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Der Schinder
Phil und ich hatten vor Jahren einen Safeknacker in den Knast gebracht, doch inzwischen war Glen Simmons wegen guter Führung entlassen worden, und ausgerechnet ich, der G-man Jerry Cotton, hatte mich für ihn stark gemacht. Das schien ein Fehler gewesen zu sein, denn jetzt war bei einem Bruch ein Wachmann brutal ermordet worden, und alles wies auf Simmons als Täter hin!
Mein Partner Phil und ich wollten uns Simmons vorknöpfen ‒ und fast zu spät erkannten wir, wer unsere wirklichen Gegner waren. Eine skrupellose Bande und ihr Boss: ein Verbrechergenie, das man den Schinder nannte!
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Seitenzahl: 194
Veröffentlichungsjahr: 2019
Cover
Impressum
Der Schinder
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: quavondo/iStockphoto
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-8391-1
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Der Schinder
Phil und ich hatten vor Jahren einen Safeknacker in den Knast gebracht, doch inzwischen war Glen Simmons wegen guter Führung entlassen worden, und ausgerechnet ich, der G-man Jerry Cotton, hatte mich für ihn stark gemacht. Das schien ein Fehler gewesen zu sein, denn jetzt war bei einem Bruch ein Wachmann brutal ermordet worden, und alles wies auf Simmons als Täter hin!
Mein Partner Phil und ich wollten uns Simmons vorknöpfen – und fast zu spät erkannten wir, wer unsere wirklichen Gegner waren. Eine skrupellose Bande und ihr Boss: ein Verbrechergenie, das man den Schinder nannte!
Die Jerry Cotton Sonder-Edition bringt die Romane der Taschenbücher alle zwei Wochen in einer exklusiven Heftromanausgabe. Es ist eine Reise durch die Zeit der frühen Sechziger bis in das neue Jahrtausend.
Die zylinderförmige Lampe am Ende des biegsamen Metallrohres warf einen kreisrunden, scharf begrenzten Lichtstrahl auf das Arbeitsfeld. Ein mit Diamantsplittern besetzter Bohrer surrte auf dem harten Stahl der Tresortür, rutschte ab, riss eine Furche in den grünen Lack.
Der Mann fluchte leise. Er packte die elektrische Bohrmaschine fester, führte den scharfen Bohrer zu der winzigen Vertiefung zurück, die er zuvor in dem harten Stahl hinterlassen hatte. Dann legte er sein ganzes Gewicht gegen die Maschine. Das helle Surren wurde dunkler, dumpfer. Staubförmige Metallsplitter blitzten im Licht der Lampe, aber selbst bei diesem Druck widerstand das Material der Tür noch dem harten Bohrer.
Der Mann ließ den Schalter los, und die Maschine verstummte. Er zog den Ärmel über der Armbanduhr zurück und hielt die flache Uhr in den Lichtschein. Es war fast genau zwei Uhr. Zwei Uhr in der Nacht.
Der Mann wischte sich den Schweiß von der Stirn, setzte den Bohrer wieder an und schaltete die Maschine an. Das schrille Geräusch legte sich betäubend auf seine Ohren.
Er hörte nicht, wie hinter ihm eine Tür geöffnet wurde.
Plötzlich flammte Licht auf, und eine Stimme brüllte: »Aufhören! Hände hoch!«
Der Mann zuckte nicht einmal zusammen. Er schaltete die Maschine ab und ließ sie zu Boden fallen. Dann hob er die Arme.
»Umdrehen!«, befahl die Stimme.
Der Einbrecher wandte sich langsam um. Er hatte ein langes Gesicht mit hageren Wangen, einer schiefen Nase und einem stark vorspringenden Kinn. Aus tiefliegenden Augen musterte er den Wachmann, der ihn gestellt hatte. Der trug eine dunkelblaue Uniform und eine Schirmmütze, die sein halbes Gesicht in Schatten tauchte. Aber der Einbrecher konnte erkennen, dass der Mann alt war. Jedenfalls viel zu alt für diesen Job. Er trug einen Revolver in der mageren Faust. Der Einbrecher sah, dass der Hahn nicht gespannt war. Und er sah, dass der Alte ziemlich ratlos war.
»Hände hoch!«, rief der Wachmann, obwohl der Einbrecher bereits beide Arme in die Luft streckte. Er fuchtelte mit dem Schießeisen, eine Gebärde, die offenbar drohend wirken sollte.
Der Einbrecher verzog die dünnen Lippen zu einem flüchtigen Grinsen.
Der Alte ging vorsichtig nach links hinüber, wo das Telefon auf dem mit Papieren überladenen Schreibtisch stand. Der Einbrecher rührte sich nicht. Der Alte grapschte mit der linken Hand nach dem Hörer, presste ihn dann mit der Schulter an sein Ohr, lauschte. Das Gesicht verzog sich in ungläubigem Staunen, leicht hervorquellende Augen richteten sich auf den Mann vor dem Tresor, huschten dann an dem Kabel entlang bis zu einer Stelle unten an der Wand, saugten sich an dem herausgerissenen Ende des Kabels fest.
Der Alte legte den Hörer zurück. Die Muskeln in dem spitzen Gesicht waren vor Anspannung erstarrt. Vorsichtig wich er zur Wand zurück, schob sich auf die Tür zu.
Der Einbrecher rührte sich nicht. Mitleidlos folgte sein Blick der schmächtigen Gestalt des alten Mannes, der sich langsam durch die Tür schob. Der Raum dahinter war stockfinster. Der Einbrecher wusste genau, was in dem Raum war. Gerümpel, Kisten mit Konserven, gestapelte Getränkekästen.
Und Brisco, der hinter einem Regal lauerte.
Der Alte schob einen Schlüssel ins Schloss. Der Einbrecher bemerkte, dass die Finger zitterten.
Hinter dem Alten ertönte ein schriller Pfiff. Der Wachmann fuhr herum, sein Arm mit dem Revolver flog in die Höhe, der Daumen glitt über den Hammer, versuchte noch, die Waffe zu spannen.
Dann zerrissen die beiden Schüsse die Stille. Die Kugeln schlugen in den mageren Körper des Alten, warfen ihn in den kleinen Büroraum zurück. Der Alte prallte mit dem Rücken gegen den Schreibtisch und brach dann zusammen.
Der Einbrecher nahm die Hände runter. Er raffte die Bohrmaschine, die Magnetlampe und eine Schachtel mit Bohrern zusammen, stopfte alles in einen alten Seesack, den er sich über die Schulter warf. Er streifte den Safe mit einem letzten prüfenden Blick. Nur einige Kratzer im Lack und die Andeutung eines Bohrlochs zeigten, dass jemand unberechtigterweise versucht hatte, den Safe zu öffnen.
Er grinste, als er Briscos Blick begegnete. Brisco lehnte im Türrahmen, den Revolver hatte er noch in der Faust. Brisco war ein großer, schwerer Kerl mit stacheligem rotem Haar auf dem kantigen Schädel.
»Das Ding hättest du nie geknackt«, sagte Brisco. »Nie, und wenn du eine Woche Zeit gehabt hättest!«
»Nee!«, bestätigte der Hagere gut gelaunt. »Aber wofür gibt es denn Spezialisten?«
Brisco schaltete das Deckenlicht aus. Dann verließen die beiden Männer den Supermarkt am Sandford Boulevard in Mount Vernon.
***
Als ich morgens um acht meinen Dienst antrat, befand sich die Meldung von dem Mord an dem Nachtwächter als eine von vielen unter den Nachrichten, die sich auf meinem Schreibtisch stapelten. Mein Freund und Kollege Phil Decker traf wenig später ein, und gemeinsam gingen wir die Routinemeldungen durch.
Ich las das Fernschreiben der Polizeibehörden von Mount Vernon und hätte es wie alle anderen abgelegt, wenn mir nicht ein Name aufgefallen wäre.
»Glen Simmons«, sagte ich nachdenklich. »Erinnerst du dich an den?«
Phil runzelte die Stirn. »Ich brauch ’n Stichwort.«
»Als wir ihn vor sechs oder sieben Jahren erwischt haben, hatte er rund zwei Dutzend Tresore geknackt … Alles Paterson-Morris-Safes.«
»Richtig!«, rief Phil. Es hörte sich so an, als ob er nur mühsam seine Bewunderung für diesen Mann unterdrückte. »Der Junge konnte was!«
»Er kann’s immer noch«, seufzte ich enttäuscht. »Und nicht nur das – er hat einen Wachmann umgelegt.«
»Kaum zu glauben«, murmelte mein Freund. »Was war los?«
»Einbruch in einem Supermarkt in Mount Vernon. Simmons wird überrascht, erschießt den Wächter und flieht.«
»Woher weiß man, dass Simmons …«
»Sie haben einen Tipp bekommen, einen anonymen Anruf …« Vielleicht hatte er diesmal einen Partner, dachte ich. Einen, der bei Mord nicht mehr mitspielte. Nein, so einfach war das nicht.
Ich angelte das Telefon zu mir heran und rief das Archiv an. Der alte Neville meldete sich sofort.
»Hallo, Neville! Ich brauche die Akte Glen Simmons.«
Neville stieß einen Pfiff aus. »Ist er wieder aktiv? Er hat doch gesessen bis … Warte mal! Er ist schon seit vier Jahren wieder frei! Wegen guter Führung und wegen einiger Leute, die sich für ihn eingesetzt haben!«
»Richtig!«, knurrte ich. Einer der Leute, die sich für Simmons eingesetzt hatten, war ich gewesen. Simmons hatte im Gefängnis ein Fernstudium begonnen, und zwar mit besten Zensuren. Daraufhin war er unter Vorbehalt entlassen worden, damit er seine Studien an der New Yorker Universität fortsetzen konnte.
»Hat er wieder was ausgefressen?«
»Ich weiß es nicht. Schick seine Akte her!« Dann wählte die Zentrale an und bat Myrna, unsere Telefonistin mit der aufregend rauchigen Stimme, um eine Verbindung mit der Polizei von Mount Vernon.
Noch bevor die Verbindung zustande kam, brachte ein Bote die Akte Simmons. Ich schlug sie auf und nahm die Karteikarte heraus. Glen Simmons, weiß, 29 Jahre alt, Stahlbauingenieur. Also hatte er sein Studium beendet. Anschrift: 150 Hamilton Lane, Quaker Ridge, Greenwich, Connecticut.
Da hatten wir es. Simmons wohnte kaum zwanzig Meilen vom Tatort entfernt! Aber er wohnte erst seit knapp zwei Wochen dort. Weil er immer noch unter Bewährungsaufsicht stand, musste er jede Änderung seiner Lebensumstände, wie es so schön heißt, umgehend melden.
Das Telefon rasselte. Ich fragte nach dem Beamten, der den Mord in dem Supermarkt bearbeitete, und wurde mit Captain Bud Fisher verbunden.
»Jerry Cotton, FBI New York«, sagte ich. »Guten Morgen, Captain! Ich lese, dass Sie einen Mord hatten. Gesucht wird ein Mann namens Simmons. Ist das so richtig?«
»Ja, leider, Mister Cotton. Scheußliche Sache. Der Nachtwächter war neunundsechzig Jahre alt. Er musste immer noch arbeiten, weil er eine gelähmte Frau zu versorgen hat …«
»Haben Sie Simmons schon erwischt?«
»Nein. Die Fahndung läuft aber.«
»Erzählen Sie mal mehr«, forderte ich Fisher auf.
»Gegen drei bemerkte eine Streife, dass in Warren’s Supermarkt eine Tür offen stand. Die Beamten drangen ein und fanden den Toten. Er hieß Nat Gump. Um vier brachte der örtliche Sender schon die Nachricht, und zehn Minuten nach vier rief jemand an. Wir sollten diesen Simmons mal überprüfen, sagte der Anrufer. Simmons sei einschlägig vorbestraft und lebe über seine Verhältnisse. Ich habe zwei Streifenwagen losgejagt, aber die Adresse, die der Anrufer genannt hatte, stimmt nicht mehr.«
»Er wohnt ein paar Meilen weiter«, sagte ich. »In Greenwich, Connecticut.«
»Mist«, knurrte der Captain. »Dafür brauchen wir das FBI.«
Er hatte recht. Mount Vernon, an der nördlichen Stadtgrenze New Yorks, liegt im Staat New York. Einige Meilen nordwestlich, hinter Port Chester, beginnt der Nachbarstaat Connecticut.
»Okay, Captain«, sagte ich. »Wir kümmern uns drum. Ich rufe an, sowie ich mit Simmons gesprochen habe.«
Captain Fisher atmete hörbar auf. »Danke, G-man.«
»Captain, eine Frage – was war das für ein Safe, der in dem Supermarkt geknackt werden sollte?«
»Ein Paterson-Morris-Safe. Warum?«
»Ach, nur so. Bis dann, Captain!«
»Du reißt dich auch um jede Arbeit!«, maulte Phil, der an die Fahrt nach Greenwich dachte.
»Erst reden wir mit dem Chef«, entschied ich. »Vielleicht schaltet er die Kollegen aus Connecticut ein.«
***
Etwa um diese Zeit – es war halb neun – verließ der gepanzerte Geldtransportwagen den Hof der New Yorker Hauptzweigstelle der National City Bank. Der Wagen, ein an sich unauffälliger Dodge-Kleintransporter mit Kastenaufbau, ordnete sich in den Verkehr auf der 14th Street ein, um den East Side Highway östlich von Stuyvesant Town zu erreichen.
Die Besatzung bestand aus zwei kampferprobten Männern, Frank Vanderloo und Victor Rosetta, die sich blind aufeinander verließen. Beide waren Anfang Vierzig, und beide hatten es bei der City Police in den rauesten Revieren der Stadt bis zum Sergeant gebracht, bevor sie in die Dienste der National City Bank getreten waren. In dem grauen Dodge fühlten sich die Männer vollkommen sicher.
Die Männer saßen hinter schusssicherem Glas und gepanzertem Stahl, ihr Funkgerät verband sie ununterbrochen mit der Funkleitstelle der City Police New York. Doch selbst wenn es Gangstern gelingen sollte, den Außenpanzer zu überwinden, würden sie schnell merken, dass sie mit Zitronen gehandelt hatten. Ein zwar kleiner, aber hochmoderner Paterson-Morris-Safe war fest auf der Ladefläche verschweißt. Der Safe verfügte über ein Kombinationsschloss und über ein Schlüsselschloss, die praktisch nicht zu knacken waren.
Der Wagen und der Safe waren also den beträchtlichen Mengen Bargeld, die darin befördert wurden, durchaus angemessen. Der Dodge verkehrte täglich zwischen Manhattan und den Hauptstädten der beiden Bundesstaaten Connecticut und Rhodes Island.
An diesem Tag saß Frank Vanderloo am Steuer, ein schweigsamer, fast kahlköpfiger Mann mit deutlichem Bauchansatz unter der engsitzenden Uniformjacke. Er folgte dem East Side Highway an der Ostseite Manhattans entlang, an Harlem vorbei, blieb auf dem Highway und wechselte erst am High Bridge Park auf den Cross Bronx Expressway, der direkt auf den New England Thruway zuführte.
Um diese Zeit waren die breiten Highways nicht sehr stark befahren. Nur hin und wieder überholte sie ein Personenwagen, noch öfter fuhren sie selbst an einem langsamer dahinrollenden Truck vorbei.
Hinter dem Westchester Creek fuhr Vanderloo die Rampe zum New England Thruway hinauf. Am Gebührenschalter löste er ein Ticket für zweieinhalb Dollar, schob die Quittung hinter den Innenspiegel und verriegelte das Seitenfenster wieder, bevor er erneut Gas gab.
Die Straße stieg an, hier und dort sahen Vanderloo und Rosetta rechts das stahlgraue Wasser des Lang Island Sound schimmern. Hinter Norwalk – das war schon mitten in Connecticut – lief der Highway über eine Strecke von zwei Meilen oben auf dem Kliff über der See entlang. Die Felsen fielen hier mehr als vierhundert Fuß steil ab.
Rosetta blickte hinaus, wandte jedoch sofort den Kopf wieder nach vorn. An diesen Anblick würde er sich nie gewöhnen, und wenn er die Strecke noch zwanzig Jahre lang fahren musste.
Frank Vanderloo lächelte. Er kannte die Schwäche seines Kollegen, aber er sagte nichts. Er beschleunigte ein wenig, bis er das Stück Weges hoch am Rande des Kliffs hinter sich hatte.
Die Straße beschrieb einen verhältnismäßig engen Bogen, deshalb war die Höchstgeschwindigkeit hier auf sechzig Meilen beschränkt. Der Verkehr floss immer noch dünn, wie immer im Herbst. Die Gegenfahrbahn war durch einen breiten, dicht mit Büschen bewachsenen Mittelstreifen abgetrennt, und mehrere Sekunden lang befand sich der graue Dodge allein auf der Fahrbahn in östlicher Richtung …
***
Nick Gallagher ließ den Feldstecher sinken. »Mann, das wäre eine Gelegenheit gewesen«, sagte er leise und reichte das Glas an Nomey weiter.
Nomey verstellte die Brücke etwas, bis die Okulare für seine eng zusammenstehenden Augen richtig standen. Dann liefen seine großen Ohren rot an.
»Klar, Boss! So kommt’s nicht wieder!«, bestätigte Nomey.
Gallagher riss dem anderen das Fernglas unwillig aus der Hand. »So war’s fast jeden Tag!«, sagte er und presste das Glas wieder an seine Augen. Unten, auf der schimmernden Betonbahn des Highways, schnurrte der graue Dodge gerade in weitem Bogen aus dem Blickfeld der beiden Männer. Und erst dann tauchte ein weiterer Wagen auf.
Gallagher schlug den Kragen seiner Pelzjacke hoch. Hier oben fegte ein scharfer Wind über das Plateau. Er verstaute das Fernglas unter der Jacke und wandte sich dann ab. Der Plan war in allen Einzelheiten fertig.
Gallagher schlug die Richtung zu dem schmalen Trampelpfad ein, der zu der kleinen Fischersiedlung östlich von Saugatuck hinunterführte. Nomey folgte seinem Boss. Nick Gallaghers breite, gedrungene Gestalt stemmte sich gegen den Wind, der in seinen gelben Haaren zerrte. Er hatte einen kantigen Schädel mit hoher Stirn und helle, wachsame Augen unter buckligen Stirnhöckern. Nick Gallagher – der Name stimmte übrigens nicht – war neunundvierzig Jahre alt, aber er verfügte über die Kraft eines Bullen und über die gebändigte Energie eines Atommeilers.
In gewissen Kreisen war er unter dem Spitznamen »Der Schinder« bekannt, denn er hatte starke sadistische Neigungen, die er auch auslebte, an jenen, die ihm hilflos ausgeliefert waren. Doch davon ahnten seine Handlanger nichts. Hätten sie gewusst, dass Gallagher der Schinder war, hätten sie sicherlich nicht mit ihm zusammengearbeitet, sondern hätten Reißaus genommen. Denn der Schinder war dort, wo sie herkamen, berüchtigt und gefürchtet.
Am Fuße des Hügels stand der schwarze Ford, den Gallagher während der Vorbereitungen für das geplante Ding benutzte. Nomey klemmte sich hinters Steuer und fuhr los. Die schmale Strandstraße wand sich weiter den Berg hinab und mündete dann auf eine betonierte Fahrbahn, die auf die Straße nach Westport mündete.
Kurz vor Westport schwenkte er auf einen schmalen Feldweg ein, der auf dem Gelände einer verlassenen Farm endete. Nomey steuerte den Ford hinter das niedrige Haupthaus und schaltete den Motor ab.
Gallagher sprang aus dem Wagen und betrat das Haus. In dem großen Wohnraum zog er seine Jacke aus, warf sie über einen Stuhl und starrte die anwesenden Männer einige Sekunden lang stumm an.
Die Männer waren bei Gallaghers Eintreten verstummt. Einer von ihnen war Brisco, neben ihm saß Willie Amsden, der Hagere, und vor dem Kamin hockte ein hünenhafter Kerl auf dem Boden, dessen mächtige Muskelpakete sich unter dem engen Pullover deutlich abzeichneten. George war ehemaliger Boxer, doch er hatte während seiner Profikarriere offenbar ein paar Schläge zu viel an den Kopf bekommen. Oder er hatte schon immer den Verstand eines Kindes gehabt. Eine dümmliche Kampfmaschine, die keinerlei Skrupel kannte.
Nomey wieselte durch den Raum auf die anschließende Küche zu und schlug die Tür hinter sich ins Schloss.
Nick Gallagher blickte Brisco starr an. »Morgen kann’s losgehen«, sagte er schließlich. »Der Spezialist wird heute noch eintreffen.«
»Dieser Simmons?«, erkundigte sich Brisco. »Es hat also geklappt?«
»Es wird klappen«, versicherte Gallagher ruhig. »Was ich plane, hat bisher immer geklappt. Ihr solltet daran denken.«
Gallagher war es gelungen, eine Mannschaft der rauesten Burschen zusammenzustellen, die zurzeit frei an der Ostküste herumliefen. Zwei dieser Kerle waren unterwegs – sie hatten die Aufgabe, Simmons zu holen. Simmons, den einzigen Menschen, der in der Lage war, den rollenden Tresor zu öffnen. Wenigstens glaubte Gallagher daran. Brisco hatte so seine Zweifel. Auch er hatte in seiner bisherigen Laufbahn schon einige Büchsen aufgemacht, aber er war weit davon entfernt, sich für einen Könner zu halten.
»Was ist, wenn Simmons es nicht schafft?«, fragte er.
Gallagher starrte Brisco immer noch an, doch jetzt wurde sein Blick eiskalt. »Simmons kann’s, und er wird’s tun. Er wird schließlich Zeit haben.« Gallagher sah auf die Uhr. »Die Sache läuft. Von jetzt an gibt’s kein Zurück mehr.«
»Wer will denn zurück?«, fragte Brisco. Er sah sich lachend um. Niemand erwiderte sein Lachen. Brisco verstummte. »Für zweihunderttausend Dollar Garantie kann man einiges wagen, was, Willie?«
Der Hagere nickte nur. Er legte sich im Sessel zurecht und schloss die Augen.
Gallagher stapfte durch den Raum. Abseits von den anderen, in der Ecke neben dem hohen Fenster, stand ein gebrechlich wirkender Schreibtisch. Diesen Platz hatte Gallagher zu seinem Lieblingsplatz erkoren. Er setzte sich, stützte den Kopf in die Hände und starrte auf den Zeitplan, den er vor sich ausgebreitet hatte.
Brisco beobachtete George, der aufgestanden war. Er ging mit wiegenden Schritten zur Kommode hinüber und schaltete das Transistorradio ein. Er suchte auf der Scala herum, bis laute Pop-Musik ertönte. Er drehte die Lautstärke voll auf, bis die Gläser in der Kommode zu klirren begannen.
Gallagher blickte auf. »Schalt das Ding ab!«
Seine Stimme klang ruhig. Brisco starrte George an.
Der wiegte sich im Takt der Musik, schien Gallagher gar nicht gehört zu haben. Besorgt ließ Brisco seine Blicke zwischen Gallagher und George hin und her wandern. Jetzt würde es wohl zu einer Kraftprobe kommen, dachte Brisco erwartungsvoll, doch dann kamen ihm die möglichen negativen Auswirkungen zu Bewusstsein. Falls Gallagher den Kürzeren zog, brach die ganze Bande auseinander, und der verdammte Tresor würde noch Jahre oben über das Kliff rollen.
»Du sollst das Ding abschalten!« Gallaghers Stimme klang gefährlich rau, seine Stirn färbte sich dunkel.
George drehte Gallagher den Rücken zu. Gallagher stand auf. Mit einem Ruck schob er den Schreibtisch zurück, der Stuhl fiel polternd um.
George schnippte mit den Fingern im Takt der Musik.
Gallagher schob sich näher, unaufhaltsam und mit der Entschlossenheit eines Flusspferdes. Gallagher mochte zwar gut in Form sein für sein Alter, dachte Brisco, aber George als ehemaliger Berufsboxer war ihm körperlich weit überlegen. Brisco sah eine Katastrophe auf sich zukommen.
Brisco stand auf, schob sich vor Gallagher. George drehte sich gerade um, und als er die Drehung vollendet hatte, stand Brisco vor ihm.
George riss die Augen auf. Brisco rammte ihm das Knie zwischen die Beine. George schrie auf, klappte zusammen. Brisco riss sein Bein ein zweites Mal hoch. Diesmal traf das Knie Georges Kinn.
George brach zusammen und rührte sich nicht mehr.
Gallagher blickte Brisco missbilligend an. »Ich wäre auch mit ihm fertiggeworden«, grollte er.
»Schon gut, Nick«, meinte Brisco. »George ist gefährlich, aber wir brauchen ihn. Da ist es besser, wenn er von mir ein Ding verpasst bekommt anstatt von dir.«
Gallaghers breite Brauen schossen in die Höhe, er verstand offenbar nicht.
Brisco lächelte. »Wenn George auf mich sauer ist, schadet das nichts …«
Gallagher, der Schinder, kniff die Lider zusammen, nickte dann und wandte sich abrupt um.
***
Hinter Port Chester brach die Sonne erst zögernd, dann hell und klar durch die Wolken und tauchte die Landschaft in freundliches Licht.
In Greenwich verließ ich den Highway und steuerte meinen roten Flitzer durch die Stadt. John D. High, Chef des FBI New York, hatte Phil und mich beauftragt, Glen Simmons’ Alibi zu überprüfen und der anonymen Beschuldigung gegen den Mann nachzugehen.
Phil kurbelte das Fenster auf seiner Seite herunter, und als ich anhielt, fragte er einen Cop nach dem Weg. Der Vorort Quaker Ridge war nicht schwer zu finden, er liegt hinter der Staatsstraße 15 zwischen dem Byram River und dem Rockwood See. Die Häuser lagen in hübschen Vorgärten, manche tief in weiten Parks, wo von ihnen nur die Dachfirste zu sehen waren und manchmal nicht einmal die. Quaker Ridge war bereits New England. Grün und ruhig und gediegen.
Die Hamilton Lane entpuppte sich als eine breite Villenstraße. Hohe Linden mit breiten Laubdächern überdachten die Fahrbahn. Auf den Gehwegen lag hoch das farbige Laub. Die Straße schien irgendwie verzaubert. Es war eine Straße, wie es in Manhattan keine mehr gab. Sorgfältig gestutzte Hecken schirmten die Grundstücke zur Straße hin ab.
Ich entdeckte die Nummer 150 an einem Mauerpfosten neben einem schmiedeeisernen Tor, das offen stand und den Blick auf eine kiesbestreute Einfuhrt und ein schneeweißes, zweistöckiges Holzhaus freigab.
Ich lenkte meinen Jaguar in die Einfahrt und stoppte vor der breiten Haustür. Noch bevor wir ausgestiegen waren, wurde die Tür geöffnet, und eine ältere Frau mit strengen Gesichtszügen stand im Rahmen. Sie hatte das braune, von einigen grauen Strähnen durchzogene Haar im Nacken zu einem Knoten gebunden. Das Gesicht war nicht geschminkt. Ohne ein Wort sah sie uns entgegen.
»Guten Morgen, Ma’am«, grüßte ich höflich.
»Guten Morgen«, erwiderte sie meinen Gruß.
»Hier wohnt Mister Simmons?«, erkundigte ich mich, und als die Frau nickte, sagte ich: »Können wir ihn sprechen?«
»Er ist nicht hier. Kann ich etwas ausrichten?«
Ich zögerte einen Augenblick. »Wo können wir ihn treffen?«, fragte ich dann. »Es ist ziemlich wichtig.«
Die Frau musterte mich. »Sie sind von der Polizei?«
»FBI«, erklärte ich. »Mein Name ist Cotton, das ist mein Kollege Phil Decker. Wir haben ein paar Fragen an Mister Simmons …«
»Kommen Sie bitte herein«, forderte die Frau uns plötzlich auf.
Phil warf mir einen verwunderten Blick zu, aber wir folgten beide der Aufforderung.
Die Frau führte uns in eine mit schweren dunklen Möbeln eingerichtete Halle. Das riesige Portrait eines alten Mannes hing alles beherrschend an einer Wand. Ein kleines Metallschild unten am Rahmen gab Auskunft, um wen es sich handelte – um Josuah Norman Jensen, der von 1849 bis 1926 gelebt hatte.
»Ich bin Mrs. Jensen«, sagte die Frau. »Das war der Großvater meines Mannes«, verriet sie, auf das Bild deutend. »Er hat die Jensen-Stahlwerke gegründet. Bis auf ein paar Aktien gehören sie uns nicht mehr. Mister Simmons arbeitet bei Jensen-Krananlagen. Hat er Schwierigkeiten?«
Mich irritierte der unvermittelte Gedankensprung ein wenig. Phil lächelte smart. »Wir brauchen eine Aussage von ihm, Ma’am. Können wir ihn in der Firma erreichen?«
»Ich denke ja. Verzeihen Sie meine Neugier, meine Herren. Wir sind mehr als sozial eingestellt, und Mister Simmons ist nicht der erste ehemalige Sträfling, dem wir eine Chance gegeben haben. Aber bei Mister Simmons handelt es sich um einen besonders gelagerten Fall …« Mrs. Jensen verstummte, das Gesicht war ausdruckslos.
»Wieso?«, fragte ich schließlich, nachdem keine Erklärung folgte.
»Marion will diesen Mann heiraten. Marion ist meine Tochter. Mein Mann ist in dieser Hinsicht einfach zu lax. Er vertraut ihm. Deshalb wohnt er auch hier. Ich hätte das nie zugelassen, nie!«