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Royce fühlte sich als Herr der Ostküste. Er war ein radikaler Politiker. Wollte alle Schwarzen aus New York wegjagen. Da wurde seine Tochter Margery entführt. Von einem Schwarzen? Royce rührte keinen Finger für sie. Er hielt die Sache geheim. Der Wahlkampf ging vor. Aber sein Leibwächter war verliebt in Margery und rief uns an. Die Spur führte Phil und mich in die Bronx. Bald schlug uns Feuerzauber entgegen. Auf verkommenen Höfen, in verlassenen Fabriken und in unterirdischen Schlupfwinkeln kämpften wir um Margerys Leben. Und um unser eigenes.
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Seitenzahl: 211
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Das große Entführerspiel
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Impressum
Das große Entführerspiel
Royce fühlte sich als Herr der Ostküste. Er war ein radikaler Politiker. Wollte alle Schwarzen aus New York wegjagen. Da wurde seine Tochter Margery entführt. Von einem Schwarzen? Royce rührte keinen Finger für sie. Er hielt die Sache geheim. Der Wahlkampf ging vor. Aber sein Leibwächter war verliebt in Margery und rief uns an. Die Spur führte Phil und mich in die Bronx. Bald schlug uns Feuerzauber entgegen. Auf verkommenen Höfen, in verlassenen Fabriken und in unterirdischen Schlupfwinkeln kämpften wir um Margerys Leben. Und um unser eigenes.
1
Es war zwei Uhr dreißig morgens, als Matthew J. Royce sein Haus betrat. Mit dumpfem Laut schloss sich die schwere Eingangstür hinter ihm und seinem Begleiter, dem Familienanwalt Tibor Carey.
Royce tat einen tiefen Atemzug. Es war die Stunde des Triumphs. Er lächelte seinem Mitstreiter Carey zu.
Sie kamen vom Bezirksparteitag. Die Diskussionen waren turbulent verlaufen. Aber als Matt Royce das Wort ergriff, beruhigten sich die Delegierten. Sie hörten ihm aufmerksam zu. Am Schluss seiner temperamentvollen Rede hatte sich Royce inmitten eines Jubelsturms gesehen.
Es gab keinen Zweifel mehr. Der Wahlausschuss seiner Partei würde ihn, Matt Royce, nominieren. Einstimmig. Sein Ziel lag zum Greifen nah vor ihm.
»Von jetzt an kann man an der Ostküste keine Politik mehr ohne dich machen«, sagte Tibor Carey.
»Darauf nehmen wir einen Drink, Tib«, sagte Royce dankbar.
Mit schnellen Schritten durchquerte er die Halle und betrat die Bibliothek. Im Kamin knisterte Feuer. Reglos stand der Butler Johnson in der Nähe der Bar und wartete auf Anweisungen. Er hatte die Brauen hochgezogen, was ihm ein ungemein arrogantes Aussehen verlieh.
An der Tür wartete Johnsons Intimfeind Paul Fadell, der Chauffeur und Leibwächter. Er kämpfte mit dem Schlaf.
Matt Royce war ein Lieblingskind aller politischen Fernsehmoderatoren. Er hatte dichtes eisgraues Haar und ein straffes, schmales Gesicht mit dünnen Lippen, energischem Kinn und kräftiger Nase. Er sah herausfordernd in die Welt. Er war so telegen, als wäre er für den Bildschirm geboren. Und er nahm bei Interviews und Reden nie ein Blatt vor den Mund. Mit Vorliebe vertrat er extreme Thesen. Er vertrat sie so überzeugend, dass die Leute ihm hingerissen lauschten.
Royce gab eine Anordnung, und der reglose Butler erwachte zum Leben. Wenig später hielten Royce und sein Anwalt Gläser mit trockenem Martini in den Händen.
Tib Carey trug einen dunklen Maßanzug, der seine breiten Schultern betonte. Sein schwarzes Haar wies an den Seiten einen feinen hellgrauen Schimmer auf. Sein federnder Schritt verriet den Sportler.
Sie tranken sich zu.
Royces Triumph war auch Careys. Sie hatten einen langen, schweren Weg gemeinsam hinter sich gebracht.
»Auf dein Wohl, Matt, alter Hundesohn«, sagte er freundschaftlich.
»Auf deins, Tib, alter Penner«, lautete die Antwort im gleichen Ton.
Erst jetzt schien Royce seinen Leibwächter zu bemerken. Seine Stimme wurde kalt und unpersönlich, als er sagte: »Ich brauche Sie nicht mehr, Paul.«
Paul Fadell nickte. Er war es gewohnt, mit knappen, unpersönlichen Anweisungen abgespeist zu werden. Die Nacht war halb vorüber. Vielleicht fand er ein paar Stunden Schlaf, ehe der Boss, der über unerschöpfliche Energiereserven zu verfügen schien, wieder nach ihm pfiff.
Fadell öffnete die Haustür. Er musste noch den Cadillac in die Garage fahren, bevor er seine kleine Wohnung im Tiefparterre des Haupthauses aufsuchen konnte. Der Park ringsum war totenstill.
Die großen Kugellampen draußen über dem steinernen Geländer der Freitreppe brannten noch immer. Ihr Licht spiegelte sich im glänzenden Lack der schweren Limousine. Jenseits der Lichtkreise herrschte tiefe Finsternis.
Es geschah, als Paul Fadell auf die Treppe hinaustrat.
In der Dunkelheit blitzte es grell auf. Dann zerriss die Detonation eines Schusses die nächtliche Stille. Der brüllende Donner prallte gegen die Mauern des Hauses wie die Druckwelle eines Überschallknalls.
Fadell warf sich zu Boden. Noch im Fallen riss er den kurznasigen Revolver aus dem Holster am Gürtel. Hart fiel Fadell auf den steinernen Treppenabsatz. Er rollte sofort herum und brachte die Waffe in Anschlag, obwohl er zwischen den engstehenden Säulen, die das breite Geländer aus Sandstein stützten, kein Ziel erkennen konnte.
Er hörte das laute Klirren, mit dem die große Scheibe der Bibliothek aus dem Rahmen fiel. Die Scherben prasselten laut auf den Parkettboden, während das Echo des Schusses in der samtigen Stille der Herbstnacht verhallte.
»Paul!«
Matt Royces Stimme klang schrill vor Furcht.
Paul Fadell zögerte einen Moment. In der Tiefe des Parks hielt sich ein Schütze versteckt. Ein Killer. Ein Mann, der jetzt zu fliehen versuchte. Fadell wollte diesen Mann stellen. Andererseits rief der Boss nach ihm.
»Paul!«
Royce brauchte vielleicht Hilfe. Dieser Gedanke gab den Ausschlag.
Fadell richtete sich auf, huschte geduckt in die Halle zurück. Mit dem Fuß trat er die Tür ins Schloss.
Johnson, der Butler, hatte sich nicht bewegt. Immer noch stand er neben der Bar, vor Schreck erstarrt. Der affektierte Ausdruck war aus dem faltigen Gesicht verschwunden. Die Augen, die sonst so hochmütig blickten, flackerten.
Royce und Carey wälzten sich auf dem Teppich. Der Anwalt richtete sich gerade halb auf. Er spähte zu dem jetzt leeren Fensterrahmen hinüber, durch den kühle Nachtluft hereinwehte. Mit einer Hand, deren Finger er wie Adlerklauen in Matt Royces Oberarme geschlagen hatte, zerrte er seinen Mandanten aus der Schusslinie.
»Paul!«, kreischte Royce noch einmal.
Fadell sprang hinzu. Gemeinsam mit Carey führte er den Politiker in die Halle, die keine Fenster aufwies. Dort schüttelte Royce die helfenden Hände unwirsch ab.
Er schwankte, und um nicht zu stürzen, lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Wand und keuchte. Sein sonst so frisches Gesicht war blass, die dünnen Lippen zuckten unkontrolliert. Als sein Blick auf den Revolver in Paul Fadells Faust fiel, verlor er die Beherrschung.
»Warum, zum Teufel, stehen Sie hier herum? Warum bringen Sie den Kerl nicht um?«
»Matt, du bist ungerecht«, sagte der Anwalt beruhigend und drückte den Arm des Politikers. »Du hast ihn selbst gerufen ...«
Royce schüttelte die Hand mit einer wütenden Bewegung ab. Er setzte zu einer heftigen Entgegnung an, doch das Schnarren des Telefons stoppte die Worte, bevor sie ausgesprochen werden konnten.
Royce starrte den Anwalt an. Seine Augen quollen aus den Höhlen.
»Tib!«, keuchte er. »Tib! Wer ...?«
»Warte!«, sagte Carey schnell. »Lass mich gehen!«
Matt Royce nickte. Carey rollte die breiten Schultern, dann betrat er entschlossen die Bibliothek, die dem Politiker gleichzeitig als Arbeitszimmer diente. Der Butler war aus seiner Erstarrung erwacht. Er stürzte an Carey vorbei aus dem Raum und floh in den Küchentrakt des Hauses.
Das Telefon schnarrte beharrlich.
Paul Fadell drehte sich um. In der Rechten hielt er immer noch den Revolver.
»Paul!«, schrie Royce. »Bleiben Sie hier!«
Fadell seufzte.
Carey drückte die Aufnahmetaste des Tonbandgeräts, das stets mit dem Telefon verbunden war. Dann nahm er den Hörer ab.
»Hallo?«, sagte er mit neutraler Stimme.
Über den eingeschalteten Lautsprecher des Tonbandgeräts drang die Stimme des Anrufers in den Raum. Es war eine weiche, tiefe Stimme.
»Hallo, Mister!«
Paul Fadell bemerkte genau den leicht amüsierten Unterton in der Stimme des Anrufers.
Auch dem Anwalt entging dieser Unterton nicht. Schärfer als vorher fragte er: »Wer sind Sie?«
»Das tut nichts zur Sache, Mann. Haben wir jemanden verletzt?«
»Nein«, gab Carey zurück. »Kommen Sie endlich zur Sache.«
»Warum so ungeduldig? Die Bedingungen nennen wir schon noch früh genug.«
»Bedingungen? Sie wollen Bedingungen stellen?« Careys Stimme klang plötzlich schneidend.
Wie im Gerichtssaal, dachte Fadell.
»Wir können jede Bedingung stellen, Mister! Hören Sie? Jede!«
»Weil Sie bewiesen haben, dass Sie über eine Mauer klettern können? Ab morgen früh werden Bluthunde durch den Park streifen. Polizei wird das Gelände überwachen ...«
»Wir haben Marge ...«
»... und wir werden eine Belohnung aussetzen ...«
»Hören Sie nicht? Wir haben Marge!«
Carey schwieg.
Matt Royce zog scharf die Luft ein.
Paul Fadell spürte, wie sich ein Klumpen in seinem Magen zusammenballte.
Marge Royce! Sie hatten Marge! Marge ...
Matt Royce stieß Fadell heftig zur Seite, dann rannte er in die Bibliothek.
»Das geht zu weit!«, fauchte er. Mit einem wuchtigen Fußtritt beförderte er die Tür ins Schloss.
Paul Fadell konnte nichts mehr hören. Er war ausgeschlossen. Langsam ging er auf die Tür zu. Geistesabwesend steckte er den Revolver weg.
Er trat hinaus in die Nacht. Kühler Wind strich über seine erhitzte Stirn. Marge, dachte er sehnsüchtig. Er sah ihr ovales Gesicht vor sich mit der glatten, weichen Haut, und er spürte das Brennen der fast schwarzen, leidenschaftlich funkelnden Augen.
Er liebte diese Frau, auch wenn Marge seine Gefühle nicht erwiderte.
Sie lebte in einer anderen Welt, die weit von Paul Fadells Welt entfernt war. Und noch weiter von der Welt ihres Vaters.
Matthew J. Royce, das erkannte Fadell mit jäher Schärfe, würde nichts für seine Tochter tun. Keinen Finger würde er rühren, und keinen Dollar würde er für sie ausspucken, weil er jeden Cent für die Finanzierung seiner ehrgeizigen politischen Pläne benötigte.
Marge war allein.
Jemand musste ihr helfen.
Dobbs Ferry ist ein hübscher kleiner Ort am Ostufer des Hudson, dort wo der Fluss anderthalb Meilen breit ist und wo sich im Sommer die Segler tummeln.
Am anderen Ufer, auf der New-Jersey-Seite, flammten die Wälder in prächtigen herbstlichen Farben. Die Natur bescherte uns einen leuchtenden Indianersommer.
Dobbs Ferry gehört eigentlich noch zu Yonkers, und Yonkers, das sich im Norden New Yorks an die Bronx anschließt, wird als Vorort betrachtet, auch wenn diese Stadt mehr als zweihunderttausend Einwohner zählt und über eine eigene City Police mit einem eigenen Polizeichef verfügt, der dem County Sheriff des Westchester County untersteht.
Langsam ließ ich meinen Wagen über die breite Hauptstraße rollen. Ich fuhr einen weißen Pontiac mit braunem Dach und nicht meinen roten Jaguar. Bei einem Kidnapping ist höchste Vorsicht geboten. Ein fremder Polizeiwagen oder auch nur eine besonders hohe Antenne auf dem Heck eines Fahrzeugs kann verhängnisvolle Reaktionen auslösen, wenn die Kidnapper in Panik geraten oder wenn sie glauben müssen, dass die Angehörigen des Opfers ihre Anweisungen nicht peinlich genau befolgen.
Tankstellen und Motels säumten die breite Straße. Ich ließ den Pontiac in die Einfahrt einer Tankstelle rollen und stoppte hinter einem Lieferwagen. Während ich mich ruckweise der Zapfsäule näherte, blickte ich meinen Freund und Partner Phil Decker an, der stumm neben mir saß.
Über die Main Street rollte der Verkehr vierspurig. Es war kurz nach acht Uhr, und die Blechschlange wälzte sich nach Süden, den Stationen der Schnellbahnen entgegen oder in die Industrieviertel des östlichen Yonkers. Eine blasse Herbstsonne blinkte matt durch den Frühnebel, der wirklich Nebel war und nicht Smog wie der Dunst ein paar Meilen weiter südlich über den Spitzen der Wolkenkratzer Manhattans.
Vor der Zapfsäule stellte ich den Motor ab. Der Tankwart trug einen makellos weißen Anzug, mit dem er in jedem Krankenhaus hätte antreten können. Er schob den Benzinhahn in den Tankstutzen, putzte die Scheiben und kontrollierte den Ölstand. Ich ließ ihn gewähren und verriet ihm nicht, dass der Pontiac aus dem Stall des FBI stammte und dass der Verwalter unseres Fuhrparks, Ben Harper, keinen Wagen vom Hof ließ, der auch nur den geringsten Mangel aufwies.
Ich reichte dem Tankwart einen Zehndollarschein durchs Fenster. Er zählte das Wechselgeld ab, das er in meine Hand fallen ließ. Ich reichte ihm einen halben Dollar.
»Danke, Sir, gute Fahrt!«
»Der Saint Luke's Place?«, fragte ich.
»Geradeaus, hinter der Kenson Road rechts. Der Platz ist leicht zu finden.«
Ich bedankte mich und fuhr an. Die Kenson Road mündete an einer Ampelkreuzung auf die Hauptstraße. Ich stoppte am rechten Fahrbahnrand.
»Sieh dich um, Phil«, sagte ich. »Wir treffen uns später am Wagen.«
Phil nickte zur Bestätigung. Er stieg aus und mischte sich sofort unter die Fußgänger, die an der Ampel auf Grün warteten. Er blickte nicht zurück. Seine Aufgabe war klar, auch wenn wir keine wortreichen Pläne für alle möglichen Eventualitäten erörtert hatten.
Als die Ampel umsprang, fuhr ich an und bog um die Ecke. Gleich darauf verlor ich meinen Freund aus den Augen.
Kidnapping in Dobbs Ferry? Ich spürte, wie meine Spannung zunahm.
Noch wussten wir so gut wie nichts über den Fall – wenn es überhaupt einer war. In der Nachrichtenzentrale des New Yorker FBI lag keine Meldung vor, die einen Menschenraub betraf. Wenn irgendwo in den Staaten ein Mensch entführt und der Fall gemeldet worden wäre, hätte ich es gewusst.
Ein verstohlener Anruf am frühen Morgen hatte uns alarmiert. Mich hatte er alarmiert, um genau zu sein. Der Anrufer hatte seinen Namen nicht genannt, doch er hatte ausdrücklich nach mir gefragt und dann versichert, dass er mich erkennen würde.
Phil hielt sich im Hintergrund. Er würde die Umgebung untersuchen und aus sicherer Entfernung ein wachsames Auge auf mich werfen. Denn immerhin bestand die Möglichkeit, dass es sich bei dem Anruf um eine Irreführung handelte – oder um eine Falle.
Vor mir lag der St. Luke's Place. Alte und neue Bauten, Kaufhäuser, Bürogebäude mit schimmernden Fassaden und die neue Borough Hall, das Bezirksrathaus, bildeten das Zentrum von Dobbs Ferry.
Die Straße führte im Kreis um eine Grünanlage herum, die in der Mitte des Platzes einen kleinen Park bildete. An sonnigen Tagen nahmen die Angestellten der umliegenden Büros hier ihren Lunch ein. Aus einer Buschgruppe ragte das bronzene Denkmal eines martialisch dreinblickenden Generals hervor, der mit gezogenem Säbel auf einem bronzenen Pferd saß und einen imaginären Feind jenseits des Hudson bedrohte. Häuser versperrten den Blick auf den Fluss, der vor vielen Jahren zweifellos sichtbar gewesen wäre, wenn der lebendige General jemals vom Standort seines Denkmals aus nach Westen geblickt hätte.
Ich ließ den Pontiac um die Grünfläche herumrollen, wobei ich nach einem freien Parkplatz Ausschau hielt. Die Parktaschen vor den Geschäften waren bereits belegt, die Parketagen der Kaufhäuser jedoch noch geschlossen.
Ich folgte einem blauen Pfeil, der mich zu einer freien Fläche in einer Seitenstraße leitete. Ich hätte auch den Hof der Borough Hall benutzen können, wenn ich dem Pförtner meinen FBI-Ausweis gezeigt hätte. Doch in diesem Stadium wollte ich mich den hiesigen Behörden unter keinen Umständen zu erkennen geben.
Ich stellte den neutralen Dienstwagen ab und ging zu Fuß zum Platz zurück. Langsam bewegte ich mich an der Reihe der Geschäfte entlang auf die Nordostecke des Platzes zu. Von Phil konnte ich keine Spur entdecken. Ich war dagegen überzeugt, dass er mich von einer sicheren Position aus beobachtete.
Die Aluminiumverkleidung eines neuen Bürohauses fing das Licht der schräg stehenden Sonne ein und warf es blitzend zurück. Es blendete mich für einen Moment, ich hatte mein Ziel allerdings bereits erspäht.
»Ich warte in Harvey's Lounge auf Sie«, hatte der Anrufer gesagt. »Das ist in der Passage zwischen dem Lever Building und dem Beaumont Hotel.«
Die Passage hatte ich entdeckt. Ein überdachter Gang, der den St. Luke's Place mit einer Nebenstraße verband. Ein Zeitungsverkäufer hatte seinen Stand am Anfang der Passage aufgebaut. In der Passage bewegten sich ein paar eilige Fußgänger. Eine junge Frau begann zu rennen, als sie den roten Bus der Yonkers City Line erblickte, der aus dem Verkehrsstrom ausscherte und in der Nähe der Passage anhielt.
Es war ein ganz normaler Dienstagmorgen. Irgendwo ratterte ein Gitter in die Höhe. In der Haltebucht vor dem Beaumont Hotel stoppte ein Taxi. Ein Radio Car der City Police fegte vorbei und raste durch die Einfahrt auf den Hof hinter der Borough Hall.
Bevor ich das Halbdunkel der Passage betrat, blieb ich stehen und spähte in den Gang hinein. Eine Leuchtschrift zuckte abwechselnd gelb und rot.
Harvey's Lounge – Ihr Frühstück steht bereit ...
Die Flügel der Schwingtür bestanden aus dunklem Holz. Zwei Fenster, gewölbte Butzenscheiben, erlaubten keinen Blick ins Innere des Cafés.
Okay, dachte ich, jetzt musst du also ran.
Ich trat auf die Schwingtür zu. Bevor ich gegen die Flügel drücken konnte, flogen sie mir entgegen, und ich musste zurückweichen.
Ein Mann stürzte aus dem Lokal. Als er mich erblickte, zuckte er zusammen und wollte hastig an mir vorbei.
Ich packte zu. Meine Fäuste erwischten den Oberarm des Mannes.
»Stopp«, sagte ich. »Wir kennen uns doch. Paul Fadell, wenn mich nicht alles täuscht.«
»Lassen Sie mich los. Ich kenne Sie nicht.«
Ich drehte den Mann einfach um und stieß ihn ins Café zurück, dorthin wo er mich ursprünglich hatte erwarten wollen. Er schien es sich anders überlegt zu haben, und ich wollte unbedingt erfahren, warum.
Ja, ich kannte Paul Fadell. Er war Ricardo Zuccas Babysitter gewesen, bis wir den großen Mafiaboss vor ein paar Jahren hochgenommen hatten.
Die junge Frau hatte hübsche, schlanke Finger. Geschickt verschloss sie ein Päckchen und wickelte ein Stück steifes graues Packpapier darum, dessen Ecken sie mit Klebeband fixierte.
Almo und die zwei anderen Schwarzen sahen ihr zu. Er lächelte unentwegt. Die Frau blickte auf und lächelte ebenfalls.
»Das wird ihm einen gehörigen Schrecken einjagen.« Sie schob das Päckchen über den Tisch.
Almo nahm es auf. Andächtig schob er es in die Innentasche seiner Jacke. »Yeah, Baby, das wird ihm zu denken geben!«
Die anderen nickten. Der Raum war lang und schmal. In den Regalen an den Wänden stapelten sich Druckschriften. Die Tür zierte ein großes Poster, das auf weißem Grund eine dunkelbraune Faust zeigte. Andere Plakate mit Black-Power-Parolen bedeckten jeden freien Fleck an den Wänden.
Die Frau war jedoch weiß.
»Du weißt, wo du ihn finden kannst«, sagte sie.
»Yeah, Baby, ich weiß, wo er steckt. Billy-Boy hat es mir gesagt.«
Billy-Boy grinste ebenfalls. Er war ein magerer junger Bursche mit ungesunder grauer Haut und entzündeten Augen.
»Sharp hat bei Eddie angerufen«, sagte Billy-Boy. »Yeah, wir wissen, wo er ist. In Harvey's Lounge. Er trinkt dort Kaffee ...«
Almo stand auf und tänzelte auf die Tür mit dem Black-Power-Poster zu. Dabei bewegte er die Schultern wie ein Boxer und fintete mit seinen schweren Fäusten.
Ein leise gesprochener Satz der Frau ließ ihn innehalten.
»Hast du nicht etwas vergessen, Almo?«
Almo drehte sich um. Er hieß Albert Moses Miller, alle nannten ihn jedoch »Almo«. Er starrte die junge Frau an, sein Grinsen wurde breiter.
Sie hatte ein hübsches ovales Gesicht mit schwarzen, fanatisch glühenden Augen. Ihr Haar war ebenfalls schwarz. Glatt und lang bedeckte es die schmalen, leicht vorgeschobenen Schultern, die in einem dünnen hellblauen Pullover steckten. Almo grinste und besah sich die festen, spitzen Brüste, die unter dem dünnen Gewebe deutlich zu erkennen waren. Er wusste, dass sie es hasste, so angestarrt zu werden. Weibliche Attribute passten ihrer Meinung nach nicht zu der Rolle, die sie in der Bewegung spielte.
»Yeah«, sagte Almo gedehnt. »Ich hab doch tatsächlich was vergessen!«
Er ließ die Innenfläche der Linken gegen die Stirn klatschen, dann drehte er sich um und trat an das Regal, das die ganze rechte Wand bedeckte. Unter einem Wust von Papieren zog er einen länglichen Stahlkasten hervor. Die junge Frau warf ihm einen Schlüssel zu. Almo fing ihn geschickt auf und öffnete den Kasten.
In dem Kasten befanden sich Waffen. Revolver und Pistolen. Insgesamt zwölf Stück, samt der passenden Munition.
Almo entschied sich für eine flache vernickelte Pistole vom Kaliber 22, die er bequem in der Gesäßtasche unterbringen konnte. Die Jacke verdeckte den Kolben, der aus der Tasche ragte.
»Soll ich Sharp mit zurückbringen?«, fragte er.
»Ja. Bring ihn her. Wir brauchen vielleicht jeden Mann«, erwiderte die junge Frau. »Und noch etwas.« Sie deutete auf einen Briefumschlag, der vor ihr auf dem Tisch lag. Der Umschlag steckte in einer durchsichtigen Plastikfolie. »Wirf den Umschlag bei der Redaktion der Yonkers Gazette ein.«
»Mach ich, Marge.« Almo nahm den Umschlag an sich. Die Folie würde er abnehmen, bevor er den Umschlag in den Briefkasten der größten örtlichen Zeitung steckte. Er grinste. »Du weißt schon, was du machst, Baby«, meinte er anerkennend. »Nur schade, dass wir dem alten Eisenfresser keine Mäuse abnehmen.«
»Keine Geldforderungen!«, sagte sie scharf.
»Natürlich nicht, Marge«, meinte Almo mit weicher Stimme. »Natürlich nicht.« Er streifte die anderen zwei Schwarzen mit einem schnellen Blick. Er verachtete diese jungen Knilche, die es chic fanden, Plakate an die Häuser der Weißen zu kleben oder ihre Autos mit Farbbeuteln zu bewerfen.
Sie wussten ja gar nicht, was es bedeutete, im Getto zu leben. Er, Albert Moses Miller, war im schwärzesten Harlem aufgewachsen. Er hatte die Hölle von innen gesehen. Und er hatte mit den Black Panthers gekämpft, in den heißen Sommern vor sieben, acht Jahren. Er wusste, was es bedeutete, Krieg zu machen. Und er wusste, wie schnell man in diesem Krieg sterben konnte.
Deshalb war er vorsichtig wie ein alter Wolf.
Er kämpfte allein. Er kämpfte für sich. In erster Linie nur für sich selbst. Er hatte erfahren, dass das der einzige Kampf war, den zu kämpfen sich lohnte.
2
Paul Fadell versuchte, meine Hand abzuschütteln. Ich hatte ihn gegen die Wand neben der Tür gestoßen und sein Jackett rasch und unauffällig nach Waffen abgetastet. Die harte Kontur eines Revolvers im Gürtelholster hatte ich gefühlt, aber ich verzichtete darauf, die Kanone herauszuziehen, weil ich im Café kein unnötiges Aufsehen erregen wollte.
Das Lokal war nur schwach besetzt. Am schmaleren Ende der langen hölzernen Bar saßen zwei Männer, die dunkle Cityblazer trugen. Keiner von ihnen nahm den Blick von der Zeitung, in die er vertieft war. Am längeren Ende der Bar hockten, mit dem Rücken zu uns, ein Taxifahrer und eine müde aussehende junge Frau in einem grellgrünen Kleid. Ihr Make-up war seit vielen Stunden nicht mehr erneuert worden. Wozu auch? Genau wie der Taxifahrer hatte sie offenbar Feierabend.
Der dicke Mann mit der weißen Schürze warf uns einen flüchtigen Blick zu, um sich dann etwas zu hastig umzudrehen, wobei er eine Kanne mit Tomatensaft umstieß. Er wollte nichts sehen.
Es gab jedoch nichts mehr zu sehen. Ich führte Fadell zur Theke und deutete auf einen freien Hocker. Er machte ein düsteres Gesicht.
»Haben Sie schon gefrühstückt?«, erkundigte ich mich.
Als er den Kopf schüttelte, schnippte ich mit den Fingern und bestellte Eier mit Speck und Kaffee.
»Was wollen Sie von mir?«, knurrte Fadell.
Er war ein drahtiger Mann von achtundzwanzig oder neunundzwanzig Jahren. Der Ansatz des dichten schwarzen Haars wuchs ihm bis tief in die Stirn. Seine dunklen Augen zeigten einen leicht verschleierten Ausdruck. Die geschwungenen Lippen und die kleine, gerade Nase machten ihn zu einem Frauentyp.
»Sie wollten mir etwas mitteilen«, erinnerte ich ihn, und weil ich sicher war, dass mir niemand zuhörte, fügte ich hinzu: »Etwas von einem Kidnapping, wenn ich Sie richtig verstanden habe. Ich höre also, Fadell.«
»Ich heiße Fadell. Paul Fadell. Ganz offiziell. Steht auch in meinem Pass.«
»Und was steht auf Ihrem Waffenschein?«, fragte ich und blickte ihn lauernd von der Seite her an.
»Fehlanzeige, Cotton«, murrte er. »Ich habe eine Lizenz. Wollen Sie sie sehen?«
Ich schüttelte den Kopf. Er gab zu, dass er meinen Namen kannte, stellte ich erfreut fest. Ich zweifelte jetzt nicht mehr daran, dass ich den Mann gefunden hatte, der mich angerufen und von einem Kidnapping gesprochen hatte.
Ich zog die Kaffeetasse zu mir heran und wartete, bis der Keeper einen großen Teller mit knusprigem Speck und heißem Rührei vor mir abstellte.
»Kommen wir endlich zur Sache, Mann. Ich lasse nicht locker, Fadell. Ich will wissen, warum Sie mich herbestellt haben, und ich will wissen, warum Sie jetzt plötzlich einen Rückzieher machen.«
Fadell schlürfte seinen Kaffee. Finster starrte er ins Leere.
Er war einer von Ricardo Zuccas Gorillas gewesen. Zucca war ein ganz großer Capo in Manhattan gewesen, bevor wir ihm das Handwerk hatten legen können. In Zuccas Gestüt hatten sich zeitweise mehr als hundert Pferde getummelt. Langhaarige auf zwei Beinen, versteht sich. Zucca hatte das Prostituiertengeschäft auf der unteren Westseite Manhattans beherrscht, zusätzlich hatte er ein paar Dutzend Pornoschuppen betrieben. Als es zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit anderen Banden gekommen war, die in Zuccas Domäne hatten einbrechen wollen, hatten wir die Gelegenheit ergriffen und zugeschlagen. Ricardo Zucca genoss Staatspension. Wegen Steuerhinterziehung.
Paul Fadell war offenbar mit einem blauen Auge davongekommen, weil er nicht vorbestraft gewesen war und man ihm nicht hatte nachweisen können, aktiv an dem Bandenkrieg teilgenommen zu haben. Dennoch wunderte ich mich darüber, dass er eine Waffenlizenz erhalten hatte, und ich beschloss, mir das Papier auf jeden Fall zeigen zu lassen. Mich interessierte, mit welcher Begründung er die Lizenz beantragt und wer die nötige Bürgschaft geleistet hatte.
»Es war ein Irrtum, Cotton. Ein Irrtum. Vergessen Sie's. Ich war naiv.« Ein Blinder konnte erkennen, dass diesen Mann etwas bedrückte. Irgendein schweres Problem musste ihm auf der Seele liegen.
»Erzählen Sie endlich«, forderte ich ihn auf. »Sie haben an mich gedacht. Sie haben mich angerufen. Sie vertrauen mir.«
Er berichtete von seinem Boss, dem er als Bodyguard und Chauffeur diente.
Matthew J. Royce.
Ich pfiff leise durch die Zähne.
Royce machte zurzeit viel Wind. Er spielte sich auf, als hätte er das Rezept gefunden, wie die verschuldeten, vom Untergang bedrohten amerikanischen Großstädte zu retten wären. Es waren radikale Thesen, die in Teilen der geplagten Bevölkerung eben dieser Städte Anklang fanden, weil sie einfach waren und praktikabel erschienen.
Nach dem Royce-Dogma musste man die Slumbewohner aus den Städten vertreiben, wo sie durch ihre große Zahl, durch die zusammengeballte Unzufriedenheit, eine ständige Gefahr darstellten, eine Masse von Parolen aufgepeitschter Menschen, deren hoffnungslose Situation sich jederzeit in neuen Gewalttaten Luft schaffen konnte.
Royce wollte die Slumbewohner – er meinte die schwarzen Arbeitslosen – aus den Städten vertreiben, indem er ihnen den Lebensraum und die Lebenschancen nahm. Die Häuser, in denen sie wohnten, die ihnen jedoch nicht gehörten, sollten abgerissen, die Wohlfahrtsunterstützung eingestellt werden. Dann, so die Royce-Theorie, würden sich die radikalen Schwarzen über das ganze Land verstreuen und damit viel von ihrer Gefährlichkeit einbüßen.
Paul Fadell berichtete von dem Gewehrschuss, der eine große Scheibe in Royces Villa zertrümmert hatte. »Unmittelbar danach kam der Anruf. Carey hat das Tonband eingeschaltet, und ich konnte mithören ...«
»Wer ist Carey?«
»Tibor Carey. Der erste Anwalt aus Dobbs Ferry. Er unterstützt Royce.«
»Okay. Weiter.«