Jerry Cotton Sonder-Edition 157 - Jerry Cotton - E-Book

Jerry Cotton Sonder-Edition 157 E-Book

Jerry Cotton

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Beschreibung

In New York war die Hölle los. Die Süchtigen spielten verrückt. Der Jahrhundertwinter hatte ihren Nachschub an Drogen gestoppt. Verzweifelt jagten sie nach Heroin. Nach "Schnee", wie sie es nannten. Der Schnee war eingeschneit. Die Verbrechensrate schnellte hoch. So etwas hatten wir noch nie erlebt. Bei vierzig Grad Fahrenheit unter null traf ich unvermutet auf Ned Calder. Er besaß einen großen Namen in der Unterwelt. Noch nie hatte jemand einen Kampf mit ihm überlebt. Sollte auch ich dran glauben? Er schoss als Erster. In meinem Schädel explodierte etwas. Eine Blutspur rann in den Schnee ...


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Seitenzahl: 182

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhalt

Cover

Blutspur im Schnee

Vorschau

Impressum

Blutspur im Schnee

In New York war die Hölle los. Die Süchtigen spielten verrückt. Der Jahrhundertwinter hatte ihren Nachschub an Drogen gestoppt. Verzweifelt jagten sie nach Heroin. Nach »Schnee«, wie sie es nannten. Der Schnee war eingeschneit. Die Verbrechensrate schnellte hoch. So etwas hatten wir noch nie erlebt. Bei vierzig Grad Fahrenheit unter null traf ich unvermutet auf Ned Calder. Er besaß einen großen Namen in der Unterwelt. Noch nie hatte jemand einen Kampf mit ihm überlebt. Sollte auch ich dran glauben? Er schoss als Erster. In meinem Schädel explodierte etwas. Eine Blutspur rann in den Schnee ...

1

Dicht wie ein Tuch wirbelten die Flocken gegen die Scheibe. Das Brummen des schweren Motors mischte sich mit dem Klirren der Schneeketten, dem Kratzen schadhafter Wischerblätter, dem weicheren Summen des Heizungsgebläses. Joseph Kessels Fäuste lagen am Steuer. Seine Augen bohrten sich in das weiße, blendende Geflimmer und versuchten, die Rücklichter des vor ihm fahrenden Trucks zu erkennen.

»Kompletter Wahnsinn«, knurrte Hal Menfrey neben ihm.

Kessel warf dem blonden Jungen einen Blick zu.

»Drei Riesen extra«, sagte er trocken. »Der Hintern wird dir schon nicht einfrieren.«

»Abwarten! Vor morgen früh ... Hey, verdammt! Sind die eingeschlafen?«

Rote Stopplichter glühten vor ihnen auf. Joseph Kessel fluchte. Die Bremsen kreischten. Trotz der Schneeketten rutschte der schwere Truck ein Stück, bevor er stehen blieb.

»Verrückt geworden«, schimpfte Hal Menfrey. »Menschenskind, wir schneien ein, wenn wir hier länger als zwei Minuten ...«

Kessel drückte auf die Hupe. Das Horn gellte durch die Dunkelheit. Etwas leiser, dumpfer kam die Antwort. Joseph Kessel fuhr sich mit allen fünf Fingern durch die Haarbürste.

»Scheiße!«, fluchte er. »Die haben Schwierigkeiten!«

»Ich hab's doch gerochen! Wahnsinn, sage ich dir! Wir hätten ...«

Kessel hörte nicht zu. Hastig zwängte er sich in die dicke Felljacke, zog die pelzgefütterte Mütze mit den Ohrenschützern über den Kopf und stieß die Wagentür auf. Eisiger Wind fegte ins Fahrerhaus und brachte einen Wirbel weißer, nebeldichter Flocken mit. Rasch sprang Joseph Kessel ins Freie und schlug die Tür hinter sich zu, während er bis zu den Oberschenkeln im Schnee versank.

Der zweite Truck war nur ein massiger Schatten im gespenstischen Weiß.

Kessel fluchte erneut und stemmte sich schräg gegen den Wind, der ihn von der Seite traf. Er atmete vorsichtig und witterte wie ein Tier. Die Kälte ließ seine Nasenschleimhäute zusammenkleben. So ähnlich, dachte er, ist es oben in Alaska gewesen. Er hatte da mal eine Zeit lang beim Bau der Pipeline gearbeitet. Bis er darauf kam, dass sich die Dollars auch leichter verdienen ließen.

Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte er sich durch den Schnee. Er ahnte, was passiert war. Und als er den zweiten Wagen erreicht hatte, sah er es auch.

Endstation!

Der Truck steckte mit der Schnauze in einer mannshohen Schneewehe. Das Scheinwerferlicht, vom Flockenwirbel reflektiert, traf die Gesichter der beiden irischen Driver. Ian O'Rourke und Rory Calhoun starrten fassungslos auf das weiße Gebirge, das sich vor ihnen auftürmte. Erst als Kessel mit der behandschuhten Faust an die Fahrertür hämmerte, wandten die beiden die Köpfe.

O'Rourke stemmte die Tür auf. Sein breites rotes Gesicht war verzerrt.

»Und jetzt?«, brüllte er gegen das Heulen des Windes.

»Umdrehen!«, schrie Kessel zurück. »Wenn wir hier stecken bleiben, sind wir im Eimer!«

»Dann mach doch, verdammt noch mal!«

Die Tür knallte zu. Kessel schwang herum. Mit aufsteigendem Schrecken wurde ihm klar, dass er jetzt schon durch hüfthohen Schnee waten musste. Keuchend erreichte er seinen Wagen, riss die Tür auf und zog sich wieder hinter das Steuer.

Zwei Minuten später wusste er, dass es vollkommen ausgeschlossen war, in dieser Schneewüste zu wenden.

Sie saßen fest. Eingeschneit mit einer Millionen-Dollar-Ladung, die in New York dringend erwartet wurde.

Und Joseph Kessel, alaskaerfahren, wusste sehr genau, dass es nicht nur um die Ladung ging, sondern um ihr Leben.

Ich steuerte die Apotheke an, weil ich Tabletten gegen Schnupfen brauchte.

Den Jaguar hatte ich zu Hause gelassen. Parkplätze sind ohnehin rar in New York. Jetzt türmten sich Schneeberge, wo normalerweise Autos stehen. Die Auslagen der Geschäfte an der 8th Avenue waren von der Straße aus nicht zu sehen. Auf dem Gehsteig musste man den Hals recken, um einen Blick auf die Dächer der vorüberfahrenden Wagen zu erwischen. In diesem Jahrhundertwinter hatte die Stadt etwas von einem halb gelähmten Riesen. Das Leben lief leiser und langsamer. Dutzende von Problemen hatten sich verschärft. Kaum ein Tag verging, an dem nicht irgendwo neue Probleme auftauchten, mit denen niemand gerechnet hatte.

Eines der Probleme war die Grippewelle. Die Krankheit lähmte ganze Belegschaften. Mein Freund und Partner Phil Decker zum Beispiel lag mit Schüttelfrost und Fieber im Bett. Mich hatte es auch erwischt. Aber ich war entschlossen, die Sache im Keim zu ersticken.

Drei Schritte vor der Apotheke hörte ich den Schuss.

Es war ein schwaches Geräusch. Es wurde auch noch durch schallschluckendes Glas gedämpft. Doch jeder G-man wird bei seiner Ausbildung darauf gedrillt, Schüsse selbst aus einem Tohuwabohu von Lärm herauszuhören.

Ich zuckte zusammen. Mechanisch fuhr ich mit der Linken zu den Knöpfen der dicken Felljacke und zog mir mit den Zähnen den Handschuh von der Rechten, während ich die letzten Schritte zu der spiegelnden Glastür zurücklegte.

Als ich sie aufstieß, taumelte mir jemand entgegen.

Es war eine ältere Frau. Sie trug einen weißen Kittel über einem dicken braunen Pullover. Der linke Ärmel war blutverschmiert. Das blasse Gesicht verzerrte sich bei meinem Anblick. Blindlings prallte die Frau zurück und warf sich zur Seite. Rechts von mir gab es eine jähe Bewegung.

»Tür zu! Hände hoch! Rühr dich bloß nicht, Mann, sonst ...«

Die helle, vor Erregung schrille Stimme eines jungen Mädchens. Sie stand vor dem Regal, das den Laden vom Schaufenster trennte, eine alte, viel zu schwere Armeepistole in der schmalen Hand. Blondes Haar quoll unter der Wollmütze hervor. Angst flackerte in den blauen Augen. Die Kleine war nicht älter als achtzehn oder neunzehn. Sie kannte sich nicht aus mit Waffen, denn sie hatte mich viel zu nahe herankommen lassen.

»Was nun?«, fragte ich gelassen. »Tür zu, Hände hoch oder nicht rühren? Alles zusammen geht nicht.«

»Mund halten! Ich knall dich ab, wenn du ...«

Schritte!

In der halb offenen Tür zum Nebenraum erschien eine Gestalt, ein bärtiger junger Bursche. Das Mädchen drehte den Kopf, nur für eine Sekunde, aber diese Sekunde reichte.

Meine Rechte zuckte vor.

Blitzschnell riss ich die Waffe an mich. Das Mädchen schrie auf. Der Bärtige sog scharf die Luft ein, als er die Pistolenmündung plötzlich auf sich gerichtet sah. Ohne erkennbare Schrecksekunde warf er sich herum. Ihn trieb der Instinkt ständiger Fluchtbereitschaft, den in den New Yorker Slums schon die kleinen Kinder entwickeln.

Absätze klapperten. Eine zweite Tür schlug. Blindlings versuchte das blonde Mädchen, ihrem Komplizen nachzurennen.

Ich packte die Kleine am Arm, riss sie halb herum und zog sie hinter mir her. Dann näherte ich mich der Tür. Ein Blick zeigte mir, dass die Angestellte im weißen Kittel nicht schwer verletzt war und sich selbst helfen konnte. Sie hielt schon den Telefonhörer in der Hand. Mit zitternden Fingern drehte sie die Wählscheibe. Scharfer Luftzug fegte durch den Laden. Irgendwo klirrte eine Scheibe. Ich ahnte, dass der Bärtige durch den Hinterausgang entwischt war. Aber ich verfolgte ihn nicht. Denn im selben Augenblick entdeckte ich den Apotheker am Boden.

Er lag vor dem aufgebrochenen Giftschrank.

Eine tiefe Platzwunde klaffte an seiner Stirn. Blut rann über sein Gesicht. Die Haut wirkte wächsern. Man brauchte kein Arzt zu sein, um zu sehen, dass es ihn schwer erwischt hatte.

Das Mädchen neben mir fiel förmlich in sich zusammen. Es zitterte wie Espenlaub. Ein stummes, haltloses Schluchzen schüttelte seinen Körper.

»Das war's, Betty.«

Dr. William Friedman half seiner Sprechstundenhilfe in den Webpelz. Betty Wheeler lächelte dankbar, während sie vor dem Spiegel die modische Strickmütze aufsetzte und einen überlangen Schal mit buntem Norwegermuster um den Hals wickelte. Trotz der langen Stiefel und der Wollstrümpfe hatte sie gefroren, weil es in dem Altbau an der 23rd Street durch alle Fensterritzen zog. Vor der Tür verabschiedete sie sich von Doc Friedman. Vorsichtig stakste sie durch den tiefen, vom Streusalz rot gefärbten Matsch. Dabei überlegte sie, ob die Modemacher den Jahrhundertwinter vorausgesehen hatten, als sie Strickstrümpfe und dicke Wollsachen propagierten.

Ein Blick zum Himmel zeigte ihr, dass es bald wieder schneien würde. Die eckigen Linien der Hochhäuser hoben sich von tief hängenden Wattewolken ab. Betty Wheeler dachte an ihren Heimatort in Montana. Dort herrschte jetzt sicher herrliches Skiwetter. Sie achtete kaum auf die Gestalt, die im Schatten einer schmalen Einfahrt lungerte.

Als sie die jähe Bewegung bemerkte, war es zu spät.

Finger krallten sich um ihr Gelenk und rissen sie in den Schatten. Eine Hand presste sich auf ihren Mund und erstickte den Schrei. Zwei Herzschläge lang war Betty wie gelähmt. Dann bäumte sie sich auf.

Ihr Herz hämmerte. Verzweifelt versuchte sie sich loszureißen. Sie hatte keine Chance. Blitzschnell zerrte der Unbekannte sie in den Hof und stieß sie gegen einen hoch getürmten Schneeberg. Seine behandschuhte Rechte klatschte in ihr Gesicht, als sie abermals schreien wollte.

»Schnauze! Ich mach dich alle, wenn du dich muckst!«

Die Stimme klang heiser und atemlos. Betty schluckte und starrte den Mann an. Sie sah einen jungen Schwarzen in einem Poncho, der seine Herkunft als Teppich nicht verleugnen konnte. Schweiß perlte trotz der Kälte über die Haut. Betty war Arzthelferin und kannte die Zeichen: Der Mann war süchtig.

»Ich brauch einen Schuss! Schnee, verstehst du? Stoff! Du jobbst bei 'nem Medizinmann. Du wirst mir was besorgen!«

Betty atmete tief. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Angst würgte sie. Ein Teil von New Yorks Fixern saß auf dem Trocknen, weil der Nachschub stockte. Das hatte sie in der Zeitung gelesen. Sie wusste, wozu solche Leute fähig waren. Verzweifelt versuchte sie, ihre Nerven im Zaum zu halten.

»Wir haben nichts«, sagte sie wahrheitsgemäß. »Wir brauchen nichts. Die Apotheke ist ja zwei Häuser weiter. Es tut mir leid.«

Der Schwarze keuchte. Seine Augen wurden groß vor Enttäuschung. Für einen Moment verzerrte sich sein Gesicht wie unter Schmerzen. »Du lügst, das ...«

»Ich lüge nicht. Außerdem habe ich gar keinen Schlüssel und ...«

»Du hast einen Schlüssel.« Mit einer wilden Bewegung packte der Junge ihren Arm und schüttelte sie. »Ich hab dich beobachtet, ich hab dich schon zweimal aufschließen sehen! Wenn ihr keinen Stoff habt, will ich Rezepte. Und 'ne Unterschrift von dem verdammten Weißkittel wird ja wohl auch irgendwo rumliegen. Los, vorwärts, Puppe! Und mach bloß kein Theater! Mir ist alles egal. Verstehst du? Alles.«

Das hysterische Zittern der Stimme zeigte Betty, dass er es ernst meinte. Sie biss sich auf die Unterlippe und starrte auf die linke Hand des Burschen, die ein Schnappmesser umspannte. Sein Daumen lag auf dem Knopf, der die Klinge aus dem Schaft springen lassen konnte. Betty kämpfte gegen das aufsteigende Zittern.

»Wenn Sie unbedingt wollen«, murmelte sie.

Der Süchtige schob sie vorwärts.

Er war kaum Herr seiner Sinne. Kaltblütigkeit war es nicht. Es musste Verzweiflung sein, die ihn befähigte, mit ihr bis zur Tür der Praxis zu gelangen, ohne dass die Passanten aufmerksam wurden. Und selbst wenn sie aufmerksam geworden wären, es hätte wohl keinen Unterschied gemacht. Betty kannte die Stadt. Niemand würde riskieren, ein Messer zwischen die Rippen zu bekommen.

Ihre Finger zitterten, als sie aufschloss.

Der Junkie stieß sie in den Flur, dann durch die Tür des Behandlungszimmers. Er zitterte am ganzen Leib, als er sich umsah. In fiebernder Hast öffnete er Schränke und Schubladen, wühlte in den Regalen, warf die Ärztemuster durcheinander. Betty wusste, dass er nicht finden würde, was er suchte.

Wenn er jetzt durchdrehte, ein Opfer für seine Wut brauchte ...

Der Rezeptblock aus der Schublade schien neue Hoffnung in ihm zu wecken. Er wühlte weiter, fand irgendein unterschriebenes Schriftstück und stopfte es zu den Rezeptformularen in seine Tasche. Seine Schultern hoben und senkten sich unter heftigen Atemzügen. Jetzt hatte er es eilig. Er zitterte vor Gier.

»Ich kenne dich«, flüsterte er. »Wenn du die Cops rufst, werde ich dich finden. Und dann mach ich dich kalt, kapiert?«

Er wartete nicht auf die Antwort.

Hastig warf er sich herum und taumelte hinaus. Wenig später fiel mit dumpfem Knall die Tür hinter ihm zu.

Betty Wheeler schloss erschöpft die Augen.

Eine Sekunde lang ...

Dann holte sie tief Luft, hastete zum Telefon und wählte die Nummer des FBI, ohne auch nur die dicken Wollhandschuhe auszuziehen.

Die Kneipe mit dem schönen Namen »Rose of Kentucky« war schlecht geheizt.

Abends, wenn sich an die hundert Jugendliche auf der Mammuttanzfläche und an den Tischen drängten, wurde es von selbst warm. Tagsüber legte die Geschäftsleitung keinen Wert darauf, dass sich die Gäste wohlfühlten. Bei den meisten Leuten, die in die Rose kamen, funktionierte der Wärmehaushalt ohnehin nicht. Wenn sie abstinent waren, klapperten sie selbst bei Backofentemperaturen mit den Zähnen. Hatten sie einen Schuss ergattert, störte sie kein Schneesturm mehr. Erst gestern war wenige Yards vor der Tür der Diskothek ein Junkie erfroren – der Junge hatte sich einfach in den Schnee gesetzt und vor sich hin gedöst. Dutzende von Passanten waren an dem Sterbenden vorbeigegangen, ohne auch nur den Kopf zu drehen.

Bill Fallo, der dürre Wirt, war schlechter Laune. Nicht weil es einen Junkie weniger auf der Welt gab, sondern weil die Polizei ihm auf die Bude gerückt war, um Fragen zu stellen. Verbissen tunkte er Colagläser in die trübe Spülbrühe. Ab und zu warf er dem einzigen Gast an der Theke einen finsteren Blick zu.

Hugh Lauren gehörte zu denen, die auch im dicksten Mantel froren.

Aber er war kein einfacher Junkie. Er war nebenbei Dealer. Er versorgte Bill Fallos Kunden. Fallo ärgerte sich über die Unvorsichtigkeit seines Gastes. Jetzt da die Polizei wegen des toten Junkies herumschnüffelte, hätte der Dealer eigentlich Pause machen, seinen Lieferanten warnen und sich zurückhalten sollen. Das wäre vernünftig gewesen. Doch Hugh Lauren brauchte den Stoff selbst zu dringend, um vernünftig zu sein.

Seit einer Stunde saß er hier und wartete. Er war ein schwammiger, untersetzter Typ mit rötlichem Haar und schlaffen Wangen. Unter den halb gesenkten Lidern glitzerten seine Augen wie im Fieber. Immer wieder sah er zur Tür, und seine Haltung spannte sich, als sich endlich ein neuer Gast durch den staubigen Filzvorhang schob.

Bill Fallo blickte zur Seite.

Er kannte den Mann nicht und wollte ihn auch nicht kennenlernen. Er wollte überhaupt so wenig wie möglich mit den Rauschgiftgeschäften zu tun haben, die unter seinen Augen abgewickelt wurden. Der Lieferant, der Lauren versorgte, wechselte jede Woche. Der Dealer wusste nie vorher, wer aufkreuzen würde. Er konnte also niemanden verpfeifen.

Eigentlich sollte er nicht einmal wissen, woher der Stoff stammte, den er an den Endverbraucher brachte. Durch irgendeinen Zufall hatte er den richtigen Namen erfahren: Luigi Parfitti. Bill Fallo wusste sowieso, dass Parfitti in dieser Ecke der Midtown die Nummer eins war. Er hatte trotzdem heftig abgewehrt, als Lauren ihm einmal davon erzählen wollte.

Der Neuankömmling bestellte Bier und Kirschlikör – das immer gleiche Stichwort. Hugh Lauren sah überrascht, dass der Bursche den Likör trank und das Bier stehen ließ, was vor ihm noch niemand getan hatte. Der Mann wischte sich den Mund ab und rutschte wieder vom Hocker. Ohne Lauren einen Blick zu gönnen, marschierte er quer über die riesige Tanzfläche zur Toilettentür.

Der Dealer wartete ein paar Minuten, bevor er dem Lieferanten folgte.

In einer Nische des großen, kalten Raums hoben ein paar vermummte junge Burschen mit ausgemergelten Gesichtern die Köpfe. Seit einer halben Stunde hielten sie sich zu dritt an einer Colaflasche fest. Die Sucht ließ ihnen kaum einen Cent übrig für irgendetwas, das man sich nicht in die Blutbahn spritzen konnte. Hugh Lauren hatten sie bisher noch nicht angesprochen. Sie sahen ihm an, dass er selbst nach dem nächsten Schuss fieberte.

Er spürte die Gier wie eine Woge, als er die Tür mit der Aufschrift Gentlemen hinter sich schloss. Nie wieder, schwor er sich, würde er sich breitschlagen lassen, die letzten Briefchen zum doppelten Preis zu verkaufen, solange er die nächste Lieferung nicht in der Tasche hatte.

Eilig huschte er durch eine der ehemals weißen Türen und schloss sie hinter sich. Das Abteil war zu eng für zwei Männer. Der Unbekannte verzog das Gesicht. Er hatte einen braunen Umschlag aus der Tasche genommen. Mit zitternden Fingern prüfte Hugh Lauren den Inhalt.

»Hey«, flüsterte er. »Das reicht nicht, das ...«

»Mehr gibt's nicht«, sagte der andere knapp.

»Aber ...«

»Hast du noch nicht gemerkt, dass das Zeug knapp geworden ist? Unser Nachschub stockt, Mann! Der Schnee ist eingeschneit!«

Hugh Lauren fand das überhaupt nicht komisch. Der Umschlag enthielt nicht viel mehr als seinen Eigenbedarf. Doch er musste verkaufen, damit er die nächste Lieferung bezahlen konnte. Wütend biss er sich auf die Unterlippe und zog ein paar Scheine aus der Tasche.

»Plus siebzig Dollar«, forderte der Fremde.

»Plus siebzig, du spinnst, Mann! Du glaubst wohl, du kannst deine eigene Suppe ...«

»Entweder du zahlst, oder du bleibst trocken«, sagte der Fremde kalt. »Andere lecken sich nach dem Zeug alle Finger.«

Lauren knirschte mit den Zähnen. Die siebzig Dollar, die er dem anderen hinhielt, waren die Hälfte seiner eisernen Reserve. Selbst wenn er seinen Eigenbedarf zurückschraubte und den Rest zu horrenden Preisen verkaufte, würde er bis nächste Woche ...

Er hörte auf, darüber nachzudenken.

Der Lieferant nickte ihm zu und wandte sich zum Gehen, Lauren blieb auf der Toilette zurück. Er brauchte einen Schuss. Sofort! Mit zitternden Fingern kramte er das Injektionsbesteck aus der Tasche. Er wusste, er hätte es sterilisieren müssen – an die Gelbsucht vom letzten Jahr dachte er noch jetzt mit Grausen. Eigentlich hatte er ein paar Stammkunden bedienen und dann nach Hause gehen wollen. Doch der Lieferant war spät gekommen. Er konnte jetzt nicht mehr warten. Er würde ...

Das Geräusch der Tür ließ ihn zusammenzucken.

Er fuhr herum und starrte die drei jungen Burschen an, die sich hereinschoben. Bleiche, eingefallene Gesichter. Stumpfe Haarsträhnen. Augen, die tief in den Höhlen lagen und fiebrig glänzten. Hugh Lauren gierte nach seinem Schuss, er spürte den lebhaften Wunsch, die Kerle mit Fußtritten wegzujagen. Aber er wusste, dass er sie nicht loswerden würde.

»Die Preise steigen, Freunde«, sagte er heiser. »Zwanzig Dollar auf den Tisch des Hauses.«

»Z-zwanzig?«, stammelte einer der jungen Leute erschrocken.

»Nicht meine Schuld! Ich zahl mich selber dumm und dämlich, also ...«

Der Junge schluckte. Verfilztes blondes Haar fiel ihm in die Augen. Mit einer fahrigen Bewegung strich er es zurück. »Okay, fünfzehn sofort, und den Rest ...«

»Alles oder nichts«, sagte Lauren mit einem nervösen Grinsen.

»Jetzt hör mal zu, Hugh! Wir sind auf diese Wucherpreise nicht vorbereitet. Wir konnten nicht ahnen ...«

»Konnte ich es vielleicht ahnen, Mann? Kein Geld, kein Schnee, so einfach ist das. Und jetzt rückt die Scheine raus oder verschwindet. Verdammt, ich hab's eilig!«

Die drei jungen Burschen wechselten einen Blick.

Langsam schob der Blonde die Hand in die Tasche. Sein Gesicht verzerrte sich. Jäh spürte Hugh Lauren die Gefahr, die wie Elektrizität in der Luft knisterte.

Er wollte ausweichen und sich an den Junkies vorbeidrängen. Zu spät! Der Blonde riss einen Totschläger aus der Tasche. Wortlos holte er aus. Blitzschnell, mit dem Mut der Verzweiflung. Hugh Lauren schaffte es nicht mehr, an den Revolver unter seiner Achsel zu kommen.

Die lederüberzogene Bleikugel zuckte auf ihn zu.

Tief in seinem Kopf schien es eine grelle Explosion zu geben. Er spürte kaum mehr, dass er schwer auf die schmutzigen Fliesen der Toilette schlug.

2

Das blonde Mädchen hieß Cora Bennister.

Mehr als das, was aus der ID Card hervorging, war nicht von ihr zu erfahren. Sie kauerte auf einem Hocker, hatte das Gesicht in den Händen verborgen und schluchzte. Um sie herum entfaltete sich der Wirbel polizeilicher Routine.

Der Apotheker war mit einer schweren Gehirnerschütterung ins Krankenhaus gebracht worden. Seine Angestellte hatte nur einen Streifschuss davongetragen, den der Arzt an Ort und Stelle verband. Ich hielt den Telefonhörer in der Hand und sprach mit Steve Dillaggio, der den Bereitschaftsdienst leitete. Er sollte einen Wagen schicken, um Cora Bennister ins Distriktgebäude zu bringen. Denn so wenig ungewöhnlich dieser Apothekenüberfall auch war, er gehörte zu den Fällen, denen wir im Augenblick ganz spezielles Interesse widmeten.

Der Rekordwinter behinderte die Versorgung auf allen möglichen Gebieten. Er hatte auch das Rauschgift knapp und teuer werden lassen. Auf der Drogenszene war der Teufel los. Die Süchtigen, vom Nachschub abgeschnitten, drehten allmählich durch. Die Zahl der Einbrüche, Überfälle und Gewalttaten stieg sprunghaft an.

Wenn Leute wie Cora und ihr unbekannter Komplize am helllichten Tag eine Apotheke überfallen, ist das meist eine Verzweiflungstat. Und werden die Täter erwischt, neigen sie dazu, den Dealern die Schuld zu geben, die nicht mehr liefern können. Zwar bringt der Name eines einzigen Kleinverteilers nicht viel. Zehn Namen sagen jedoch schon eine ganze Menge über die dahinterstehende Organisation aus. Wir waren dabei, aus unzähligen Mosaiksteinchen ein Bild zusammenzusetzen. Auf diesem Weg hofften wir, am Ende den ganzen Verteilerring zerschlagen zu können, der Midtown Manhattan beherrschte.

Klar, dass wir uns damit ein Gebirge an Arbeit eingehandelt hatten.

»Vergiss bloß die Grippetabletten nicht, die du dir aus der Apotheke besorgen wolltest.« Steve stöhnte. »Wenn wir noch mehr Ausfälle haben, können wir den Laden bald dichtmachen. Und wenn wir jetzt auch noch einen neuen Schneesturm kriegen ...«

»Mal den Teufel nicht an die Wand! Als wäre nicht auch so die Hölle los!«

»Wem sagst du das? Übrigens überfallen sie jetzt sogar schon Arzthelferinnen. Eben hat ein Junkie eine Frau gezwungen, ihm die leere Praxis aufzuschließen, damit er Rezeptformulare stehlen konnte. Du kennst sie übrigens. Betty Wheeler.«

»Phils niedliche Nachbarin? Die mit den Strickstrümpfen?«

»Genau. Der Bursche hat gedroht, sie umzubringen, wenn sie die Polizei alarmiert. Wahrscheinlich nur Gerede, aber ...«

»Süchtige sind unberechenbar«, warnte ich.

»Ich weiß. Doch wir können dem Frau keine Wache vor die Tür stellen, und die Nacht im Hotel verbringen will sie nicht. Das findet sie übertrieben. Ich habe Phil angerufen, damit er wenigstens ein bisschen die Ohren offen hält.«

»Mann! Weißt du, wie viel Fieber ...?«

»Kannst du mir sagen, was ich sonst machen soll, verdammt noch mal?«

Nein, das konnte ich ihm auch nicht sagen.