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Als G-man erlebte man so einiges. Dass aber ein durch und durch honoriger Senator sich als Leibwächter ausgerechnet zwei zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilte Mörder zulegte, das war wirklich der Gipfel allen Irrsinns!
Beim FBI herrschte Alarmstimmung. Wir rochen die unaufhaltsam nahende Katastrophe förmlich.
Sie kam - viel schneller, viel schlimmer und ganz anders als wir gedacht hatten. Und ich, der G-man Jerry Cotton, steckte bis über beide Ohren mittendrin.
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Seitenzahl: 196
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Impressum
Der Leibwächter
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Tyler Olson / shutterstock
eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 9-783-7325-9661-4
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Der Leibwächter
Als G-man erlebte man so einiges. Dass aber ein durch und durch honoriger Senator sich als Leibwächter ausgerechnet zwei zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilte Mörder zulegte, das war wirklich der Gipfel allen Irrsinns!
Beim FBI herrschte Alarmstimmung. Wir rochen die unaufhaltsam nahende Katastrophe förmlich.
Sie kam – viel schneller, viel schlimmer und ganz anders, als wir gedacht hatten. Und ich, der G-man Jerry Cotton, steckte bis über beide Ohren mittendrin.
1
Ich hielt mich dicht an der Wand des Korridors. Eine blitzschnelle Drehung genügte und ich hatte das Mauerwerk im Rücken. Wenn es sein musste …
Um mich herum war Gedränge. Graue Kleidung wie in Maos Reich. Ellenbogen und Knie, die sich Platz verschafften. Gegröle, Gelächter, Flüche und heimliches Flüstern.
Leuchtstofflampenlicht, das keine Schatten warf. Irgendwo lag eine Röhre in den letzten Zuckungen. Ich sah Augen, die dieses Zeichen der Vergänglichkeit schadenfroh registrierten. Gerade so, als wäre die kaputte Röhre ein defekter Teil in der Maschinerie der Unterdrückung.
San Quentin, Kalifornien.
Vollzugsmaterial aus Block D-eins kurz vor dem Auslauf. Eine Stunde Kreisverkehr zwischen Mauern, die so hoch waren wie der Himmel.
San Quentin in San Francisco, Staatsgefängnis von Kalifornien.
Ich war mittendrin. Grau in Grau. Ich war einer von denen, die ständig an die Wand im Rücken denken mussten. Denn sonst konnte es passieren, dass man etwas anderes in den Rücken bekam. Inoffizielle Todesstrafe nach San-Quentin-Gesetz.
Ich war Jerry Colbert. Registernummer 82-C-73541 – 74. Die letzten drei Ziffern standen für Monat und Jahr der Einlieferung. Die anderen stammten aus der Aktenküche der Justizbehörden.
Der Ausgang zum Hof kam in Sicht. Das Röhrenflackern wurde von Sonnenglut abgelöst. Die graue Masse geriet ins Stocken. Das Brabbeln wurde von barschen Befehlsstimmen überschrien.
»In Linie zu sechs Gliedern raustreten!«
Anlass für die immer gleichen Zoten, die gemurmelt kursierten und bekichert wurden. Ich war in der dritten Reihe, außen links.
Arme hoch, Beine gespreizt. Einer nach dem anderen. Flinke Aufseherhände klopften und tasteten Hosenbeine hoch, dann Hüften, Oberkörper, Achselhöhlen. Die immer gleiche Suche nach den inoffiziellen Vollstreckungswerkzeugen, Stichwaffen aus Schraubenziehern, Küchenmessern, Stricknadeln, Stahlnägeln. In der Gefängnisverwaltung lagerten sie eine ganze Sammlung davon.
Ich kam an die Reihe, erduldete die am vierundneunzigsten Tag meiner Haft fällige Durchsuchung. Der Aufseher, der mich bearbeitete, war klein, untersetzt und mexikanischer Abstammung. Wie die anderen trug er ein schwarzes Hemd, schwarze Dienstmütze, graue Hosen und am Koppel den Hartholzschlagstock, der ihm bis zu den Knien reichte. Nur die Uniformierten auf den Türmen und Wachgängen hatten Schusswaffen. Ihre Kollegen, die im Direktkontakt mit uns Grauen standen, mussten sich mit den Knüppeln begnügen. Selbst im geschlossenen Holster wäre ein Revolver bei ihnen nicht sicher gewesen.
Im Strom der Abgeklopften schwamm ich mit auf den Innenhof. Es gab keine Marschordnung, keinen Gleichschritt. Die Bosse von San Quentin hatten es längst aufgegeben, so viel Disziplin zu diktieren. Ein Aufseher für jeden einzelnen Sträfling wäre notwendig gewesen, um das durchzusetzen.
Wir schlurften über heißen Asphalt. Zwischen den Mauern lastete die Hitze des beginnenden kalifornischen Sommers wie in einem Brutkasten. Es gab auch hier keinen Schatten, da die Sonne fast senkrecht stand. Die porösen Mauersteine schienen heißen Staub auszuatmen.
Hinter unseren Mauern lag die Bucht von San Francisco, die berühmte. Adrette Vororte, weitläufige Wohnsiedlungen mit Bungalows unter Palmen, Jachthäfen und Badestrände, an denen sich jetzt die ersten Touristen zum Rösten langlegten.
Ich dachte nur an meinen Rücken, in dem ich keine Augen habe. Folglich hielt ich mich dicht an der Mauer. Oben, auf dem Kontrollgang, dröhnten die Schritte der Aufseher. Sie litten mehr unter der Hitze als wir, trugen dazu schwere Karabiner in den verschwitzten Händen.
Ich mimte träge Gleichgültigkeit wie die hundertzwanzig anderen aus Block D-eins. Hinter dieser Maske verbarg sich gespannte Wachsamkeit, gegenseitiges Belauern. Ich musste mich diesem Teufelskreis anpassen, wenn ich nicht untergehen wollte.
»Froggie war in meiner Nähe. Froggie, der Frosch. So nannten sie ihn wegen seiner vorstehenden Augen. Ein drahtiger kleiner Bursche mit strähnigem Haar. Seiner Statur zum Trotz kam er aus Texas, wo es angeblich nur lange blonde Kerle geben soll.
Froggie schlurfte einen halben Schritt hinter mir. Wie ein treuer Hund. Seit ich die Zelle mit ihm teilte, hatte er sich mir untergeordnet. Er besaß jenes Gespür für Autorität, das hier lebenswichtig war. Denn er gehörte zu dem Teil der Grauen von San Quentin, die sich bereitwillig erniedrigten und Demütigungen in Kauf nahmen, um ansonsten ungeschoren zu bleiben.
Mich hatte Froggie von Anfang an dem anderen Teil der Grauen zugeordnet. Den Streitsüchtigen, Herrschsüchtigen und Machtbesessenen. Mir passte das ganz und gar nicht. Trotzdem hielt Froggie mich nach wie vor für einen der ganz Großen, obwohl ich nichts tat, um dieses Image zu bestärken. Vielleicht glaubte er, dass ich nur auf den richtigen Moment wartete, um meine Fähigkeiten auszuspielen.
Ich drehte keine Runden, marschierte vielmehr an der Westmauer auf und ab. Fünfzig Schritte vor, fünfzig Schritte zurück. Froggie brauchte für den gleichen Weg jedes Mal sechzig Schritte. Seine Beine waren kürzer als meine.
Drüben beim Ausgang des Mitteltrakts zwischen den Zellenblocks wurden die letzten sechs Grauen abgetastet. Der Innenhof hatte sich inzwischen gefüllt. In die flimmernde Sonnenglut mischte sich Schweißgeruch. Seit der kalifornische Staatshaushalt von drastischen Sparmaßnahmen gekennzeichnet war, wurde die graue Einheitstracht der Sträflinge nur noch alle zwei Wochen durch die Waschmaschinen gejagt.
Nach unserer dritten Kehrtwendung kam Froggie an meine Seite.
»Aufpassen, Großer«, nuschelte er.
»Klar«, brummte ich zurück. In San Quentin hatte fast jeder einen Spitznamen. Wer keinen hatte, wurde beim Nachnamen gerufen. Vornamen waren nur in Ausnahmefällen gebräuchlich. Für Froggie war ich »der Große«. Von Anfang an.
»Sie haben dich im Visier«, erklärte er beharrlich, »sieht so aus, als wollten sie’s diesmal wissen.«
Ich nickte nur, tat so, als ahnte ich es bereits. Doch ich wusste nur zu gut, dass Froggie einen viel schärferen Blick für die Dinge hatte, die sich zusammenbrauten. Er war schon drei Jahre hier. Mit meinen vierundneunzig Tagen war ich nichts dagegen. San-Quentin-Erfahrung brauchte ihre Zeit. Es spielte keine Rolle, dass dies nicht das erste Gefängnis war, das ich von innen sah. Was für Sing Sing oder Fort Leavenworth maßgebend war, galt längst nicht in der Hölle.
»Was meinst du«, fragte ich meinen kleinen Begleiter, »was haben sie diesmal vor?«
Wir machten die fünfte Kehrtwendung. Das Gewühl auf dem Innenhof war unüberschaubar wie zuvor. Nur wenige hockten auf den Steinbänken an der Nordmauer. Die meisten stelzten umher. Niemand in unserer unmittelbaren Umgebung schien von mir Notiz zu nehmen.
Doch dieser Schein konnte verdammt trügerisch sein.
»Weiß der Teufel«, meinte Froggie schulterzuckend, »bei denen kann man nie genau …«
Plötzlich stolperte er vorwärts, verschluckte das, was er sagen wollte.
Ich zuckte herum, war mit dem Rücken an den heißen Mauersteinen, ehe ich ausgeatmet hatte.
Bevor Froggie das Gleichgewicht wiederfinden konnte, erhielt er einen Tritt in die Kehrseite. Er schlug der Länge nach hin, schrammte mit dem Gesicht über den Asphalt.
Im selben Moment hatte ich vor mir eine zweite Mauer. Eine aus San-Quentin-Grau. Über dem Grau standen blasse Gesichter, die in ihrer Gleichgültigkeit erschreckend wirkten. Was mit Froggie war, konnte ich nicht mehr sehen.
Einer langte blitzartig hinter den Hosenbund.
»Kojoten-Jim«. Von ihm wurde erzählt, dass er mal drei Tage lang hilflos und halb tot in den Bergen gelegen hatte. Als er am Morgen des vierten Tages gefunden worden war, sollte ein halbes Dutzend Kojoten neben ihm gelegen haben, mit bloßen Händen von ihm erwürgt.
Kojoten-Jim schnellte jetzt auf mich los. Ohne erkennbare Ankündigung. Metall blitzte in seiner Rechten.
Irgendwo auf den Kontrollgängen schrillte eine Alarmpfeife.
Ich stand völlig ruhig, nicht einmal geduckt.
Erst im letzten Atemzug machte ich einen Sidestep. So blitzartig, dass Kojoten-Jim noch im Sprung einen überraschten Knurrlaut ausstieß.
Die Alarmpfeifen gellten jetzt von allen Seiten.
Die selbst gebastelte Stichwaffe meines Gegners bohrte sich knirschend in eine Mauerfuge. Ein scharf gewetzter Löffelstiel, unten mit Heftpflaster umwickelt.
Kojoten-Jim hatte keine Freude mehr daran.
Reaktionsschnell jagte ich einen rechten Haken zwischen seinen Armen hoch.
Sein Kopf wurde zurückgeworfen, ehe er ihn sich an der Mauer einrennen konnte.
Der erste Warnschuss krachte.
Kojoten-Jim wankte seinen Freunden rückwärts in die Arme. Ich stand breitbeinig vor der heißen Mauer, erwartete die Kerle mit zu Fäusten geballten Händen. Rechts neben meinem Oberkörper steckte das Mordinstrument im verwitterten Mörtel.
Hastige Schritte waren zu hören, begleitet von heiseren Befehlsstimmen.
Kojoten-Jim hatte noch nicht genug.
Während die anderen den Halbkreis dichter zogen, stürmte er von Neuem auf mich los. Offenbar hatte er vor, sein Können unter Beweis zu stellen. Möglich, dass er Anerkennung brauchte, seinen Ruf aufpolieren wollte. Anders war die Zurückhaltung seiner Kumpane nicht zu erklären.
Diesmal blieb er auf Distanz, stoppte seinen Ansturm rechtzeitig und wollte mit zwei nacheinander abgefeuerten Geraden durchkommen.
Der ersten wich ich geschickt aus, die zweite blockte ich ab, als er durch den eigenen Schwung vorwärts gerissen wurde.
Der zweite Warnschuss krachte.
Ich setzte Kojoten-Jim ein Ding aufs Zwerchfell. Hinter dem Hieb saß Zunder. Fast zu viel, wie ich im nächsten Moment befürchtete. Mein Gegner japste, kippte hintenüber und rührte sich nicht mehr.
Im selben Augenblick zischten die ersten Schlagstöcke. Die Aufseher brüllten sich die Kehlen aus dem Hals. Mehr, um sich gegenseitig Mut zu machen.
Nach den ersten paar Hieben spritzten Kojoten-Jims Kameraden auseinander, tauchten in der Masse unter. Nachdem ohnehin nichts mehr zu holen war, hatten sie keine Lust, sich für nichts und wieder nichts Beulen einzuhandeln.
Ich blieb stehen, wo ich war, und hob demonstrativ die Hände. Rechts von mir das Löffelmesser, zwei Schritte vor mir der Bewusstlose und ein Stück weiter Froggie. Er hatte sich auf den Rücken gedreht, lag aber nach wie vor am Boden. Sein Gesicht blutete. Augenbrauen, Nase, Lippen und Kinn waren aufgeschrammt.
Auf dem Kontrollgang über mir beruhigte sich das Getrappel der Schritte. Ohne hochzusehen, wusste ich, dass dort oben mindestens ein Dutzend Uniformierte mit durchgeladenen und entsicherten Karabinern stand. Und die Grauen im Innenhof hatten sich an der gegenüberliegenden Mauer formiert. Stumm und reglos. Jeder wusste, dass er nur eine hastige Bewegung zu machen brauchte, um sich eine Kugel einzufangen.
Die Aufseher hatten ihre Erfahrungen mit Revolten.
Ich sah deutlich, dass sich Kojoten-Jims Brustkasten hob und senkte. Glück für mich. Er schien tatsächlich nur bewusstlos zu sein. Hätte ich ihn ernsthaft verletzt oder gar getötet, wäre es für mich aus gewesen. Alles. Auch meine berufliche Laufbahn.
Der Schichtführer des Aufseherfußvolks war ein Schrank namens O’Brien. Unter seiner Dienstmütze sträubte sich rötliches Haar. Demnach schien er von irischen Vorfahren abzustammen.
O’Brien deutete mit dem Schlagstock auf Kojoten-Jim. Dann auf den Löffel in der Mauerfuge.
»War er das, Colbert?«
Ich zog hilflos die Schultern hoch. »Sir!«, rief ich laut genug, dass es alle hörten. »Ich kann nichts behaupten, was ich nicht hundertprozentig weiß!«
O’Brien und seine Kollegen grinsten.
»Und du, Froggie?«, wandte sich der Ire an meinen Zellenpartner. »Hast du auch nichts gesehen?«
Der kleine Texaner richtete sich halb auf, wischte sich Blut aus dem Gesicht und redete mit geschwollenen Lippen. »Ich hab ’nen Tritt in den Hintern gekriegt, Sir. Mehr kann ich nicht sagen. Sehen Sie sich mein hübsches Gesicht an. Genügt das als Beweis?«
O’Brien nickte bedächtig und drehte sich wieder um. »Nimm die Arme runter, Colbert. Was ist mit Kojoten-Jim? Kreislaufkollaps?«
»Nein, Sir«, antwortete ich, »ich hab ihm eine verpasst.«
»Er hat also angefangen.«
»Kann ich nicht sagen, Sir. Wissen Sie, in dem Gedränge … Nun, es hat sich so ergeben …«
O’Brien trat näher an mich heran und bohrte mir die Spitze des Schlagstocks in die Brust. »Colbert«, zischte er, »du bist ein gerissener Bursche. Willst es dir mit keiner Seite verscherzen. Okay, von mir aus. Bei uns kommst du damit durch. Aber ich warne dich! Wir können dir keine Lebensversicherung bieten. Du stehst allein gegen die Meute. Eines Tages fliegst du auf die Schnauze!«
»Ich halte mich zurück, Sir«, entgegnete ich und produzierte ein schiefes Grinsen.
Er musterte mich einen Moment lang aus zusammengekniffenen Augen. Dann wandte er sich seinen Männern zu und gab knappe Anweisungen. »Einzelzelle für Kojoten-Jim! Sein Löffelding wird auf Prints untersucht! Colbert und Froggie gehen zurück auf ihre Zelle! Schickt den Doc erst zu Froggie und dann zu Kojoten-Jim!«
In Begleitung von einem Uniformierten kehrten wir zurück. Ich stützte Froggie, der noch etwas unsicher auf den kurzen Beinen war. Wir wussten, dass uns hundertachtzehn Augenpaare mit scheinbarer Gleichgültigkeit beobachteten.
Am Ende des Mitteltrakts führte eine breite Steintreppe nach links zu den Zellen von Block D-eins hoch. Während wir die elektrisch betätigten Gitter der beiden Sicherheitsschleusen passierten, tauchte bereits der Gefängnisarzt auf. Der Aufseher wartete vor unserer Zelle, bis der Doc Froggies lädiertes Gesicht gereinigt und verpflastert hatte.
Anschließend klappte die Tür zu, Schlüssel rasselten, Schritte entfernten sich.
Stille.
Ich lag auf der oberen Koje, starrte die Decke an, die so dicht über mir war, dass ich die Arme nicht ausstrecken konnte.
Froggie richtete sich neben unseren Kojen auf. Ich spürte seinen Blick, wandte den Kopf und sah seine traurigen Augen, die von Heftpflastern umrahmt waren. Er lehnte mit dem Rücken an der Wand, zwischen den beiden Kommoden, in denen unsere wenigen Habseligkeiten verstaut waren. Zwischen Betten und Kommoden war gerade so viel Platz, dass sich ein Mann hindurchzwängen konnte. Die ganze Zelle maß nicht mehr als anderthalb mal zweieinhalb Yards. Ein enger Schlauch, in dem man sich die Platzangst abgewöhnen musste. Doch San Quentin war gut hundertfünfzig Jahre alt. Vielleicht hatten sie anno dazumal unterernährten, kleinen, dünnen Sträflingen die Zellen auf den Leib geschneidert.
»Geht’s besser?«, brummte ich und blinzelte meinen Wohnraumteilhaber an.
Er versuchte, mein Grinsen zu erwidern. Es misslang, weil sich die Pflaster zu sehr spannten. »O’Brien ist eine mitfühlende Seele, stimmt’s? Aber er kann uns beide nicht für immer in die Zelle stecken. Bei der nächsten Gelegenheit werden es die Strolche wieder versuchen.«
»Mein Problem. Am besten, du hältst dich raus.«
»Tu ich, Großer. Die von der Familie wissen, dass ich ihnen nicht in die Quere komme. Sonst hätten sie mich lange fertiggemacht.«
»Scheißfamilie!«, knurrte ich verächtlich.
Froggie legte den Kopf schief. »Großer, ich weiß nicht … Vielleicht siehst du die Sache falsch. Die Familie hat den längeren Arm. Mit deiner Sturheit kommst du garantiert nicht weiter. Und sie wissen verdammt genau, dass du das Zeug dazu hast, ’nen eigenen Verein zu gründen und ihnen Schwierigkeiten zu machen. Genau das wollen sie vermeiden. Wenn du mit ihnen Frieden schließt, hast du das beste Leben, das man sich …«
»Quatsch!«, unterbrach ich ihn. »Mich interessiert weder die Familie noch irgendein anderer Klub. Ich hab lebenslänglich, Partner! Kapierst du das? Nur bei guter Führung kriege ich die Chance, nach fünfundzwanzig Jahren begnadigt zu werden. Alles andere schert mich einen Dreck.«
Froggie nickte verständnisvoll. »Du bist noch nicht lange genug hier. Daran liegt’s. So wie du haben schon viele gedacht. Irgendwann sind sie an ihren Gedanken krepiert. Man muss sich anpassen, Großer. Oder den starken Mann markieren und die Macht an sich reißen. In der Mitte gibt’s nichts. Hier in D-eins nicht. Und in den anderen Blocks auch nicht. Bei unserer Familie ist es nicht anders als bei der mexikanischen Mafia, bei den Guerilleros oder bei der Faschistenbruderschaft. Du kannst dir nicht deine eigene Richtung aufbauen. Das Schlimmste, was dir passieren könnte, wäre, dass Kojoten-Jim und seine Leute ihre Beziehungen spielen lassen. Wenn sie es schaffen, dass du in ’nen anderen Block verlegt wirst, bist du geliefert. Sie werden es so drehen, dass du als Mitglied der Familie rübergehst. Und die anderen lecken sich alle Finger danach, einen von der Familie in die Mangel zu nehmen.«
Ich winkte ab. »Geschenkt, Partner. Du erzählst mir nichts Neues.«
Es stimmte. Ich wusste alles über die rivalisierenden Banden von San Quentin. Die Familie war eine Organisation, die sich am Vorbild der sizilianischen Mafia orientierte und in Block D-eins den Ton angab. Den Handel mit Kaffee, Lebensmitteln und Drogen hatte die Familie voll unter Kontrolle. Bezahlt wurde mit Zigaretten.
Darüber hinaus gab es gewisse Dienstleistungen, die einen besonderen Geschäftszweig bildeten. Draußen wurde so was Prostitution genannt. Hinter den Mauern des Staatsgefängnisses lief es ohne den weiblichen Part. Jede Bande hatte »ihre Königinnen« – Burschen, die mit den Hüften wackelten und sich lange Fingernägel wachsen ließen. Wie bei der Familie, die D-eins kontrollierte, lief es bei den anderen Organisationen.
Und das Ganze war nur möglich, weil es eine Reihe von Aufsehern gab, die sich schmieren ließen. Ein Problem, das man nicht mit wenigen Worten vom Tisch fegen konnte. Zu viele Gesichtspunkte spielten eine Rolle. Akuter Personalmangel bei den Justizbehörden. Unterbezahlung der Vollzugsbeamten. Und tägliche Lebensgefahr, der sie in der Hölle namens San Quentin ausgesetzt waren. Es gab genügend Beispiele dafür, dass Uniformierte mit den selbst gebastelten Stichwaffen der Gefangenen schmerzhafte Bekanntschaft gemacht hatten. Die labileren Typen unter den Aufsehern arrangierten sich mit den Grauen. Schwer, es ihnen zu verdenken.
Froggie fischte Zigaretten aus dem Durcheinander in seiner Kommode. »Nimm ’nen Glimmstängel«, sagte er und hielt mir die Schachtel hin. »Vergiss die Familie für ’ne Weile. Du kriegst es früh genug wieder mit den Burschen zu tun.«
Eine Zeit lang rauchten wir schweigend. Der Tabakqualm staute sich in dichten Schwaden unter der niedrigen Decke.
»Sag mal«, begann Froggie unvermittelt, »diese Susan Kearney …«
Ich stützte mich abrupt auf den Ellenbogen. »Was soll das?«, zischte ich.
»Reg dich nicht auf, Großer. Wir beide kennen uns lange genug. Brauchen uns nichts vorzumachen. Es ist so … weißt du …«, er kratzte sich an der Stirn, wo ihn keine Pflaster behinderten, »… als ich damals den Eisenbahner stumm gemacht hab, war’s schlagartig aus. Ehe ich mich versah, fand ich mich hinter Gittern wieder. Aus und vorbei! Verstehst du? Man kann sich nur noch in Gedanken vorstellen, wie es so ist … Ich meine, man weiß nur noch von Bildern, wie ’ne Frau aussieht …«
Ich grinste. Froggie war als Landstreicher auf Güterzügen durch die Gegend geschaukelt. Eines Tages hatte ihn ein Rangierer erwischt. Froggie, der damals unter seinem bürgerlichen Namen Josh Mackin bekannt gewesen war, hatte die Nerven verloren und den Rangierer mit einer Eisenstange erschlagen. Totschlag, nach Ansicht seines Pflichtverteidigers. Mord, nach Meinung des Gerichts. Das Ergebnis lautete auf lebenslängliche Hölle, sprich San Quentin.
»Red weiter«, spöttelte ich. »Hört sich interessant an, was du sagst.«
»Mach dich ruhig über mich lustig«, murrte Froggie, »aber es ist zum Verrücktwerden mit diesen Gedanken. Ehrlich, ich hab manchmal zu mir selbst gesagt, Menschenskind, warum hast du dir damals keine Puppe geschnappt anstatt dieses Eisenbahners … Das Ergebnis wär das gleiche gewesen. Doch ich hätte wenigstens vorher ’n bisschen Vergnügen gehabt, hätte mich jahrelang dran hochziehen können. Nur so … Großer, ich hab vergessen, wie’s mit ’nem Weib ist.«
»Okay«, ich nickte, »und was hat das mit Susan Kearney zu tun?«
Er blickte mich an. In seinen Augen lag ein Flackern.
»Du hast nie drüber geredet«, flüsterte er, »wir beide brauchen jedoch keine Geheimnisse zu haben. Verdammt, ich würd gern wissen, wie’s gewesen ist! Hast du sie …? Ich meine, als du es ihr besorgt hast, hast du sie da …?«
»Hör mal!«, fauchte ich ihn an. »Es war nicht so, wie du denkst! Die kleine Kearney war ein teuflisches Biest. Die konnte einen Mann zur Weißglut bringen. Und sie hat’s drauf angelegt. Es war kein Vergnügen, sie gekannt zu haben. Sie hat’s mit mir auf die Spitze getrieben, bis … bis …«
Ich brach ab, drückte den Zigarettenstummel erregt an der stählernen Bettkante aus. Der Funkenregen segelte Froggie vor die Füße.
»Sorry«, murmelte er betreten, »ich wusste nicht, dass es so war. Ich dachte …«
»Du denkst zu viel, Froggie. Vor allem an Sachen, die dich nichts angehen. Merk dir das!«
Er zog den Kopf ein, warf seine Kippe ins Waschbecken und verkroch sich in die untere Koje.
Ich starrte die Decke an. Seit vierundneunzig Tagen hatte ich mich an meine Rolle gewöhnt. Und bereits vorher war ich mir darüber im Klaren gewesen, was dieser Einsatz bedeutete. In manchen Augenblicken fiel es allerdings verdammt schwer, nicht die Beherrschung zu verlieren.
Froggie, der unscheinbare kleine Killer, hatte gehofft, von dem Frauenmörder Jerry Colbert zu hören, wie es mit den in Vergessenheit geratenen Frauen war. Froggie hatte seine schmutzige Fantasie auffrischen wollen.
War ich glaubhaft genug gewesen, als ich ihm die Bitte abgeschlagen hatte?
2
Der Range Rover nahm die Steigung der kurvenreichen Bergstraße mühelos. Unter der Motorhaube arbeitete der Sechszylinder mit sattem Dröhnen. Hinten im Laderaum klirrten die Gerätschaften.
Zwei Meilen vor der Ortschaft Sloughhouse zog Phil den Wagen auf den mit Schotter befestigten Seitenstreifen neben der Fahrbahn. Das Brummen des Motors erstarb, als er den Zündschlüssel nach links drehte. Nachdem er die Handbremse angezogen hatte, schnappte sich Phil die Landkarte und breitete sie über dem Lenkrad aus.
Er befand sich auf der Provinzialstraße von Sheldon nach Sloughhouse. Die Entfernung stimmte. Phil warf die Karte auf den Beifahrersitz und stieg aus.
Zu beiden Seiten der asphaltierten Straße lagen grüne Höhenzüge mit sanft ansteigenden Hängen und einzelnen Plateaus. An niedrigen Bäumen, die sich in Reih und Glied von Norden nach Süden erstreckten, schimmerte es goldgelb zwischen sattgrünen Blättern. Köstlichkeiten, die ein New Yorker meist nur als Inhalt von Konservendosen kennenlernt.
Kalifornische Pfirsiche. Nichts als Pfirsiche, so weit das Auge reichte.
Phil holte seine tragbare Ausrüstung aus dem Laderaum, schloss den Range Rover ab und machte sich auf den Weg. Das optische Gerät trug er in einer olivgrünen Segeltuchtasche auf dem Rücken. Das Stativ hatte er sich über die linke Schulter gelegt.
Etwa fünfzig Yards oberhalb der Stelle, an der er das Fahrzeug abgestellt hatte, fand er die Schneise, die in nördlicher Richtung durch die Plantage führte. Tiefe Radspuren hatten sich in den weichen Boden gedrückt. Sie stammten von den Lastwagen, die die Ernte abtransportierten.
Am Anfang der Schneise begann Phil, seine Schritte zu zählen.
Zwischen den Bäumen lag ein Duft, der dem Stadtmenschen Phil Decker geradezu exotisch erschien. Obwohl er die Gegend inzwischen kannte, kam es ihm nach wie vor unwahrscheinlich vor, dass es eine derart üppige Natur gab. Dieser Hauch von Blattgrün und reifenden Früchten war geeignet, angenehme Gedanken aufkommen zu lassen.
Doch im Vordergrund stand der Job. Und der war alles andere als angenehm.
Nach hundert Schritten beschrieb die Schneise einen sanften Rechtsbogen. Die ersten Fahrzeuge waren in Steinwurfweite zu erkennen. 1,5-Tonner-Lastwagen mit offener Ladefläche, auf der die Pfirsichkisten gestapelt wurden. Noch waren die Trucks leer. Die morgendliche Arbeit in der Plantage hatte erst vor einer Stunde begonnen.
Phil legte weitere fünfzig Schritte zurück und blieb stehen. Mit umständlicher Bedächtigkeit nahm er das Stativ von der Schulter, klappte es auseinander und stieß die spitzen Füße der drei Aluminiumbeine in den weichen Boden. Die Segeltuchtasche stellte er neben das Stativ. Er sah sich um, zündete sich eine Zigarette an.
Die Kolonnen der Pflückerinnen arbeiteten irgendwo weiter rechts in der Plantage. Nur vereinzelt waren Bewegungen zwischen den Baumreihen zu erkennen. Wortfetzen wehten herüber. Hin und wieder war ein Lachen zu hören.
Knapp zwanzig Yards von Phil entfernt standen die Lastwagen. Insgesamt vier Fahrzeuge waren es, mit den Motorhauben von der Provinzialstraße abgewandt.
Die Schneise sah überall gleich aus. Es gab keine markanten Punkte, die man sich einprägen konnte. Nach der Zahl seiner Schritte wusste Phil jedoch, dass er ungefähr die richtige Stelle erreicht hatte. In den Akten war die Entfernung von der Straße in Yards angegeben. Natürlich waren die Markierungen, die die Mordkommission seinerzeit angebracht hatte, längst beseitigt worden. Doch darauf kam es Phil nicht an. Er besichtigte den Tatort aus völlig anderen Gründen.