Jerry Cotton Sonder-Edition 127 - Jerry Cotton - E-Book

Jerry Cotton Sonder-Edition 127 E-Book

Jerry Cotton

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Beschreibung

Ich erfuhr nur ganz beiläufig davon: In einem Kriminalmuseum hatte jemand den dort ausgestellten elektrischen Stuhl gestohlen. Irgendein verrückter Sammler vielleicht - ich dachte nicht weiter darüber nach.
Doch dann änderte sich alles schlagartig. Wir fanden den ersten Hingerichteten direkt vor dem Leichenschauhaus in New York. Kurz darauf zwei weitere Gangster - angeklagt des Mordes und freigesprochen wegen Mangels an Beweisen. Und bei den Toten jeweils die "Hinrichtungsurkunde" des unheimlichen Richters ...

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Seitenzahl: 185

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhalt

Cover

Impressum

Der unheimliche Richter

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelfoto: Tereshchenko Dmitry/shutterstock

Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-9264-7

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Der unheimliche Richter

Ich erfuhr nur ganz beiläufig davon: In einem Kriminalmuseum hatte jemand den dort ausgestellten elektrischen Stuhl gestohlen. Irgendein verrückter Sammler vielleicht – ich dachte nicht weiter darüber nach.

Doch dann änderte sich alles schlagartig. Wir fanden den ersten Hingerichteten direkt vor dem Leichenschauhaus in New York. Kurz darauf zwei weitere Gangster – angeklagt des Mordes und freigesprochen wegen Mangels an Beweisen. Und bei den Toten jeweils die »Hinrichtungsurkunde« des unheimlichen Richters …

Die Jerry Cotton Sonder-Edition bringt die Romane der Taschenbücher alle zwei Wochen in einer exklusiven Heftromanausgabe. Es ist eine Reise durch die Zeit der frühen Sechziger bis in das neue Jahrtausend.

Angus Mattingly nahm einen tiefen Schluck aus der Rumflasche, bevor er das Haus verließ.

Draußen peitschte eiskalter Wind durch die Baumkronen und die kahlen Zweige der Büsche. Vereinzelte Schneeflocken mischten sich in den Regen. Der Wetterbericht hatte Frost vorhergesagt, das Barometer fiel seit Tagen, und als Mattingly die Nase zur Tür hinausstreckte, zweifelte er keine Sekunde daran, dass über New York und Umgebung heute Nacht der Winter hereinbrechen würde.

Trotzdem überwand er den inneren Schweinehund und stapfte durch die Kälte, um seinen üblichen Kontrollgang zu unternehmen.

Mattingly besserte seine Rente als Museumswärter auf – ein ruhiger Posten, der verhältnismäßig gut bezahlt wurde.

Das »Museum of Crime« in Jersey City war ein Privatunternehmen, Hobby eines exzentrischen Millionärs, der sich sein Vergnügen eine Stange Geld kosten ließ.

Mattingly wohnte im ehemaligen Gärtnerhaus der umfunktionierten Villa, führte tagsüber die nicht sehr zahlreichen Besucher herum, hielt Räume und Ausstellungsstücke in Ordnung und war alles in allem mit seinem Job zufrieden.

Nur die nächtlichen Kontrollgänge fand er manchmal etwas störend. Besonders in dieser Nacht, bei diesem ausgesucht ungemütlichen Wetter. Gähnend schloss er die breite Eingangstür auf, durchquerte den Vorraum und freute sich dabei schon auf den nächsten Schluck Rum.

In dem großen Ausstellungsraum brannte nur die Notbeleuchtung.

Mattingly warf einen Blick in die Runde. Müde, uninteressiert. Er wollte sich schon abwenden, eilig wieder der behaglichen Wärme seiner Wohnung zustreben – aber irgendetwas hielt ihn zurück.

Etwas, das nicht stimmte. Das anders war als sonst.

Er runzelte die Stirn, tastete nach der Taschenlampe an seinem Gürtel – und dann sprang ihm förmlich in die Augen, was es zu sehen gab.

Das Podest in der Mitte des Ausstellungsraumes war leer.

Wie ein flacher Klotz lag es im Halbdunkel. Der Teppich, der es bedeckte, hatte sich verschoben, und am Fuß des Sockels lag umgekippt das weiße Schild, auf dem die Besucher lesen konnten, was hier normalerweise gezeigt wurde.

Der elektrische Stuhl, Prunkstück und Attraktion des privaten Museums, war spurlos verschwunden …

***

Gleichmäßig brummend zog der Kleinlaster durch die Nacht. Regen prasselte gegen die Frontscheibe, die Wischerblätter surrten.

Steve Bakker, der Fahrer, musterte aus zusammengekniffenen Augen die Straße. Mitch Algren saß neben ihm auf dem Beifahrersitz.

»Verrückt«, murmelte er. »Völlig verrückt! Wer klaut denn so was?«

»Mir gleich«, sagte der breitschultrige, untersetzte Bakker gelassen. »Hauptsache, die Kohlen stimmen. Und die stimmen doch, eh?«

Algren war schmal, hoch aufgeschossen und ständig in Bewegung. »Trotzdem«, beharrte er. »Der Kerl muss doch einen morschen Keks haben, der …«

»Und wenn er den hat, was dann? Mensch, hör endlich auf, mir die Ohren vollzuhängen! Wir haben das Ding nun mal auf der Ladefläche stehen, oder nicht?«

»Und … und wenn wir es einfach irgendwo abkippen?«

»Spinnst du? Dir ist die Kiste wohl aufs Gemüt geschlagen, was? Mann, Mann …«

Mitch Algren sagte nichts weiter. Aber er war auch nicht beruhigt.

»Hier ist es«, brummte Steve Bakker nach einer Weile.

Sie rollten über einen holprigen Waldweg, der an der Umfassungsmauer eines Grundstücks endete. Das schmiedeeiserne Tor stand offen. Bakker rangierte den Kleinlaster hindurch, schaltete herunter und folgte im Schritttempo den Windungen eines mit roter Asche bestreuten Parkweges.

Zwei Minuten später tauchten vor ihnen die Umrisse des alten Landhauses auf.

Früher einmal war es komfortabel gewesen, jetzt zeigte es die Spuren unaufhaltsamen Verfalls. Efeu rankte an den Mauern hoch, die schweren Holzläden hingen schief in ihren Scharnieren. Im Erdgeschoss schimmerte Licht durch die Fenster, und als Steve Bakker den Wagen zum Stehen brachte, öffnete sich die Haustür.

Ein Mann erschien im hellen Viereck. Er stand gespannt da, leicht vorgeneigt.

Bakker und Algren stiegen aus, gingen auf ihn zu, und aus der Nähe sahen sie auch die dünne seidene Gesichtsmaske, die sie bereits kannten.

»Wir haben ihn, Sir«, sagte Steve Bakker heiser.

Der Maskierte nickte. Seine Stimme klang dumpf und verzerrt unter dem schwarzen Stoff. »Okay. Bringt ihn in den Keller.«

Die beiden Männer machten kehrt.

Im ungewissen Licht zerrten sie einen sperrigen, mit grauen Armeedecken umwickelten Gegenstand von der Ladefläche des Wagens. Der Maskierte wies ihnen den Weg.

Bakker und Algren wuchteten das schwere Dinge durch die Diele, eine steile Steintreppe hinunter und ließen es schließlich auf einen Wink ihres Auftraggebers in einem quadratischen, völlig kahlen Kellerraum auf den Fußboden fallen.

Bakker schwitzte. Ein unbehagliches Gefühl hatte ihn beschlichen. Nervös fuhr er sich mit dem Handrücken über die Stirn.

»Und jetzt die Bezahlung«, verlangte er mit belegter Stimme.

Wieder nickte der Maskierte. »Kommen Sie! Das Geld ist oben.«

Bakker und Algren folgten ihm die Treppe hinauf.

Mitch Algren befand sich in einem Zustand zitternder Nervosität. Ihm war plötzlich übel vor Angst, und auch Bakker hatte alle Mühe, sich zu beherrschen.

Erst jetzt kam ihm zu Bewusstsein, wie absurd, wie makaber das Geschäft war, auf das sie sich eingelassen hatten. Die Sache musste irgendeinen Haken haben. Das konnte nicht gutgehen, das …

»Die zweite Hälfte des Honorars, Gentlemen«, drang es in sein Bewusstsein. »Ich bin sehr zufrieden mit Ihrer Arbeit, wirklich.«

Der Maskierte hatte von irgendwoher ein Bündel Geldscheine gezaubert. Er hielt es Bakker hin. Nur zögernd griff der Gangster danach und begann flüchtig, die Dollars nachzuzählen.

»Stimmt«, murmelte er.

»Selbstverständlich stimmt es. Und denken Sie daran, kein Wort zu irgendjemand über diese Sache.«

Bakker schluckte erleichtert. »Natürlich nicht. Brauchen Sie uns noch oder …«

»Sie können gehen. Vielen Dank, Gentlemen.«

Die Berufsverbrecher Steve Bakker und Mitch Algren wandten sich eilig zur Tür.

Sie sprachen kein Wort.

Algren stolperte unsicher. Und Steve Bakker grub ungläubig die Zähne in die Unterlippe.

War das alles gewesen?

Sollte das Geschäft tatsächlich gelaufen sein? So einfach war das? So …

Die Schüsse klangen nicht lauter als das Knallen von Sektkorken.

Steve Bakker wurde in den Hinterkopf getroffen und war sofort tot.

Seinem Komplizen drang die Kugel in Höhe des Herzens in den Rücken.

Er stieß noch einen qualvollen, lang gezogenen Schrei aus, bevor er starb, aber außer dem Maskierten konnte ihn niemand hören …

***

»Verrückt«, sagte Phil.

Ich schloss die Knöpfe meines Mantels. »Was?«, fragte ich uninteressiert.

Phil klappte die Zeitung zu. Er hatte sie studiert, um nachzuprüfen, ob ein bestimmter Journalist eine bestimmte uns gegebene Zusage einzuhalten gedachte.

»Da hat einer tatsächlich einen elektrischen Stuhl geklaut«, sagte er.

»Einen … was?«

»Elektrischen Stuhl. Drüben in New Jersey, aus einem privaten Kriminalmuseum.«

»Eine Nachbildung«, vermutete ich.

»Von wegen Nachbildung! Ein richtiges hübsches Hinrichtungswerkzeug. Es ist mal irgendwann versteigert worden. Ich kapier schon nicht, wie jemand Geld für so was ausgeben kann. Aber dass jemand das Ding sogar klaut …«

»Sammler sind auch Menschen«, sagte ich. »Was ist? Gehen wir jetzt Leslie verhaften?«

Phil nickte nur.

Wir hatten keinen Grund, uns um das Verschwinden des elektrischen Stuhls zu kümmern. Und ich kann auch nicht behaupten, dass mich diese makabre Geschichte zum damaligen Zeitpunkt besonders interessierte.

Zwei Minuten später hatte ich die Sache fast vergessen.

Es schneite draußen. Seit Tagen hatten Regen, Kälte und eisiger Wind für ein rapides Ansteigen der Grippefälle gesorgt, jetzt erschien die Stadt wie verzaubert. Dicht und lautlos wirbelten Flocken durch die Straßenschluchten, die weiße Decke löste sich nicht einmal auf den Fahrbahnen völlig auf, sondern wurde nur zu einer gelblichen Masse zerfahren, und der Schnee dämpfte alle Geräusche und schien sogar die alltägliche Hetze ein wenig zu mildern.

Der Motor des Jaguar kam erst im zweiten Anlauf. Im Hof der Fahrbereitschaft kämpfte Andy Rickett schwitzend mit der weißen Pracht. Ich schlängelte mich durch das Schneegebirge, das er aufgehäuft hatte, nahm die Ausfahrt und ordnete mich in den langsam rollenden Verkehrsstrom auf der 69th Street ein …

***

Unser Ziel war die Downtown, genauer gesagt die Henry Street. Dort bewohnte Clint Leslie ein kleines Apartment, und Clint Leslie wollten wir verhaften.

Wir rechneten nicht mit besonderen Schwierigkeiten.

Leslie galt nicht als gewalttätig. Ein mittlerer Rauschgifthändler, erst kurz im Geschäft, der vermutlich noch gar nicht richtig begriff, welchen Weg er da eingeschlagen hatte. Ich kannte ihn, und ich kannte auch seine Frau. Monique Leslie war zwanzig, unreif, versponnen, romantisch, ein bisschen verdreht, doch im Grunde anständig.

Ihretwegen hoffte ich, dass Leslie vielleicht doch noch zur Vernunft kam, wenn wir ihm kräftig auf die Finger klopften.

Der Dealer wohnte in einem ganz normalen Apartmenthaus, nicht neu, nicht gepflegt, aber auch nicht übermäßig verkommen. Einen Portier gab es nicht, das Bewohnerverzeichnis war vielfach überklebt und verbessert.

Mit dem Lift fuhren wir ins achte Stockwerk hinauf und marschierten über einen langen Flur, an dessen Kopfende ein magerer Gummibaum verkümmerte.

Ich wollte an die Tür klopfen – und stellte im gleichen Moment fest, dass sie einen Spaltbreit offen stand.

Phil und ich wechselten einen Blick.

War Leslie gewarnt worden? Verschwunden?

Ich konnte es mir nicht vorstellen, aber ich spürte dennoch ein seltsames Ziehen in der Magengrube.

Wieder hob ich den Arm, um zu klopfen – und wieder zog ich die Hand zurück.

Ein schluchzender, halb erstickter Laut drang aus der Diele.

Ich presste die Lippen zusammen. Kurz entschlossen stieß ich die Tür auf – und nach einem Schritt blieb ich stehen, als sei ich gegen eine unsichtbare Mauer gerannt.

Clint Leslie lag auf einem abgeschabten blauen Teppich.

Er war tot, erstochen!

Und neben ihm kauerte Monique, seine Frau, und hielt noch das blutige Messer umklammert …

***

»Quittieren Sie bitte.«

Harry Varjak beugte sich vor und setzte seinen Namen unter die Liste der Besitztümer, die er zurückerhalten hatte. Dann räumte er die Sachen bedächtig in die Taschen des viel zu weiten Nadelstreifen-Anzugs. Brieftasche, Papiere, Kamm und Nagelschere, ein leeres Schlüsseletui. Und ein schmales Bündel Dollarnoten – der lächerliche Lohn für zehn Jahre Arbeit, dazu das Entlassungsgeld.

Varjak überlegte, wie weit er damit kommen würde. Und wie lange es dauern konnte, bis er in einer Stadt, in der es auch für Nicht-Vorbestrafte zu wenig Arbeitsplätze gab, wieder im alten Fahrwasser weitermachen musste.

»In Ordnung?«, fragte der uniformierte Wärter.

Varjak nickte nur.

Sein bleiches, knochiges Gesicht war ausdruckslos, als er dem Mann auf den Flur hinaus folgte. Ihre Schritte hallten von den Wänden wider: das gleiche Geräusch, das ihn zehn Jahre lang begleitet hatte. Zehn Jahre lang hasste er schon das widerlich gelbliche Weiß der Wände, zehn Jahre tickte die Uhr über der Tür zum Büro des Direktors, und seit zehn Jahren zeigten Hugh Millroys Augen hinter den Brillengläsern den gleichen wohlwollenden, desinteressierten Ernst.

»Für Sie beginnt heute ein neues Leben, Mister Varjak«, stellte der Direktor fest.

»Ja, Sir«, sagte Varjak gleichgültig.

»Die erste Zeit wird schwer für Sie sein. Aber sie bietet Ihnen auch eine Chance. Die Chance zur endgültigen Umkehr.«

»Ja, Sir«, sagte Varjak. Und fragte sich dabei, wieso es ihn plötzlich überhaupt nicht mehr lockte, das heuchlerische Wohlwollen in diesem feisten Gesicht mit ein paar brutalen Worten zu zerstören.

»Ich hoffe, Sie werden die Chance nutzen, Mister Varjak. Ich möchte Sie hier nicht wiedersehen. Sie wissen, wohin Sie sich wenden können, wenn Sie irgendwelche Probleme haben?«

»Ja, Sir, das weiß ich.«

»Gut, Varjak. Mister Pearce wird Sie hinausbringen. Ich wünsche Ihnen alles Gute.«

»Danke, Sir. Good bye.«

Varjak griff nach seiner abgeschabten Aktentasche. Er spürte ein Prickeln zwischen den Schulterblättern, als er das Office verließ. Zum letzten Mal! Nie wieder Gitter! Nie wieder rasselnde Schlüssel, schnauzende Wärter, neugierige Augen hinter dem Guckloch der Tür, deren Blicken man nicht entgehen konnte. Nie wieder …

Varjak biss die Zähne zusammen.

Ganz tief in seiner erstarrten, verschütteten Psyche begann sich etwas wie Freude zu regen. Er schritt schneller aus, überquerte den grauen, trostlosen Hof. Der Wärter grinste. Zum letzten Mal hörte Varjak das Klirren des verhassten Schlüssels, als Pearce die kleine Pforte in dem breiten Eisentor aufschloss, dann machte er einen Schritt und stand draußen.

»Viel Glück, Varjak«, brummte der Wärter gutmütig.

»Danke. Mich seht ihr hier bestimmt nicht wieder.«

»Hoffen wir’s. Also dann …«

Die Tür schlug zu, und Harry Varjak stand in der kalten, gleißenden Wintersonne, atmete tief ein, als wäre es nicht mehr die gleiche Luft wie innerhalb der Mauern, und blickte sich um.

Büsche säumten den Weg, mit Schnee beladen. Fußtritte und Reifenspuren zeichneten sich auf der weißen Fläche ab. Varjak wusste, dass es in einer halben Meile Entfernung eine Bushaltestelle gab, schlug den Mantelkragen hoch und marschierte los.

Schnee knirschte unter seinen Schuhen. Der Atem stand in kleinen Wölkchen vor seinem Gesicht. Schnurgerade schnitt der Weg durch verschneite Wiesen, und Varjak fragte sich, wie lange es her war, dass er mehr als ein paar Minuten hatte geradeaus gehen können.

Seine Schritte wurden länger, raumgreifender, sein Atem vertiefte sich. Die Kälte drang ihm durch den leichten Mantel bis auf die Haut, aber es war ein angenehmes Gefühl. Genauso angenehm wie diese Art zu gehen: geradeaus, immer geradeaus, so lange er wollte. Von einer Sekunde zur anderen überfiel ihn das Gefühl der Freiheit, er blieb ruckartig stehen und grub die Zähne in die Unterlippe.

Es war vorbei!

Er konnte wieder von vorn beginnen, noch einmal leben. Es musste ja nicht New York sein. Irgendeine Kleinstadt, irgendein Job. Er würde in New York ein paar Nächte lang seine Dollars auf den Kopf hauen, würde Whisky trinken, ein Girl aufreißen, sich alles erfüllen, wovon er in zehn Jahren geträumt hatte. Aber er würde nichts mehr riskieren, nichts mehr …

Ein Motorengeräusch riss ihn aus seinen Gedanken.

Er blickte sich um. Aus einem Seitenweg näherte sich ein schwerer schwarzer Packard, chromglänzend und neu. Den Mann am Steuer kannte Varjak nicht. Vermutlich hatte sich der Bursche verfahren und wollte nach dem Weg fragen. Jedenfalls bremste er vorsichtig, der Wagen rutschte dennoch ein Stück über die schneeglatte Fahrbahn, dann aber stand er.

Der Mann am Steuer beugte sich zur Seite und öffnete die Beifahrertür.

Varjak kam der Gedanke, dass der Bursche ihn möglicherweise mitnehmen wollte. Er trat näher und stützte sich mit dem Unterarm auf den Türholm – entschlossen, ein eventuelles Angebot abzulehnen.

»Hallo«, sagte der Fremde. »Ziemlich kalt heute! Kann ich Sie ein Stück mitnehmen?«

Varjak lächelte. »Nein, danke. Ich gehe lieber zu Fuß.«

»Sportler, wie?«

»Bewegungsmangel«, sagte Varjak sarkastisch. »Trotzdem – vielen Dank für das Angebot.«

Der Fahrer nickte gleichmütig.

Mit der rechten Hand griff er in die Tasche – und als er sie wieder hervorzog, lag eine großkalibrige Pistole in seiner Faust!

»Einsteigen!«, sagte er nur.

Harry Varjak erstarrte.

Er brauchte eine halbe Sekunde, um zu begreifen. Seine Gedanken jagten sich. Bilder tauchten vor seinen Augen auf, Erinnerungsfetzen, Szenen aus der Vergangenheit. Wer, zum Teufel, konnte ein Interesse daran haben, sich noch nach zehn Jahren mit ihm zu beschäftigen? Wer erinnerte sich überhaupt an ihn? Wer …

»Wird’s bald?«, fragte der Fremde schneidend.

Varjaks knochiges Gesicht wurde zur Maske.

»Was soll das?«, fragte er heiser.

»Wer sind Sie? Wer schickt Sie?«

»Niemand«, sagte der Fremde. »Und wer ich bin, wirst du noch früh genug erfahren. Steigst du jetzt ein, oder soll ich dir erst eine Kugel ins Knie jagen?«

Varjak schluckte.

Sein Blick zuckte umher. Schnee, weite, leere Felder, eine einsame Straße – sonst nichts. Niemand war in der Nähe. Und niemand, das wusste er, würde einen Schuss aus der schallgedämpften Waffe hören.

»Und wenn ich einsteige«, fragte er mit belegter Stimme, »was dann?«

»Das wirst du schon sehen. Los jetzt!«

Varjak fürchtete sich nicht, er hatte in der Vergangenheit schon ganz andere Situationen durchgestanden. Irgendwie würde es ihm schon gelingen, das Blatt zu wenden.

Mit zusammengepressten Zähnen löste er sich von der Tür, beugte sich etwas vor, um einzusteigen – und in diesem Augenblick passierte es.

Der Fremde riss blitzschnell die Hand hoch.

Der schwere Stahllauf der Waffe sauste durch die Luft, traf mit einem dumpfen Geräusch Varjaks Schädel, und für den Ex-Sträfling versank die Welt in wirbelnder Schwärze …

***

Monique Leslies Augen waren groß und weit und dunkel vor Entsetzen.

Sie kauerte reglos da. Ihre Rechte umspannte den Schaft des Messers so fest, dass die Knöchel hervortraten. Für eine endlose Sekunde starrte sie uns an wie Geistererscheinungen, dann begann ihre Unterlippe zu zittern.

»Nein«, flüsterte sie. »Nein …«

Ich atmete tief durch. »Mrs. Leslie, wie ist das …«

Von einer Sekunde zur anderen wich der Bann.

Monique explodierte förmlich. Wie eine Wildkatze sprang sie auf und ging mit dem Messer auf uns los.

Phil und ich wichen instinktiv zur Seite, Monique machte eine Bewegung, als wolle sie meinen Freund angreifen, und wischte dann mit einer blitzartigen Drehung zur Tür.

Ich griff nach ihr. Stoff zerriss. Monique schrie auf, wollte sich befreien. Ich schlug ihre Messerhand zur Seite – aber sie hatte gar nicht vorgehabt, die Klinge zu benutzen, sondern beugte den Kopf vor und grub ihre spitzen weißen Zähne in mein Handgelenk.

Ich schnappte nach Luft. Unwillkürlich zuckte ich zurück, und Monique riss sich los. Sie stolperte über die Schwelle, schlug lang hin, rollte herum – und trat mit beiden Füßen nach mir, als ich mich über sie beugen wollte.

Sie traf verdammt gut. Ich ging zu Boden und hörte die sprichwörtlichen Engel singen. Dass ich Phil vor die Füße fiel, wurde mir erst später klar. Mir kam es so vor, als würde sich mein Freund aus irgendeinem mir schleierhaften Grund auf mich fallen lassen, und ich hörte, wie Moniques Blockabsätze über den Flur klapperten.

Mein Freund schrie ihren Namen. Ergebnislos.

Ich beförderte Phil von mir herunter, wälzte mich herum und kam auf die Füße.

»Alarmier die Mordkommission!«, rief ich über die Schulter, stieß mich vom Türrahmen ab und rannte los.

Monique hatte den Lift erreicht.

Hinter der Glasschiebetür sah ich sekundenlang ihren hennarotgefärbten Haarschopf, bevor sie nach unten schwebte. Die Kabine des zweiten Lifts stand ein paar Stockwerke weiter oben. Aber es gab eine Treppe.

Ich nahm immer drei, vier Stufen auf einmal und strengte mich an, um den Lift zu überholen.

Acht Stockwerke. Achtmal zwölf Stufen mit je einem Absatz dazwischen. Ich keuchte wie eine defekte Dampflok, als ich unten ankam. Aber ich hatte es geschafft – die Schiebetür der Liftkabine glitt gerade auseinander.

Der rote Haarschopf tauchte auf. Blaue Augen, die gehetzt hin und her glitten. Ihr Blick erfasste mich, dann huschte sie zur Eingangstür des Apartmenthauses, die sich gerade geöffnet hatte.

Drei junge Burschen, die lauthals über ein Baseballspiel diskutierten. Sie achteten nicht auf ihre Umgebung – aber Monique ergriff mit traumwandlerischer Sicherheit ihre Chance.

Sie raste los.

»Hilfe!«, kreischte sie. »Helft mir! Hilfe …«

Die Burschen rissen die Köpfe hoch.

Was sie sahen, musste ihnen eindeutig erscheinen. Eine junge Frau schrie um Hilfe, ein Mann jagte hinter ihr her. Und es ist ja nun wirklich kein Fehler, dass es gerade unter den jüngeren Leuten noch einige gibt, die in einem solchen Fall nicht wie die meisten guten Bürger die Augen verschließen und sich eilig verdrücken.

Die drei Jungs jedenfalls zeigten keine Neigung, sich herauszuhalten.

»FBI!«, schrie ich. »Aus dem Weg und …«

»Mörder!«, kreischte Monique.

Und sie kreischte es so überzeugend, dass selbst ich ihr vermutlich geglaubt hätte, wäre ich einer der drei jungen Burschen gewesen.

Nummer eins schob einen Fuß vor, als ich an ihm vorbeistürmte. Ich sah es kommen, wich aus – aber da riss mich Nummer zwei an der Schulter herum. Ich sah wütende braune Augen, und ich konnte gerade noch einen Schwinger abducken, der auf mein Nasenbein gezielt war.

Der Junge grunzte ärgerlich, als seine Faust ins Leere schoss. Für Sekunden sah ich zur Tür, sah Moniques roten Schopf verschwinden – dann knallte eine Faust in meinen Nacken.

Ich kippte vornüber, und ich wäre gestürzt, wenn die zurückschwingende Glastür mich nicht aufgehalten hätte.

Ich hatte eine gewaltige Wut im Bauch, und das bekamen die drei Helden zu spüren.

Im Herumwirbeln erwischte ich einen mageren Burschen mit blonder Lockenpracht. Ehe er ganz kapierte, hatte er meine Faust in der Magengrube. Japsend klappte er zusammen, hinter ihm walzte sein Kumpel heran – und begriff viel zu spät, dass meine Reichweite genügte, um auch über den stöhnenden Blondschopf hinweg seine Kinnspitze zu finden.

Sofort legte er sich schlafen.

Sein blonder Kumpan zeigte keine Ambitionen mehr, die Aktion fortzusetzen – und der dritte im Bunde starrte mich an wie das achte Weltwunder und schien nicht so recht zu wissen, was er mit seinen Fäusten anfangen sollte.

»FBI«, wiederholte ich etwas atemlos. Und dabei griff ich in die Tasche und hielt ihm das Etui mit der Dienstmarke unter die Nase.

Er schluckte. Sein blasses Pickelgesicht wurde noch um eine Spur blasser.

»Aber … aber das Mädchen …«, stammelte er.

»… hat euch reingelegt«, vollendete ich trocken.

Den Versuch, Monique auf die Straße zu folgen, unternahm ich gar nicht erst. Sie war längst über alle Berge, das stand so fest wie das Empire State Building.

Der ausgeknockte Bursche kam wieder zu sich. Der Blick, mit dem er sich umsah, erinnerte fatal an ein neugeborenes Kalb. Allmählich formte sich Erinnerung in den braunen Augen, dann kam die Wut – doch ehe er erneut loslegen konnte, schaltete sich der Picklige ein.

»Mensch, Larry!«, fauchte er. »Das ist wirklich ’n Bulle vom FBI. Und die Puppe war ’ne Kriminelle.«

»Scheiße«, murmelte Larry.

»Stimmt«, nickte ich.

»Aber … aber wir wollten doch nur …«

»Ihr wolltet ihr helfen, ich weiß. Leider musste ich mich trotzdem zur Wehr setzen. Ich hoffe, dass ihr mir das nicht übel nehmt.«

Ein reines Gewissen hatten diese drei Typen bestimmt nicht – jedenfalls reagierten sie nicht mit der Empörung rechtschaffener Bürger, die Undank geerntet haben, sondern mit sichtlicher Erleichterung darüber, dass der Zusammenstoß mit einem »Bullen« keine negativen Konsequenzen für sie hatte.

Ich ließ mir ihre Personalien geben. Sie wohnten alle drei im Haus, sie behaupteten, die Familie Leslie nur ganz flüchtig vom Sehen zu kennen, und als sich draußen Polizeisirenen näherten, machten sie sich in sichtlicher Eile davon.

Ein paar Minuten später war die Mordkommission an Ort und Stelle.