Jerry Cotton Sonder-Edition 140 - Jerry Cotton - E-Book

Jerry Cotton Sonder-Edition 140 E-Book

Jerry Cotton

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Beschreibung

Wir hatten einen heißen Tipp bekommen. Deshalb waren Phil und ich zu Nino Ferrarios Beerdigung gegangen. Der Sarg war noch nicht unten, da passierte es. Das Stakkato einer Maschinenpistole zerhackte die andächtige Stille. Von diesem Augenblick an hatte die Mafia-Hölle ihre Teufel losgelassen ...


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Seitenzahl: 205

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhalt

Cover

Impressum

Die Mafia-Falle

Vorschau

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Anna Demianenko / shutterstock

eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 9-783-7517-0027-6

www.bastei.de

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Die Mafia-Falle

Wir hatten einen heißen Tipp bekommen. Deshalb waren Phil und ich zu Nino Ferrarios Beerdigung gegangen. Der Sarg war noch nicht unten, da passierte es. Das Stakkato einer Maschinenpistole zerhackte die andächtige Stille. Von diesem Augenblick an hatte die Mafia-Hölle ihre Teufel losgelassen …

1

Nino Ferrarios Beerdigung war eine traurige Angelegenheit, und durch die schrecklichen Ereignisse auf dem Greenwood-Friedhof in Brooklyn wurde sie zu einem Drama.

Das Wetter war dem Anlass angemessen. Dicke Regentropfen klatschten auf die schweren Erdbrocken neben dem offenen Grab, trommelten auf die schwarzen Regenschirme der Trauergäste und bewirkten, dass der Priester sein Programm schneller abspulte, als es der Bedeutung des Toten angemessen war.

Für die Kirche galt Nino Ferrario als ein heimgegangenes Schaf, eines, das zu seinen Lebzeiten sehr viel für die große Gemeinde getan hatte.

Ich sah mich um. Gesichter hinter Schleiern – die Frauen. Harte, ausdruckslose Gesichter – die Männer. Nino Ferrarios Freunde und Feinde, seine Familie. Alle waren gekommen. Noch herrschte Eintracht. Erst wenn die Lehmbrocken auf den Eichensarg polterten und die Frauen und Kinder wieder zu Hause sein würden oder beim Leichenschmaus, endete der Frieden. Erst dann, so wollte es das ungeschriebene Gesetz, begann der Kampf um Nino Ferrarios Imperium, dann begann die Stunde der Geier.

Wir vom FBI waren hier, weil es beinahe üblich war. Man konnte interessante Studien machen. Feststellen, wer mit wem verkehrte, welche Leute einander mieden. Wenn einer der Großen zu Grabe getragen wurde, trafen Männer zusammen, die man sonst nicht einmal allein zu Gesicht bekam. Hinten, im Glockenturm der Kapelle, surrte eine Kamera. Teleobjektive tasteten die Gesichter ab. Draußen auf dem großen Parkplatz schrieben zwei Detectives des Reviers die Kennzeichen der Lincolns und Fleetwoods und der anderen großen Wagen auf.

Ich blickte wieder nach vorn. Sechs Männer, alte Freunde des Verstorbenen, hoben den Sarg an. Nino Ferrarios sterbliche Hülle glitt an dicken Seilen in die offene Grube.

In diesem Augenblick geschah es. Mehrere Felder weiter stand ein zweiter Leichenwagen, halb verdeckt von einer Ligusterhecke.

Von dort kamen die Schüsse.

Eine Maschinenpistole zerhackte die andächtige Stille. Die erste Garbe klatschte in den Erdhaufen, Lehm spritzte über schwarze Kleider und Anzüge, stieg höher. Frauen schrien auf, Männer fluchten. Die Freunde ließen die Stricke los, und mit lautem Gepolter krachte der Sarg in die Grube, blieb halb aufgerichtet stecken.

Auf dem Greenwood Cemetery war die Hölle los. Immer noch hackten die Kugeln der MPs über die Gräber. Einige Männer lagen am Boden, ob getroffen oder nicht, war nicht zu unterscheiden. Andere rannten davon, warfen sich hinter Hecken, Sträuchern oder Grabsteinen in Deckung.

Auch ich hatte mich zu Boden geworfen. Mein neuer schwarzer Mantel war hin. Glücklicherweise hatte ich meinen Dienstrevolver nicht im Wagen gelassen. Der Smith & Wesson lag kühl in meiner Hand. Mit der Linken stützte ich die Waffe, als ich auf den schwarzen Aufbau des Leichenwagens zielte und die ersten Kugeln aus dem Lauf jagte. Der Heckenschütze war nicht zu sehen, aber ich konnte seine ungefähre Stellung ahnen.

In meinem Gesichtskreis spielte sich eine Tragödie ab. Eine kleine junge Frau stand dort wie erstarrt. Sie hieß Maria Benavente und war Nino Ferrarios Tochter. Ihr Mann hatte sich auf den Boden geworfen. Er schrie nach ihr, hatte ihre Hand gepackt, doch Maria schien mit dem lehmigen Boden verwachsen. Wasser tropfte von ihrem runden schwarzen Hut. Dario Benavente sprang auf, als eine neue Garbe auf seine Frau zutanzte. Er sah die Garbe kommen und warf sich vor Maria. Ich verfolgte, wie drei Kugeln in seinen Körper schlugen, ihn gegen Maria schleuderten. Sie rutschte aus, der Rand der Grube bröckelte ab, und beide stürzten auf den Sarg.

Ich jagte Schuss um Schuss in die Hecke vor dem Leichenwagen, dessen Motor jetzt aufheulte. Das Fahrzeug ruckte an, die Schüsse verstummten, ich bemerkte durch den Regenschleier hindurch eine verschwommene Bewegung, einen Mann, der sich auf das Trittbrett des anfahrenden Wagens schwang. Ich zielte auf seine Schulter und zog durch. Einmal. Ein zweites Mal …

Es klickte nur. Die Trommel war leer. Ich sprang auf und rannte hinter dem Wagen her. Drei, vier Männer, die Gorillas anwesender Bosse, hasteten ebenfalls los.

Aber es war zu spät. Der Wagen schwankte über ein frisches Grab, durchbrach eine Hecke und hatte damit den breiten Hauptweg erreicht, der zum Südtor des Friedhofs führte.

Ich steckte den Smith & Wesson ein und rannte zurück. Zwei Männer halfen Maria Benavente aus der Grube. Sie schrie laut und trat um sich. Mit verrenkten Gliedern lag ihr Mann auf dem verkanteten Sarg. Maria wollte sich auf ihn werfen. Mit Gewalt zerrten die helfenden Hände die junge Frau zur Seite.

Der Priester und die beiden Messdiener standen mit ihren verdreckten Gewändern daneben. Das stumme Entsetzen hatte ihre Gesichter erstarren lassen.

Zahlreiche Trauergäste entfernten sich mehr oder weniger unauffällig vom Schauplatz der Tat. Ich hinderte sie nicht, ich war allein in diesem Teil des Friedhofs. Wir hatten ihre Gesichter auf dem Film, und wir würden sie vorladen, Mann für Mann.

Lucia Ferrario, Ninos Frau und Marias Mutter, kümmerte sich um ihre Tochter. Ich starrte auf drei Leichen hinab, die im Schlamm lagen. Dario Benavente und zwei weitere, deren Namen ich nicht kannte. Es waren jüngere Männer.

Sieben Trauergäste waren verletzt, zum Teil schwer. Ich blickte zum Glockenturm der Kapelle hinüber, fragend, obwohl ich sicher war, dass die Kollegen dort Krankenwagen und Mordkommission alarmiert hatten.

Der erste Trauergast, der seinen Wagen auf dem Parkplatz erreichte, war ein junger Mann, der einen zu weiten schweren Mantel und einen steifen schwarzen Hut trug, dazu einen Schal aus weißer Seide, dunkle Handschuhe und Lackschuhe. Mit zitternden Fingern schloss er den Wagen auf, warf sich förmlich hinein und stieß den Zündschlüssel ins Schloss. Die Detectives hatten ihre Aufgabe beendet und waren etwas zu früh abgefahren.

Der junge Mann setzte hart zurück, rammte den ersten Gang ins Getriebe und trat das Gas durch. Der leichte Ford Pinto schoss wie eine Rakete auf den Hamilton Parkway hinaus. Das Heck schlingerte, als er den Wagen herumriss und dann nach Norden, auf Queens zu, davonjagte.

Wie gehetzt blickte er immer wieder in den Rückspiegel. Erst als er die lange Mauer des Prospect Park und das Gelände des Brooklyn State Hospital hinter sich gelassen hatte, beruhigte sich sein hämmernder Herzschlag, und er versuchte, ruhig zu überlegen und zu handeln.

Er zerrte den Schal aus dem Mantel und warf ihn zusammen mit dem Hut und den Handschuhen auf die Rückbank. Als er an einer Ampel halten musste, wand er sich aus dem Mantel, der über und über mit Lehm beschmiert war. Den Mantel stopfte er hinter die Lehnen der Vordersitze auf den Boden.

Ohne die dunkle Kleidung und den zu weiten und langen Mantel sah er jünger aus. Er hatte ein schmales, hageres Gesicht mit leicht gebogener Nase und tief liegenden dunklen Augen mit dünnen, geschwungenen Brauen darüber. Sein Haar war glatt und schwarz und sorgfältig gekämmt.

Der Mann steuerte den LaGuardia Airport an. Von der Zufahrt aus wählte er die Spur, die zu den Parkplätzen der Autovermieter führte. An der Einfahrt ließ er den Mietvertrag von einem Angestellten abstempeln, rangierte den Pinto in eine Box unter dem Dach, stieg aus und lief auf das Hertz-Büro zu.

Dort legte er den Schlüssel und den Mietvertrag auf den Tisch und scharrte ungeduldig mit den Füßen.

Eine junge Angestellte in gelber Uniform nahm das Papier und lächelte ihn an. »Sie brauchen den Wagen nicht mehr, Mister Ferry? Okay, dann wünsche ich Ihnen einen angenehmen Flug.«

»Ich möchte bar bezahlen«, sagte der junge Mann.

Die Frau blickte ihn erstaunt an. »Sie haben doch eine Kreditkarte, Mister Ferry!«

»Trotzdem. Bitte.« Seine Stimme klang drängend.

Die Frau rechnete den Betrag aus, der Mann bezahlte und verließ das Büro ohne ein weiteres Wort.

Mit dem Lift fuhr er in die Ankunftshalle hinauf. Er schob sich durch das Gewühl der Reisenden auf die hohe Tür zu, über der das große Taxisymbol angebracht war. Unter dem Vordach stellte er sich in die Reihe der Wartenden. Ungeduldig trat er von einem Fuß auf den anderen. Der Regen strömte, bildete große Pfützen auf dem Asphalt.

Immer wieder sah er sich um, obwohl die Vernunft ihm sagte, dass sie ihn noch nicht aufgespürt haben konnten. Es war unmöglich. Allerdings hätte er es nicht für möglich gehalten, dass sie ihn erkannt hatten nach so langer Zeit.

Endlich war er an der Reihe. Er warf sich auf den Rücksitz des Yellow Cab und zog die Tür ins Schloss. Dann erst nannte er sein Ziel. »Ditmars Boulevard.«

Der Fahrer drehte den Kopf. Es war ein rundes Gesicht, das sich jetzt schnell rot färbte.

»Ditmars Boulevard!«, sagte er zornig. »Der liegt dort drüben!« Er deutete nach vorn. »Wenn Sie springen, sind Sie da! Für ’ne halbe Meile kann ich keine Fuhre machen. Tut mir leid, Mac.« Der Cabdriver machte Anstalten, die Tür zu öffnen und den nächsten Fahrgast aufzunehmen.

Der Mann biss sich auf die Unterlippe. Ich hätte den Hotelbus nehmen sollen, dachte er. Die großen Hotels im Einzugsbereich des Flughafens betrieben einen eigenen Pendeldienst. Er griff in seine Tasche und holte einige zerdrückte Dollarnoten heraus. Rasch blätterte er zehn ab und streckte den Arm aus.

Der Driver starrte auf das Geld. Er murrte immer noch. Der Mann legte noch fünf dazu.

»Ich habe es eilig!«, drängte er.

Der Fahrer nahm das Geld, zuckte mit den Schultern und startete. Aufatmend lehnte sich der Mann zurück.

»Wohin? Der Ditmars ist lang.«

»Ich sage Bescheid.«

Der Schwarzhaarige sah aus dem Fenster. Das Taxi rollte über die Kehre auf den Boulevard hinunter und fuhr unter der Betonkonstruktion des Grand Central Parkway her.

Von Weitem schon sah der Mann die erleuchtete Vignette des Holiday Inn. Er ließ den Fahrer etwa hundert Yards hinter dem Hotel anhalten, stieg aus, wartete im strömenden Regen, bis der gelbe Wagen gewendet hatte und im übrigen Verkehr untertauchte. Dann erst ging er rasch zurück.

Er rannte beinahe durch die Halle. Niemand achtete auf ihn. Über die Treppe sprang er in den ersten Stock hinauf, lief durch den langen Flur, blieb schließlich keuchend vor der Tür mit der Nummer 1042 stehen. Er klopfte laut und ungeduldig.

Die Tür ging auf. Im Rahmen stand eine schlanke blonde Frau. Der Mann stürzte sich in ihre Arme.

»Frank!«, sagte sie. »Frank!« Ihre Hände strichen über sein feuchtes Jackett, über das nasse Haar. »Ich habe es gerade in den Nachrichten gehört … Schrecklich!«

Er löste sich aus ihren Armen. »Wir packen, Freda. Schnell. Beeil dich. Wir müssen weg.«

Sie setzte sich aufs Bett, schlug die Beine übereinander und sah ihn aus hellblauen Augen an. Sie war eine Mischung aus dem südfranzösischen Blut ihres Vaters und der strengen Erscheinung ihrer norwegischen Mutter. Herb, streng, kühl. So wirkte sie jedenfalls.

»Du willst also fliehen?«, fragte sie kühl.

»So darfst du es nicht sehen.« Er trat an den Fernsehapparat, der zu laut eingestellt war. In diesem Augenblick wechselte das Bild.

»Unser Kamerateam ist gerade am Greenwood Cemetery eingetroffen, auf dem sich am Morgen ein grauenvolles Drama abgespielt hat«, sagte der Sprecher. »Pete Binger berichtet.«

Der Mann blickte auf den Schirm. Die Kamera zeigte den Weg des Friedhofs, der zu Nino Ferrarios Grabstelle führte.

»Dem ersten Bericht zufolge sind bei dem Feuerüberfall drei Menschen getötet worden. Nach bisher unbestätigten Gerüchten soll sich Nino Ferrarios Schwiegersohn unter den Toten befinden. Ich versuche einen maßgeblichen Police Officer vor die Kamera zu bekommen …«

»Du willst fliehen«, wiederholte Freda. »Wie du es seit Jahren tust. Wenn du jetzt wieder fliehst, wirst du es dein Leben lang tun müssen.«

»Nein«, sagte Frank. »Es wird sich alles schnell einrenken. Glaub mir.«

Freda schüttelte den Kopf. Sie hatte ein breites flaches Gesicht mit einem eckigen, energisch wirkenden Kinn, das sie jetzt kampflustig vorstieß. Ihr kurz geschnittenes Haar bedeckte den Kopf wie eine Kappe.

»Frank, du musst hierbleiben!«

Frank hörte sie nicht. Er starrte auf den Bildschirm. Er konnte einen Blick auf Maria Benavente und Lucia Ferrario erhaschen. Die beiden Frauen wurden von Freunden zu einem bereitstehenden Wagen geführt. Er kannte diese Freunde – es waren Benjamin Sciglia und Jack Valenti. Er sah Freda an und spürte Tränen aufsteigen. Schnell senkte er den Kopf.

Er war in wilder Panik geflohen. Er schämte sich dafür. Dieses Gefühl stellte sich ganz plötzlich ein. Er setzte sich neben die junge Frau und legte einen Arm um ihre Schultern. Sie streichelte seinen Nacken.

»Du musst dich umziehen«, sagte sie.

Er nickte abwesend.

»Fliegen wir?«, fragte sie sanft, und als er den Kopf schüttelte, umwölkten sich ihre Augen. Sie wusste offenbar nicht, ob sie ihm richtig geraten hatte.

Ich trieb meinen Jaguar rücksichtslos durch den zäh fließenden Verkehr nach Manhattan zurück. Der Chef des New Yorker FBI, John D. High, hatte mich zum Koordinator aller an der Aufklärung des Greenwood-Infernos beteiligten Polizeidienststellen bestimmt. Damit leitete ich praktisch eine Sonderkommission. Die Presse hatte das Wort »Greenwood-Inferno« bereits geprägt. Die Jungs waren schnell mit eingängigen Begriffen bei der Hand. Als ich über den Times Square brauste, leuchtete mir diese Bezeichnung oben auf dem Times Tower entgegen. Die Laufschrift schrie die Nachricht hinaus.

Greenwood-Inferno! Massaker bei Ferrarios Beisetzung. Neuer Gangsterkrieg in Manhattan! Anschlag auf Ferrarios Erben …

Trotz des Regens blieben die Menschen stehen, starrten zum Times Tower hinauf. Und trotz der heulenden Sirene blieb ich im Verkehr stecken. Ich hatte Gelegenheit, über Nino Ferrario nachzudenken. Er war einer der Großen gewesen. Groß und mächtig. Vor über fünfzig Jahren war er nach Amerika ausgewandert, hatte sich hochgekämpft über alle Stationen. Dabei war er nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Ich will sagen, er war nie verurteilt worden. Von Anfang an hatte einer der Mächtigen seine Hand über den kleinen Jungen aus Sizilien gehalten, und als dieser Große abtrat, hatte Ferrario das Imperium an sich gerissen. Und ausgebaut. Bars und Bordelle, Wäschereien und Spielklubs, Gewerkschaften, Versicherungen, Showgeschäft. Ein Wust miteinander verschlungener Unternehmungen auf legaler und illegaler Basis.

Das Imperium, das er jetzt hinterließ, war einfach zu groß für einen einzelnen Erben. Dabei gab es nicht einmal einen natürlichen Erben. Nino Ferrarios einziger Sohn galt seit neun Jahren als verschollen. Man munkelte, er sei von einem weitsichtigen Mann rechtzeitig ausgeschaltet worden. Die Vermutungen reichten von einer in Beton eingegossenen Leiche im Fundament eines Wolkenkratzers bis hin zu einem Mord auf hoher See. Ferrarios Tochter Maria war mit einem neapolitanischen Pizzabäcker verheiratet. Oh my gosh, musste das ein Familiendrama gewesen sein! Ein Pizzabäcker, und ein neapolitanischer dazu! Es war die große Liebe gewesen.

Nino Ferrario musste wochenlang getobt haben. Er hatte alles versucht, Dario Benavente aus der Stadt zu jagen. Sein kleiner Laden unten an der Minetta Lane war zweimal zertrümmert worden. Ferrario hatte ihm einen horrenden Betrag geboten und ihm mit Mord gedroht. Alles vergebens. Maria hatte an ihm festgehalten. Und als Ferrario dann sogar seine Killer losgeschickt hatte, war sie demonstrativ zu Dario gezogen und hatte sich buchstäblich vor ihn gestellt. Da hatte Ferrario aufgegeben und den beiden eine prunkvolle Hochzeit ausgerichtet.

Der Familienfriede war vollends wiederhergestellt, als der Alte seinem Schwiegersohn ein großzügiges Darlehen und auch sonst seine Hilfe anbot. Innerhalb eines halben Jahres verkauften zwei Dutzend Pizzabäcker ihre Läden. An Dario Benavente. Benavente betrieb zuletzt eine Kette von nahezu fünfzig Pizzastuben. Er war ein reicher Mann gewesen. Aber kein Mann, der je seine Hände nach Ferrarios Imperium ausgestreckt hätte. Nein, das würden nun andere tun. Und jeder von ihnen würde versuchen, einen möglichst großen Brocken aus dem Kuchen herauszubrechen.

Ich erreichte unser Office gerade, als die Lunchzeit vorüber war. Phil wartete in unserem gemeinsamen Büro. Mein Freund und Kollege Phil Decker war zu meinem Stellvertreter bestimmt worden, und er hatte bereits mit den Vorarbeiten angefangen.

»Die Filme werden so schnell wie möglich entwickelt«, begann er ohne Umschweife. »Die erste Vorführung kann um sechs Uhr stattfinden. Ich habe alle Akten angefordert, die ich erreichen konnte.«

»Auch in Washington?«

»Klar.«

Nino Ferrarios Geschäftspraktiken waren mehrmals Gegenstand von Untersuchungsausschüssen des Justizministeriums gewesen. Wir mussten jeden erfassen, der jemals mit Ferrario zusammengearbeitet hatte oder jemals sein Feind gewesen war. Die Linien waren dabei fließend. Eine Herkulesarbeit.

»Der Chef will uns sprechen«, sagte Phil. »Am besten gehen wir gleich.«

Wir trabten also los. Helen, seine bildhübsche Sekretärin, deutete nur stumm auf die Tür.

»Warum so schweigsam, Helen?«, fragte ich munter.

Sie sah an mir hinunter, als wäre ich ein Penner, der sich in die Halle eines vornehmen Apartmenthauses verirrt hatte. Okay, meine Hosenbeine waren gelb vom Lehm, die Schuhe hatte ich notdürftig gesäubert, der Mantel lag in meinem Jaguar.

Helen lächelte flüchtig. »Sie sehen aus, als könnten Sie einen Kaffee brauchen, Jerry.«

Ich nickte begeistert. Helen kocht den besten Kaffee, den man nördlich des Village bekommen kann. Phil hatte die Tür zum Büro des Chefs bereits aufgestoßen, und ich folgte ihm ins Allerheiligste.

John D. Highs Gesicht glich einer steinernen Maske. Als wäre er selbst auf dem Friedhof gewesen. Er deutete auf die Sessel.

»Ich habe die Situation unterschätzt«, sagte er. »Ich hätte zwanzig Mann schicken müssen.« Er hob eine Hand, um meinen Einwand zu stoppen. »Sie konnten allein nichts ausrichten. Niemand konnte damit rechnen, dass die Geier so früh losschlagen würden. Und etwas ist anders oder stimmt nicht … Es war so sinnlos.«

Ich nickte. Das war auch meine Ansicht, doch ich schwieg.

»Sie hatten keinen Grund, auf die Trauergäste zu ballern. Es waren alle da, die sich um das Erbe streiten werden. Alle. Stimmt’s?«

»Soweit ich die Gesichter kenne, ja, Sir.«

»Wir müssen die Filme abwarten. Dann können wir erkennen, ob es eine bestimmte Schussrichtung gab, ob sich jemand abseits gehalten hat. Wir müssen durchgreifen. Ich habe die Namen der Opfer.« Mr. High tippte auf eine Gesprächsnotiz, die oben auf dem Aktenstapel lag. »Relativ unwichtige Leute. Außer Dario Benavente natürlich. Ein Mann namens Chris Albert und einer, der Pozzi heißt. Mehr wissen wir noch nicht. Keine Unterlagen im Archiv, jedenfalls sind es keine stadtbekannten Gangster.«

Ich nickte stumm.

»Der Leichenwagen, mit dem die Täter unauffällig auf den Friedhof fahren konnten, wurde nur eine Stunde vor der Beisetzung vom Hof eines Beerdigungsinstituts in Valley Stream gestohlen. Er ist bisher nicht wiederaufgetaucht. Wahrscheinlich steht er verlassen in einer alten Fabrikhalle in Brooklyn. Die Fahndung läuft. Haben Sie etwas Besonderes beobachtet?«

Ich schüttelte den Kopf. Es war so rasend schnell gegangen. Vor meinem inneren Auge lief immer wieder die Szene ab, in der sich Dario Benavente vor seine Frau warf, um sie vor den herantanzenden Kugeln zu schützen. Galt der Mordanschlag ihr?

»Vielleicht handelte es sich doch um eine reine Erbschaftssache«, sagte ich. »Nino Ferrarios Sohn ist wahrscheinlich tot. Nur seine Tochter …«

Mr. High schüttelte den Kopf. Helen kam herein und stellte eine Tasse vor jeden von uns, die sie aus einer Isolierkanne füllte.

Dann zog sie sich lautlos zurück.

Der Chef schlug Nino Ferrarios Akte auf. »Aus den zahlreichen Untersuchungen gegen Mitglieder von Ferrarios Organisation wissen wir, dass er seine Tochter bei ihrer Hochzeit abgefunden hat. Sie erbt zwar das zweifellos vorhandene und mit Sicherheit sehr hohe Barvermögen und den beträchtlichen Grundbesitz. Das ist es jedoch nicht. An diese Werte kommen Ferrarios Konkurrenten ohnehin nicht heran.«

»Verstehe.«

»Es geht um Macht und Einfluss, um die Kontrolle der weitverzweigten Unternehmungen und Interessen. Beim Tod eines so mächtigen Mannes, wie Ferrario einer war, besteht immer die Gefahr, dass die Organisation zersplittert und damit zerfällt. Sie war auf Ferrario zugeschnitten. Niemand ist in der Lage, sie zu übernehmen. Das ist unmöglich, und die Interessenten müssen das wissen. Es wird eine Konferenz geben, und sie werden versuchen sich zu einigen, um unnötige Auseinandersetzungen zu vermeiden, weil die zu nichts führen würden, sondern nur die Augen der Polizei und der Öffentlichkeit auf sie lenken. Nein, Jerry, der Kampf wird sich weitgehend in den Kanzleien der Anwälte abspielen und nicht auf der Straße.«

»Oder auf Friedhöfen«, ergänzte Phil trocken.

Das war einleuchtend. Die anderen Bosse würden sich schnell einig werden müssen. Dann würden ihre Muskelmänner ausschwärmen und den Unterführern, Geschäftsführern, den Dealern und Buchmachern mitteilen, an wen sie in Zukunft ihre »Beiträge« abzuführen hatten. Wer von diesen Leuten eine Chance witterte, sich selbstständig zu machen oder sonst wie versuchen sollte, eine eigene Suppe zu kochen, würde sehr schnell die Brutalität der neuen Gentlemen zu spüren bekommen.

»Okay«, brummte ich. »Was nun?«

»Das Motiv suchen, Jerry. Alle Beteiligten an dem Feuerüberfall vernehmen. Wir müssen unsere Entschlossenheit demonstrieren durchzugreifen. Suchen Sie nach einer legalen Möglichkeit.«

Ich nickte. »Ich habe eine Idee …«

»Schön, Jerry, die Einzelheiten überlasse ich Ihnen und Phil. Ich schlage vor, wir sehen uns bei der Vorführung.«

Damit waren wir entlassen. Ich schnappte mir die Akten, die auf dem Schreibtisch des Chefs lagen, und zog mich zusammen mit Phil zurück.

2

Das Floral Park Motel, gerade außerhalb der Stadtgrenze westlich von Queens gelegen, schloss unmittelbar an das Gelände des exklusiven Belmont Park Race Track an, eine der bedeutendsten Pferderennbahnen Amerikas. Durch die große Scheibe im Konferenzsaal des Hauptgebäudes hatte man einen herrlichen Ausblick auf die weite Anlage mit den Stallungen, Trainingsbahnen und Sattelplätzen.

Die Männer im Saal hatten keinen Blick für diesen Platz, auf dem sonst ihre Pferde liefen. Abgesehen davon, dass ihre Interessen heute anderer Natur waren, lag die Rennbahn hinter dichten Regenschleiern verborgen.

Ein Fernsehapparat lief in einer Ecke, aber die Berichterstattung über das Greenwood-Inferno war unterbrochen worden, und jemand hatte den Ton abgedreht. Eigentlich hätte hier die Leichenfeier stattfinden sollen. Die Tische waren mit schweren Damasttüchern bedeckt, Silber glänzte, und geschliffene Gläser funkelten. Doch auf den Tellern lagen nur Sandwiches und Hamburgers. Niemand hatte rechten Appetit.

Die Männer, die hier versammelt waren, gehörten zur Mafia. Es waren die Bosse mit ihren Beratern. Die Gorillas warteten draußen.

Jemand klopfte mit einem Messer an sein Glas. Es war Vincente Calabro, der Senior der Runde. Gerade hatte einer seiner Leute ihm einen Zettel überreicht. Die Runde schwieg erwartungsvoll, und jeder blickte den kleinen weißhaarigen Mann aufmerksam an.

Wenn Calabro sprach, schwiegen selbst die anderen, ebenso Mächtigen.

»Ich habe die Namen der Getöteten. Zwei von ihnen sind Figuren, die niemand kennt. Carlo Pozzi und Chris Albert. Dass Dario Benavente umgekommen ist, wussten wir bereits aus den Nachrichten.« Der alte Mann blickte jeden in der Runde an. Er hatte stechende schwarze Knopfaugen. »Pfuscharbeit!«, fauchte er. »Pfusch!« Seine Augen blieben auf Lorenzo Tomasi hängen.

Tomasi war ein schwerer Mann mit einem mächtigen Körper, einem fleischigen Gesicht, dessen Wangen blau schimmerten, obwohl er sich mehrmals am Tag rasierte. Einer seiner »Adjutanten«, wie er seine Gorillas nannte, musste stets Rasierzeug mit sich herumschleppen.

Tomasi hielt dem Blick stand. Nach zähem Schweigen entblößte er einige Goldzähne. »Mein lieber Vincente«, sagte er langsam, »ich habe nur das tun lassen, was wir vorher vereinbart haben. Jeden infrage kommenden Mann …«

»Dario gehörte nicht zu diesem Kreis«, unterbrach Calabro ihn. Seine Stimme klirrte vor Kälte.

»Ein unglücklicher Zufall. Er sprang in die Schusslinie. Du hast es sicher gesehen …«

»Ich habe es gesehen. Dario hat sich für seine Frau geopfert. Wer hätte das von einem Pizzabäcker erwartet! Das hätte Nino noch erleben müssen! Er wäre stolz auf seinen Schwiegersohn gewesen! Aber«, jetzt klang die Stimme wieder schneidend, »wieso konnte Maria in die Schusslinie geraten? Lorenzo, dafür musst du dich verantworten!«

Die anderen Mitglieder der Runde, soweit sie stimmberechtigt waren, murmelten zustimmend.

Tomasis Gesicht zog sich finster zusammen. »Wir alle sind verantwortlich. Es hat eine Abstimmung stattgefunden. Dieser Unfall hätte jedem passieren können …«

»Er ist dir passiert«, schaltete sich Oliver Santomo milde ein. »Du musst dir etwas einfallen lassen, Lorenzo.« Oliver Santomo war Tomasis einziger und ältester Freund. Santomo wollte Tomasi helfen. »Ich schlage vor, du bringst die Sache ins Reine, indem du den Jungen findest.«

Tomasi brauste auf. »Wie soll ich das machen? Bist du wahnsinnig?«

»Das ist deine Sache, Lorenzo. Du wirst es schon schaffen. Was meinst du, Vincente?«

Der Weißhaarige starrte Santomo lange an. »Wir müssen den Jungen ausschalten«, antwortete er schließlich leise. »Er stellt eine Gefahr für uns alle dar. Und solange er lebt, kann keiner von uns Ninos Geschäfte übernehmen. Es ist zu gefährlich. Wir müssen abwarten …«

»Wenn wir nicht bald etwas unternehmen, bröckelt Ninos Organisation uns unter den Fingern auseinander«, gab einer aus der Runde zu bedenken. »Wir kennen das doch. Wenn der Druck nur ein paar Tage lang nachlässt, werden die Leute aufsässig.«

»Lorenzo«, sagte Calabro, »du hast es gehört. Morgen Abend will ich den Kopf des Jungen.«

»Du bist verrückt!«, keuchte Tomasi.

Die Männer sahen den schweren Tomasi missbilligend an. Tomasi verlor die Nerven. Ein schlechtes Zeichen. Er schluckte und ließ sich zurücksinken.

»Wie soll ich das machen?«, fragte er. Er drehte die Innenseiten seiner breiten Hände nach außen.