1,99 €
Die Sklavinnen von Manhattan
Prostitution war in New York verboten. Aber sie blühte natürlich auch bei uns: straff organisiert, fest in den Händen skrupelloser Syndikate.
Wir vom FBI wussten, wozu diese Gangster imstande waren, wenn jemand ihre schmutzigen Geschäfte störte.
Als ihnen ein alter, verzweifelter Mann in die Quere kam, der diesen Bestien seine Tochter wieder aus den Klauen reißen wollte, erwürgten sie ihn auf offener Straße.
Da legten Phil und ich los, mit uns unsere Kollegen vom New Yorker FBI. Und dann fanden wir sie - die Sklavinnen von Manhattan ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 172
Veröffentlichungsjahr: 2019
Cover
Impressum
Die Sklavinnen von Manhattan
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: Adam Radosavljevic/shutterstock
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-8857-2
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Die Sklavinnen von Manhattan
Im New Yorker Stadtteil East Village blühte die Prostitution. Eigentlich fiel das nicht in die Zuständigkeit des FBI, doch einer dieser miesen Zuhälter schreckte vor keinem Verbrechen zurück, um in Manhattan der König der »Pimps« zu werden, wie man diese Schufte nannte. Sogar Minderjährige zwang er auf den Strich, machte sie zu seinen Sklavinnen und zerstörte ihr Leben für immer. Als er dann einen alten Mann ermordete, der nach New York gekommen war, um seine geliebte Tochter dieser Bestie zu entreißen, gab es für mich, den G-man Jerry Cotton, kein Halten mehr!
Die Jerry Cotton Sonder-Edition bringt die Romane der Taschenbücher alle zwei Wochen in einer exklusiven Heftromanausgabe. Es ist eine Reise durch die Zeit der frühen Sechziger bis in das neue Jahrtausend.
Er stand an der Tankstelle kurz hinter Phillipsburg, am Rande des Interstate Highway 78, und sah zum Gotterbarmen aus.
Dennoch wäre ich nie auf die Idee gekommen, ihn mitzunehmen, denn er wirkte eigentlich nicht wie ein Anhalter. Eher wie ein alter Mann, der am Straßenrand steht und Sehnsucht nach einer Ferne hat, die er nie erobern kann.
Aber ich musste tanken.
Der Tankwart war ein Witzbold. »Säuft dieser Jaguar ganz gewöhnliches Super, oder soll ich ihm ein paar rohe Hamburger mit reinstecken?«
»Lieber nicht«, sagte ich. »Ich habe einmal bei Ihnen Hamburger gegessen – der Wagen würde das nicht überleben.«
Jetzt war der Tankwart beleidigt.
Der alte Mann wollte schon wieder abdrehen, weil er meine bissige Antwort wohl mitgehört hatte. Doch er überlegte es sich.
»Verzeihung, Sir«, sagte er, »Fahren Sie nach New York City? Nehmen Sie mich doch mit, bitte. Wissen Sie, da war ein netter junger Mann, der hat mich dreihundert Meilen weit mitgenommen, aber hier war Endstation. Und ich …«
»Wenn Sie in den Wagen reinkommen, Mister, okay …«
Um ein Haar hätte er mir die Hände geküsst.
Der Tankwart hingegen war immer noch sauer. Nicht mal ein Trinkgeld nahm er von mir. Ich hatte seine Hamburger beleidigt, aber sie hatten mir seinerzeit wirklich nicht geschmeckt.
Wir fuhren los. Als ich mich wieder auf meiner Fahrspur befand, sah ich den Mann an. »Was wollen Sie denn in New York?«
»Ach …«, sagte er.
Und eine halbe Meile später: »Meine Tochter. So ein hübsches Ding. Jung. Bildhübsch. Unverdorben. Ich muss sie finden!«
»Mann«, sagte ich. »Wissen Sie, wie groß New York ist?«
»Ja«, sagte er. »Elf Millionen. Oder zwölf.«
»Wissen Sie, wo Ihre Tochter ist?«
»Nein«, sagte er.
Darauf wusste ich wirklich nichts mehr zu sagen.
Er auch nicht.
An der 57th Ecke Amsterdam Avenue ließ ich ihn aussteigen.
»Gehen Sie hundert Schritte geradeaus.« Ich deutete in die Amsterdam Ave. »Auf der rechten Seite ist ein Hotel. Clooneys Familienhotel. Einfach, sauber, billig. Ruhen Sie sich aus. Und dann fahren Sie wieder nach Hause. Ich sorge dafür, dass Sie das Fahrgeld bekommen. Wie heißen Sie?«
»Maker«, sagte er. »Danke, Sir.«
Er ging die Amsterdam Ave entlang, in Richtung Hotel.
Neunzehn Stunden später sah ich ihn wieder. Er war nackt, lag in einem Kühlfach und hatte am linken großen Zeh ein Pappschild mit einer Nummer und dem Vermerk: »Unknown«.
Unbekannt.
Er war erwürgt worden. Mit bloßen Händen erwürgt.
***
»Wieso haben Sie mich angerufen?«, fragte ich Emerson, den Verwalter des Leichenschauhauses.
»Deshalb«, sagte er und schob mir einen Zettel über den Tisch.
Notizpapier, billigste Sorte. Holzig. Blau liniert.
Auf dem Zettel stand meine Autonummer. NY 3175.
Und eine Zusatzbemerkung: »Jaguar, rot, Sportw.« Noch eine Nummer stand dort.
4849 EW. Penna.
Ich fuhr in unsere Dienststelle zurück, ging an mein Telefon und rief die Kollegen in Philadelphia an.
»4849 EW«, sagte ich. »Stellt mal fest, wem der Wagen gehört. Ich warte.«
Es dauerte vier Minuten.
»Robert Fletcher, genannt Bobby, Amerikaner, weiß, männlich, vierundzwanzig Jahre alt, wohnhaft 48 Country Drive, Bethlehem, Penna. Ehrenhaft aus der Army entlassen, keine Vorstrafe, kein Ermittlungsverfahren.«
»Danke. Ihr seid ’ne Wucht.«
Zwei Minuten später meldete sich die Bethlehem-Police.
»Cotton, FBI New York«, sagte ich. »Wollen Sie zurückrufen?«
»Glaube Ihnen auch so, dass Sie echt sind, Sir«, sagte der Polizist. »Ob ich doch noch misstrauisch werde, hängt von Ihren Fragen ab.«
»Keine Frage. Bei Ihnen, 48 Country Drive, wohnt ein gewisser Bobby Fletcher.«
»Moment«, sagte der Bethlehem-Kollege, »liegt etwas gegen ihn vor?«
»Nein, nur eine Frage.«
»Bobby Fletcher, 48 Country Drive, ist nämlich zufällig mein Sohn!«
»Wie der Zufall doch so spielt!«, meinte ich überrascht. »Aber keine Sorge, Kollege – das ist wirklich nur eine Frage. Ich habe einen Anhalter von Phillipsburg bis nach Manhattan mitgenommen. Vorher scheint der Mann von Ihrem Bobby ungefähr dreihundert Meilen weit mitgenommen worden zu sein. Ich muss wissen, woher der Mann kam. Er ist nämlich tot. Ermordet.«
»Ach du Schande.«
»Der Mann hat hier seine Tochter gesucht. Vermutlich deshalb wurde er umgebracht. Ich will den Mörder suchen. Aber ich weiß nicht einmal, wie der Mann hieß, woher er kam, wie seine Tochter heißt und so weiter.«
»Sie können Bobby anrufen. Ich gebe Ihnen meine Privatnummer …«
Eine Minute später hatte ich Bobby Fletcher am Apparat.
»Bobby, den Mann, den Sie gestern an der Esso-Tankstelle in Phillipsburg abgesetzt haben, hab ich mitgenommen bis nach Manhattan. Inzwischen wurde er umgebracht.«
»O verdammt«, sagte er, »der arme Teufel.«
»Wo hatten Sie ihn aufgegabelt?«
»Winchester, West Virginia. Aber er kam von weiter her.«
»Woher?«
»Keine Ahnung. Er hat mir nur erzählt, dass er vier Stunden auf der Ladefläche eines Viehwagens zugebracht hätte. Ein Viehhändler aus Winchester habe ihn mitgenommen.«
»Hat er etwas über seine Tochter gesagt?«
»Ja«, sagte Bobby Fletcher. »Bildhübsch, sagte er, jung und unverdorben. Er müsse sie finden.«
»Sonst nichts?«
»Nein.«
Ich rief die West-Virginia-Kollegen an und ließ sie Viehhändler suchen. Innerhalb von sieben Stunden fanden sie einen, der Tobbey hieß und aussagte, einen alten Mann von Weston, West Virginia, nach Winchester mitgenommen zu haben.
Ich führte noch ein Telefongespräch. Mit Helen, der Sekretärin von Mr. High, unserem Chef.
»Hast du Dienstreiseanträge da?«, fragte ich.
»Jede Menge. Du kennst doch unseren Papierkrieg.«
»Eben«, sagte ich. »Füll doch bitte mal einen für mich aus. Ziel: Weston, West Virginia. Grund: Ermittlungen bezüglich des Mordes an Unbekannt, Vorname unbekannt, letzter Wohnort Weston, ermordet in New York City am – Datum von gestern.«
»Sofort?«, fragte sie.
»Sofort. Motor läuft bereits!«
Als ich in das Chefvorzimmer kam, lächelte mich Helen an. »Schon fertig. Bei ihm.«
Mr. High schaute mich fragend an.
»Sie wissen, dass Ihnen zweiundsiebzig dienstfreie Stunden zustehen«, sagte er.
»Drei Tage Nichtstun laufen mir nicht weg. Mörder sind da anders. Mörder, die es fertigbringen, einen alten, ausgebrannten, bettelarmen Mann mit bloßen Händen zu erwürgen.«
Ich erzählte ihm kurz, was ich wusste, und ich zeigte ihm die Fotos, die mir der Erkennungsdienst der City Police von dem alten Mann angefertigt hatte. Einmal ungeschminkt, mit Würgemalen. Und einmal retuschiert, die Rekonstruktion des toten Mannes in den noch lebenden.
Mr. High nickte.
»Fahren Sie vorsichtig, Jerry«, sagte er nur.
***
Das Haus war sicherlich teuer gewesen. Links vom Eingang befand sich ein Swimmingpool. Rechts stand ein Gebäude, das wie eine kleine Fabrik aussah, aber aus den kleinen Fenstern blökte und grunzte es.
Stallungen.
Im Haus roch es nach Schweinekot und Kuhmist.
»Ich bin Tobbey«, sagte der Mann, der mich empfing. Er war mindestens dreihundertvierzig Pfund schwer, hatte Kuhaugen, eine Haut, so rosig wie ein Ferkelhintern, und einen Händedruck, der zeigte, dass er stark war wie ein Stier.
»Ich bin Cotton vom FBI.«
»Raus!«, sagte Tobbey. »Oder haben Sie einen Hausdurchsuchungsbeschluss? Oder einen Haftbefehl?«
»Nichts«, gab ich zu. »Aber eine Frage habe ich. Nicht die, die Sie meinen. Antibiotika interessieren mich nicht.«
Er zuckte zusammen, und ich wusste, dass ich recht hatte. Der Viehhändler behandelte das Vieh mit verbotenen Arzneien.
»Sie!«, schnaufte er. »Ich kann Ihnen gewaltige …«
»Ist er das?«, fragte ich und hielt ihm das retuschierte Foto des alten Mannes vor die Nase.
»Der Scheißkerl!«, fluchte Tobbey.
»Wieso?«
»Er ist doch an allem schuld! Gestern kam einer von Ihrem Verein!«
»Ich bin im Basketballverein, im Boxclub, im …«
Er winkte wütend ab. »Von Ihrem FBI. Ja, und der fuhr einen Chevy wie unser Tierarzt. Ich dachte, es sei Burner – so heißt der Viehdoc – und wollte ihm helfen. Deshalb nahm ich eine Packung mit diesen Pillen und ging rüber in den Stall. Was passiert? Ihr Kollege behauptet, ich hätte das Zeug verbotenerweise dem Vieh verabreicht. Dabei kam er nur, um nach dem Anhalter zu fragen. Jetzt habe ich …«
»Kennen Sie ihn?«, unterbrach ich sein Klagelied. »Den Anhalter …?«
Er schüttelte heftig den Kopf. »Ich? So einen?«
»Nehmen Sie öfter Leute mit?«
»Ist das verboten?«, fragte er zurück.
»Nein.«
»Na also.«
»Er ist tot«, sagte ich nach einer kurzen Pause. »Mord!«
Er riss die Augen weit auf und rang nach Atem. Wie von einer unsichtbaren Kraft bewegt ging er langsam rückwärts, um sich schließlich in einen hölzernen Sessel fallen zu lassen.
»Mord? Wo?«
»New York.«
Er nickte. »Ja, da wollte er hin. Seine Tochter holen. Sie war ihm ausgerissen. Mann, wenn ich seine Tochter wäre, wäre ich ihm auch ausgerissen. Der Mann kam aus einem Kaff bei Weston und war bettelarm. Zwei Kühe, wegen der Milch. Ein paar Hühner.«
»Hat er Ihnen das gesagt?«
»Ja.«
»Wo in Weston? Wie heißt das Kaff?«
Er dachte nach und schüttelte den Kopf. »Wenn es da ist, wo ich ihn mitgenommen habe, dann gehört das zu Weston. Wenn Sie von hier auf den Highway kommen, sind das die fünf oder sechs Häuser links drin, direkt an der Stadtgrenze.«
»Sie haben mir sehr geholfen.« Ich wandte mich zum Gehen.
»Mister!«
Er saß noch immer auf seinem hölzernen Sessel und glotzte mich an.
»Von einem verdammten weißen Schwarzen hat er gesprochen«, sagte Tobbey noch.
***
Ritchie Shine, der Afroamerikaner mit der hellen Haut und den blondgefärbten Haaren, nahm die Whiskyflasche und hielt sie so über das Glas, dass ein ganz dünner Strahl des Schnapses mit ungewohnt lautem Plätschern in das Glas lief.
Ritchie lachte fröhlich. Dieses Spiel war eine seiner Spezialitäten, um derentwillen er an vielen Bartheken ein gern gesehener Gast war.
Wo Ritchie sich aufhielt, war immer etwas los.
Das wussten auch die Kneipenwirte.
»Willst du Eis?«, fragte Frank Forster, der Wirt. Ritchie lächelte und schüttelte den Kopf. »Willst ’n Mädchen?«, fragte er zurück.
»Oh, Ritchie – du weißt doch, ich bin kein Tourist und kein …«
»Umsonst natürlich, du Idiot«, sagte Ritchie lächelnd.
»Umsonst?«, fragte Forster verlegen.
Ritchie setzte das Glas an.
Wieder servierte er eine seiner Spezialitäten. Er machte eine Kehle wie ein Loch, wie er zu sagen pflegte. Das Kunststück bestand darin, dass Ritchie ein Whiskyglas randvoll an die Lippen setzte und den ganzen Inhalt in einem Schwall in seinen Hals schüttete. Ohne zu schlucken. Einfach so, wie man ein Glas Wasser in ein Loch schüttet.
Er leckte sich den Mund.
Ganz langsam ging er quer durch das Lokal, hinüber zu dem Spielautomaten an der Wand gegenüber der Theke.
Am Automaten spielte eine junge Frau. Zierlich, dunkelhaarig, hübsche Beine, die aus einem eng sitzenden Minirock herausschauten. Obenherum trug sie eine ebenfalls sehr enge Bluse.
Ritchie berührte fast zärtlich ihre Schulter und drehte ihre zierliche Gestalt langsam um.
Ohne Vorankündigung zuckte seine rechte Hand hoch. Brutal klatschte sie zweimal in ihr Gesicht. Bevor der Aufschrei aus dem etwas zu stark geschminkten Mund kommen konnte, hatte Ritchie mit einem einzigen Griff die Bluse aufgefetzt. Darunter war sie nackt.
Wieder traf die Hand das Gesicht des Mädchens, und anschließend riss er ihr den Minirock vom Leibe. Sekunden später war sie nackt.
Ihr Schrei wurde von der brutalen Hand, die sie jetzt über Mund und Nase traf und das Blut aus der Nase laufen ließ, erstickt.
»Frank«, sagte Ritchie leise und lächelnd, »nimm sie mit ins Hinterzimmer. Du kannst mit ihr machen, was du willst. Sie soll lernen, dass sie nichts als ein mieses Stück ist, das zu arbeiten und nicht am Automaten zu spielen hat!«
»Komm!«, grunzte der Wirt mit aufgeregt japsender Stimme.
Er packte sie am Arm und zog es in den Hintergrund des Lokals.
Ritchie ging zur Theke zurück und griff zur Flasche. Als er das Glas fast wieder gefüllt hatte, flog die Tür der Kneipe auf.
Eddie Morell, ein Puerto Ricaner, kam in das Lokal gestürzt. Als er Ritchie sah, atmete er auf.
»Gut, dass ich dich finde, Ritchie. Du musst verschwinden!«
Der hellhäutige Schwarze lächelte. »Du bist doch immer auf Sandy scharf? Sie ist im Hinterzimmer. Warte, bis der Whiskypanscher rauskommt, dann kannst du sie dir nehmen. Warum muss ich verschwinden?«
»Hier laufen ein paar Tecks herum. In Zivil. Sie fragen nach einem alten Mann aus Virginia.«
»Wie viel Tecks?«
»Charly sprach von zweien. Sie reden mit den Mädchen.«
Ritchie soff seinen Whisky aus.
»Leg die Tecks um«, sagte er leise und lächelnd.
***
Die Skyline von Weston, West Virginia, lag – soweit man bei einer Stadt von vielleicht fünfzehntausend Einwohnern überhaupt von einer Skyline reden kann – fast am Horizont. Ich sah ein paar Türme und einen hohen Schornstein.
Rechts vor mir am Straßenrand stand ein Schild, und das verkündete, dass ich dabei sei, den Boden von Weston zu betreten.
Nach links bog etwas ab, das man mit einigem Wohlwollen als Straße bezeichnen konnte. Etwa eine halbe Meile abseits der Straße standen ein paar Gebäude. Sie machten den Eindruck, als habe ein Filmteam hier gearbeitet und die Kulissen einfach stehen gelassen.
Auf den abgeernteten Feldern machte ein Geschwader Krähen einen Radau wie eine lehrerlose Sonderschulklasse in Harlem.
Ich entschloss mich, das Fragment einer Straße zu benutzen, um die Parodie einer Siedlung zu erreichen.
Etwa die Hälfte der Zufahrt hatte ich zurückgelegt, als mir ein alter Mann entgegenkam.
»Hallo«, raspelte er. »Wohin des Wegs?«
»Ich suche einen Mann«, sagte ich. »Diesen.«
Stumm betrachtete er das retuschierte Foto des Toten von Manhattan.
»Ja«, sagte er, »das ist gar nicht so einfach.«
»Wieso?«
»Es könnte sein, dass ich ihn kenne, aber ich kann mich im Moment nicht erinnern. Dafür müsste ich meinen Grips zusammennehmen. In meinem Alter fällt das schwer.«
»Ich kann warten«, sicherte ich ihm zu.
»Am besten denke ich in unserem Saloon«, gab er bekannt.
»Bei einem Whisky«, vermutete ich.
»Genau. Ich sehe, Sie sind ein verdammt kluger Gentleman.«
»Steigen Sie ein«, forderte ich ihn auf.
Er musterte sehr misstrauisch meinen Jaguar-E-Type. »Soll das ein Auto sein?«
»Klar. Es ist alles dran, was wir brauchen. Vier Räder …«
Er winkte ab. »Ich sehe schon, dass Sie mir etwas einreden wollen. Fahren Sie vor. Ich komme zu Fuß nach. Dem Ding traue ich nicht.«
»Wie lange brauchen Sie?«
»Viertelstunde«, krächzte er. »Ich bin alt und …«
»Mit dem Ding hier schaffen wir den Weg zum Whisky in einer Minute«, stachelte ich seinen Durst an.
»Mann, Sie können einem vielleicht zureden!«
Er ging langsam um den Wagen herum und ließ sich seufzend und krächzend auf den Sitz fallen. »Wo kommen Sie überhaupt her?«, fragte er.
»New York«, antwortete ich.
»So, New York.«
Danach sagte er nichts mehr.
Wir fuhren den Weg entlang und gelangten nach zwei Minuten in die abgelegene Siedlung.
»Gleich rechts!«, krächzte der seltsame Alte. »Gehen Sie schon rein und bestellen Sie einen Whisky. Ich komme sofort nach. Wissen Sie, ich muss … Na, gehen Sie schon!«
Etwas anderes blieb mir nicht übrig. Ich betrat also die Kneipe und sorgte damit dafür, dass die fünf Männer, die laut debattierend an einem Tisch saßen, ihre Reden einstellten und nur noch mich betrachteten.
Einer der fünf stand auf und kam langsam auf mich zu.
»Mister?«, fragte er und stellte sich damit als Gastwirt vor.
»Erst mal ein Coke«, bestellte ich.
»Coke«, bestätigte der Wirt, aber es klang eher wie ein Vorwurf.
Er schlurfte hinter die Theke und nahm die Coke-Flasche aus einem Regal.
»Haben Sie es auch kalt?«, fragte ich.
»Kalt genug«, knurrte er.
»Geben Sie mir lieber einen Kaffee!«, rief ich ihm zu. »Und einen Whisky«, bestellte ich im Hinblick auf den Alten, der jeden Moment eintreffen musste.
»Kaffee dauert einen Moment!«
»Schon gut«, nickte ich.
Die Eingangstür flog auf.
Aber nicht der Alte kam herein, sondern zwei Zweihundertpfundmänner in Overalls.
Der eine hielt einen dicken Knüppel in der Hand, der andere einen Spaten.
»Bleib auf deinem Platz, Mann«, sagte der mit dem Spaten zu mir.
***
»Hast du bald genug geglotzt?«, fragte Sandy.
Der Wirt grinste vergnügt und starrte weiter auf den nackten Körper seines Opfers, das in einer Ecke stand.
»Ich darf mit dir machen, was ich will«, sagte er genüsslich. »Ritchie hat es gesagt. Das nutze ich aus. Ich habe endlich mal Gelegenheit, dich so zu sehen. Also …«
»Mistkerl!«, sagte Sandy.
»Dafür werde ich dir auf das freche Maul hauen«, kündigte er an.
Langsam ging er auf sie zu.
»Lass deine dreckigen Pfoten von mir!«, sagte sie drohend. »Sonst trete ich dir in den Bauch, dass du alle Engel im Himmel pfeifen hörst!«
»Weißt du, was Ritchie dann mit dir macht?«, fragte er.
Plötzlich aber drehte er sich zur Tür, drehte den Schlüssel um und zog ihn ab.
Erneut schlich er sich an.
Mit seinem schmutzigen Daumen deutete er auf die fast schon in Auflösung befindliche Couch an der Querwand des Hinterzimmers, jener Couch, auf der sich normalerweise die Gangster und Zuhälter, denen für »Versammlungen« das Hinterzimmer zur Verfügung gestellt wurde, herumzulümmeln pflegten.
»Ich darf mit dir machen, was ich will«, betonte er noch einmal.
Er bemerkte nicht das besondere Glitzern in ihren Augen, und er erkannte nicht, dass er mit dem Abschließen der Tür und dem Abziehen des Schlüssels einen Zustand herbeigeführt hatte, den Sandy schon lange nicht mehr kannte – den Zustand, außerhalb der unmittelbaren Kontrolle von Ritchie zu sein.
Wieder leckte sich der Wirt genüsslich über die Lippen.
Sandy wich etwas zurück.
Der Mann setzte ihr nach, seine fetten Finger grapschten nach ihr.
Sandy sah ihre Chance.
Sie wusste in diesem Moment, dass sie die einmalige Gelegenheit hatte, ihre Kenntnisse in der Kunst der Selbstverteidigung, die sie sich vor Kurzem angeeignet hatte, anzuwenden. Bei Ritchie wäre es aussichtslos gewesen. Ritchie war nicht zu schlagen.
Aber dieser schmierige Wirt …
Blitzschnell kam Sandys Arm hoch, zuckte ihre Hand nach vorne. Die Spitzen der ausgestreckten Finger trafen den Wirt punktgenau
Der Wirt gab ein merkwürdig gluckerndes Geräusch von sich, mehr nicht.
Seine Augen weiteten sich, in seinem Gesicht zeichneten sich Verwunderung und Entsetzen ab, aber das war schon unbewusst.
Er brach in die Knie.
Sandy fing ihn auf, schaffte es, ihn wenigstens mit dem Oberkörper auf das zerschlissene Polstermöbel fallen zu lassen und dadurch das Geräusch eines schweren Aufpralls zu vermeiden.
Sandy schaute sich um. Sie suchte etwas, um den Mann fesseln zu können, aber sie sah nur die Schnur des dichten Vorhanges.
Dann fiel ihr ein, dass der Wirt ein mindestens ebenso großer Verbrecher war wie seine Gäste. Sie tastete seine Kleider ab. In der linken Gesäßtasche fand sie ein Schnappmesser. Damit kappte sie die Vorhangschnur, zerschnitt sie so, dass sie den Bewusstlosen fesseln konnte.
Sie schnitt auch noch einen Lappen aus dem schmutzigen, stinkenden Vorhang, steckte ihn dem Wirt zwischen die Zähne.
Und noch einmal benutzte sie das Messer, um den Vorhang zu zerschneiden. Sie brauchte den Stoff, um damit ihre Blößen zu verdecken. Notdürftig, aber immerhin tragbar. Nackt wäre sie auf der Straße sofort aufgefallen. Mit dem Vorhangstoff hatte sie die Chance, als leicht verrückte, aber immerhin angezogene Passantin angesehen zu werden.
Vorübergehend wenigstens.
Bei diesem Gedanken erschrak sie.
Nackt und bloß, wie Ritchie sie dem Wirt überlassen hatte, besaß sie nichts. Keinen Cent. In ihr so genanntes Hotel konnte sie nicht zurück. Dort warteten Ritchies Kreaturen – Spitzel, Aufpasser, Komplizen.
Abermals durchsuchte sie die Kleider des noch immer Bewusstlosen. Und abermals hatte sie Glück. In der rechten Gesäßtasche steckte ein Bündel Dollarnoten, zu einer Papierwurst gedreht.
Sandy kannte keine Gewissensbisse und Skrupel mehr. Das hatte man ihr abgewöhnt.
Und sie knallte dem bewusstlosen Wirt noch einen zusätzlichen Handkantenschlag gegen den Schädel, um seinen Schlaf noch etwas zu vertiefen.
Leise huschte sie zum Fenster. Zuerst erschrak sie, als sie vor der von innen weiß zugeklebten Scheibe eine Bretterwand gewahrte. Doch sie sah, dass es ein hölzerner Laden war.
Sie öffnete ihn.
Vor ihr lag ein dunkler Hinterhof, und im Lichtschein entdeckte sie eine niedrige Mauer.
***
Der Alte stieß die Kneipentür auf, stellte sich mitten in den Eingang und deutete auf mich.
»Da ist er!«, krächzte er stolz.
Hinter ihm erschienen zwei Uniformierte der Weston-Polizei. Ihre Hände lagen auf den Kolben der Waffen.
Ein Verbrecher hätte kaum eine Chance gehabt.