vorgehen. Seien Sie sich immer bewusst, dass wir uns hier in einem politischen Minenfeld bewegen. Halten Sie sich in diesem Fall an Special Agent Patricia Boyle von der Abteilung Government Relations.« Mr High deutete auf eine Frau um die dreißig, die Phil und ich noch nie gesehen hatten. Nun, wir hatten bis jetzt auch noch nicht mit einem so hochbrisant-politischen Fall zu tun gehabt.

»Falls Sie zu dem Ergebnis kommen, dass Sie meine Unterstützung brauchen, dann lassen Sie es mich wissen. Vielen Dank.« Mr High erhob sich und damit war die Besprechung wohl aufgelöst.

Wir wandten uns sofort an den Leiter des FBI-Büros Charleston, denn West Virginia verfügte über kein Field Office, und baten ihn und seine beiden Begleiter, noch zu bleiben. Ebenso gaben wir Patricia Boyle ein Zeichen, sich uns anzuschließen. Wir rückten an einer Ecke des Konferenztisches zusammen.

»Hallo«, begrüßte ich die vier Kollegen noch einmal. »Um es einfacher zu machen: Ich bin Jerry, das ist Phil, und ich denke, wir können angesichts der Situation auf Förmlichkeiten verzichten, okay?«

Die anderen nickten. Derek stellte die beiden Agents vor, die ihn von Charleston hierher begleitet hatten. Es waren Andrew Etto, ein japanischstämmiger Enddreißiger, und George Steeler, ein Farbiger Ende zwanzig.

»Patricia, was bedeutet Government Relations eigentlich genau?«, fragte Phil, bevor ich weitermachen konnte, und schenkte der gut aussehenden Brünetten, die von der Garderobe bis zum Make-up perfekt gestylt war, eins seiner in der Damenwelt berühmten Lächeln.

Sie warf es wie ein Spiegel zurück. »Ach, Phil. Es bedeutet eigentlich, sich in einer staubtrockenen Wüste aus Vorschriften und Gesetzen, Protokoll und Befindlichkeiten zu bewegen und dabei auf der Hut zu sein, in keines der Fettnäpfchen zu treten, die irgendjemand zwischen gestern Abend und heute Morgen aufgestellt hat.«

Ich musste lächeln, denn ihre Antwort zeigte eigentlich schon, auf was es in ihrem Job ankam, und mir war klar, wie wichtig Patricia für uns sein würde.

»Ich halte den Kontakt«, fuhr sie fort, »zu den Politikern, und immer, wenn sie auf die eine oder andere Weise ins Visier oder in die Ermittlungen der Firma geraten, sorge ich dafür, dass sie nicht von Leuten im Hawaii-Hemd«, sie schenkte mir ein entschuldigendes Lächeln, »oder in Trapper-Ausrüstung über den Haufen gerannt werden.«

Wir alle konnten uns jetzt ein Grinsen nicht verkneifen.

»Gut gekontert, Patricia«, gab ich zurück. »Aber ein Tipp: Genießen Sie den Anblick von zwei Inspektoren, wie er sich Ihnen jetzt bietet. Ich verspreche Ihnen, morgen wird das ganz anders sein.«

»Schade!«

»Nun, Derek«, kam ich zur Arbeit zurück, »wie gehen wir am besten vor?«

»Wir müssen davon ausgehen, dass inzwischen der Governor weiß, dass seine Frau uns informiert hat, oder es zumindest demnächst erfährt. Wir müssen ihn also einbeziehen, und wir sind dabei völlig auf seine Kooperation angewiesen.« Er blickte zu Patricia.

»Ja, Derek hat völlig recht«, bestätigte sie. »Er ist Teil der Exekutive und damit immun. Er muss uns keine Auskunft geben. Ihn dazu zu zwingen … bis das im Zweifelsfall durch ist, ist seine Tochter wahrscheinlich schon eine alte Jungfer.«

»Das bringt uns zu dem Punkt: Warum hat der Governor geschwiegen? Auch seiner Frau gegenüber. Sind Forderungen gestellt worden, und wenn ja, warum hat er sie geheim gehalten?«, warf Phil ein.

»Irgendetwas stinkt hier gewaltig«, meldete sich Andrew Etto zu Wort.

»Das sehe ich auch so«, stimmte ihm Derek Bowler zu.

»Es gibt nicht mehr, als Sie uns in der Konferenz berichtet haben? Sie haben noch keine weiteren Nachforschungen angestellt?«, fragte ich den Büroleiter aus Charleston.

Er schüttelte den Kopf. »Nein, nachdem die Frau des Governor bei uns gewesen war, habe ich sofort den Assistant Director informiert. Eigentlich hätte ich mich ja an das für uns zuständige Field Office in Pittsburgh wenden müssen … Aber die Sache erschien mir einfach von Anfang an zu groß. Der Assistant Director hat mich herzitiert und dann gleich das große Rad gedreht.«

Phil schüttelte den Kopf. Ich schaute ihn an. Ich kannte meinen Partner zu gut, um nicht zu erkennen, dass ihn etwas irritierte. »Was ist, Phil?«

»Ich weiß nicht recht, Jerry. Denk doch mal ganz ruhig nach. Sieht das nach Mister High aus? Eine Entführung – gut, es ist die Tochter eines Governor, aber überlege mal, dieser große Bahnhof …«

»Okay, Phil, aber damit kommen wir jetzt nicht weiter. Wir machen Folgendes: Ich rufe Gerold an und der soll das SR-Team zusammentrommeln. Wir nehmen morgen in Charleston die Ermittlungen auf. Das volle Programm! Wir kümmern uns um den Governor, und Patricia hält den politischen Flurschaden in Grenzen. Und dann sehen wir, was wir erreichen.«

»Also das alte Spiel: guter Cop, böser Cop«, kommentierte Patricia.

»Ja«, gab ich ihr recht, »aber auf dem Level von FBI-Inspektoren.«

»Alles ein bisschen größer«, fügte Phil hinzu.

»Ich rufe jetzt Gerold an, dann Mister High, und wenn das geklärt ist, dann machen wir Feierabend. Für uns«, ich deutete auf Phil und mich, »war der Tag sehr lang.«

Während die anderen im übertragenen Sinn die Beine hochlegten, rief ich Mr High an, der natürlich noch in seinem Büro und keineswegs erstaunt war über meinen Anruf. Ein Flugzeug des FBI für morgen Vormittag 10 Uhr am Reagan Airport für uns bereitzustellen war ebenso wenig ein Problem.

Danach rief ich Dr. Willson in Quantico an. Als er an sein Handy ging, hörte ich im Hintergrund Partygeräusche. Ich musste zweimal meinen Namen wiederholen, bis er verstand, wer am Telefon war. Er vertröstete mich für einen Moment und suchte einen Ort auf, wo es ruhiger war.

»Was ist los, Jerry? Ich denke, Sie sind im Urlaub.«

»War ich auch, aber seit heute Morgen nicht mehr. Es brennt. Was ist eigentlich bei Ihnen los?«

»FGF, dieser Teebeutel, feiert und hat uns alle eingeladen. Halb Quantico, wie es aussieht. Irgend so ein britischer Feiertag, glaube ich. Aber egal, er versucht alle mit Whisky abzufüllen, Sie wissen, das ungenießbare Zeug, was man da drüben trinkt, ungenießbar. Da ist der letzte Kentucky Moonshine noch besser.«

An seiner Stimme war zu erkennen, dass das Zeug anscheinend doch nicht so ungenießbar war. »Tut mir leid, Gerold, aber ich brauche Sie und FGF morgen hier am Reagan Airport, um 10 Uhr. Wir haben in Charleston, West Virginia zu tun. Nehmen Sie sich einen Hubschrauber, Mister High ist informiert und hat entsprechende Anweisung gegeben. Mai-Lin und Concita sollen sich ab morgens in Quantico bereithalten, falls wir ihre Unterstützung brauchen.«

»Kein Scherz von FGF, damit er die Party noch bezahlen kann?«

»Leider nein, Gerold. Bis morgen«, verabschiedete ich mich.

Er hatte wohl vergessen, die Verbindung zu trennen, denn ich hörte noch, wie er irgendwohin schrie: »Die Party ist zu Ende.«

***

Es war nicht ungewöhnlich, dass spät am Abend am Capitol Hill in dem einen oder anderen Büro eines Senators noch Licht brannte. Heute war es das von Senator Morland Holden.

Der Senator, der Governor und Ben Nacimo waren sich über das weitere Vorgehen nicht einig geworden.

»Deine Frau einzuweihen ist die schlechteste aller Möglichkeiten«, erklärte Holden kategorisch und hob, als Betgrove zu einer Erwiderung ansetzte, abwehrend die Hand. »Du wirst nicht umhinkommen, sie weiter hinzuhalten – auch wenn das schwer wird.«

»Das wird nicht nur schwer, das ist unmöglich«, platzte es jetzt aus dem Governor heraus. »Es geht inzwischen nicht mehr allein um meine Frau, sondern ich habe morgen auch noch das FBI am Hals.«

»Ja, das ist übel«, warf Nacimo ein. »Aber irgendwie müssen wir die Zeit, bis die Entscheidung gefallen ist, überbrücken. Wäre es nicht wirklich eine Lösung, wenn Sie Ihre Frau gleich morgen in eine Klinik einweisen lassen? So wäre sie dem Zugriff des FBI erst einmal entzogen.«

Auch dieser Gedanke war nicht neu und schon mehrmals durchgespielt worden. Ein solches Vorgehen musste, das war allen Beteiligten klar, den Governor erst recht ins Visier des FBI bringen.

»Zudem ist es jetzt auch wesentlich komplizierter, die Forderungen der Entführer zu erfüllen«, gab Holden zu bedenken. »Das lässt sich jetzt nicht mehr unter dem Radar erledigen.«

Betgrove nickte. »Was soll ich machen? Wenn ich die drei Kerle nicht begnadige und ihre Freilassung verfüge, dann sehe ich meine Tochter nicht mehr lebend wieder. Mal ganz abgesehen davon, dass ich außerdem gegen die Empfehlung des Bewährungsausschusses entscheide.«

Die beiden anderen Männer schwiegen und warfen sich einen verstohlenen Blick zu, den Betgrove nicht bemerkte.

»Wir brauchen Zeit, Governor«, stellte Nacimo fest, »und auch heute Abend haben wir keine Zeit mehr, wenn Sie die Maschine nach Charleston noch erreichen wollen.«

Betgrove schaute auf die Uhr. Es war höchste Zeit, dass er sich zum Flughafen begab, um die Maschine um 22.30 Uhr nach West Virginia zu bekommen.

»Morgen, gegen Mittag, werden zwei FBI-Inspektoren und wahrscheinlich noch ein paar Agents aus dem FBI-Büro Charleston bei Ihnen auftauchen …«

Betgrove unterbrach den Senator. »Was sagst du da, Morland?«, fragte er entsetzt.

»Keine Panik, Fletcher«, versuchte er Betgrove zu beruhigen.

»Keine Panik! Was wollen die von mir? Kann man nichts dagegen unternehmen? Die sollen sich raushalten.«

»Nein. Die Entführung ist inzwischen ein Offizialdelikt. Das FBI hat davon erfahren und ist verpflichtet zu ermitteln, aber …«

»Ohne meine Einwilligung?«

»Die brauchen sie nicht«, stellte Holden klar. »Aber du genießt ja als Governor Immunität, das schränkt ihre Möglichkeiten ein. Ich schickte dir morgen früh hier aus Washington einen Anwalt, der sich mit solchen Dingen auskennt. Bevor er nicht da ist, machst du keine Aussage. Aber immer höflich bleiben, verstanden? Du und deine Frau sind einfach besorgte Eltern, die sich möglicherweise nicht so verhalten haben, wie das FBI das erwartet, aber sonst habt ihr euch nichts zuschulden kommen lassen.«

»Woher weißt du das eigentlich so genau, was das FBI machen wird?«, wollte Betgrove wissen.

»Ich habe da so meine Quellen«, antwortete der Senator zurückhaltend. »Und ich habe mit Maygrave Osbourne & Partner gesprochen.«

Betgrove schaute den Senator überrascht an.

»Sie schicken ihren besten Mann zu dir. Er kommt morgen früh mit der ersten Maschine und hat bestimmt einen perfekten Plan in der Tasche. Du machst einfach, was er sagt.«

Betgrove wollte etwas entgegnen, aber Morland ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Jetzt musst du aber los, damit du deine Maschine nicht verpasst. Und bereite deine Frau schon mal darauf vor, dass sie von der Bildfläche verschwinden muss.«

Der Governor erhob sich, nickte den beiden Männern kurz zu und machte sich auf den Weg zum Reagan Airport.

***

Es war schon eine imposante Ansammlung von Bundesbeamten, die sich am nächsten Morgen um halb zehn an einem Seitengate des Reagan Airport versammelt hatte, um an Bord des FBI-Jets zu gehen, der uns nach Charleston bringen sollte.

Zuerst natürlich Phil und ich, dann die drei Agents vom Büro Charleston, Special Agent Patricia Boyle, die wieder aussah, als wollte sie nicht ins Flugzeug, sondern direkt auf den Laufsteg einer Modenschau steigen, und die beiden Wissenschaftler, die kurz zuvor mit einem Hubschrauber aus Quantico gekommen waren.

Willson und Fortesque versteckten sich hinter Sonnenbrillen, die wohl die Nachwirkungen der gestern so plötzlich abgebrochenen Party verdecken sollten, und gaben sich betont wortkarg. Auf die Anwesenheit von Concita Mendez und Mai-Lin hatte wir ja von vornherein verzichtet, da es bis jetzt keinen Anhaltspunkt gab, dass wir die Wirtschaftsspezialistin benötigen würden, und unser Computergenie konnte sowieso besser von ihrem Arbeitsplatz in Quantico aus arbeiten, wo sie auf all ihre Technik Zugriff hatte.

Pünktlich um 10 Uhr waren wir in der Luft, und sobald die Anschnallzeichen erloschen waren, erhob ich mich, um den Einsatz während des gut einstündigen Fluges mit den Kollegen abzusprechen.

Zuerst fasste ich für das Team aus Quantico noch einmal zusammen, was wir an Fakten, soweit man überhaupt davon sprechen konnte, hatten.

Bevor ich fortfahren konnte, unterbrach mich Willson.

»Jerry«, es hörte sich stark nach einem Krächzen an. Er räusperte sich und begann dann noch mal. »Jerry, ich möchte mich nicht beschweren, aber was sollen wir in Charleston? Wir haben keinen Tatort, und sollten wir einen finden, dann ist er so kontaminiert, dass wir auch Jack the Ripper als Täter annehmen könnten.«

Fortesque nickte stumm und vermied es, seine Stimme zu gebrauchen, die bestimmt nicht besser klang als die seines Kollegen.

»Ich weiß, ich weiß«, lenkte ich ein, »aber wir fangen bei null an. Soweit ich informiert bin, haben noch keinerlei Untersuchungen stattgefunden, also müssen wir uns gemeinsam auf alles stürzen, was wir vorfinden. Ich will Sie beide einfach dabeihaben, um nicht alles, was wir finden, erst nach Quantico schicken zu müssen.«

»Wenn wir überhaupt etwas finden«, knurrte Willson.

»Nun zu unserem Vorgehen«, konnte ich endlich fortfahren. »Governor Betgrove war zwar gestern in Washington und hat Senator Holden von West Virginia aufgesucht, ist aber gestern Abend mit der letzten Maschine zurückgeflogen. Wir werden den Governor und seine Frau ausführlich zu der Entführung befragen und alles versuchen rauszukriegen, was damit in Verbindung stehen kann. Besonders, warum sie die Entführung ihrer Tochter so perfekt kaschiert haben …«

»Aber auf Daumenschrauben und Streckbank verzichten Sie bitte, Inspektor!«, unterbrach mich Agent Boyle.

»Aber selbstverständlich, Agent Boyle«, gab ich zurück.

»Jerry, das war nicht nur eine spöttische Bemerkung«, wies mich Patricia Boyle zurecht. »Denken Sie bitte daran, dass Fletcher Betgrove nicht einfach nur Mister Betgrove ist, sondern der Governor des Staates West Virginia, und damit zunächst einmal dem Zugriff der Polizeiorgane und natürlich auch des FBI entzogen ist.«

»Wir alle werden uns beherrschen und absolut professionell agieren«, antwortete ich etwas steif. »Wir sind schließlich Profis.«

Dann wandte ich mich wieder an alle. »Wir können nicht viel planen, da wir keine Ahnung haben, was uns erwartet. Wir müssen leider auf die Situation, die wir vorfinden werden, reagieren. Wichtig ist auf jeden Fall, so viele Informationen zu bekommen wie nur irgend möglich.«

»Wie genau gehen wir vor, Jerry?«, wollte ASAC Bowler wissen.

»Nun, eigentlich agieren wir inoffiziell«, gab ich zu bedenken. »Außerdem müssen wir damit rechnen, dass die Familie, das Haus und der Dienstsitz des Governor von den Entführern beobachtet werden. Und wir müssen davon ausgehen, dass zumindest der Governor nicht kooperativ sein wird.«

»Eine ziemlich vertrackte Situation«, stellte Phil fest.

»Ich habe mit Mister High abgesprochen, dass er uns bei Governor Betgrove für heute ein Uhr mittags anmeldet. Derek, Phil und ich werden uns in zwei neutralen Fahrzeugen zum Wohnsitz des Governor begeben und ein Gespräch mit ihm und seiner Frau führen …«

»Auf keinen Fall«, unterbrach mich Patricia Boyle, »werden Sie ohne mich mit dem Governor sprechen!«

Ich schaute Patricia Boyle überrascht an. »Ich glaube, Sie verstehen nicht, Patricia. Ich sagte: kein großer Bahnhof, und dafür gibt es gute Gründe.«

»Jerry, ich bin nicht hier, um die Ausgewogenheit zwischen den Geschlechtern zu garantieren, sondern ich habe einen klaren Auftrag! Und der lautet, Sie vor Dummheiten zu bewahren!«

Mir blieb die Sprache weg. Bevor ich etwas sagen konnte, griff Phil ein.

»Nun mal langsam, Patricia. An erster Stelle steht hier das Leben einer jungen Frau. Um das zu retten, brauchen wir die Mithilfe ihrer Eltern, die sich bis jetzt nicht sehr kooperativ gezeigt haben, eigentlich überhaupt nicht. Wir werden alle Rücksicht nehmen, die möglich ist, aber wenn der Governor sich querlegt, dann werden wir alle Schritte unternehmen, die notwendig sind, und Sie werden uns dabei unterstützen. Wenn nicht, dann müssen Sie sich die Frage gefallen lassen, welche Prioritäten Sie eigentlich als Special Agent haben. Bei Jerry und mir jedenfalls hat das Leben des Opfers immer oberste Priorität.«

Patricia Boyle schluckte, schüttelte den Kopf und wollte zu einer Erwiderung ansetzen. Bevor es dazu kam, ergriff ich wieder das Wort, um die Wogen zu glätten. »Okay, Patricia, Sie kommen mit, aber rechnen Sie damit, dass wir möglicherweise die Samthandschuhe ausziehen müssen, und da halten Sie sich dann raus. Nachher können Sie meinetwegen das zerschlagene Geschirr wieder kitten. Ist das klar?«

Patricia Boyle nickte und man sah ihr an, dass sie die Zähne zusammenbeißen musste.

»Der Rest der Truppe wartet im Field Office. Je nachdem, was bei unserem Besuch herauskommt, werden sie dann zum Einsatz kommen.«

Dann leuchteten die Anschnallzeichen auf und wir bereiteten uns auf die Landung vor.

***

Das heruntergekommene Anwesen in den Allegheny Mountains im Nordosten von West Virginia zeigte noch Spuren des früheren Wohlstands seiner Besitzer. Es gab ein Haupthaus und zahlreiche Nebengebäude, die allerdings schon deutliche Spuren des Verfalls zeigten.

Gut versteckt standen in der Scheune ein Lincoln Explorer und ein älterer F-150 Ford Pick-up. Die drei Männer, die zu den beiden Fahrzeugen gehörten, saßen in der Küche. Ihre Aufgabe war es, die junge Frau zu bewachen, die sich seit drei Wochen in der Zelle im Keller befand.

»Die Warterei hängt mir langsam zum Hals heraus«, wiederholte Juan Montego schon zum dritten Mal, und die beiden anderen, genau wie er eindeutig südamerikanischer Abstammung, reagierten mit einem »Halt’s Maul!«.

»Warum bringen wir die Kleine nicht einfach um? Macht doch keinen Unterschied, oder?«, ließ sich Monteo vom Kommentar seiner Komplizen nicht abschrecken.

Sergio Haves, ein kleiner Kerl mit einem verschlagenen Gesichtsausdruck, beugte sich über den Tisch und nagelte mit seinem Blick Montego fest. »Hör zu, du Ausgeburt von Dummheit, wenn der Governor macht, was wir wollen, dann kriegt er sein Nesthäkchen unbeschadet zurück … na ja, mehr oder weniger«, dabei huschte ein Grinsen über Haves Gesicht.

»Wenn aber nicht«, fuhr er fort, »dann liefern wir sie kalt bei ihm ab, und das wird auf zukünftige Geschäftspartner mächtig Eindruck manchen. Also, noch einmal zum Mitschreiben für dich: Liefert der Governor, dann liefern wir auch, liefert er nicht, dann liefern wir Tiefkühlkost!«

Montego nickte, während der dritte Mann, Carlo Martinez, der die Szene völlig unbeteiligt verfolgt hatte, jetzt das Wort ergriff.

»Die Entscheidung steht nächsten Donnerstag an. Der Boss ist der Meinung, wir sollten dem Governor noch eine Entscheidungshilfe zukommen lassen, damit er nicht auf dumme Gedanken kommt.«

Die beiden anderen schauten ihn erwartungsvoll an.

»Nun, noch ein hübsches Bild von seiner Tochter. Das übernimmst du, Sergio. Und sieh zu, dass es überzeugend wirkt.«

Sergio grinste, stand auf und verließ den Raum. Als er nach ein paar Minuten wiederkam, hatte er sich umgezogen. Er trug jetzt einen zu großen Trainingsanzug, Massenware aus dem Wal-Mart , den jeder von ihnen trug, wenn sie zu der Gefangenen gingen, und eine Ski-Maske, die nur Mund und Augen freiließ. In der Hand hatte er sein Smartphone.

»Vergiss nicht die Zeitung«, erinnerte ihn Martinez. »Schließlich sollen Papi und Mami ja sehen, dass wir up to date sind.«

Als Sergio Haves vor der Haustür stand, blickte er sich um. Es war reine Gewohnheit, denn man musste hier nicht wirklich mit Besuchern rechnen. Noch nicht einmal mit verirrten Wanderern, dazu war es zu spät im Jahr. Die Einheimischen bereiteten sich schon auf die ersten Schneefälle vor. Haves klemmte sich die Zeitung unter den Arm und ging die Treppe in den Keller hinunter.

»Hallo, Jenny«, rief Haves zu dem zusammengesunkenen Bündel Mensch auf der Pritsche hinter den Gitterstäben.

Es erfolgte keine Reaktion.

Haves trat an die Gitterstäbe heran und schloss auf. »Hallo, Jenny«, sagte er noch einmal, bevor er die Zelle betrat. Es stank entsetzlich. Der Eimer in der Ecke hätte schon längst wieder geleert werden müssen. Er würde mit Juan ein ernstes Wort reden müssen.

Mit einer müden Bewegung hob die junge Frau auf der Pritsche den Kopf. Sie war mit einem verschmutzten T-Shirt und einer ebensolchen Jeans bekleidet. Aus trüben Augen sah sie den Mann vor ihr an. Haves zog sie hoch. Apathisch ließ sie es sich gefallen.

Haves grinste unter der Ski-Maske. Jetzt kam der angenehme Teil.

»Zieh dich aus!«, befahl er.

In die trüben Augen der jungen Frau trat Entsetzen. »Nein«, stöhnte sie auf.

»Stell dich nicht so an. Ich will nichts von dir. Es geht nur um ein Foto.« Dabei hob er die Kamera.

»Nein«, stieß Jenny noch einmal hervor. »Nein.«

Haves griff nach ihrem T-Shirt und versuchte, es ihr über den Kopf zu ziehen. Sie schlug kraftlos auf ihn ein.

»Jetzt reicht’s, du dumme Ziege«, fluchte Haves und stieß Jenny brutal auf die Liege. Dann kniete er sich auf sie und riss ihr das Shirt vom Leib. Als Jenny die Arme vor ihrer Brust verschränkte, um ihre Brüste zu bedecken, griff Haves nach der Jeans und zog sie ihr aus. Kurz darauf lag die junge Frau nackt auf der Pritsche, den Kopf abgewandt.

Haves gönnte sich noch einen Augenblick den Anblick des nackten Körpers, der selbst jetzt, mit all den Spuren der dreiwöchigen Haft, noch sein Blut in Wallung brachte. Dann breitete er die Zeitung auf ihrem Körper aus, sodass sie Brüste und Scham bedeckte, und machte mit dem Smartphone eine Reihe von Aufnahmen, auf denen sowohl die Frau als auch das Datum der Zeitung deutlich zu erkennen waren.

»Jetzt kannst du dich wieder anziehen«, sagte er, als er die Zellentür wieder abschloss und den Keller verließ.

***

Pünktlich um halb zwölf waren wir auf dem Yeager Airport in Charleston gelandet. Der Jet des FBI stand auf einer etwas abseits gelegenen Parkposition, auf der uns vier Fahrzeuge des FBI-Büros erwarteten. Willson und Fortesque überwachten noch, wie ihr umfangreiches Gepäck ausgeladen wurde. Es hatte den Anschein, als ob sie ihre halbe Laboreinrichtung dabeihätten.

Ich bezweifelte, dass sie wirklich zum Einsatz kommen würde.

ASAC Bowler hatte uns seinen Leuten vorgestellt, dann setzte sich die Kolonne in Richtung Innenstadt in Bewegung. Über den Highway 77 gelangten wir vom Yeager Airport Richtung Stadtmitte, überquerten den Elk River und fuhren dann in die Virginia Street East zum FBI-Büro.

ASCA Bowler führte uns in einen Besprechungsraum, in dem seine kleine Truppe von Agents schon Platz genommen hatte. Ein Catering-Service hatte Pizza und Hamburger geliefert, und während ich kurz den neu hinzugekommenen Agents die Lage erklärte, nahmen wir alle ein improvisiertes Mittagessen zu uns.

Bowler informierte mich, dass die beiden Agents, die er schon am Morgen in die Umgebung von Betgroves Haus geschickt hatte, um die Lage zu sondieren, keinerlei verdächtige Personen oder Vorkommnisse gemeldet hatten. Anscheinend stand der Governor nicht unter Beobachtung.

Allerdings hatte ein schwarzer Toyota Landcruiser gegen 10 Uhr das Gelände verlassen. Ob außer dem Fahrer noch weitere Personen im Wagen waren, hatten sie aufgrund der getönten Scheiben nicht feststellen können. Bisher war der Wagen nicht zurückgekehrt.

Dann war es für uns vier auch schon Zeit, uns auf den Weg nach South Highs zu machen, wo Betgrove mit seiner Familie lebte.

Der Governor wohnte respektabel. Das weit von der Straße zurückgesetzte Herrenhaus wurde von Pinien und Eichen fast völlig verdeckt, das Grundstück war von einer sechs Fuß hohen Mauer eingezäunt, und das schmiedeeiserene Tor verstärkte den Eindruck der Wehrhaftigkeit noch.

Bowler lenkte den Buick LaCross in die kurze Auffahrt und hielt vor dem Tor. Auf den Torpfosten waren deutlich sichtbar Kameras montiert. Der ASAC stieg aus und ging zu der Klingelanlage, die ebenfalls mit Video ausgestattet war.

Ich sah vom Beifahrersitz aus, dass es zu einem kurzen Wortwechsel kam, Bowler dann seinen Ausweis vor die Videokamera im Torpfosten hielt, nickte und zum Wagen zurückkam. Noch während er einstieg, schwangen die beiden Torflügel langsam auf.

»Sie haben deutlich zu verstehen gegeben, dass wir zwar kommen dürfen, aber keinesfalls willkommen sind. Das wird eine harte Angelegenheit werden«, erklärte Bowler, als er sich hinter das Lenkrad schob und den Wagen durch das Tor steuerte.

»Wir haben nichts anderes erwartet«, erklärte Phil vom Rücksitz.

Bowler parkte den Wagen vor dem Eingang der Villa, und während wir ausstiegen, kamen zwei Männer auf uns zu, die eindeutig in die Kategorie Personenschutz einzuordnen waren.

»Inspektor Cotton und Decker und Special Agent Boyle, FBI-Washington«, stellte ich Phil, Patricia und mich vor, dann deutete ich auf Bowler, »und das ist Assistant Special Agent in Charge Bowler vom hiesigen FBI-Büro.«

Die beiden Männer vor uns blieben unbeeindruckt. »Die Ausweise, bitte.«

Wir taten ihnen den Gefallen. Weit genauer als notwendig überprüften sie unsere Legitimation. Sie wollten uns offensichtlich einschüchtern, aber damit waren sie, zumindest bei Phil und mir, an die Falschen geraten. Ein kurzer Seitenblick auf Patricia zeigte mir, dass auch sie sich mehr amüsierte, als dass sie der Auftritt der beiden Gorillas beeindruckte.

Wir erhielten unsere Ausweise zurück und wurden ins Haus geführt. In einem Salon erwartete uns der Governor. In seiner Gesellschaft befand sich ein Mann von ungefähr 50 Jahren, dem man den Anwalt schon auf 20 Yards Entfernung ansah.

Beide erhoben sich bei unserem Eintreten und kamen uns ein paar Schritte entgegen.

»Guten Tag, Governor, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen«, übernahm ich den offiziellen Teil. Danach stellte ich uns noch einmal vor.

»Mich kennen Sie ja bereits«, gab der Governor zurück und deutete dann auf den Mann neben sich, »und das ist Dr. Eric Shoover von der Kanzlei Maygrave, Osbourne & Partner aus Washington.«

»Sehr erfreut«, sagte der Anwalt und dann: »Hallo, Patricia.«

»Hallo, Eric«, antwortete Agent Boyle etwas reserviert, aber freundlich hinter meinem Rücken. »Ich wusste gar nicht, dass du wieder im Außendienst bist.«

»Nun, so würde ich das nicht nennen, vielleicht eher den Berg und den Propheten zitieren.«

Betgrove deutete auf eine ausladende Sitzgruppe in der Mitte des Raumes und forderte uns auf, Platz zu nehmen. Die beiden Personenschützer postierten sich an der Tür. Patricia schob sich neben mich und flüsterte mir unauffällig ins Ohr: »Höchste Vorsicht vor dem Anwalt. Später mehr.«

Als wir saßen – Betgrove orderte bei einem farbigen Hausmädchen Kaffee oder Wasser, je nachdem, was auf eine dementsprechende Frage von uns gewünscht worden war –, begann ich mit meiner Ansprache.

»Sehr geehrter Governor, gestern hat Ihre Frau Assistant Special Agent in Charge Bowler, den Leiter des hiesigen FBI-Büros, über die Entführung Ihrer Tochter …« Weiter kam ich nicht, da hatte mich der Anwalt schon unterbrochen. »Zunächst einmal gehen wir von einer vermissten Person aus. Es gibt keinen Hinweis auf eine Entführung.«

Ich schaute Shoover ungläubig an und mir blieb tatsächlich die Spucke weg.

»Mrs Betgrove hat aber gegenüber Agent Bowler eindeutig von einer Entführung gesprochen«, sprang Phil in die Bresche. »Nicht wahr, Agent Bowler?«

Der Leiter des FBI-Büros nickte. »Und dafür gibt es Zeugen. Bei der Aussage von Mrs Betgrove waren zwei weitere Agents anwesend.«

Das schien den Anwalt etwas zu beeindrucken.

Ich hakte nach. »Warum befragen wir Mrs Betgrove nicht persönlich dazu?« Ich wandte mich direkt an den Governor. »Ist Ihre Gattin zu Hause?«

Betgrove zuckte bedauernd die Schultern. »Leider nein.«

»Und wann erwarten Sie sie zurück?«

Als ob jemand einen Schalter angeknipst hätte, erschien der Ausdruck höchsten Bedauerns auf seinem Gesicht. »Das ist leider nicht abzusehen. Sie ist seit heute Morgen in einer Klinik und steht unter ärztlicher Aufsicht.«

»Hören Sie mal!« Das war Phil, der da aus der Haut fuhr. »Wollen Sie uns hier zu Idioten machen? Gestern war Ihre Frau beim FBI und heute ist sie aus dem Verkehr gezogen – da stimmt doch was nicht!«

Ein Seitenblick auf Patricia zeigte mir, dass jeder andere Ort im Universum, einschließlich der Hölle, ihr im Moment als Aufenthaltsort lieber gewesen wäre als dieser Salon.

Die Miene des Governor war wie versteinert, als er antwortete: »Meine Frau hat in den letzten Wochen eine schwere Zeit durchgemacht und ist schwer erschöpft. Sie muss sich bei äußerster Ruhe erholen.«

»Na klar«, sagte Phil mit einem nicht zu überhörenden Anflug von Sarkasmus, »würde mir genauso gehen, wenn meine Tochter entführt worden wäre.«

Patricia legte ihre Hand auf Phils Unterarm, und aus der Anspannung ihrer Muskeln und Sehnen konnte man erkennen, dass sie alle Kraft aufwand, um meinen Partner zu bändigen.

»Entschuldigen Sie, Mister Governor«, versuchte ich meinerseits zu beschwichtigen. »In welcher Klinik befindet sich Ihre Frau zurzeit, damit wir sie vielleicht dort befragen können?«

»Im Brightwater Recreation Institute in der Nähe von Bay City«, antwortete Betgrove bereitwillig.

»Und wo ist das genau?«, fragte ich nach.

»In Michigan«, gab der Governor zurück und ich glaubte ein Grinsen in seiner Stimme zu hören. »Heute Morgen ist sie in Begleitung von Pflegepersonal dorthin geflogen«, er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, »und müsste inzwischen dort angekommen sein. Sie wird dort die beste Pflege erhalten.«

Bevor ich meinem Unmut darüber Ausdruck verleihen konnte, schaltete sich der Anwalt ein. Er öffnete seinen Aktenkoffer, nahm ein Blatt Papier heraus und reichte es mir. »Sie brauchen sich keine Mühe zu machen, nach Bay City zu fliegen, Inspektor Cotton. Dieses Attest besagt eindeutig, dass die Gattin des Governor bis auf Weiteres nicht vernehmungsfähig ist.«

Ich verzichtete darauf, das Schriftstück in Augenschein zu nehmen. »Was soll das, Mister Governor? Wollen Sie Ihre Frau als unzurechnungsfähig hinstellen? Wollen Sie behaupten, Ihre Tochter treibt sich irgendwo herum wie ein Flittchen und es besteht kein Grund, sich irgendwelche Sorgen zu machen?«

»Ich muss schon bitten, Inspektor«, ging der Anwalt dazwischen, während Betgrove weiter mit versteinerter Miene dasaß.

»Was müssen Sie bitten, Dr. Shoover?«, knurrte ich den Anwalt an. »Dass wir tatenlos zusehen, wie eine junge Frau möglicherweise dem Tod überantwortet wird, weil Ihre Eltern sie aus dunklen Gründen im Stich lassen und keinen Versuch unternehmen, sie zu retten?«

»Inspektor Cotton, Inspektor Decker, Agents, ich denke, diese Unterredung ist hiermit beendet. Das Nachspiel beginnt jetzt aber erst. Diese Unverschämtheiten gegenüber einem Vertreter der Exekutive werden für Sie alle Konsequenzen haben. Tut mir leid für Sie, Patricia. Auch Sie hätten Ihren Job besser machen sollen.«

»Wie ich meinen Job mache, sehr verehrter Herr Anwalt, ist einzig und allein meine Sache und natürlich die meiner Vorgesetzten.« Patricia war aufgestanden und musterte Shoover von oben herab, was durch den Umstand, dass sie einen halben Kopf kleiner als der Anwalt war, ein kleines Kunststück darstellte. »Und zu Ihrer Erinnerung: Wir sind Vertreter der Judikative und damit genauso unabhängig wie der Governor.«

Der folgende Abschied war kühl und schnell.

***

Es war eine kleine, aber illustre Runde, die sich im Büro von Director Fuller versammelt hatte: die vier Leiter der Field Operation Sections, ein General Attorney und ein Richter vom Bundesgerichtshof.

Assistant Director High beendete gerade seinen Vortrag. »So weit die Informationen, die ich von Inspektor Cotton aus West Virginia erhalten habe. Anscheinend hat sich der Governor innerhalb von vierundzwanzig Stunden eine perfekte Verteidigungslinie aufgebaut. Den Schachzug, nicht von einer Entführung zu sprechen, sondern die Tochter einfach als vermisst zu bezeichnen, muss man schon als genial bezeichnen. Das kommt bestimmt von dem Anwalt Shoover.«

»Dieser Mistkerl ist also auch involviert«, kam es vom General Attorney. Die Blicke sämtlicher Anwesenden richteten sich auf den Attorney.

»Das wollen wir ihn aber nicht hören lassen, George«, meinte Director Fuller mit einem angedeuteten Lächeln.

»Natürlich nicht«, gab George Quento zurück und richtete sich in seinem Sessel auf, »aber Shoover und das ganze Pack von Maygrave, Osbourne & Partner ist nur auf der Welt, um aus den Gesetzen einen Witz zu machen. Ich traue denen zu, dass sie selbst für Kain einen Freispruch und für Abel eine Verurteilung wegen Anstiftung zum Mord erreicht hätten.«

»George, es sind nicht die Personen, es sind die Gesetze«, versuchte Richter Peter Fortley seinen Kollegen zu beruhigen. Der winkte ab, nahm einen Schluck Wasser und murmelte: »Ist ja schon gut. Tut mir leid, die Herren.«

»Inspektor Cotton«, fuhr Mr High fort, »fragt nun nach Alternativen. Ich habe ihm schon angedeutet, dass es keine gibt. Was meinen Sie dazu, Richter?«

Fortley, ein leicht übergewichtiger Mann von untersetzter Statur und schütterem, ehemals dunklem Haar, schüttelte nachdenklich den Kopf. »Leider haben Sie recht, Assistant Director. Der Governor ist zu keiner Aussage verpflichtet. Er muss noch nicht einmal mit Ihren Leuten sprechen. Die Inspektoren haben kein Recht, seine Wohnung zu betreten, und so weiter. Dazu müsste erst seine Immunität vom Senat aufgehoben werden. Ziemlich unwahrscheinlich bei der Beweislage.«

»Aber wir gehen davon aus«, schaltete sich Director Fuller ein, »dass hier ein Regierungsvertreter, noch dazu ein Governor, erpresst wird. Und was mir noch bedenklicher erscheint, ist, dass wir nicht wissen, was man von ihm verlangt. Geld ja anscheinend nicht.«

»Also können wir de facto nichts machen!«, stellte Assistant Director Sheckley, der Leiter der Field Operation Section Mountain, resigniert fest.

»Nun, nicht offiziell«, schränkte der General Attorney ein und wandte sich dann an Mr High. »Wenn Sie bereit sind, die Karrieren einiger Ihrer Agents und Inspektoren zu riskieren, dann können die weiterermitteln, natürlich inoffiziell, und erwischen lassen dürfen sie sich natürlich auch nicht.«

»Inspektor Cotton hatte gehofft, den Governor zu einer Aussage unter Eid zwingen zu können«, erklärte Mr High, »bei der er dann zumindest zugeben muss, dass seine Tochter entführt wurde und nicht einfach nur vermisst ist. Und natürlich möchte er mit der Frau des Governor sprechen, um ihre Aussage, die sie gegenüber Agent Bowler gemacht hat, bestätigt zu bekommen.«

Richter Fortley schüttelte energisch den Kopf. »Das eine wie das andere ist absolut ausgeschlossen, High. Wir kommen weder an den Governor noch an seine Frau heran. Außer durch Aufhebung der Immunität.«

Der letzte Satz des Richters klang wie ein Fallbeil, das dem Gesetz den Arm abschlug.

***

Regenschleier zogen über das Farmanwesen in den Allegheny Mountains. In den letzten zwei Tagen war die Temperatur deutlich gefallen und bewegte sich nachts schon auf null Grad zu.

Die junge Frau in ihrer kargen Zelle zog die raue Wolldecke fester um ihren Körper. Das Essen, das auf dem Tablett vor ihrer Pritsche stand, hatte sie nicht angerührt. Es war ein Mikrowellengericht, das wohl eine Lasagne sein sollte. Einzig von dem Wasser in der Plastikflasche hatte sie getrunken, und jetzt war sie nur müde, schrecklich müde.

Schon längst hatte sie jedes Zeitgefühl verloren, denn manchmal, wenn sie aus ihrem erschöpfungsartigen Schlaf erwachte, wusste sie nicht, ob es noch der gleiche Tag oder schon der nächste war. Anfangs hatte sie versucht, sich an den Mahlzeiten zu orientieren, aber auch diese folgten keinem bestimmten Rhythmus. Auch das, was ihr vorgesetzt wurde, unterschied sich nicht nach Frühstück oder Mittagessen, es war immer irgendein Gericht aus der Mikrowelle.

Seit einigen Stunden sickerte Blut aus ihrem Unterleib, und das gab ihr den ersten Hinweis, wie lange sie schon gefangen war. Sie hatte ihre Periode bekommen, also musste sie schon mindestens drei Wochen in Gefangenschaft sein, selbst wenn man unterstellte, dass sich ihre Monatsblutung durch die Ereignisse etwas verschoben haben konnte.

Mit etwas Toilettenpapier wischte sie die noch dünne Blutspur ab, doch es würde mehr werden. Wie sollte sie ihren Entführern klarmachen, was sie brauchte? Bei dem Gedanken daran schauderte ihr.

Jenny hatte aufgehört, darüber nachzugrübeln, was das alles bedeutete. Man hatte sie entführt und wollte von ihrem Vater Geld erpressen, aber warum dauerte das alles so lange? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr Vater sich weigern würde zu zahlen, oder war die Summe so hoch, dass er sie nicht aufbringen konnte?

Die Kälte wurde immer unangenehmer. Sie musste unbedingt eine zweite Decke haben, sonst würde sie erfrieren, zumal sie ihre Hose ausgezogen hatte, um sie nicht durchzubluten. Notdürftig hatte sie ihre Unterhose mit Toilettenpapier ausgefüttert, das aber das Blut nicht wirklich aufsog. Jenny war verzweifelt und fühlte sich schmutzig, besudelt von oben bis unten.

Sie kauerte sich auf der Pritsche zusammen, zog die Decke ganz eng um sich. Die Kälte in ihren Füßen hatte sich schon bis zu den Knien ausgebreitet. Als sie sie aneinanderrieb, half das auch nichts mehr. Jenny schloss die Augen, atmete langsam und gleichmäßig und wartete auf den Schlaf. Als er schließlich kam, war es aber sein großer Bruder.

***

Das Klingeln meines Handys riss mich aus dem Schlaf. Draußen war es noch dunkel, also musste es noch sehr früh sein. Nachdem wir gestern aus dem Haus des Governor geworfen worden waren, anders konnte man es wirklich nicht bezeichnen, hatten wir im FBI-Büro so etwas wie eine Krisensitzung abgehalten.

Viel war nicht dabei herausgekommen, außer dass uns praktisch die Hände gebunden waren. Wir vertagten uns auf den nächsten Tag, und ich hatte Mr High angerufen, um ihn zu fragen, wie wir weiter vorgehen sollten. Er wollte die Lage mit ein paar Leuten besprechen und mich dann zurückrufen. Ich nahm an, das war der erwartete Anruf, und griff nach dem Handy.

Die Zeitanzeige auf dem Display zeigte 6:09 Uhr und eine unbekannte Nummer.

»Cotton«, meldete ich mich.

»Jerry, hier Derek …«

»Wer bitte?«, fragte ich nach, da ich mit dem Namen nichts anfangen konnte.