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Der ganze Fall begann wie ein Albtraum. Viveca Martin, eine bildhübsche und geheimnisumwitterte junge Frau, verunglückte tödlich mit ihrem Wagen - aber sie lebte trotzdem. Das stand unumstößlich fest, als Phil und ich in diesen Fall einstiegen. Sie lebte, obwohl ihre Leiche identifiziert und vom Gerichtsmedizinischen Institut obduziert worden war. Wir witterten sofort, dass es sich um eine brandheiße Sache handelte. Und wir behielten recht - es ging um den Geheimfall PSI, um ein Milliardenprojekt der NASA.
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Seitenzahl: 212
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Impressum
Geheimfall PSI
Vorschau
BASTEI LÜBBE AG
Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
© 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Nomad_Soul / shutterstock
eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 9-783-7517-0822-7
www.bastei.de
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Geheimfall PSI
Der ganze Fall begann wie ein Albtraum. Viveca Martin, eine bildhübsche und geheimnisumwitterte junge Frau, verunglückte tödlich mit ihrem Wagen – aber sie lebte trotzdem. Das stand unumstößlich fest, als Phil und ich in diesen Fall einstiegen. Sie lebte, obwohl ihre Leiche identifiziert und vom Gerichtsmedizinischen Institut obduziert worden war. Wir witterten sofort, dass es sich um eine brandheiße Sache handelte. Und wir behielten recht – es ging um den Geheimfall PSI, um ein Milliardenprojekt der NASA.
1
Der Türgong von Thelma Weelis' Luxusapartment spielte die ersten Takte des Songs What a difference one day makes. Und in der Tat sollte dieser Sonntag im September dem attraktiven Callgirl die größte Veränderung bringen, die es für den Menschen gibt, den Tod.
Die Mörder, von denen einer jetzt auf dem Korridor wartete, wollten nicht aus Hass, Eifersucht oder deshalb töten, weil Thelma Weelis irgendjemand im Weg war, verschwinden musste. Nein, sie brauchten eine Leiche, und Thelma war nur unter diesem Gesichtspunkt ausgewählt worden. Einfach so ...
Thelma warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel. Er zeigte ihr eine schlanke, mittelgroße Frau mit guter Figur und dunkelblondem Haar, die man für so alt halten konnte, wie sie war, Mitte dreißig.
Mit schwingenden Hüften ging sie zur Tür, um dem Kunden zu öffnen, der sich gegen Mittag per Telefon angemeldet hatte. Jetzt war es acht Uhr abends. Frank Lorrin, wie sich der Mann genannt hatte, schien auf Pünktlichkeit zu halten.
Als Referenz hatte er Lalo Cernosa angegeben, den Thelma kannte. Obwohl bei neuen Kunden sonst sehr vorsichtig, hatte sie ihm daraufhin gestattet, sie zu dem zunächst vereinbarten Abendbummel in ihrer Wohnung abzuholen.
Normalerweise traf sie sich mit Neuen das erste Mal stets in Randy's Bar an der Rutgers Street, wo sie ihn in sicherer Umgebung unter die Lupe nehmen konnte. In einem Job wie ihrem musste man vorsichtig sein. Es gab genug Perverse, die einem nur Ärger machen konnten. Oder frustrierte Ehemänner, die nur eines wollten, sich bei einer hübschen Frau ausheulen.
»Mister Lorrin?«, fragte sie durch die Tür und warf einen Blick durch den Spion. Sie sah das Gesicht eines jüngeren Mannes mit dunklem, halblangem Haar. Er mochte dreißig sein. Sein Teint war von ungesunder blasser Farbe.
»Der bin ich«, sagte der Mann.
»Einen Moment, ich komme gleich«, gab Thelma ohne Begeisterung zurück. Der Typ sagte ihr nicht zu.
Sie ging zur Garderobe, um einen leichten Mantel zu holen. Dabei fühlte sie die eng sitzende winzige Garnitur und den Strapsgürtel. Wie immer, wenn sie einen neuen Kunden zum ersten Mal traf, hatte sie sich besonders nett garniert, um den Betreffenden eventuell als ständigen Freier zu gewinnen. Die Konkurrenz in ihrem Job war groß, man durfte keine Chance ungenutzt lassen. Besonders, wenn man nicht mehr die Jüngste war.
Der hier wird allerdings kaum in den Kreis meiner Stammkunden aufgenommen werden, sagte sie sich, als sie die Sicherheitskette löste, die beiden Schlösser zurückschnappen ließ und die Tür öffnete.
Sie blickte genau in die hässliche Mündung eines kurzläufigen Revolvers. Der Mann hielt ihn vor sich in Hüfthöhe und deckte ihn außerdem mit einem über den Arm gehängten Trenchcoat. Ein etwa vorbeigehender Hauseinwohner vermochte die Waffe nicht zu sehen.
Thelma stutzte, bis ihr Gehirn den Eindruck der plötzlichen Gefahr verarbeitet hatte. Sie wollte die Tür wieder zuwerfen, aber der Mann machte einen schnellen Schritt und drängte sie zurück in die Wohnung. Mit dem Fuß drückte er hinter sich die Tür leise zu.
»Sie müssen mitkommen«, bemerkte er knapp. »Machen Sie keinen Unsinn, dann passiert Ihnen nichts.«
»Was wollen Sie?«, fragte sie mit trockener Kehle. Sie kannte das Milieu gut genug, um ihre Situation richtig einzuschätzen. Sie musste tun, was der Kerl wollte, mindestens erst einmal. Während sie in das junge, eingefallene Gesicht starrte, jagten sich ihre Gedanken.
Worauf konnte das Ganze hinauslaufen? Wollte ein besonders perverser Gangster sie haben? Hatte man vor, sie zu erpressen? Wenn ja, womit? Es gab in ihrem Leben nichts, was dazu hätte dienen können.
»Jemand möchte Sie sprechen«, erklärte der Mann. Er steckte den Revolver in die Jacketttasche, und Thelma sah, dass er den Finger am Abzug behielt. »Sie gehen rechts von mir. Wir fahren im Lift runter. Unten wartet ein Auto. Sie steigen hinten ein, ich setze mich neben Sie. Versuchen Sie nicht zu schreien oder wegzulaufen, Sie bringen sich nur in Gefahr. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Sicher.« Thelma hatte ihre Fassung wiedergewonnen. Zwar durchschaute sie die Situation nicht, doch sah sie keinen Grund, weshalb jemand ihr ernstlich übelwollen sollte. Im Lauf der Jahre waren ihr schon etliche höchst unangenehme Dinge untergekommen. Sie würde sehen, was man von ihr wollte.
Jedenfalls glaubte sie nicht an nennenswerte Gefahr. Sie verließ ihr Apartment, schloss ab und begleitete den Mann zum Lift. Die Kabine kam gerade herauf.
Ihr unheimlicher Begleiter verhielt sich schweigsam, achtete jedoch sorgfältig auf jede ihrer Bewegungen.
Die Liftkabine stoppte vor ihnen. Die beiden Türen glitten in die Wand. Thelma erblickte ihre Freundin Dorothy Gribble.
»Hallo, Thelma, du gehst weg?« Die füllige Rothaarige trat aus dem Lift und lächelte. »Du, ich hab eine große Neuigkeit. Ich erzähl sie dir schnell. Der Gentleman wird eine Minute warten, nicht?«
Thelma verspürte an ihrer linken Seite den unheimlichen Druck des Revolvers.
»Leider haben wir's ziemlich eilig, Dot«, sagte sie mit steinerner Miene, »wir werden schon erwartet. Aber da du schon mal da bist, geh bitte auf einen Sprung in meine Wohnung und füttere die Fische, ja? Ich hab glatt vergessen, ihnen was zu geben.«
»Okay, mach ich.« Das Lächeln war auf Dorothys Gesicht gefroren. »Dann bis bald.« Sie wandte sich schnell ab und ging den Korridor entlang. »Viel Spaß«, rief sie noch von Weitem, doch der Gang war bereits leer.
Dot Gribble blieb stehen und biss sich auf die Lippen. Dann drehte sie sich um, rannte zur Treppe. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit lief sie in ihren hochhackigen Schuhen die Stufen hinunter. An den Treppenabsätzen schwang sie sich am Geländer herum.
Sie musste unbedingt sehen, was auf der Straße mit ihrer Freundin passierte. Denn die Aufforderung, die Fische zu füttern, bedeutete, dass sich Thelma in Gefahr glaubte. Sie besaß gar kein Aquarium. Die Worte waren vereinbart.
Dorothy erreichte das Erdgeschoss und rannte auf die Straße. Um durch das Klappern ihrer Hacken nicht aufzufallen, riss sie sich kurzerhand die Schuhe von den Füßen. Auf Strümpfen eilte sie weiter.
Drüben auf der anderen Straßenseite sah sie Thelma und den Kerl dicht an deren Seite. Es sah aus, als bedrohte er die Freundin mit einer in der Tasche gehaltenen Waffe. Jetzt stiegen die beiden in einen Wagen.
Dorothy spurtete über die Straße und rannte von hinten auf den Wagen zu, dessen Beleuchtung gerade anging. Sie kam nahe genug heran, um sich Typ und Nummer zu merken. Dann rauschte der Ford ziemlich schnell ab.
»Verdammter Mist, was mach ich jetzt?«, murmelte sie.
Die Kälte des Gehsteigs erinnerte sie an ihre Schuhe. Eilig ging sie zurück. Nachdem sie die Pumps gefunden hatte, stieg sie in ihr eigenes Auto. So schnell es ging, fuhr sie in die East 69th Street Manhattans. Vor einem großen Gebäude fand sie einen Parkplatz.
Sie stieg aus und rannte mehr als sie ging zum Eingang. In der weiten Halle standen in einer Art Kiosk mehrere uniformierte Polizisten. Dorothy stoppte bei ihnen ihren Lauf.
»Was gibt's, Madam?« Einer der Polizisten betrachtete neugierig ihre auffällige Erscheinung.
»Ich möchte einen Agent sprechen.«
»Worum handelt es sich?«
»Das möchte ich nur dem Agent sagen.«
»Okay, gehen Sie zur Nachtbereitschaft. Füllen Sie erst den Besucherzettel aus.«
»Muss das sein?« Dorothys Hände zitterten vor Aufregung.
»Sorry, Madam, Vorschrift.«
»Wenn's nicht anders geht.« Dorothy füllte das Formular aus und eilte zu den Lifts.
Einige Minuten später saß sie mir gegenüber. Es war reiner Zufall, dass ich gerade nichts anderes zu tun hatte.
Ziemlich aufgeregt erzählte sie mir ihr Erlebnis.
»Thelma ist ernstlich in Gefahr, Agent Cotton«, erklärte sie mit einem Augenaufschlag, der nicht von Pappe war. »Ich hab 'nen Blick für so was. Der Kerl, der sie abschleppte, sah ziemlich mies aus.«
»Vielleicht ist Ihre Freundin in der Wahl ihrer Kundschaft nicht besonders wählerisch«, gab ich skeptisch zurück. »Haben Sie Anhaltspunkte, dass Miss Weelis etwas zustoßen könnte? Ich meine, was über das normale Berufsrisiko hinausgeht.«
»Sehen Sie, Agent Cotton, in unserem Job muss man sich vorsehen.« Dorothy Gribble schlug ihre schwarzbestrumpften Beine übereinander und steckte sich nervös eine Zigarette an. »Deshalb habe ich mit Thelma ein paar harmlos klingende Sätze vereinbart, durch die wir uns gegenseitig Gefahr signalisieren können, wenn ein unheimlicher Typ da ist. Das mit dem Füttern der Fische ist die stärkste Form.« Sie hustete. »Thelma wollte mir sagen, dass sie sich unter Zwang befand und sich fürchtete.«
»Okay, dann erzählen Sie bitte noch einmal genau«, forderte ich sie auf. »Jede Einzelheit ist wichtig.«
Dorothy Gribble tat es. Ihre Schilderung klang plausibel. Es war nicht von der Hand zu weisen, dass Thelma Weelis unter Androhung von Waffengewalt aus ihrer Wohnung entführt worden war.
»Hallo, Tom«, wandte ich mich an meinen Kollegen Hower, »lass doch mal die Wagennummer durchlaufen.« Ich gab ihm das Kennzeichen, das sich meine Besucherin notiert hatte.
»Okay, Jerry.« Tom ging an eines der Computerterminals und begann, die Tastatur zu bearbeiten.
In unserem Computer werden täglich sämtliche Daten der Autos eingespeist, die im Distrikt New York und in der Nachbarstadt New Jersey als gestohlen gemeldet werden. Das meiste diesbezügliche Material liefert die City Police. Ich sah Tom die rote Taste für Operation drücken, stand auf und stelle mich hinter ihn. Die »Schwarze Lola«, wie wir unseren Computer scherzhaft nennen, fragte jetzt in Sekundenbruchteilen ihre Magnetspeicher ab. Ich konnte gerade einmal Atem holen, als schon die grünlichen Antwortbuchstaben auf den Schirm sprangen.
Fahrzeug Sonntag, 14. September, 11:40 Uhr, Polizeibezirk 17, New Jersey als gestohlen gemeldet.
»Ist gestohlen, Jerry.« Tom blickte zu mir auf. »Was Besonderes?«
»Weiß noch nicht, danke.« Ich kehrte zu Dorothy Gribble zurück. »Weshalb sind Sie gleich zum FBI gekommen? Normalerweise ist so was Sache der City Police.«
»Ich hab von den Callgirl-Morden der letzten Wochen gehört, Agent Cotton. Offen gesagt, wir fürchten uns.«
»Kann ich mir denken.«
Ich kannte den Fall. Kollegen von mir bearbeiteten ihn. Es handelte sich um eine Mordserie, der bisher sieben Callgirls zum Opfer gefallen waren. In drei Wochen.
Dazu musste man eines wissen. Bei den sieben Schönen der Nacht handelte es sich ausnahmslos um Frauen von der Westküste. In Frisco und Los Angeles war es im einschlägigen Milieu zu so etwas wie einer Palastrevolution gekommen. In ihrem Verlauf hatten eine Anzahl von Callgirls versucht, sich von ihrem Prostitutionsrackett zu lösen. Die Gangster waren daraufhin ziemlich ruppig geworden, was zu einer Flucht diverser Ladys an die Ostküste geführt hatte.
Um die Disziplin zu wahren, hatte das Rackett Killer losgeschickt, um die Flüchtigen zu bestrafen. Die Morde sollten sich an der Westküste herumsprechen und weiteren Callgirls die Lust nehmen, es auf der anderen Seite der Staaten zu versuchen.
»Kam Miss Weelis aus einer Stadt am Pazifik?«, fragte ich.
»Keine Spur. Sie stammt von hier und hat immer in New York gelebt. Hat das etwas mit der Sache zu tun?«
»Sieht nicht so aus.« Ich erklärte Dorothy Gribble den Zusammenhang. »Aber da Sie nun schon mal hier sind, will ich sehen, was ich tun kann.«
Sie nickte, lächelte mich dankbar an.
»Gehört zum Job.« Ich gab ihr Lächeln flüchtig zurück.
Dann rief ich bei Thelma Weelis an. Niemand nahm ab. Ich schickte Dorothy Gribble zu einem unserer Spezialisten, damit ein sogenanntes Mimic, ein Phantombild, von dem Mann angefertigt wurde, der Thelma weggebracht hatte.
»Danach können Sie nach Hause gehen«, sagte ich. »Wenn Sie etwas von Miss Weelis hören, rufen Sie uns an.«
»Vielen Dank, G-man. Und bitte, informieren Sie mich, wenn Sie von Thelma hören. Sie haben ja meine Telefonnummer.«
Die letzten Worte sagte sie ziemlich bedeutungsvoll.
»Okay.« Ich nickte ihr zu und sah sie hinausstöckeln.
Während ich auf das Mimic wartete, dachte ich über die mysteriöse Angelegenheit nach. Mit der Mordserie schien sie nicht in Zusammenhang zu stehen.
Da war jedoch ein Mann, der ein Callgirl offenbar unter Waffenandrohung abgeschleppt hatte. Dann ein gestohlenes Fahrzeug. Gangster stehlen Autos gewöhnlich nur dann, wenn sie eine heiße Sache damit vorhaben. Lag dies vor, wozu benötigten sie Thelma Weelis?
Ich wusste zu jener Zeit noch nicht, wie dringend die Bedauernswerte gebraucht worden war und dass sie sich schon nicht mehr unter den Lebenden befand, als das fertige Mimic in der Rohrpostkapsel heraufgeschossen kam.
Ich sah es mir an. Wenn es einigermaßen stimmte, musste der Typ um die dreißig sein und so aussehen, als sollte er bald mal zum Arzt gehen. Visagen dieser Art begegnete man auf der Straße alle hundert Yards.
Viel wird damit nicht anzufangen sein, dachte ich. Aber dann stand ich doch auf.
»Ich geh mal ins Archiv«, informierte ich die Kollegen. »Es dauert wahrscheinlich länger.«
»Okay, wir holen dich, falls die Welt untergehen sollte«, meinte einer von ihnen.
Minuten später saß ich vor einem der zahlreichen Mikrofilmlesegeräte und ließ Gesicht um Gesicht vor mir vorüberziehen. Zunächst hatte ich alle Ganoven ausgewählt, die in den letzten fünf Jahren im Distrikt New York von uns oder der City Police steckbrieflich gesucht oder zu mehr als sechs Monaten Haft verurteilt worden waren. Dem Alter nach konnte der verdächtige Bursche nicht gut aus den Zeiten Al Capones stammen.
Wenn man sucht, muss man Geduld haben. So verging fast eine Stunde. Dann hatte ich ihn.
Die Ähnlichkeit war so groß, dass eine Verwechslung fast ausgeschlossen werden konnte. Bei dem Mann handelte es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um William Ezard Keely, genannt Bill, einen ziemlich schweren Jungen. Er war vor drei Jahren wegen Teilnahme an einem bewaffneten Raubüberfall zu vier Jahren Haft verurteilt worden, ein Jahr später aber bei Außenarbeiten geflüchtet. Vor acht Monaten hatte Keely zusammen mit zwei Komplizen eine Bank im Stadtteil Yonkers überfallen, nahezu achtzigtausend Dollar erbeutet und auf dem Rückzug einen zivilen Wachmann erschossen. Eine automatische Kamera hatte den Hold-up gefilmt. Seitdem wurde Keely gesucht.
Die Sache nahm Gestalt an. Ich machte mir eine Kopie von den Unterlagen über Keely, legte die Mikrofilmspulen in ihre Fächer zurück und verließ das Archiv.
Wenn der Chef zustimmte, wollte ich den Fall zusammen mit meinem Partner und Freund Phil Decker übernehmen. Mein Riecher für ungewöhnliche Verbrechen sprach an.
Ein hartgesottener Gangster wie Keely war nicht so dumm, sich eine Mieze mit der Puste zu holen. Falls er die hundert oder auch zweihundert Bucks dafür nicht hatte, bedeutete es weniger Risiko, sie sich von einem Straßenpassanten zu holen. Außerdem würde er dazu nicht extra ein Auto stehlen. Also musste hinter der Entführung von Thelma Weelis, an der ich nun nicht mehr zweifelte, etwas anderes, Gewichtigeres stecken.
Hätte ich in jener Nacht gewusst, welches Superding da gerade ausgekocht wurde – ich hätte Mr. High aus dem Bett geholt und das gesamte New Yorker FBI alarmiert. Doch wer kann schon in die Zukunft sehen?
Im Bereitschaftsraum knobelte ich weiter an der mysteriösen Angelegenheit herum, ohne eine plausible Erklärung zu finden.
Um gleich etwas zu tun, rief ich die Zentrale der City Police an und bat darum, nach Thelma Weelis Ausschau zu halten und uns sofort zu verständigen, falls sie gefunden werden sollte.
Tatsächlich war das zum Zeitpunkt meines Anrufs bereits geschehen. Allerdings hatte die arme Thelma eine so einschneidende Veränderung ihres Äußeren hinnehmen müssen, dass man sie zunächst nicht erkannte.
Genauer gesagt, ihre Leiche.
2
Es war Montag früh, kurz vor zwei Uhr, als Viveca Martin von einer Party bei Freunden zu ihrer Wohnung im Stadtteil Douglaston zurückkehrte. Sie hatte sich nett unterhalten, wenig getrunken und fühlte sich wohl. Außerdem freute sie sich auf ihre Arbeit. Montags musste der wöchentliche Projektreport für die Direktion der NASA erstellt werden. Das gab mächtig viel zu tun bis in den Abend hinein, aber die Tätigkeit war höchst interessant und füllte Viveca völlig aus. Sie war zufrieden, ruhig und ein wenig müde.
Wie gewöhnlich wollte sie ihr Chevrolet Nova Coupé in die Tiefgarage des Apartmenthauses fahren. Am Beginn der Einfahrtsrampe stoppte sie neben dem rot gestrichenen Pfahl mit dem Schaltkasten für das Tor. Sie ließ die Scheibe herunterfahren und wollte den Schlüssel in das Schaltschloss stecken.
In diesem Moment wurde die rechte Tür aufgerissen. Ein Mann sprang herein und rutschte auf den Sitz neben sie. Er hielt eine Pistole in der Hand.
»Ganz ruhig, dann passiert Ihnen nichts«, zischte er mit drohender Eindringlichkeit. »Tun Sie, was ich sage. Wenn Sie Unsinn machen, schieße ich.«
»Was wollen Sie?« Vivecas Stimme klang belegt.
Sie starrte erschrocken in das Gesicht eine jüngeren Mannes, der das dunkle Haar halblang trug. Im schwachen Licht des Wageninneren wirkte er ungesund. Von den Wangen liefen scharfe Falten zu den Mundwinkeln. Die Augen lagen tief in den Höhlen.
»Dass Sie erst mal in die Garage fahren. Immer schön ruhig, klar? Sollten wir jemand begegnen, dann unterhalten wir uns nett, verstanden?«
»Ja.«
Mit zitternder Hand drehte sie den Schlüssel. Unten leuchtete die Signallampe auf, und das Tor begann sich zu heben. Viveca ließ den Wagen anrollen. Eine Hälfte ihres Verstands weigerte sich noch, den Überfall als Realität zu akzeptieren. Die andere dachte fieberhaft über Rettungsmöglichkeiten nach. Denn dies war erst der Anfang.
Der Anfang von was?, fragte sie sich. So wie der Kerl aussah, würde es wohl auf Raub mit anschließender Vergewaltigung hinauslaufen.
Der Mann befahl ihr, zu ihrem Abstellplatz zu fahren. Sie kurvte langsam durch die weitläufige Tiefgarage, die sich unter dem gesamten Apartmenthaus erstreckte. Ihr fiel auf, dass die Beleuchtung nicht brannte. Normalerweise ging sie automatisch an, wenn man den Tormechanismus in Bewegung setzte.
Auf ihrem Abstellplatz stand ein anderer Wagen. Sie erkannte einen hellblauen Ford.
»Stopp«, sagte ihr unheimlicher Begleiter. »Nicht hinter der blauen Karre.«
Viveca befolgte die Anweisung. Im Licht ihrer Scheinwerfer sah sie zwei weitere Männer aus dem Ford steigen. Sie kamen heran. Beide waren etwas älter als der Kidnapper neben ihr. Einer davon ein Dunkelhäutiger.
»Alles okay?«, fragte der Dunkelhäutige und warf einen abschätzenden Blick auf Viveca.
»Sicher, ihr könnt umpacken.« Der Hohlwangige wandte sich Viveca zu und winkte mit der Waffe. »Los, aussteigen.«
Da ihr nichts anderes übrig blieb, gehorchte sie. Einer der beiden anderen nahm ihr die Armbanduhr und zwei Ringe ab, packte sie von hinten, riss ihr die Arme auf den Rücken und fesselte sie. Viveca wollte im jähen Schreck schreien, aber sie kam nicht dazu. Der Dunkelhäutige drückte ihr ein langes Stück Klebestreifen auf den Mund und wickelte es zweimal um ihren Kopf. Er grinste sie hämisch an und gab ihr einen leichten Stoß in den Rücken.
»Da rüber, Süße.«
Er dirigierte sie zum Ford, riss die rechte hintere Tür auf und schob sie hinein. Der Stoß ließ sie stolpern. Sie fiel schräg auf die Sitzbank und landete auf einem Körper. Es war eine dunkelblonde Frau, die ziemlich stark nach Parfüm duftete. Von ihrem Kopf ging allerdings ein anderer Geruch aus. Es musste sich um ein Betäubungsmittel handeln.
Viveca rappelte sich auf und setzte sich neben die Frau. Zunächst hielt sie diese für ein zweites Opfer der Gangster. Doch dann bemerkte sie die blicklos geöffneten Augen und den halb offen stehenden Mund.
So sehen Tote aus, durchfuhr es sie. Oder befand sich die andere nur in tiefer Bewusstlosigkeit? Sie hatte nur wenige Sekunden Zeit, darüber nachzudenken. Der Hohlwangige kam zu ihr herüber und setzte sich ans Lenkrad des Ford. Die beiden anderen öffneten die Tür gegenüber und hoben den Körper heraus. Er war völlig schlaff. Die Arme und der Kopf pendelten haltlos.
Die hat entfernte Ähnlichkeit mit mir, schoss es Viveca durch den Kopf. Unwillkürlich wandte sie den Kopf. Die andere wurde zu ihrem Wagen getragen und auf die hintere Sitzbank gelegt.
Die zwei Männer kamen zurück, holten verschiedene Gegenstände aus dem Kofferraum des Ford und luden sie ebenfalls in Vivecas Chevy. Dann erschienen sie erneut.
»Wir fahren los«, sagte der Dunkelhäutige.
»Okay, alles nach Plan«, gab der Hohlwangige zurück. »Und Sie, Miss Martin, legen sich jetzt auf den Boden«, befahl er. »Sam, deck sie zu. Wenn Sie sich rühren, bevor ich es Ihnen erlaube, kann Sie das Ihr Leben kosten. Haben Sie mich verstanden?«
Sie nickte und tat, was der Gangster verlangte. Als sie auf dem Teppich vor den Hintersitzen lag, warf der Mulatte eine Decke über sie.
Der Hohlwangige startete den Motor. Sie merkte, wie er aus der Tiefgarage fuhr. Danach verlor sie die Orientierung. Ihre Gedanken überschlugen sich.
Das hier war kein gewöhnlicher Überfall auf eine Frau, soviel stand fest. Die Gangster hatten sie äußerst schonend behandelt – fast rücksichtsvoll.
Für Entführer. Das musste es sein. Die drei Männer waren beauftragte Profis. Dann begann sie jedoch wieder, an ihrer Theorie zu zweifeln.
Sie besaß kein Vermögen. Ihre Eltern lebten nicht mehr. Gewiss, als Ingenieurin im Büro von Professor Edgar Loft verdiente sie nicht schlecht, doch niemand, den sie kannte, würde ein nennenswertes Lösegeld für ihre Freilassung bezahlen. Worauf also lief das Ganze hinaus?
Sie suchte sich mit der Feststellung zu beruhigen, dass man sie nicht zu töten und auch nicht zu misshandeln beabsichtigte. Jemand wollte etwas von ihr. Sie konnte sich zwar im Augenblick keine Vorstellung machen, was das sein könnte, aber es würde sich zeigen. Sie gewann Zeit, konnte vielleicht verhandeln.
Die andere fiel ihr ein, deren Ähnlichkeit mit ihr. Weshalb hatte man sie in ihren Wagen geladen?
Geladen, wiederholte Viveca in Gedanken. Plötzliche Erkenntnis lähmte sie fast. Sie glaubte zu wissen, worauf das alles hinauslief.
Sie selbst war eine sehr wichtige Mitarbeiterin von Professor Loft. Wenn sie verschwand, würde mit großem polizeilichem Aufwand nach ihr gesucht werden. Wie nun, wenn sie gar nicht verschwunden war, sondern ganz einfach tot? Kein Polizist würde auch nur einen Schritt tun, um die Angelegenheit weiter aufzuklären. Ein Verkehrsunfall, aus.
Die andere sollte ihre, Vivecas Stelle einnehmen. Jedenfalls deutete viel darauf hin. Deshalb benötigen die Gangster ihren Chevrolet. Sie würden das Fahrzeug mitsamt der anderen in Brand stecken. Wahrscheinlich war die dunkelblonde Frau bereits tot.
Zu diesem Zweck ermordet.
Viveca Martin glaubte, vor Angst den Verstand zu verlieren. Falls sie sich nicht grundlegend irrte – und dafür konnte sie keinerlei Anzeichen sehen –, würde sie nie wieder freikommen. Die drei Gangster, Mörder wahrscheinlich, hatten sich vor ihr in aller Ungezwungenheit ohne Masken gezeigt. Sie mussten wissen, dass ihr Opfer niemals Gelegenheit bekommen würde, an ihrer Identifizierung mitzuwirken.
Also lauert auf mich ebenfalls der Tod, dachte sie schaudernd. Angst überschwemmte ihr Denken. Alles in ihr war nur noch ein einziger Hilfeschrei.
»Okay, ab!«
Der in der Tiefgarage zurückgebliebene Dunkelhäutige ließ sich hinter das Lenkrad des roten Vega-Coupés gleiten und winkte seinem Komplizen.
»Bringen wir's hinter uns«, versetzte der andere.
Er war mittelgroß, schlank und hatte rötliches Haar, im Ganzen eine unauffällige Erscheinung. Man hätte ihn für einen kleinen Versicherungsvertreter halten können, der den Tag über in billigen Mietshäusern Klinken putzte.
Der Dunkelhäutige steuerte den gut erhaltenen Wagen ruhig aus der Garage und schlug die Richtung nach Südosten ein. Sie hatten die Sicherheitsgurte angelegt, denn sie wollten auf keinen Fall einer Polizeistreife Grund geben, sie anzuhalten.
»Machen wir's an der Brücke?«, fragte der Rothaarige nach einigen Minuten.
»Es bleibt dabei, Banky. Ich hab keine Lust, länger als nötig mit der Leiche rumzugondeln.«
»Okay, die Stelle ist günstig, Sam.« Banky warf einen Blick nach hinten auf den leblosen Körper. »Ich bin froh, dass Bill es gemacht hat. Mir wär's verdammt schwergefallen. Ob sie viel gespürt hat?«
»Keine Spur, die war nach spätestens zehn Sekunden weg. Das Zeug wirkt rapide bei starker Konzentration.«
»Hm.« Banky hatte den Mord, der vor Kurzem vor seinen Augen verübt worden war, noch nicht ganz verdaut. Er steckte sich eine Zigarette an und blickte nach vorn. Sie fuhren den Northern Boulevard entlang, eine durchgehende Verbindungsstraße, die aber nicht den Charakter eines Express Way besaß. Jetzt, zwischen zwei und drei Uhr früh, herrschte wenig Verkehr. Um diese Zeit hatte es auch die zähesten Wochenendschwärmer nach Hause getrieben, und für den Berufsverkehr war es noch zu früh.
Wenig später kam eine Brücke in Sicht. Sie führte über den Alley Creek. Der Wasserlauf, hier etwa zwanzig Yards breit, mündete nach Norden in die Little Neck Bay.
»Da wären wir.«
Sam ließ den Wagen über die Brücke und durch die anschließende Rechtskurve rollen, fuhr noch ein Stück weiter und wendete. Knapp hundert Yards vor der Brücke stoppte er.
Jetzt handelten sie sehr schnell.
Sie setzten die dunkelblonde Tote hinters Lenkrad und schnallten sie fest. Banky streifte ihr Uhr und Ringe Vivecas an Handgelenk und Finger.
»Ist die Handtasche da«? fragte er.
»Liegt hinten.« Sam holte aus dem Kofferraum einen Reservekanister. Dann band er das Lenkrad mit Nylonschnur fest.
Der Bug des Coupés zeigte auf das Geländer am Beginn der Brücke. Wenn der Wagen losfuhr und nicht nach links gelenkt wurde, musste er das Geländer durchbrechen. Dahinter führte eine steile, mit Steinen armierte Böschung hinunter zum Ufer des Creek. Direkt am Wasser befand sich ein weiteres Geländer aus solidem Profileisen.
Sam hatte den Motor abgestellt. Jetzt rückte er den Wählhebel der Automatik in Leerlaufstellung und klemmte das Gaspedal mit einem Stück Styropor in Vollgasstellung fest. Die linke Seitenscheibe ließ er offen.
»Fertig zum Start«, bemerkte er. »Stimmt die Richtung?«
Banky stellte sich hinter das Coupé und visierte.
»Ganz genau. Lass die Post abgehen. Ich möchte hier weg.«
»Kommt alles, nur die Ruhe. Du kannst dich schon verdrücken.«
»Okay, mach schnell, Sam.« Banky ging auf die andere Straßenseite. Dort wartete er ungeduldig.